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Schwester Carmen

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Textdaten
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Autor: M. Corvus
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Titel: Schwester Carmen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–47, S. 645–648, 665–668, 681–686, 697–700, 713–718, 729–734, 760–763, 778–780
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[645]
Schwester Carmen.
Aus dem Leben einer deutschen Herrnhuter-Colonie.
Von M. Corvus.
1.

Dämmerung lag noch auf der Erde, und der Morgen rang mit der Nacht um die Alleinherrschaft. Im Osten färbte sich schon graues Gewölk mit gelblichem Scheine, und ein leiser Luftzug strich frisch über die jungen Halme der Saat, als sei er ein Odem, der die Welt wieder belebe.

Und immer lichter wurde das Grau der Dämmerung; immer goldener färbten sich die Wolken; bald auch zuckten Strahlen glühenden Lichtes am Horizont empor. Da, mit lautem Jubelruf, schwang sich im Felde eine Lerche aus ihrem feuchten Neste auf; sie sang dem auferstehenden Licht entgegen, und als habe sie mit ihrem Lied die Stimmen der Erde geweckt, erschallten jetzt laut Posaunentöne und feierlicher Gesang, die Auferstehung zu feiern, die Auferstehung nicht nur der Sonne, sondern auch der ganzen Natur und der Menschheit – es ist Ostersonntag.

Dort, wo die Häuser des kleinen Ortes stehen, tritt soeben eine Schaar einfach gekleideter Menschen hervor und zieht durch die grünenden Saatenfelder den Hügel hinan. Es ist ein weiter Garten, den sie hier betreten; große Lindenbäume breiten schirmend das jetzt noch kahle Geäst ihrer Zweige darüber hin. Inmitten aber steht ein Kreuz von Stein, das Kreuz Christi, dessen Auferstehung die Stimmen der Posaunen und der Menschen soeben jubelnd begrüßen. Freude liegt auf allen Gesichtern, wie die Menge jetzt um das Kreuz geschaart steht und andächtig zu demselben aufblickt, das volle Licht der nun aufgegangenen Sonne aber sich mit blendendem Scheine über sie ergießt.

Nun schweigt der Gesang; die Musik verstummt, und weithin schallend, ruft aus der Menge eine laut vernehmliche Stimme:

„Der Herr ist erstanden.“

„Er ist wahrhaftig auferstanden,“ antwortet jubelnd, wie aus einem Munde, die ganze Schaar der Versammelten.

Und der, welcher zuerst gesprochen, tritt vor an den Fuß des Kreuzes und redet zu der Menge:

„Meine lieben Brüder und Schwestern! Wie alljährlich am Ostersonntag, sind wir auch heute auf unseren freundlichen Gottesacker gezogen, nicht um die Todten zu betrauern, nein, um uns zu freuen, daß unser Heiland auferstanden ist aus dem Grabe zu himmlischem Leben. Und mit ihm sind auferstanden Alle, die ihm nachfolgten im irdischen Leben. Darum, wie wir niemals mit dem Kleide trauern, trauert auch nicht mit der Seele, wenn Ihr der Brüder und Schwestern gedenkt, die vor uns dahingegangen sind, sondern drückt Euch die Hände und freuet Euch, daß ihnen die Seligkeit geworden ist durch den Erlöser! Um seinetwillen, um des reinen Glaubens willen wanderten die mährischen Brüder damals fort aus der alten Heimath mit Weib und Kind und ließen zurück all ihr Hab und Gut – aber sie nahmen mit, was köstlicher war als dieses: sie nahmen im treuen Gemüthe mit, was ein Huß, was ein Comenius ihnen gelehrt, die einfachen Grundwahrheiten des Christenthums. Und sie suchten eine neue Stätte, wo sie wohnen und ihrem Glauben leben konnten. 'Da, wo der Vogel ein Haus und die Schwalbe ihr Nest gefunden, nämlich Deine Altäre, Herr Zebaoth!' – da bauten sie sich an; der neuen Gemeine aber, die sich mit ihnen bildete, übertrugen sie die alten Satzungen, nach denen sie gelebt, die alte Verehrung für ihren Erlöser, die alte Liebe und Brüderlichkeit. Und aus dem kleinen Samenkorn, das sie gesteckt, hat sich die neue Brüdergemeine ausgebreitet über die Erde.

Laßt uns, die wir ihre Nachkommen sind, dem treu bleiben, was sie verband, laßt uns das heilig halten, um dessen willen sie fortwandern mußten und das sie treu und fest gehalten haben in aller Noth und Fährlichkeit! Haltet fest an der Liebe! Traget und verzeihet einander in der Liebe, opfert Euch auf in der Liebe, leidet in der Liebe und sterbet in ihr – dann seid Ihr wirklich Jünger unseres Heilandes. Amen!“

Der Prediger schwieg, und die Gemeinde sprach andächtig sein Amen nach. Dann drückten sie sich freudig lächelnd die Hände und umarmten einander. Der große Kreis, der das Kreuz umstanden hatte, löste sich auf, und in einzelnen Gruppen durchwandelten sie nun den freundlichen Garten, wo Die ruhen, welche sie zur letzten Rast hierher getragen.

Die Glieder der Brüdergemeinde, wie sie hier in leisem, aber heiterm Gespräche, immer die Geschlechter getrennt, hinwandeln, ähneln sich alle in äußerst schlichter, einfacher Kleidung. Nirgends ein Putz oder Prunk; die Sauberkeit scheint der einzige Putz zu sein, welchen sie suchen, denn Alle sind darin von äußerster Peinlichkeit. Auffallend ist nur, daß die Frauen und Mädchen den Kopf mit weißen Häubchen bedeckt haben, die sich eng und schlicht ihm anschließen, und daß die Farbe des Bandes daran eine besondere Abzeichnung bildet. Wie die Frauen durch blaue und die Wittwen durch weiße Schleifen sich kennzeichnen, so tragen die älteren Mädchen rosa Bänder und die noch heranwachsenden deren von feuerrother Farbe.

Die Menge der Hin- und Herwandelnden lichtete sich nach und nach, in kleineren und größeren Gruppen; endlich waren sie [646] Alle nach den untenliegenden Häusern, welche den freundlichen Wohnort der Brüdergemeinde bilden, zurückgekehrt.

Ein junges Mädchen nur ist, wie verloren, auf dem Hügel zurückgeblieben und scheint, in Gedanken versunken, gar nicht zu bemerken, daß ihre Gefährtinnen den Heimweg angetreten haben. Sie steht an einen der großen Lindenbäume gelehnt, dessen starker Stamm ihre schlanke Gestalt völlig verdeckt, und sieht auf die schöne Landschaft hinab, die jetzt, im vollen Sonnenlichte glänzend, mit Berg und Thal, mit Wald und Feld vor ihr liegt. Noch steht nirgends etwas in Blüthe, aber es ist wie ein Ahnen nun kommender Herrlichkeit in der ganzen Natur, als schwelle jede Knospe sich, die Fessel zu sprengen.

„Schwester Carmen, hast Du denn gar nicht bemerkt, daß Dein Chor mit den Aeltesten heimgekehrt und es hier oben leer geworden ist?“ fragt plötzlich eine tiefe Männerstimme neben ihr.

Sie schrak sichtlich zusammen – war es ob des Alleinseins oder ob der Störung in ihrer Träumerei? Sie fuhr zurück und drehte sich hastig nach dem Sprechenden um, einem Mann in schon vorgerückten Jahren. Sein Haar war zwar völlig grau gefärbt, aber das Gesicht hatte noch viel Frische und eine blühende Farbe; es war schwer zu bestimmen, ob er ein Fünfziger oder ein Sechsziger sei. Obschon die Stirn gefurcht war und die Augen ernst und mit dem Ausdruck großer Gelassenheit und frommer Demuth aufblickten, lag doch um seinen Mund ein etwas frivoler Zug, der dem Ausdrucke der Augen widersprach.

„Sind wirklich Alle schon fortgegangen, Bruder Jonathan? Ich habe ganz der Zeit vergessen über dem Glücke, das ich empfand,“ sagte das Mädchen lebhaft.

„Ich freue mich, zu hören, liebe Schwester, daß es Dich so herzinnig glücklich macht, die Auferstehung unseres Heilandes zu feiern,“ entgegnete er ihr. „Wahrlich, das ist ein selig Gemüth, das sich ganz in die Herrlichkeit des Erstandenen versenkt und, der Weltlust entsagend, über das Zeitliche hinweg, sich hier schon der Seligkeit des Jenseits erfreut.“

„Ich dachte aber jetzt gar nicht an das jenseitige Leben, sondern nur an das auf dieser Erde. Wie schön ist es doch, und welch ein Glück, es zu genießen und sich dessen zu freuen!“ sagte sie ehrlich und dabei glänzte ihr Gesicht in einem warmen Ausdrucke der Lebenslust und der Freude.

Es war ein selten schönes Gesicht, in das der Mann neben ihr bewundernd blickte. Das glatt anliegende Häubchen zeigte mit seiner feuerrothen Schleife, daß das Mädchen das achtzehnte Jahr noch nicht erreicht habe, und ließ überall glänzendes, blauschwarzes Haar hervorstreben, dessen Reichthum die knappe Hülle nirgends recht zu bergen noch zu fesseln vermochte. Eine edel gewölbte Stirn mit stolz geschwungenen Bogen der feinen Brauen ließ große schwarze Augen hervorleuchten, die in Verstand und Fröhlichkeit blitzten; die gebogene Nase mit leicht geblähten Flügeln, der ein wenig aufwärts geschwungene Mund mit den vollen kirschrothen Lippen gaben dem Gesicht etwas Stolzes, das aber von dem heiteren, lieblichen Lächeln, das darauf leuchtete, sieghaft bezwungen wurde. Obgleich nur wenig Röthe auf ihren Wangen lag, glänzte doch die zarte, gelbliche Haut in Lebensfrische und Wärme, und die hohe, schlanke, biegsame Figur, die mit so kindlichem Sichgehenlassen an den alten Stamm der Linde sich schmiegte, zeigte in ihren Formen das schönste Ebenmaß.

„Ja gewiß, auch das irdische Leben ist schön, liebe Schwester,“ begann der Mann wieder, noch näher zu ihr tretend. Und sicherlich, er mußte es schön finden, wenn er auf dieses junge, herrliche, blühende Leben sah. „Ja, wir thun auch weise daran, uns dessen zu erfreuen, indem wir es für das jenseitige nutzen, und wir vermögen das, je mehr wir Jesum und in ihm uns einander lieben. Schwester Carmen, hast Du die schöne Rede von der innigen Bruder- und Schwesterliebe aufmerksam angehört, welche unser verehrter Presbyter soeben gehalten hat?“

Er war ihr so nahe getreten, daß, als er sprach, sein Athem heiß ihre Wange berührte, und dabei legte er die eine Hand auf ihre Schulter, sie aber, als sei ihr das peinlich und unangenehm, wendete schnell den Kopf seitwärts und, sich mehr von ihm zurückziehend, sodaß auch seine Hand von ihrer Schulter glitt, sagte sie:

„Ja, ich habe sie gehört und gewiß, es ist schön, einander zu lieben, aber ich denke, es ist nicht immer alles Liebe, was so heißt oder so aussehen soll.“ Und dabei zuckte es schelmisch um ihren Mund.

„Liebe Schwester, wie kannst Du also sprechen!“ mahnte er. „Die Menschen sind freilich schwach und fehlen oftmals gegen die göttliche Lehre, aber mit der Bruderliebe sollen wir einander helfen, auf daß wir alle Eins und innerlich gleich werden.“

„Gleich werden!“ meinte sie sinnend und blickte mit den dunklen Augen über den Sprechenden hin, dann zu den Häusern hinab. „Können wir das? Gott hat uns doch so verschieden geschaffen – wenn er uns Alle gleich haben wollte, würde er das gethan haben?“

Der Mann neben ihr blickte aufmerksam auf sie hin, und es trat ein Ausdruck von Mißbilligung auf sein Gesicht und in den Ton seiner Stimme, als er ihr antwortete:

„Wer Dich also reden hört, Schwester Carmen, und nicht, wie ich, Dich schon gekannt hat, als Du so klein warst, daß Dein Köpfchen kaum zu meinem Knie heranreichte – es war auf Jamaica, als ich aus der Mission zu Deinem Vater hinaus kam – der würde nicht glauben, daß Du immer unter uns gelebt hast und zu uns gehörst.“

Sie erröthete tief bei dem Tadel, der in seinen Worten lag, und als wolle sie sich entschuldigen, entgegnete sie lebhaft:

„O verzeihe mir und glaube nur, ich möchte gewiß den Besten gleichen und gern so gut sein, wie diese es sind! Aber ich kann nicht immer ruhig und gemessen bleiben, wie Ihr Alle es seid, und ich fürchte, auch unserer lieben Aeltesten, Schwester Agathe, wird es mit allen ihren Ermahnungen nicht gelingen, das an mir zu ändern, so wenig wie Du, der weise Bruder Doctor Jonathan Fricke, mit all Deinen bewährten Mitteln nicht den Einen wie den Andern gleich gesund machen kannst. Jeder Vogel singt nach seiner Weise, und sie ist, weil sie anders ist, doch deshalb nicht schlecht. Ich kann auch nicht glauben, daß alle die andern Menschen, die nicht wie wir still einhergehen und geräuschlos sich freuen, verwerflicher sind denn wir, weil sie munter lachen und tanzen bei fröhlicher Musik. Tanzen!“ lachte sie plötzlich auf, daß die weißen Perlen der Zähne zwischen den rothen Lippen hervorblickten. „Es muß eine Lust sein sich im Reigen zu drehen, wenn die heitern Töne so verlockend erschallen.“

Sie hatte sich hinreißen lassen, lauter zu sprechen, als es sich mit herrnhutischer Art und dem Orte vertrug, wo sie sich befanden. Ihre Augen funkelten, und der kleine Fuß, der unter dem Saume des Kleides hervorgeschlüpft war, schien wohl geeignet, sich im fröhlichen Tanze zu schwingen. Ein Blick auf ihren Gefährten aber ließ sie darüber erschrecken. Sie senkte die munter funkelnden Augen, zog schnell das vorwitzige Füßchen wieder zurück und das schwarze Tuch, das von ihren Schultern geglitten war, dichter um sich zusammen.

„Aber,“ sagte sie hastig, „die Zeit, die Zeit! Ueber dem Reden wird es immer später, und Schwester Agathe wird mir mit Recht zürnen.“

Sie eilte mit flüchtigen Schritten durch den stillen, einsamen Todtengarten den Hügel hinab und den Weg nach den Häusern der Colonie zu.

Der Mann aber sah ihr nach, so lange seine Blicke die dahinschwebende Gestalt des jungen Mädchens zu erreichen vermochten. Auch von ihm war alle fromme Gelassenheit gewichen. In seinen Augen leuchtete ein eigenthümliches Feuer; in seinem Gesichte zuckte leidenschaftliches Verlangen auf und versetzte den alternden Mann in die begehrliche Ruhelosigkeit der Jugend.

„Sie hat von der Mutter das stolze, heiße spanische Blut, aber ach! auch die ganze verhängnißvoll berückende Schönheit geerbt,“ flüsterte er vor sich hin. „Wenn ich sie besitzen –“

Er brach schnell ab, als könne Jemand ihn hören. Dann stäubten seine Finger an dem sauberen Anzuge von seinem grauen Tuche herunter, als hätten sich da Schmutz und Flecken angesetzt, und doch war Alles so rein und in Ordnung, daß nichts daran zu verbessern war. Dann wieder den Kopf ein wenig senkend in die gewohnte, demüthig fromme Haltung, gab er den Augen den ernsten Ausdruck, den Gesichtszügen die gemessene Würde von vordem wieder, und er war wieder der alte Bruder Jonathan Fricke, der nun ruhig und gesammelt seinen Weg hinabschritt.



2.

Eine Herrnhuter-Colonie! Mit dem Schritt, den wir da hinein setzen, ist es, als ob wir in eine andere Welt träten, die nach innen und außen unendlich verschieden ist von dem Gefüge [647] und Getriebe derjenigen, die sich dicht bis an ihre Grenzen drängt und der sie still und unabänderlich das Bollwerk ihrer alten Gebräuche, die Einfachheit ihrer Einrichtungen und die Strenge ihrer Sitten entgegensetzt; sie vermischt sich nimmer mit dem, was da draußen um sie wogt und von dem Zeitgeiste vorwärts getrieben wird – sie ist ein Häuflein Christen, das aus der ersten apostolischen Zeit des christlichen Glaubens zurückgeblieben zu sein scheint, gleichsam, wie Pompeji, unter der Asche der Zeiten verschüttet und von späteren Jahrhunderten erst wieder ausgegraben.

Die Verfassung ihrer Gemeinen ist die einer großen, durch Liebe verbundenen Familie; alle Glieder derselben sind Brüder und Schwestern, nach Geschlecht, Alter und Lebensverhältniß in Chöre eingetheilt, an deren Spitze je ein Aeltester oder eine Aelteste steht, denen die Seelenpflege und Sittenzucht obliegt und welche die äußeren Angelegenheiten ihres Chores vertreten. Durch sie wird die Aeltesten-Conferenz von Allem, was in den Chören und Familien vorgeht, genau unterrichtet; diese bildet die leitende Behörde der Gemeine, mit einem Gemeinhelfer als Vorsteher an ihrer Spitze, und es ist nichts, was in dem Leben eines Gemeingliedes sich ereignet, das nicht vor ihr Forum gehört. –

Durch die stillen, peinlich sauber gehaltenen Straßen der Colonie fuhr um die zehnte Morgenstunde ein eleganter Wagen, der mit zwei feurigen Braunen bespannt war.

Jetzt lenkte der Kutscher die Pferde nach dem Gasthause, oder, wie es hier heißt: nach dem Gemeinlogis des Ortes, und der Wagen hielt davor an. Ein junger, stattlicher Herr mit strammer, militärischer Haltung sprang zuerst heraus und half einer Dame und einem etwa zwölf Jahre zählenden Mädchen beim Aussteigen, denen ein langaufgeschossener junger Mann mit noch knabenhaftem Wesen folgte.

„Spanne aus, Johann, und trage dann den Koffer in das Schwesternhaus!“ befahl der Herr dem Kutscher.

Die Angekommenen gingen in das Gastzimmer, das groß und geräumig, die Diele mit feinem, weißem Sand bestreut, aber völlig leer von Gästen, vor ihnen lag. Der Wirth, ein ruhiger, älterer Mann, trat ihnen langsam entgegen, fragte nach dem Begehr der Fremden und bediente dann diese selbst. Es geschah das so lautlos, daß nicht einmal die Teller und Gläser klirrten, die er hereintrug und auf den reinlichen, weißen Tisch stellte; dann ging er ebenso geräuschlos wieder seiner Beschäftigung außer dem Zimmer nach, ohne nach Art sonstiger Wirthe zu versuchen, mit seinen Gästen ein Gespräch anzuknüpfen und nach dem Woher und Wohin zu forschen.

Die Dame, eine vornehme, höchst ansprechende Erscheinung, war offenbar die Mutter der drei Anderen, obgleich sie noch ziemlich jung aussah und der ältere der beiden Brüder wohl schon dreißig Jahre zählen mochte. Sie bot das Frühstück herum, das in allen seinen Theilen vortrefflich war und schnell eingenommen wurde; dann bestellte sie bei dem herbeigerufenen Wirth ein Mittagsmahl für ein Uhr, und die kleine Gesellschaft verließ wieder das Haus.

Auf der Straße herrschte noch dieselbe Ruhe, dieselbe Menschenleere wie vorher.

„Du kennst den Weg nach dem Schwesternhause, Mama?“ fragte der junge Mann die Dame, mit welcher er vorausging, während die beiden Jüngeren ihnen folgten.

„Gewiß, Alexander,“ entgegnete die Angeredete. „Ich bin ja früher schon einmal dagewesen, als ich vor Jahren Präsident von Karsdorf's hier besuchte. Es zog mich gleich alles hier auf das Lebhafteste an, und wie gut kann ich es verstehen, daß Karsdorf's sich hierher zurückgezogen hatten, um an diesem friedvollen sauberen Orte ihr Leben zu beschließen.“

„Mir will diese außerordentliche Sauberkeit fast wie ein Prunken der demüthigen Brüder vorkommen, als solle sich in dieser peinlichen Ordnung und Reinlichkeit die innere Reinheit ihrer Seele widerspiegeln,“ meinte der Sohn lachend.

„Du bist gegen herrnhutisches Wesen eingenommen, ich weiß es, und doch haben die Brüdergemeinen so viel des Guten, und ihre Sitten sind untadelhaft,“ eiferte die Dame dagegen.

„Das mag alles sein, Mama, ich erkenne gewiß das Vorzügliche an, wo es uns hier entgegentritt,“ erwiderte der junge Mann. „Aber das Formenwesen, das sich hier bei allem äußeren Thun und Lassen aufzwängt, ist wie ein Eindämmen des freien Geistes; bei alledem ist so viel Unnatürliches, Gesuchtes, was mir widersteht – Du weißt, das Absichtliche, wo man es fühlt, verstimmt. Ich mag überhaupt die Sectirer nicht leiden, und solche sind sie, obschon sie dafür nicht gelten wollen, und unter all dem demüthigen Wesen, dem frommen Spielen mit dem Glauben versteckt sich sicherlich bei Vielen Heuchelei. Ich will nicht untersuchen, wie viel Herr von Karsdorf zum Beispiel geheuchelt hat, er, der alte Lebe- und Weltmann, um sich der Gemeine anzupassen und als demüthiger Bruder seine Tage hier beschließen zu können.“

Die Mutter schüttelte den Kopf.

„Ich denke eher,“ sagte sie, „es ist den Brüdern und Schwestern das stille, fromme Wesen so zur andern Natur geworden, daß es bei ihnen nicht unnatürlich ist und dazu keiner Heuchelei bedarf. Und ferner: wie trefflich ist der Haushalt der Gemeinen, wie rührig sind sie im Gewerbfleiß und Handel – das sind doch auch praktische Vorzüge, neben der Seelenpflege, welchen sie sich widmen.“

„Sie sind darin groß, das gebe ich zu, aber es ist doch immer eine Größe im Kleinen; ihre Vorzüge würden sehr klein und unhaltbar im Großen sein, für eine Staatsverfassung undenkbar und unausführbar. Es ist wie die fleißige Arbeit in einem Ameisenhaufen, rührig und geschäftig, aber kleinlich. Sie bringen keine Genies hervor. Wo ist je ein solches unter ihnen erstanden, wo ist je ein großer Gelehrter oder Künstler aus ihren Kreisen hervorgegangen?“

„Und ihr rastloses Ringen,“ fiel die Mutter lebhaft ein, „ihr Kämpfen unter Entbehrungen, Mühsalen und Verfolgungen aller Art in fernen Ländern um des großen Gedankens willen: wilde, rohe Völkerstämme der Verderbniß zu entreißen und für die versittlichende christliche Religion zu gewinnen, ist das nicht auch eine Großthat? Dann ihre eigenen Erziehungsanstalten in den Gemeinen – sind sie nicht ausgezeichnet? Ich erhoffe für Adele den größten Gewinn davon. Aber,“ sagte sie jetzt stehen bleibend, „ich habe doch wohl Unrecht gethan, auf meine Ortskenntniß zu bauen; denn wie mir scheint, bin ich in die falsche Straße eingelenkt, da das Schwesternhaus entschieden hier nicht steht.“

„Nun, dort kommen endlich einmal menschliche Wesen gegangen, ein Mädchen mit einem Kinde; die werden uns berichten können,“ entgegnete Alexander.

Er ging den Kommenden einige Schritte entgegen und höflich grüßend, bat er um Auskunft.

Das junge Mädchen machte den Fremden eine zurückhaltende Verbeugung und hörte mit gesenkten Augen die Frage nach dem Wege zum Schwesternhause an. Dann wendete sie sich zu der inzwischen auch herangekommenen Dame und sagte bescheiden und artig: „Ich gehe eben dorthin – darf ich Sie führen?“

„Sie würden uns verbinden,“ entgegnete die Dame freundlich.

„Welch liebliche Schwester! Da möchte man schon Bruder sein,“ raunte Alexander der Mutter lachend zu, aber doch noch nicht leise genug, als daß das feine Ohr des Mädchens es nicht vernommen hätte; denn sie erröthete tief, und die vollen Lippen des kleinen Mundes kräuselten sich stolz und abweisend empor. Sie kehrte sich, augenscheinlich tief verletzt, von dem Herrn ab, sagte zu der Dame nur: „Bitte,“ und schritt ruhig und unbekümmert um die ihr Folgenden, mit dem Kinde an der Hand voran.

Sie führte Jene ein Stück des von ihnen gekommenen Weges zurück und bog dann in eine Seitenstraße ein. Auch hier gab es – es war schier zum Verwundern – lebende Wesen; denn ein Pferd stand aufgezäumt und gesattelt vor einem der Häuser, und ein Mann war eben im Begriff, dasselbe zu besteigen.

Der fromme Bruder mochte nicht zu den allzu geübten Reitern, und das Pferd, ein stätig aussehendes Thier, nicht zu den geduldigen Creaturen gehören; denn jener zeigte sich ziemlich linkisch, und dieses schlug, bei der bekundeten Absicht des Mannes, heftig aus und sprang auf die Seite. Der Mann redete ihm ruhig zu, streichelte seinen Kopf und versuchte dann abermals das schwierige Manöver, hinauf in den Sattel zu kommen, aber mochte es nun der Anblick der näherkommenden Fremden sein, der ihn verlegen und seine Ungeschicklichkeit noch unbehülflicher machte: er hatte kaum den Fuß auf den Bügel zu setzen versucht, als das Thier bäumte, ausschlug und zurücksprang; dabei entglitt der Zügel seiner Hand, und der Mann fiel auf das Straßenpflaster hin, während das scheue Pferd frei die Straße hinab, gerade den Kommenden entgegensprengte.

[648] Bei den ersten vergeblichen Bemühungen des Reiters, das stätige Thier zu besteigen, war das junge Mädchen mit dem Kinde ängstlich seitwärts an die Häuser getreten, und sich nach den ihr Folgenden umsehend, nahm sie wahr, wie auf dem Gesicht des jungen Herrn die Ungeschicklichkeit des frommen Sonntagsreiters ein spöttisches Lächeln hervorrief; vermuthlich war er selbst ein tüchtiger Reiter, und er sah auch mit seiner eleganten, geschmeidigen, aber kräftigen Gestalt ganz darnach aus, sogar das wildeste Pferd meistern zu können.

Jetzt, als der Mann fiel und das losgelassene Thier ihnen entgegen kam, eilten auch die Fremden auf die Seite, die Kleine aber hatte sich von der Hand des Mädchens losgerissen und sprang, nach thörichter Kinder Art, in die Mitte der Straße zurück, um einen Ball aufzuheben, den sie soeben hatte fallen lassen und der dorthin gerollt war.

Von allen Lippen ertönte ein Schrei des Erschreckens; denn im nächsten Augenblick mußte das Pferd über die sich bückende Kleine hinwegrasen. Da, noch ehe das junge Mädchen dem Kinde nacheilen konnte, war der fremde Herr, ohne sich lange zu besinnen, mit einem Satz neben dem Kinde und sich fest emporrichtend, Energie im Blick und in der Haltung, faßte er mit kräftiger Hand in die Zügel des heransprengenden Thieres, daß es aufbäumend vor ihm stand – er drängte es gewaltsam zurück. Dies Alles war so schnell geschehen, daß, als das Kind sich ahnungslos mit seinem Ball wieder emporrichtete, die über ihm schwebende Gefahr schon überwunden war und der Herr mit dem Pferde seitwärts stand, während das junge Mädchen todtenbleich gegen die Wand eines Hauses lehnte, aber sie raffte sich schnell wieder zusammen, und zu dem Kinde hineilend und es wieder an ihre Hand nehmend, sagte sie mit bebender Stimme, indem sich ihre Augen schüchtern, wie Abbitte thuend, auf Alexander richteten:

„Ich danke Ihnen, mein Herr; Sie haben die mir anvertraute Kleine aus großer Gefahr gerettet.“

Jetzt kam auch der abgeworfene Reiter ziemlich beschämt herbeigehinkt und dankte ebenfalls dem Helfer in der Noth. Es war ein so auffälliger Gegensatz zwischen den beiden Männern, daß er, wie sie jetzt neben einander standen, Jedermann, auch dem jungen Mädchen, in die Augen springen mußte. Die demüthige Haltung der kleinen, linkischen Gestalt des Bruders sah so unmännlich aus neben der hohen, eleganten Figur Alexander’s, die bei aller Geschmeidigkeit doch voll Energie war und wie von Stahl geschmiedet zu sein schien. Jede Muskel war von der soeben gehabten Anstrengung noch angespannt; die Wangen waren höher gefärbt; die blauen Augen leuchteten im hellen Feuer innerer Willensstärke, und doch lag keine Erregung auf dem Gesicht, sondern die sichere Ruhe der bewußten Kraft.

Während er das Pferd noch an seiner festen Hand hielt, gelang es nun endlich dem Andern, in den Sattel zu kommen.

„Ein abscheulicher Gaul, mein Herr,“ sagte Alexander, dem Retter die Zügel übergebend. „Er scheint kitzelig zu sein und nicht Spaß zu verstehen; schonen Sie die Sporen und halten Sie die Hand fest am Zügel, bis Sie seiner sicher sind!“

Damit ließ er los, und Mann und Thier zogen fürbaß.

„Und nun bitte, mein Fräulein, seien Sie wieder unsere Führerin,“ wendete Alexander sich mit einer Verbeugung dem jungen Mädchen zu.

Nach einer kurzen Weile standen sie vor der Thür des freundlichen Schwesternhauses.

„Ah, da sind wir ja an Ort und Stelle!“ rief die Dame erfreut aus. „Ich danke herzlich für Ihr Geleit, liebes Kind. Wollen Sie so freundlich sein, uns zu sagen, wohin wir uns hier zu wenden haben? Wir sind brieflich angemeldet und werden erwartet – ich bin Frau von Trautenau, das sind meine beiden Söhne, und dieses mein Töchterchen bringe ich als Pensionärin hierher.“

Dabei reichte sie ihre Hand herzlich dem jungen Mädchen und blickte freundlich in deren schönes Gesicht.

„Ich bitte, hier in das Sprechzimmer einzutreten,“ sagte diese bescheiden, eine Thür zu ebener Erde öffnend, „ich werde unsere Aelteste, Schwester Agathe, von Ihrer Ankunft benachrichtigen.“

Es währte auch nicht lange, so trat diese ein, eine freundlich würdige Erscheinung, zu deren ergrauendem Haar die den unverheiratheten Schwestern zukommende Rosaschleife des Häubchens sonderbar stand. Sie begrüßte die Dame so würdevoll wie herzlich.

„Verzeihen Sie, daß ich mit meiner ganzen Familie bei Ihnen erscheine, und erlauben Sie mir, Ihnen dieselbe vorzustellen,“ sagte Frau von Trautenau nach der ersten Begrüßung. „Mein Stiefsohn Alexander, Hauptmann der Infanterie, der meine treue Stütze ist, seitdem ich meinen guten Mann verlieren mußte, mein Sohn Hans und hier mein Töchterchen Adele, Ihr nunmehriger Pflegling, den ich Ihrer Güte von Herzen empfehlen möchte.“

Schwester Agathe nahm das Mädchen liebevoll in ihren Arm, und einen Kuß auf ihre Stirn drückend, sagte sie herzlich:

„Du wirst mir nun vertrauen, liebes Kind, wie Deiner Mutter, und ich werde Dich lieb haben, wie diese Dich liebt. Wir sind hier eine große Menge von Schwestern beisammen, die sich alle lieben, fröhlich lernen und fleißig arbeiten. ‚Bete und arbeite!‘ dieser goldene Spruch geht mit uns, so lang unser Tag währt, und die Liebe und Arbeit, die Du finden wirst, wird Dir helfen, Dich schnell bei uns einzuleben.“

„Ich wohne ja auch in der Nähe,“ sagte Frau von Trautenau, da das Gesicht des Mädchens bange aufblickte, „unser Gut Wollmershain ist in ein paar Stunden erreicht. Ich kann recht gut einmal herfahren, und Sie werden gewiß auch hin und wieder gestatten, daß Adele zu uns kommt?“

„Gewiß, Frau von Trautenau,“ entgegnete die Chorälteste, „in den Ferien. – Darf ich Ihnen nun unsere Räumlichkeiten und Einrichtungen zeigen, damit Sie wissen, wo und wie Ihr liebes Töchterchen leben wird?“

„Ich bitte darum,“ entgegnete die Dame, „es interessirt uns natürlich hier Alles auf das Lebhafteste.“

Dabei erhoben sie sich und folgten Schwester Agathe. [665] „Wir brauchen vielen Raum,“ erklärte Schwester Agathe im Vorwärtsschreiten, „da wir, außer für die Zöglinge, auch Platz haben müssen für alle die ledigen Schwestern unserer Gemeinde, die nicht Glieder einer Familie sind und hier alle beisammen leben und arbeiten. Ja selbst die, welche einer Familie angehören, kommen zu uns, ihre freien Stunden hier zu verbringen.“

So sprechend, geleitete sie ihre Gäste aus dem Erdgeschosse in das obere Stockwerk hinauf, aus einem Raume in den andern. Alle waren schlicht und einfach eingerichtet. Die bescheidene Tracht der Schwestern mit dem weißen Häubchen, ihr fleißiges, ruhiges Beschäftigtsein, trotz des Festtagsmorgens, ihr leiser Gang, ihre gedämpfte Sprache, die tiefe Ruhe im Hause – all dies hatte beinahe etwas Klösterliches.

Schwester Agathe führte auch in ein gemeinsames Arbeitszimmer. Es war ein weiter, saalartiger Raum. An langen Tischen saß eine Menge von Mädchen mit theilweis fremdartigen Physiognomien, ganz junge und nahezu erwachsene in bunter Reihe, mit Handarbeit oder Schreiben beschäftigt. Die Aelteren schienen die Jüngeren zu beaufsichtigen und in den Arbeiten zu unterweisen; unter jenen befand sich das junge Mädchen, welches die Fremden hergeführt hatte.

Alle erhoben sich bei dem Eintritte der Gäste von ihren Plätzen und setzten sich dann schweigend wieder nieder.

„Hier finden Sie unsere lieben Zöglinge und die Kinder unserer Gemeindeglieder beisammen. Aus den fernsten Colonien und Missionen werden sie uns zur Erziehung hergesendet und lernen schnell, sich bei uns heimisch zu fühlen, so fern ihr Elternhaus auch ist. Liebe Schwester Marie,“ wendete sich die Chorälteste jetzt an eines der Mädchen, „willst Du einmal Frau von Trautenau sagen, wo Du geboren bist?“

Die Angeredete, ein kleines Mädchen mit olivenfarbiger Haut und schwarzen, stechenden Augen, erhob sich bei diesem Anrufe, als sei sie an einer Schnur emporgezogen worden, und antwortete: „Aus Paramaribo in Surinam;“ dann sank sie wieder auf ihren Stuhl zurück.

„Und Du, liebe Schwester Geneviève?“

„Aus St. Jean in Westindien.“

„Liebe Schwester Sascha?“

„Aus Sarepta in Rußland, Gouvernement Saratow.“

„Liebe Schwester Jacobe?“

„Aus Batavia auf Java.“

„Liebe Schwester Carmen?“

Wie alle Vorhergenannten erhob sich auch Carmen, als Schwester Agathe ihren Namen aufrief, von ihrem Platze – aber nur ein wenig, als geschähe es in unwillkürlicher Regung des Gehorsams, nur dann, wie zufolge von Ueberlegung, sofort sich wieder niederzulassen. Sie hatte bei der ganzen vorhergegangenen Scene mit peinlicher Aufmerksamkeit bald Frau von Trautenau, bald deren ältesten Sohn betrachtet und auf dem Gesichte des Letzteren gelesen, wie höchlich ihn dieses Aufstehen, Hersagen und Zurücksinken der genannten Mädchen amüsire. Jetzt, als ihr Name genannt wurde, übergoß eine dunkle Röthe das schöne Antlitz Carmen's, und sie blieb die Antwort schuldig.

„Liebe Schwester Carmen?“ wiederholte die Chorälteste, als habe Jene das erste Mal den Ruf nicht verstanden.

„O bitte –“ kam da Frau von Trautenau begütigend zu Hülfe, als sie die peinliche Verlegenheit des Mädchens sah. Sie strich ihr freundlich mit der Hand die krausen Löckchen aus der Stirn zurück, die sich so eigenmächtig unter dem Rande des weißen Häubchens hervorgedrängt hatten. „Lassen Sie es gut sein! Ich höre schon an dem lieblichen Namen, daß ihre Wiege in Spanien, wenn nicht in einem noch ferneren, schönen Himmelsstriche gestanden hat. Ist es nicht so, liebes Kind?“

Es lag so viel zarte Schonung für das durch diese Art von Schaustellung verletzte Gefühl des Mädchens, so viel mütterliche Güte in dem Tone und der Art, womit Frau von Trautenau zu ihr sprach, daß Carmen, tief ergriffen davon, sich schnell auf die freundliche Hand herabbeugte und einen Kuß darauf drückte.

„Ja, so ist es,“ sagte sie, die Dame mit ihren dunklen Augen voll kindlicher Demuth anblickend, „ich bin im schönen Westindien, auf der Insel Jamaica geboren.“

„So weit sind Sie von der Heimath entfernt?“ fragte Frau von Trautenau. „Sind Sie schon lange hier in der Colonie?“

„Ja, sehr lange. Mit dem neunten Jahre bin ich von meinem Vater zur Erziehung hierher gesendet worden; denn meine Mutter war schon vorher gestorben, und mein Vater hat ein Jahr nach mir Jamaica auch verlassen, um nach Ostindien zu gehen – ich habe ihn nicht wieder gesehen, ja nicht einmal wieder von ihm gehört.“

Carmen hatte dieses leise gesagt, und ihre Stimme zitterte wie unter verhaltenen Thränen.

„Armes Mädchen, wie sehr beklage ich Sie deshalb!“ entgegnete [666] die Dame theilnehmend, und erfaßte wieder Carmen 's Hand, dieselbe herzlich drückend. Sie empfand so große Sympathie für das Mädchen, daß sie plötzlich noch hinzufügte: „Da Sie wissen, was Getrenntsein bedeutet, wollen Sie sich da Adele's ein wenig annehmen? Vielleicht wird sie sich im Anfang nicht gleich in das neue Leben zu finden wissen.“

„Von Herzen gern, wenn Ihr Töchterchen Vertrauen zu mir haben kann,“ antwortete Carmen froh bewegt.

Da ertönte laut ein Glockenschlag durch die Stille des Hauses, das Zeichen zum Mittagsmahle gebend. Die Mädchen erhoben sich sofort von ihren Plätzen, und Frau von Trautenau verabschiedete sich von Schwester Agathe, die Tochter jetzt noch einmal mit sich nehmend. Nachdem die Gäste gegangen waren, verließen auch die Mädchen das Zimmer, als aber Carmen an Schwester Agathe vorüberschritt, legte diese die Hand auf deren Schulter und sagte ernst, aber nicht unfreundlich:

„Liebe Schwester, ich möchte mit Dir sprechen – komm heute Abend auf mein Zimmer, wenn Du vom Liebesmahl, das wir diesen Nachmittag feiern, wieder heimgekehrt bist!“

Carmen blickte ruhig in die ernsten Augen der Sprechenden, in denen sie recht gut heimliche Unzufriedenheit las.

„Ja, Schwester Agathe, ich werde kommen.“ – – –

Es kann kaum etwas Einfacheres geben, als das Zimmer Schwester Agathe's. Als wolle sie den Anderen an Einfachheit vorangehen, ist hier alles vermieden, was über das Nothwendige hinausgeht. Drei Stühle, ein Tisch, ein altväterisches Sopha, ein Schreibpult und ein Schrank ist das kärgliche Mobiliar; die Wände sind nur weiß getüncht, und über die Fenster ist eine kurze Krause weißer Gardinen gesteckt. Ueber dem steifbeinigen, geradlehnigen Sopha mit verblichenem Zitzüberzug hängt als einziger Schmuck, der aber nicht als solcher gelten kann, die gedruckte Losung des heutigen Tages. Diese „Losungen“ sind biblische Sprüche, die, jedesmal auf ein Jahr voraus für jeden Tag bestimmt und gedruckt, an alle Glieder der Brüdergemeinen vertheilt werden, damit Jeder den Tag hindurch über einen Spruch nachdenke und sein Thun und Lassen nach ihm richte. Heute war es der Spruch: „Weide Du Dein Volk mit Deinem Stabe, die Heerde Deines Erbtheils, wie vor Alters!“ Mich. 7, 14.

Schwester Agathe saß an einem der beiden Fenster, und bei ihr, den Stuhl vor der freundlich hereinscheinenden Nachmittagssonne in den Schatten gerückt, saß Bruder Jonathan Fricke, in seiner ruhigen, überlegten Weise zu ihr sprechend.

„Mir scheint, liebe Schwester, daß die Gesunde Dir heute mehr Sorge macht, als die Kranken.“

„Weil hier schwerer zu helfen ist, als bei diesen, und obschon Du um der Kranken wegen hergekommen bist, lieber Bruder, möchte ich Dir, als dem Freund ihres Vaters, meine Sorge um sie anvertrauen,“ sagte bekümmert Agathe.

„Du klagst über Carmen's weltlichen Sinn, aber solltest Du, liebe Schwester, nicht milde bedenken, daß die ersten Eindrücke des Kindes in ihr noch fortklingen mögen, und sie deshalb entschuldigen?“ sprach er im Tone frommer Nachsicht. „Bruder Mauer war ja aus der Mission hinweg auf seine Plantage gezogen, wo, obgleich er sich auch hier noch zu der Brüdergemeine hielt, doch nicht viel von dem ernsten Leben in unserem Heiland zu verspüren war; denn seine dritte Frau, eine heißblütige Creolin, konnte nicht wirklich als seine Gehülfin im christlichen Hause gelten. Sie schwang sich gern in den Sattel ihres Pferdes und jagte über die Savannen dahin, sie sang zur Mandoline ihre glühenden spanischen Lieder; ihr Fuß tanzte flüchtig, als berühre er kaum den Boden, über die Matten des Estrichs hin, wenn sie, gewandt wie eine Lacerte, aus der Hängematte auf die Veranda schlüpfte und ihre alte Schwarze am Abend wieder einmal das oft verbotene Tambourin schlug. Sie war zu schön, wenn sie ritt, wenn sie tanzte, als daß er je ernstlich sie hätte daran verhindern mögen. Zu schön!“ wiederholte er, immer lebhafter werdend. „Ich habe es ja mit angesehen, wenn ich hinauskam, als Arzt zu helfen, wo es in der Hacienda oder auf der Plantage noth that. Und da schwebte die kleine Carmen der zärtlich geliebten Mutter nach, wie der Zipfel ihres Kleides, und wenn sie Jener nachahmte, so viel sie konnte, tanzte und sang nach spanischer Art, ist das zu verwundern? Es war ja doch so schön und zu verlockend.“

Er schwieg plötzlich und senkte die Augen, als werde er sich seiner Lebhaftigkeit bewußt, da der Blick der Schwester verwundert an ihm hing. Dann holte er tief Athem; seine Finger stäubten wieder an dem sauberen Anzug herunter, und er fuhr in alter, gelassener Weise fort:

„Es war sündhaft für ein Glied der Gemeine, ja, und Bruder Mauer hätte dem wehren sollen; ich habe es ihm oft genug mahnend in die Seele gerufen. Aber er vermochte es nicht über sich. Er war in der Liebe zu diesem Weibe wie in Sünde verloren. Und darum war es zu seinem Heile und zu dem Carmen's, daß die Spanierin starb und das Kind hierher in die Zucht der Gemeine kam, auf daß sie für ein kirchlich Leben gewonnen werde,“ schloß er, die Augen mit demüthig frommem Blick zu Agathen aufschlagend.

„Warst Du dort, als die Frau starb?“ fragte diese.

„Nein. Sie ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben, und ich hatte schon mehrere Jahre früher Jamaica verlassen, da ich das Klima nicht länger aushielt. Ich ging nach dem Norden der Vereinigten Staaten. Von Bethlehem, wo ich eine längere Reihe von Jahren blieb, zog mich dann die alte Welt zurück, und als ich hier ankam, war Carmen schon da, und ich hörte nun erst, daß auch Bruder Mauer Jamaica verlassen habe, um nach Ostindien zu gehen.“

„Jawohl, der Herr hatte ihn zu seinem Werkzeug berufen,“ fiel Schwester Agathe ein. „Es war wunderbar, daß so plötzlich der heiße Drang über ihn kam, als Heidenbekehrer Schafe für des Heilands Heerde zu sammeln. Und rastlos hat er für die Kirche unter den Heiden gearbeitet – plötzlich blieb alle Kunde über ihn aus. Und sage selbst, Bruder Jonathan, ist es nicht sonderbar, daß er nie wieder Geldmittel verlangt hat, da er doch nur wenig für seinen frommen Zweck mitnahm und das große Vermögen, welches er aus dem Verkauf seines Besitzthums in Jamaica gelöst hatte, in der Bank unseres Landes niederlegte?“

„Hat er denn davon nichts für Carmen bestimmt gehabt?“

„Das wohl, wir bekommen einen gewissen Theil der Einkünfte aus dem Vermögen für ihre Erhaltung und Erziehung regelmäßig ausgezahlt,“ entgegnete Agathe, „aber es ist das doch verhältnißmäßig nicht viel. Wie muß inzwischen dieses Vermögen gewachsen sein! Carmen ist eine reiche Erbin, wenn ihr Vater wirklich todt sein sollte – eine Verlockung mehr für ihren weltlichen Sinn! Daß auch gar nichts über Bruder Mauer zu erfahren ist! Ich glaube gewiß, er ist todt, in der frommen Arbeit für seines Herrn Sache gestorben.“

Ein eigenthümliches Licht war, während sie sprach, in Jonathan's Augen aufgeleuchtet, und er hob den Kopf jäh empor. Aber, als erschrecke er selbst darüber, senkte er ihn sofort wieder in die gewohnte gebeugte Haltung herab, und da jetzt Agathe schwieg, sagte er mit dem Anklang eines Seufzers:

„Er war mein Freund.“

Wieder eine Pause; er schien zu überlegen.

„Ja, fast scheint es, daß wir ihn verloren haben,“ fuhr er fort, „und dann ist Schwester Carmen eine Waise. Das arme Kind! Um so mehr ertrage sie mit Geduld, liebe Schwester, und klingt es noch immer von ehedem in ihr nach und reißt sie's zuweilen fort, über das hinweg, was sich jetzt für sie geziemt, so gieb ihr einen Führer zur Seite, der sie den rechten Weg zu ihrem Heil geleite!“

„Wie bist Du doch noch immer der treue Freund des Vaters, daß Du Dich stets so liebevoll und fürsorglich des Kindes annimmst!“ sagte Agathe gerührt. „Glaube mir nur, lieber Bruder, auch ich habe das Mädchen von Herzen lieb und betrübe mich deshalb um so mehr, wenn ich fürchten muß, daß ihre Natur sie auf Irrwege drängt. Wen aber soll ich ihr als Führer geben, wenn nicht der Heiland es ist, den ich ihr immer zu Gemüthe führe?“

„Darum eben soll sie einen Gehülfen beständig zur Seite haben, der sie an ihren frommen Beruf erinnert,“ entgegnete Jonathan sehr ernst. „Sie wird in nächster Woche achtzehn Jahr, tritt nun in die Reihe der erwachsenen Schwestern und ist alt genug, eine Heirath zu schließen. Ich denke, das soll das Beste für sie sein. Suche ihr einen Führer, Schwester Agathe, und kennst Du keinen besseren für sie, und findet ihr, Du und die Aeltestenversammlung, es für gut, so will ich, um des Vaters willen, meinen ledigen Stand aufgeben, die Tochter in christlicher Ehe zu mir nehmen und treulich ihr Gatte und Führer werden zu des Herrn Preis.“ [667] Er war unruhig von seinem Platze aufgestanden, und den Arm auf die Lehne des Stuhles stützend, hatte er die letzten Worte hastiger gesprochen, wie in innerer Erregung eines schnellen Entschlusses; seine Augen suchten dabei den Fußboden, nur hin und wieder einmal flüchtig aufblickend, als ob er die Wirkung seiner Worte auf Schwester Agathe's Gesichte erlauschen wolle.

In den Zügen der Schwester aber schimmerte eine freudige Bewegung. „Ein Opfer zu des Herrn Preis, das Du für Schwester Carmen bringen willst!“ rief sie gerührt aus. „Wie könnte ich anders, als es billigen, lieber Bruder? Du, der fromme, weise, erprobte Mann, voll Liebe und Duldung für sie und doch voll der rechten Erkenntniß – wo in der Welt könnte sie einen besseren Berather und Führer finden, als Dich?“

„Sprich nicht also, Schwester Agathe!“ unterbrach er sie verweisend. „Keine sündhafte Creatur verdient solches Lob, am wenigsten ich. Wir sind alle nur demüthige Werkzeuge Gottes, und mangeln des Ruhms, den wir vor ihm haben sollen.“

„Nicht doch, lieber Bruder! Das Gute im Andern anzuerkennen, ist recht,“ erwiderte sie sanft, „und ich sage nicht mehr, als was in Wahrheit ist. Wären doch Alle so bescheiden, wie Du bei so vielem Verdienst es bist! Die Kranken verlangen nach Dir und rühmen Dich als ihren Helfer; den Gesunden bist Du überall ein liebevoller Freund und Berather. Laß Dir danken für das, was Du Carmen in Liebe und Güte bietest! Nach dem Liebesmahl will ich den Aeltesten Dein Anerbieten mittheilen, und stimmen auch diese ihm bei, so werde ich heute Abend mit Carmen über unseren Plan sprechen; ich habe sie ohnedies zu mir beschieden, sie wegen ihres Verhaltens von heute Morgen zu vernehmen. Jetzt aber wird es Zeit, nach dem Betsaal zu gehen.“

Sie erhob sich und reichte Jonathan die Hand hin, deren herzlichen Druck er erwiderte. Er war nie demüthiger in Miene und Gang gewesen, als da er jetzt das Zimmer verließ. Aber als er hinter sich die Thür in das Schloß gedrückt hatte, blieb er einen Augenblick stehen und warf den Kopf zurück. Der unangenehme, frivole Zug um seinen Mund trat lebhafter denn je in einem lüsternen Lächeln der Befriedigung hervor.

„Ah!“ flüsterte er, „Schönheit und Reichthum, wenn sie nun doch mein würden, das wäre eine süße Entschädigung für Vergangenes.“




3.

Als Frau von Trautenau mit ihrer Familie den großen, freundlichen Betsaal betrat, um dem Liebesmahl beizuwohnen, war die Gemeinde schon bei Gesang, zu dem die Orgel ertönte, versammelt; der Raum war beinahe gefüllt. Frau von Trautenau erhielt von Schwester Agathe für sich und Adele noch Plätze angewiesen, während Alexander ein paar leer stehende Stühle nahe am Eingang mit seinem Bruder Hans theilen mußte.

Der Raum bietet für eine Kirche ein eigenthümliches Bild dar. Auch er entbehrt jeglichen Schmuckes, der Altar ist nur ein grün behangener Tisch, auf welchem das Crucifix steht. Die Brüder und Schwestern saßen an langen, weiß gedeckten Tafeln, aber wie gewöhnlich von einander getrennt, und Jedem von der andächtig singenden Gemeine wurde Thee in Tassen nebst kleinen weißen Brödchen gereicht.

Jetzt schwieg der Gesang; die Orgel verstummte, und es erfolgte nun ein längeres Gebet, worauf der Lehrer den Brief eines Missionärs, Joseph Hübner, aus dem Kaffernlande vorlas.

Es war ein rührendes Bild demüthiger Selbstentsagung und treuen Ausharrens, das dieser Brief entrollte; Alexander fühlte sich mächtig ergriffen, sodaß er darüber ganz vergaß, welche seltsame Zusammenstellung von religiösen Betrachtungen mit leiblichem Genuß dieses Liebesmahl doch darbot. Auch hatte er im aufmerksamen Zuhören nicht bemerkt, daß in seiner nächsten Umgebung eine eigenthümliche Unruhe herrschte und die frommen Brüder, leise flüsternd, mit staunenden Blicken ihn und seinen Bruder betrachteten.

Der Vorleser schwieg gerade, und die Orgel intonirte zu einem neuen Gesang; da stieß Hans seinen Bruder an:

„Was finden sie nur Merkwürdiges an uns? Sie betrachten uns so eigenthümlich.“

Alexander besah sich und seinen Bruder genau – er konnte nichts Auffälliges an ihnen Beiden entdecken; auch hatten sie still dem Gang der Feier beigewohnt und ihre empfangene Tasse Thee und das Brödchen pflichtschuldigst genossen. Aber es mußte doch etwas Besonderes an ihnen sein, was Störung verursachte. Er wendete sich daher an seinen Nachbar mit der Frage:

„Wir nehmen doch nicht etwa Jemand hier die Plätze weg?“

„O nein, lieber Herr,“ entgegnete der Angeredete.

„Um so besser! Wir möchten nicht Störung verursachen, und ich fing schon an zu fürchten, daß dies geschehen sei.“

„Bitte, entschuldigen Sie, lieber Herr,“ stammelte der Bruder verlegen. „Es war gewiß unbescheiden von uns, Sie so viel zu betrachten, und doch, es war nur aus Mitgefühl – ein so junges Blut, wie der liebe Bruder ist, und doch schon Wittwer!“

Alexander maß den Sprechenden mit prüfenden Blicken, ob der Mann wohl fasele. Hans – Wittwer! Dieser sah doch trotz seiner aufgeschossenen Länge noch völlig wie ein unreifer Schulknabe aus.

„Wittwer, mein Herr?“ fragte Alexander gedehnt. „Mein Bruder ist sechszehn Jahre alt und besucht noch die Schule; da heirathet man bei uns noch nicht.“

„Dann freilich, lieber Herr – es wollte mir auch seltsam scheinen,“ stotterte der gute Mann in äußerster Befangenheit. „Aber – Sie haben sich unter das Chor der Wittwer gesetzt.“

Fast hätten Alexander und Hans laut aufgelacht; es war ein gar zu drolliges Mißverständniß.

„Da sind wir Beide am falschen Platze, mein Bruder sowohl wie ich; entschuldigen Sie unsere Unkenntniß Ihrer Einrichtungen! Ich sah wohl die Männer und Frauen getrennt sitzen, konnte aber nicht ahnen, daß auch die Wittwer ihre eigenen Plätze haben. Sagen Sie mir gefälligst, wohin wir uns zu begeben haben, beide unverheirathete Bursche, die wir sind.“

„Nein, bitte, lieber Herr,“ meinte sein Nachbar. „Bleiben Sie, wo Sie sind! Das Liebesmahl wird ohnedies gleich zu Ende sein, und es wird nur noch Bruder Daniel von den Brüdern und Schwestern Abschied nehmen; denn er geht als Missionär in das Capland, Bruder Joseph zu Hülfe, und wird morgen abreisen.“

Indem erhob sich auch schon die Gemeine, und ein Mann schritt langsam vor. Er ging zuerst zu den versammelten Schwestern, jeder die Hand zu reichen; dann kam er zu den Brüdern herüber und gab jedem den Scheidekuß. Und der da Abschied nahm, um von den Bequemlichkeiten des civilisirten Lebens hinweg dem fernen Bruder zu folgen in dessen Ringen und Ausharren – es war derselbe linkische, unmännlich aussehende Bruder, der am Morgen in seinen Reitversuchen so unglücklich gewesen war.

Es ist immer das unleidliche Gefühl einer moralischen Niederlage, welches uns überkommt, wenn wir plötzlich einen Menschen an Bedeutung vor uns emporwachsen sehen, den wir eben noch geringschätzig betrachten zu dürfen glaubten. Ein gerechter Sinn weiß sich schnell in diese Anerkennung zu finden; ein kleinlicher, eingebildeter trägt aus solcher Niederlage nur Groll und Mißgunst hinweg.

Alexander überkam es mit Beschämung, daß er vermocht hatte, geringschätzig ob des unbeholfenen Mannes zu lachen, der ihm doch jetzt wie ein Held erschien.

An der ihnen gegenüberstehenden Tafel hatten die jungen Schwestern und die Zöglinge der Erziehungsanstalt ihre Plätze, unter ihnen Adele und nicht fern von ihr Carmen. Als Alexander jetzt sinnend aufsah, begegnete er plötzlich den glänzenden Augen Carmen's, die ihn mit einem Ausdrucke sieghaften Stolzes und fast gebietender Hoheit maßen, als fühle sie mit Genugthuung die Demüthigung, welche ihm der Augenblick für sein geringschätziges Lächeln am Morgen gebracht. In ihrem Gesichte, so ausdrucksvoll wie es war, glaubte er deutlich zu lesen: „Du kannst vielleicht gut reiten – der Mann da kann es nicht; Du fürchtetest Dich nicht, das Kind zu retten, indem Du das wilde Thier aufhieltest – der Mann wagte es nicht; aber würdest Du den Muth zu leiden haben, den er besitzt?“

Wie so ihre Blicke sich maßen, hielt sie ruhig und sicher den seinigen aus, ihm aber war es, als müsse er die Augen niederschlagen.

Inzwischen war der Bruder demüthig, bescheiden bis in seine Nähe gekommen, um den Bruderkuß beim Abschiede von den Nachbarn Alexander's zu empfangen. Und jetzt stand der Mann vor diesem; unschlüssig hielt er an – er mochte seinen Helfer vom Morgen wiedererkennen, und das Roth der Beschämung überzog die sanften, fast weibischen Gesichtszüge, als er zu dem aufsah,

[668] der ihn um mehr denn Kopfeslänge überragte. Da beugte sich Alexander schnell herab, drückte einen Kuß auf des Mannes Wange und sagte herzlich:

„Leben Sie wohl und recht glücklich! Glauben Sie mir, ich bewundere aufrichtig Ihren Muth!“

Der Mann blickte ihn voll Erstaunen an und stammelte: „Ich danke, lieber Herr.“ Dann ging er demüthig weiter.

In Carmen's Augen aber lag, als Alexander wieder aufblickte, ein sanfter, feuchter Schimmer und derselbe Ausdruck der Abbitte, mit dem sie ihm heute Morgen gedankt.

„Wie wunderbar schön ist doch dieses Mädchen!“ dachte Alexander. „Wie viel selbstständiger, freier Geist spricht aus diesen Augen, wie viel Anmuth schwebt um ihren lieblichen Mund! Sie ist wie ein leuchtender Stern unter diesen stillen, sanften Lichtern; als habe sie ihre Bahn am Himmel verlassen und auf die Erde sich verirrt, so wenig paßt sie in die einengenden Kreise, in denen sie sich hier bewegt. Ob sie sich darin wohl und heimisch fühlen kann? Ein freier Geist, der seine eigenen Bahnen beschreibt, kann er in dieses aufgezwungene Formenwesen sich einengen lassen und sich fügen? Nein, sie wehrt sich dagegen, das habe ich heute Morgen gesehen – aber wird sie nicht endlich doch werden wie die Anderen und still beglückt an der Seite eines Mannes, wie Bruder Daniel, hinleben?“

Der Rundgang des scheidenden Bruders war beendet; nach gemeinsamem Gebet und dem Segen des Presbyters verließen die Versammelten den Betsaal wieder.

Jetzt war auch die Zeit des Scheidens von Adelen für Frau von Trautenau und ihre Söhne gekommen. Wie viele Thränen flossen bei diesem Abschied! – –

Es war inzwischen Abend geworden. Die Lampe brannte auf Schwester Agathe's Tisch; da klopfte es an die Thür, und Carmen trat ein. Sie zauderte eine Weile auf der Schwelle, da sie die Chorälteste lesend fand, doch diese hob alsbald die Blicke von ihrem Buche auf, und das Mädchen erkennend, nahm sie die Brille von den Augen hinweg, legte sie zwischen die Blätter, schloß das Buch und sagte freundlich:

„Komm nur näher, liebe Schwester! Du störst mich nicht; ich las nur, während ich Deiner harrte.“

Sie zog einen Stuhl zu sich heran, Carmen aber schob ihn zurück, und neben der Chorführerin niederknieend, sagte sie:

„Nein, Schwester Agathe, laß mich lieber so hören, was Du mir zu sagen hast; denn Du willst mich schelten – ich weiß es.“

Agathe blickte gütig auf das junge Mädchen.

„Carmen, glaubst Du, daß ich Dich lieb habe?“ fragte sie.

„Gewiß, mehr als sonst Jemand hier,“ entgegnete sie schnell.

„Dann weißt Du auch, daß es Liebe ist, die sich betrübt, wenn ich unzufrieden mit Dir sein muß,“ fuhr Agathe fort. „Warum richtest Du Deine Gedanken immer auf weltliche Dinge und lässest Dich von der Eitelkeit verlocken, anstatt daß Du an den Heiland denkst und darin Deine Person gering achtest?“

„Du zürnst mir, Schwester Agathe, weil ich heute Morgen nicht gleich kundgab, von wie weit her in der Welt ich doch bin. Das ist wahrlich nicht so schlimm,“ rief Carmen lebhaft.

Das würdevolle Gesicht der Chorältesten verfinsterte sich, und ein strenger Blick traf die Knieende.

„Ist denn die Losung des heutigen Tages nicht mit Dir gegangen, wie sie es sollte?“ mahnte sie. „Wie heißt sie doch?“

Carmen erröthete bis an die Schläfe, wo die schwarzen Löckchen sich unter der Haube hervordrängten. Sie besann sich, aber sie wußte wirklich im Augenblick den Spruch nicht zu nennen. Es war ja heute so Vieles durch ihre Gedanken gezogen, Neues ihr entgegengetreten, wo sonst der Tag so gleichförmig und still dahinging.

Schwester Agathe wartete geduldig, daß Carmen's Gedanken sich sammeln möchten; endlich, als der Spruch sich doch nicht in dem widerspenstigen Köpfchen finden wollte, sagte sie:

„Geh, hole die Losung her!“

Doch jetzt, als die Augen des Mädchens nach dem bekannten Platz der Losung über dem alten steifbeinigen Sopha hinflogen, kehrten auch die Gedanken auf den rechten Fleck zurück: sie erinnerte sich des Spruches und sagte ihn schnell her.

„Weide Du Dein Volk mit Deinem Stabe!“ wiederholte nachdrucksvoll Agathe. „Hast Du bedacht, liebe Schwester, was das bedeutet? Dein Volk, das heißt: die welche Dir angehören; mit Deinem Stabe, das heißt: mit der Stütze Deines Willens. Carmen, wie kann der Heiland Dich mit seinem Stabe leiten, wenn Dein eigner Wille sich nicht unter den eines Anderen beugen will und die Eitelkeit Dich regiert?“

Carmen hatte in ihrer knieenden Stellung die Ellenbogen auf Schwester Agathe's Schooß gestemmt und den Kopf auf ihre Hände gestützt; ihre Augen sahen nachdenklich zu der Sprechenden auf, als sinne sie über das, was jene sagte.

„Eitelkeit nennst Du das,“ sprach sie erregt, „und zürnst mir darum, weil ich Fremden nicht gleich erzählen wollte, wonach sie doch gar nicht verlangt und was ihnen ganz gleichgültig, ja lächerlich war, da man es ihnen vorerzählte? O Schwester Agathe, ist es denn nothwendig, daß wir uns zum Gespött der Welt hergeben? Damit wird Gott doch nicht gedient. Und wenn Du über meine Eitelkeit klagst, ist es denn nicht auch eine solche, die Euch dazu verlockt, mit unseren entfernten Geburtsstätten wichtig zu thun? Wollt Ihr damit nicht zeigen, wie Ihr die Fühlfäden überall hin in die Welt gestreckt? Das ist denn doch auch Eitelkeit bei all Eurer Demuth.“

Betroffen blickte Agathe nieder und schwieg einen Augenblick. Dann raffte sie sich auf und sagte streng:

„Vermenge Nichtigkeiten nicht mit dem Ernsten! Das, was jedes schwache Glied der Gemeine zur Verbreitung von des Herrn Kirche thut, geschieht zu seinem Preis und nicht zu dem eignen; wir rühmen uns um des Heilands willen, nicht um uns arme Sterbliche. Was thut es uns, wenn die Welt unser spottet? Sind wir mit dem Heiland und er mit uns, ficht uns die Welt nichts an! Gehe in Dich, liebe Schwester, auf daß Du also das Heil Deiner Seele nicht verlierest! Nimm Dir einen Helfer zur Seite, der Deinen Fuß leitet, wenn er straucheln will! Und siehe, es bietet sich Dir einer an, wie Du treuer und fester keinen finden kannst. Bruder Jonathan Fricke, der treue Freund Deines Vaters, ehrt Dich hoch, indem er Dich zur Gefährtin nehmen will. Er hat mir heute seine Absicht darüber bekundet, und die Aeltesten, mit denen ich darüber gesprochen habe, geben ihre Zustimmung zu diesem Bunde.“

Carmen hatte todtenbleich, mit weit geöffneten Augen, die Worte Agathe's angehört; als diese jetzt schwieg, sprang sie empor und sich von ihr hinwegkehrend, stieß sie rauh und heftig heraus:

„Ich aber will ihn nicht zum Manne haben.“ [681] „Carmen, liebe Schwester, Du willst den Jonathan nicht zum Manne? Du überlegst wohl nicht, was Du da sagst,“ mahnte Agathe.

„Doch, Schwester Agathe,“ antwortete Carmen schnell, die großen leuchtenden Augen fest auf sie richtend. „Weißt Du, wie es ist, wenn man den kalten Leib einer Schlange berührt. Wie ich als kleines Mädchen noch auf der Plantage des Vaters war, da sah ich eines Tages unter einer Agave einen grün schillernden Zweig liegen und als ich begierig darnach faßte, war es der kalte, feuchte Leib einer Schlange, die bei meiner Berührung emporschnellte und sich behende um meinen bloßen Arm ringelte. Ich konnte vor Entsetzen nicht schreien, vor Grauen kein Glied bewegen, Sara aber, die getreue Schwarze der Mutter, sah es; sie riß mir die Viper vom Arme und schleuderte sie weit fort in's Gebüsch. Schwester Agathe, wenn Bruder Jonathan mir naht, fühle ich denselben Schauer mich durchrieseln, dasselbe Entsetzen meine Glieder lähmen, wie damals, als die Schlange meinen Arm umringelte. Ich könnte ihn nicht um mich sehen, täglich, stündlich – ich könnte es nicht ertragen, zu ihm 'mein Gatte' sagen zu müssen – ich könnte es um Alles in der Welt nicht.“

Carmen hatte immer lebhafter und erregter gesprochen – athemlos schwieg sie jetzt.

„Nicht um Alles in der Welt, aber um Deines Heiles willen mußt Du es können; stoße Dein Heil jetzt nicht thöricht von Dir!“ warf Agathe verweisend ein. „Als Bruder Jonathan's Weib wirst Du die Gehülfin seines tugendreichen Lebens, seines werkthätigen Strebens sein. Wir sind nicht auf dieser Erde, daß wir uns im Wohlleben freuen, sondern daß Jedes das Reich Gottes fördern helfe und in sich ein Kirchlein des Herrn erbaue.“

„O Schwester Agathe, glaube mir doch, mit Freuden will ich Krankenpflegerin werden und Mühen und Lasten solchen Berufes tragen, aber Eines erspare mir: Bruder Jonathan anzugehören! Nein, das kannst, das darfst Du nicht von mir verlangen,“ wehrte sich das Mädchen mit hervorbrechenden Thränen.

„Nun, Carmen, ich zwinge Dich ja nicht, obwohl es mir leid ist um Deinetwillen,“ sagte Agathe, indem sie aufstand. „Gehe nun hin zum Gebet, und prüfe dort Dein Herz vor dem Herrn, auf daß Du nicht von Dir stößest, was Dir zum Heil ist!“

Und Carmen auf die Stirn küssend, entließ sie dieselbe.

Es war die Zeit zu dem täglichen Abendgebet, aber Schwester Agathe zögerte noch immer. Das milde Licht der Lampe beschien ihr kummervolles Gesicht – sie blickte sinnend vor sich hin.

„Was sich doch für Gedanken in diesen Kindskopf drängen!“ flüsterte sie. „Vielleicht – sie könnte Recht haben – – Eitelkeit! Wie mich dieses Wort von ihr erschreckt hat! Man kann sich nicht genau genug kennen und kennt doch gewöhnlich Andere mehr, als sich selbst. Das Kind hat mir eine harte Lehre gegeben. Ich muß mich ernster prüfen, muß strenger mit mir sein, ehe ich Andere berathen und führen kann, Herr, mein Erlöser, hilf Du mir zur rechten Erkenntniß, wo es mir noththut!“ Sie löschte die Lampe aus und begab sich nach dem Betsaal zu den versammelten Schwestern.




4.

Eine Woche war hingegangen, und die Bewegung, welche durch Bruder Daniel's Abreise hervorgerufen worden, hatte alsbald wieder der stillen Arbeitsamkeit und den gewöhnlichen religiösen Uebungen Platz gemacht.

Leicht war diese kurze Zeit Adelen nicht geworden; das Aufgeben des eigenen Naturells und das völlige Sicheinfügen in eine ihr so fremde Lebensart fiel ihr schwer, keines unter den jungen Mädchen ihrer Umgebung erweckte ihre Sympathie – Carmen ausgenommen; die Vorliebe, welche die Mutter für das Mädchen empfand, hatte sich schnell auch der Tochter mitgetheilt, und Carmen's warmes, dankbares Herz, das so ergriffen war von der Güte, welche Frau von Trautenau ihr bewiesen hatte, glaubte Adele nicht freundlich genug begegnen zu können. Ihr lebhaftes, heiteres Wesen, das, unbeirrt durch die sie umgebende Abgemessenheit und Stille, immer frisch und natürlich hervorsprudelte, wurde eine wirkliche Wohlthat, ein Halt und Trost für Adelen. Mit leidenschaftlicher Schwärmerei umfaßte und liebte diese das schöne Mädchen, und der erste Brief, der von ihr nach Hause gelangte, erging sich ausführlich über Alles, was Carmen betraf. Sie erzählte, wie diese ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert habe und daß sie nun am Häubchen die Rosaschleife trage, statt der feuerrothen; Carmen habe jetzt den Unterricht der Kinder in der englischen Sprache übernommen, und Alle freueten sich auf die neue Lehrerin; Alle liebten sie so sehr.

Carmen's heitere Gemüthsruhe war durch das, was Schwester Agathe ihr in Betreff Bruder Jonathan's eröffnet hatte, durchaus nicht gestört und beunruhigt worden. Schwester Agathe hatte sie zwar am andern Morgen noch einmal gefragt: ob ihr nicht die rechte Einsicht im Gebet gekommen sei und nun eines [682] Besseren besonnen habe? Doch Carmen beharrte bei ihrer erklärten Weigerung.

Bruder Jonathan schien diese Abweisung ruhig hinzunehmen, und wenn er ja etwas wie Kränkung oder gar Enttäuschung deshalb empfand, so mußte seine Selbstbeherrschung groß sein, denn sein Gesicht veränderte nicht im geringsten den Ausdruck frommer, ergebener Ruhe, und in seiner Stimme zitterte nicht der leiseste Hauch von Gereiztheit wieder, sodaß Schwester Agathe sich zu ihrer Beruhigung sagte:

„Es war ja nur ein Opfer, das er, selbstlos wie immer, für das Heil des Mädchens bringen wollte.“

Jonathan führte sein Beruf häufig in das Schwesternhaus, aber er verkehrte dort nur mit den Kranken und deren Pflegerinnen, zwar kam er jetzt öfter und zu verschiedeneren Tageszeiten als bisher in das Haus, um, wie er sagte, nach dem und jenem, was er vergessen, zu sehen, und wenn er da langsam mit seinen lautlosen Schritten durch die Gänge wandelte, traf er selten auf eine der Schwestern, auf Carmen aber nie.

Heute war nach einem Regentage noch ein schöner Abend gekommen, der klar und mild hernieder dämmerte. Carmen führte die kleine Frieda, mit welcher sie Frau von Trautenau neulich auf der Straße getroffen hatte, in das Elternhaus zurück, da das Kind nur während des Tages in Gesellschaft der andern Kinder in der Anstalt verweilte. Sie schlug einen kleinen Umweg ein und mäßigte ihre gewöhnlich so flüchtigen Schritte, um noch etwas länger die balsamische Frühlingsluft einzuathmen. Sie ging einen einsamen Weg zwischen Gärten dahin, wo an den Hecken der Weißdorn die ersten Blüthen entfaltet hatte und der süße Geruch der Veilchen aus dem Grase zu ihr emporduftete, sodaß sie sich verlangend bückte, um einige der holden Erstlingsblümchen zu pflücken.

Plötzlich hatte sie das unbehagliche Gefühl, als stehe Jemand hinter ihr, obgleich sie auf dem weichen Boden keine Schritte vernommen hatte. Sie erhob sich hastig – da legte sich schnell ein starker Arm um ihre Schultern und sie fühlte sich gewaltsam an eines Mannes Brust gerissen. Sie wollte um Hülfe rufen, aber der Athem versagte ihr; denn sie sah in Bruder Jonathan' s heiße Augen, und es war ihr, als erstarrte sie unter dem Druck seines Armes, wie damals, als die Schlange sie umringelt hatte.

Wie verwandelt war doch sein Gesicht! Leidenschaft und Gewaltsamkeit war, wie die verheerende Gluth des Vulcans, darüber ausgegossen und strömte in brennenden Worten über seine Lippen:

„Carmen, so jung, so heißen Blutes wie Du bist, solltest Du nicht Liebe erwidern können, die leidenschaftlich, verlangend Dir entgegenschlägt?“ rief er aus. „Du sahst nur den kühlen, bedächtigen Mann in mir, der Dich zur Gefährtin nehmen wollte, und wiesest ihn ab. Den glühend Liebenden aber, der Dich zum Weibe begehrt, um mit Dir die Wonne des Himmels in unaussprechbaren Freuden auf Erden zu genießen, o Carmen, den weise nicht von Dir zurück! So, lege Dein Köpfchen an meine Brust und fühle das gewaltige Schlagen meines Herzens – es ist die Sehnsucht, die nach Dir verlangt und so ruhelos darin klopft. Sieh mir in's Auge, laß' an meiner Gluth die Deine sich entfachen, in meiner Liebe Dein Herz aufgehen! Liebe, Liebe! Carmen, hast Du es vergessen, wie wir uns lieben sollen, Bruder und Schwester? Nein, mehr noch, uns selbst hingebend ohne Vorbehalt! Liebe mich also, Mädchen, wie ich Dich, und sei mein!“

Ihr Kopf hatte an seiner Brust gelegen – ihre Arme kraftlos von den seinigen umschlungen, war sie wie das dem Tode verfallene Vögelchen, das der Schlange nicht zu entrinnen vermag. Jetzt, als er athemlos schwieg, suchten seine heißen Lippen ihren bleichen, vom Schrecken fest geschlossenen Mund – er küßte sie begehrlich. Da erfaßte sie Entsetzen und Ekel. Mit einem gewaltsamen Ruck sich von ihm losreißend, floh sie einige Schritte zurück; dann, den Rücken durch die Hecke gedeckt, kehrte sie ihm das zürnende Antlitz zu, und die Augen funkelnd auf ihn richtend, rief sie:

„Zurück, Abscheulicher! Wie darfst Du es wagen, mich also zu berühren? Nahe mir nicht wieder, oder ich lasse meine Stimme laut ertönen, daß Himmel und Erde mir zu Hülfe kommen.“

Sie stand so wild erregt, so stolz und empört vor ihm da, daß er nicht wagte, ihr auf's Neue zu nahen, ja es flirrte ihm vor den erhitzten Augen, als sei noch eine andere Gestalt neben ihr, welcher sie so sehr glich und die ihr nun drohend und helfend zur Seite stehe.

„Ich will Dir nicht wieder nahen, wenn Du es nicht magst, Carmen, und verzeihe mir meine stürmische Leidenschaft!“ bat er dringend. „Aber versprich mir, daß Du mir gehören willst! Du bist ja nicht kalt, Carmen; Du wirst, Du mußt mitempfinden, was ich fühle. Laß mich Dir zeigen, was das Glück der Erde ist, das Du vielleicht ahnst, aber in seiner süßen Wonne nicht kennst!“

Das Mädchen schwieg. Ihre Antipathie gegen Jonathan war so alt wie ihr Erinnerungsvermögen; schon auf Jamaica war er ihr ein Gegenstand des Widerwillens gewesen, aber sie vermochte keinen Grund für ihre Abneigung anzugeben, und was sie von dem Mann wußte, sprach alles so sehr zu seiner Ehre, daß ihre Antipathie als ein völlig unberechtigtes Gefühl erscheinen mußte. Er genoß die Achtung und Verehrung der ganzen Gemeine; seine Frömmigkeit und Sittenstrenge, seine Enthaltsamkeit und Demuth waren hervorragend, selbst unter diesen frommen Seelen. Gegen Carmen war er in neuerer Zeit von besonderer Freundlichkeit gewesen, was von ihm, als dem Freund ihres Vaters, ihr erklärlich dünkte, aber nur ihr vermehrtes Unbehagen erweckte, sodaß sie den Aeußerungen seiner wohlwollenden Gesinnung zu entgehen suchte, wo sie es nur konnte. Ihre Ablehnung, ihn zu heirathen, glaubte sie ohne besondere Bedeutung für ihn, da sein Antrag ihr eben nur als ein Beweis dafür erschienen war, er wolle seine Freundschaft vom Vater auf die Tochter übertragen.

Nun erschreckte sie diese plötzlich hervorbrechende Leidenschaft, wenn sie auch in ihrem kindlich unschuldvollen Gemüthe nicht wirklich verstand, was sie daran so tief verletzte. Aber der Gedanke, daß er sie liebe und sie diese Liebe doch nimmermehr erwidern könne, erweckte in ihr die Scheu, ein ihr unverständliches, vielleicht tiefes Empfinden zu verletzen, und sie zwang sich daher zur Mäßigung ihrer empörten Gefühle, indem sie ihm endlich antwortete:

„Verzeihe mir, wenn ich Dir wehe thun muß, Bruder Jonathan, aber ich kann es nicht ändern – ich vermag's nicht, Dich zu lieben, wie Du es begehrst; ich wünsche und verdiene es auch nicht, daß Du ein so warmes Empfinden mir schenkst.“

„Carmen, das ist nicht Dein Ernst. Ich habe Dich erschreckt – besinne Dich! – laß dieses nicht Dein letztes Wort sein!“ Er trat nun doch wieder einige Schritte auf sie zu, aber Carmen wich scheu vor ihm zurück.

„Ich kann nichts Anderes,“ sagte sie fest, „jetzt aber laß mich, bitte, ruhig meines Weges heimgehen; Schwester Agathe harrt schon meiner.“

Bei Nennung dieses Namens schrak er zusammen und sah mit verstörten, unruhigen Blicken auf Carmen hin. Es wurde ihm plötzlich klar, von wie furchtbar zerschmetternden Folgen sein Benehmen gegen Carmen für ihn werden könne. Wie lähmende Furcht erfaßte ihn der Gedanke an das Gesetz der Brüderschaft, welches vorschrieb, daß alle Glieder der Gemeine jeglichen Fehl gegen die Moral, den sie an irgend einem Mitgliede der Brüderschaft gewahren, dem betreffenden Chorältesten zu entdecken haben, auf daß der Fehlende vermahnt werde. Wer da gefehlt hat, wird ein oder mehrere Male von der allmonatlichen Abendmahlsfeier ausgeschlossen, bis er durch Reue bekundet, daß eine Umkehr zum Guten in seiner Seele erfolgt sei. Hat aber die Strafe noch nicht die rechte Besserung hervorgebracht, so wird dem Betreffenden der Aufenthalt im Gemeinort für eine Zeitlang untersagt, strengsten Falls aber wird er ganz aus der Brüdergemeine ausgeschlossen.

Er, Bruder Jonathan, der bisher so makellose, mit sich und Andern so strenge, vielleicht plötzlich angeklagt, vermahnt, bestraft! Es war ein entsetzliches Bild gefallener Größe, welches sich bei Nennung Agathe's, der Aeltesten des ledigen Schwesternchores, ihm aufdrängte. Seine alte Selbstbeherrschung kehrte ihm auf ein Mal wieder; er fuhr mit der Hand über Stirn und Augen hin, als könne er so die Leidenschaft verwischen, die dort eben noch mit brennenden Lettern geschrieben stand, und es glückte ihm auch einigermaßen, einen gesammelteren Ausdruck anzunehmen und seiner Stimme etwas von der alten Ruhe wiederzugeben.

„Du hast gesehen, liebe Schwester, daß Leidenschaften uns hinterrücks überkommen, und was sie aus uns machen können, so sehr wir uns bestreben mögen, vor dem Herrn zu wandeln und unser Herz ihm darzubringen,“ versuchte er im alten Tone der [683] Demuth zu sprechen. „Vermagst Du es nicht, mir Deine Liebe zu schenken – kannst Du da nicht wenigstens über die meinige schweigen und vergessen, was ich Dir gesagt und gethan habe und was ich in Zerknirschung dem Herrn abbitten will?“

Carmen sah ihn mitleidig an; sie hatte so viel Leid über die Seele dieses Mannes gebracht, daß sie ihren Widerwillen etwas überwand und, Thränen im Auge, zu ihm sagte:

„Sei deshalb aller Wege beruhigt, Bruder Jonathan! Ich verrathe Dich nicht – vergiß Du selbst diese Stunde, wie ich sie zu vergessen suchen will.“

Dann wendete sie sich um und eilte, so schnell die Füße sie zu tragen vermochten, in den sicheren Hort des Schwesternhauses zurück. – –

Von diesem Abend an war Carmen's Ruhe hin. Ihre Empörung über Jonathan wurde noch von der Furcht vor ihm überwogen. Die wilde Gluth seiner Gefühle war zu unbändig und gewaltsam hervorgebrochen, als daß Carmen hätte glauben können, sie vermöchten so schnell zu verlöschen.

Ein tiefes Weh des Verlassenseins überkam sie. Die Mutter todt, auf dem fernen Eiland im Ocean unter tropischer Sonne begraben – der Vater vielleicht erschlagen, eingescharrt unter einem andern heißen Himmelsstrich, und sie unter Fremden lebend und der geistigen Zugehörigkeit zu denselben entbehrend.

Sie vermied Jonathan, und auch er schien ihr jetzt geflissentlich aus dem Wege zu gehen. Von der nächsten Abendmahlsfeier hatte er sich selbst ausgeschlossen, indem er demüthig erklärte: sich diesmal dazu nicht würdig genug zu fühlen. Er hatte gut gerechnet: seine Erklärung wirkte da, wo sie wirken sollte – Carmen beklagte ihn in ihrem Herzen der Reue wegen, die ihn mit so sichtlichem Schmerze erfüllte – wie hätte ihr reines Gemüth an Heuchelei zu glauben vermocht!

Im Brüderhause, wo Jonathan im Chor der ledigen Brüder wohnte, fand man dieselbe ruhige Sammlung, dieselbe gemessene Handlungsweise an ihm; seine Kranken genossen die nämliche Fürsorge und Umsicht wie bisher, aber er sah aus wie angegriffen von vieler Arbeit, und Thomas, sein alter Gehülfe und Diener, den er aus der neuen Welt in die alte mit herüber gebracht hatte, meinte: er stöhne jetzt oft so schwer im Schlafe auf, als ob der Alp ihn bedrücke.

Carmen sah ihn nicht ohne Mitgefühl leiden – seit dem schmerzlichen Erlebniß mit dem Bruder Jonathan athmete sie doppelt schwer in der drückenden Luft des Schwesternhauses. Da kam es wie eine willkommene Erlösung aus jetzt so bedrückender Umgebung, daß, als das Pfingstfest nahte, Frau von Trautenau bat, Adele möchte in Begleitung der so zärtlich geliebten Carmen die Festwoche bei ihr in Wollmershain verbringen. Schwester Agathe gestattete ihrem Zöglinge freundlich diese kleine Erholung. – –

Wollmershain war ein schönes, großes Gut, das nach dem Tode des Vaters die drei Geschwister gemeinschaftlich geerbt hatten. Frau von Trautenau hatte ihren Wittwensitz dort genommen, bis der eine oder der andere der beiden Söhne es einmal bewirthschaften oder pecuniär in der Lage sein werde, es allein zu übernehmen und seinen Geschwistern ihr Theil herauszuzahlen. Das Verhältniß zwischen Frau von Trautenau und ihrem Stiefsohn war ein stets ungestört schönes gewesen; er verehrte die Stiefmutter sehr, die ihn mit großer Liebe erzogen hatte, und sie wiederum gab viel auf seine Ansicht und auf seinen Rath, und sah in ihm ihre Stütze, seitdem sie Wittwe geworden war.

In dieses schöne Familienleben trat nun Carmen wie in eine neue Welt. War ihr in der Gemeine die Liebe unter den Brüdern und Schwestern immer nur in dem herben Gewande der Pflicht erschienen, so gab sie sich hier mit ihrer ganzen wohlthuenden Wärme als die natürliche Regung des Herzens.

In der Ausschmückung des Hauses, in der Anlage des Parkes war, neben dem Praktischen und Bequemen, dem Schönheitssinn überall Rechnung getragen worden, und die hohen, lichten Räume mit einfacher Eleganz ausgestattet und geschmückt, die grünen Rasenflächen des Gartens mit dem reichen Flor der Frühlingsblumen, die großartigen Alleen der mächtigen alten Bäume und die stillen, lieblichen Plätzchen mitten in den Waldpartieen – in all dem athmete ein Zauber, den Carmen nur mit dem vergleichen konnte, welcher in ihrer Erinnerung die Plantage und die Hacienda des Vaters auf Jamaica umgeben hatte.

Alexander und Hans waren der Festtage wegen heimgekommen, und während Adele sich mit Letzterem im Haus und Garten herumtummelte, blieb Carmen, die sich scheu von Alexander zurückzog, auf die Gesellschaft der Frau vom Hause angewiesen und schloß sich mit wahrhaft kindlicher Innigkeit an diese mütterliche Freundin an. Es war auch mehr deren Nähe, was sie in Wollmershain beglückte, als daß ihr das veränderte freiere Leben Freude gewährt hätte; denn sie fühlte in dieser neuen Freiheit etwas wie Befangenheit, und das Aufsehen, welches ihre Erscheinung veranlaßte, hatte für sie etwas Beängstigendes. Um nicht aufzufallen, hatte sie schon das weiße Häubchen abgelegt, sodaß ihre Kleidung sich nicht wesentlich von den Anderen unterschied, aber ihre Schönheit, gehoben durch den Kranz blauschwarzen Haares, der nun den edlen Kopf bekränzte, war so außerordentlich, so fremd und eigenthümlich, daß sie wie eine exotische Blume erschien, die mit wunderbarer Pracht in Form und Duft aus dem Schatten der Palmen in unsere Treibhäuser versetzt worden ist; sie erregte die Bewunderung Aller. Dabei war in Carmen ein eigenthümliches Gemisch von Stolz und Würde mit Demuth und Bescheidenheit, das eine die Sicherheit der Dame, das andere die Schüchternheit des Kindes.

Vielleicht war es hauptsächlich der Gedanke, daß die Eigenthümlichkeiten der Brüdergemeine vielfach in der Welt verspottet und verlacht werden, was sie immer, sobald sie mit Anderen als Frau von Trautenau zusammen war, den Stolz zur Abwehr und Waffe herauskehren ließ; besonders Alexander gegenüber war sie in stetem Vertheidigungszustand, und er hatte doch jetzt mit keiner Miene und keinem Wort eine Veranlassung dazu gegeben.

„Sie hat Rasse und Feuer in sich, wie ein edles Vollblutroß,“ sagte der alte Oberst von Bergen, der aus der nahen Garnisonstadt mit seiner Tochter und seinem Adjutanten eines Tages nach Wollmershain gekommen war. „Es ist eine Lust, sie herauszufordern, damit man dieses Auge emporflammen sehen kann. Pohlen,“ wendete er sich an seinen Adjutant, „Sie scheinen auch nicht glücklich zu sein mit dem, was Sie ihr über Mittag sagten; denn die Lippen der jungen Dame kräuselten sich bedenklich auf, als hätten Sie ihr eine Beleidigung angethan, und ihre Augen sahen sehr stolz über Sie hinweg.“

Der Angeredete lachte verdrießlich. „Und doch war es Zuckerbrod, das ich ihr reichte. Ich fragte, ob alle Creolinnen in Jamaica auch so schön seien, wie sie selbst. Das ist doch bei allen Göttern schmeichelhaft genug, und so eine kleine Herrnhuterin, welche die Demuth vor allen Anderen gepachtet haben soll, braucht deshalb nicht den Kopf aufzuwerfen und hochmüthig um sich zu blicken.“

Die Herren saßen auf der Veranda des Hauses, ihre Cigarre nach dem Mittagsmahle zu rauchen und dehnten sich behaglich in den Schaukelstühlen. Alexander, der zunächst an der Treppe, welche nach dem Garten hinabführte, hinter den in voller Blüthe stehenden Syringiensträuchen saß, war bei den Worten Pohlen's sehr roth geworden und sagte mit dem Ton scharfer Zurechtweisung:

„Herr Camerad, 'Creolin' ist wohl eine Bezeichnung, die hier nicht am Platze ist, überhaupt aber von den Betreffenden nicht gern gehört wird. Uebrigens kommt eine Schmeichelei oft einer Beleidigung gleich – vermuthlich hat das Zartgefühl der jungen Dame die Ihrige so aufgenommen.“

„Meinen Sie?“ sagte Pohlen gedehnt. „Jedenfalls ist diese Art mir neu – vornehmere Damen wüßten wenigstens eine dargebrachte Huldigung anders aufzunehmen, und ich werde auch ein zweites Mal die stumme Abweisung dieser Herrnhuterin nicht wieder so geduldig einstecken, sondern ihr so wieder dienen, wie sie mir.“

Alexander verfärbte sich. Sein Blut kochte in Unwillen auf, und die gewaltsame Beherrschung seiner selbst, einen ruhigen Ton beizubehalten, ließ ihn erbleichen, als er Herrn von Pohlen einwarf:

„Vornehmere Damen? Das Vornehmere setzt das Würdigere voraus. Uebrigens, Herr von Pohlen, bin ich überzeugt, Sie werden nie und in nichts vergessen, daß diese junge Dame der Gast meiner Mutter ist, als solche unter meinem ganz besonderen Schutze steht und jede Kränkung oder Verletzung, die ihr hier widerführe, eine mir angethane wäre.“

„Meine Herren, ich bitte auf dem Standpunkte des Scherzes stehen zu bleiben, von dem wir ausgegangen sind, und keinen Ernst aus dem Gesprochenen zu machen,“ warf hier der Oberst

[684] schnell begütigend ein. „Es versteht sich von selbst, daß Herr von Pohlen das nicht vergißt, was er diesem gastlichen Hause und seinen Inwohnern schuldig ist. Laufen Sie sich doch lieber gegenseitig den Rang ab, Sie beiden glücklichen Ritter, denen die Jugend noch gegeben ist, und sehen Sie zu, welcher von Ihnen die Gunst dieser bildschönen jungen Dame erlangt! Ich sage Ihnen, ich beklage nichts mehr, als meine sechszig Jahre – sonst wollte ich Ihnen die Avance streitig machen.“

Alexander hatte sich erhoben, und indem er an die Stufen der Freitreppe ging, sagte er:

„Wenn es Ihnen recht ist, Herr Oberst, suchen wir nun die Damen auf, die uns im Garten erwarten werden.“

Er hielt zu sprechen inne; denn am Fuß der Treppe stand Carmen, wie unschlüssig, ob sie hinaufgehen oder umkehren solle. Sie mußte die vorhergehenden Reden gehört haben; denn sie sah bleicher aus als gewöhnlich. Er ging schnell die Stufen zu ihr hinab; sie hob den Kopf empor und ließ ihn ruhig kommen, nur die feinen Nasenflügel zitterten wie in innerer Erregung. Als er neben ihr stand, sagte sie leise: „Ich danke,“ und ein Blick aus den schönen schwarzen Augen streifte ihn sanft und weich. Dann übergoß sie plötzlich dunkle Röthe; denn sie sah die beiden anderen Herren eben an der Treppe erscheinen. Die Schüchternheit und Befangenheit, sich so allein mit den Herren zu sehen, überkam sie.

„Ich wollte ein Kissen für Frau von Trautenau holen,“ sagte sie verlegen.

„Erlauben Sie mir, Fräulein Carmen, daß ich für Mama das mit hinausbringe,“ kam ihr Alexander zu Hülfe und eilte wieder hinauf, während sie sich entfernte.

Es wurden nun Spiele auf dem Rasen veranstaltet. Fräulein von Bergen, ein munteres Mädchen, brachte sie schnell in Gang. Es waren dieselben Gesellschaftsspiele, welche Carmen so oft im Schwesternhaus mit den Pensionärinnen und Schwestern geübt hatte, aber wie anders waren sie hier, wo die Herren sich mit in den Kreis stellten und Fräulein von Bergen diese ungenirt schlug oder im Laufe fing! Carmen hätte das nie vermocht; sie lachte mit und war fröhlich, aber sie begnügte sich, ihren Scherz an Adele auszuüben und sich von dieser fangen zu lassen, während sie jeder Berührung mit den Herren sorgsam auswich.

Da fiel ein Regentropfen, bald noch einer, und endlich ein tüchtiger Frühlingsgewitterschauer, der die Gesellschaft aus dem Garten in den Salon vertrieb, aber die Stimmung war nun einmal angeregt, und man fand dort an dem ruhigen Sitzen keinen Gefallen.

„Papa, führe Deinen Schlachtengaul in's Feuer!“ bat die Tochter den Oberst, und dieser war auch, gutmüthig genug, gleich dazu bereit, sich an den Flügel zu setzen und das einzige Musikstück, das er zu spielen vermochte, einen Geschwindgalopp, herunterzutrommeln. Herr von Pohlen ergriff Fräulein von Bergen, Hans seine Schwester, und die beiden Paare drehten sich im Fluge durch den Saal.

Carmen sah leuchtenden Blickes ihnen nach; ein zartes Roth froher Erregung übergoß ihre Wangen; ihr kleiner Fuß schlug unwillkürlich den Tact, und den schönen, schlanken Körper sanft vorgebeugt, schien ihre ganze Gestalt Rhythmus zu sein.

„Möchten Sie nicht auch tanzen?“ fragte da Alexander's Stimme neben ihr.

„Ja, ich möchte gar zu gern,“ sagte sie offenherzig mit lieblichem Lächeln, ohne den Blick von den Tanzenden zu kehren. „Welche Lust muß es sein, so dahin zu fliegen!“

Alexander betrachtete sie mit Bewunderung; so voll leuchtender Freude hatte er sie noch nicht gesehen. „Wollen Sie es da mit mir versuchen, Fräulein Carmen?“ bat er mit Wärme.

„Ich kann aber gar nicht tanzen, wenigstens solchen Tanz nicht,“ entgegnete sie, das strahlende Antlitz zu ihm hinwendend.

„O, das lernt sich schnell – vertrauen Sie sich nur meiner Führung an! Legen Sie, bitte, Ihre Hand auf meinen Arm, der Sie fest umschlungen halten wird, und folgen Sie meinen Bewegungen!“sagte er erfreut und wollte den Arm um ihre Taille legen.

Bei dieser Bewegung aber sah sie ihn erschrocken an und trat betroffen zurück. Bis jetzt hatte noch keines Mannes Arm sie umschlungen – außer dem Jonathan's in wahnsinniger Leidenschaft.

„Ich kann es nicht – nein, es ist unmöglich,“ stammelte sie erschrocken.

„Dann verzeihen Sie meine Bitte, Fräulein Carmen!“ entgegnete Alexander kühl und verbeugte sich.

„Abgewiesen!“ lachte ihn Pohlen höhnisch an, da er eben zu tanzen aufgehört und Alexander's Mißerfolg mit angesehen hatte.

„Ja, aber wie sie abzulehnen weiß, das ist vielleicht von mehr Werth, als wir Andern annehmen,“ entgegnete dieser ernst.

Als am Abend die Familie auseinander ging und Carmen wie gewöhnlich Frau von Trautenau, Adele und Hans die Hand zum Nachtgruß geboten hatte, stand sie einen Augenblick noch zögernd da, unentschlossen und befangen, dann aber trat sie schnell auf Alexander zu, und das Antlitz von sanftem Roth übergossen, bot sie ihm die Hand. Sie hatte Alexander als ihren Gegner betrachtet und als solchen consequent gemieden. Heute jedoch war er ihr Vertheidiger und Beschützer gewesen, und zum Danke dafür hatte sie ihn verletzt. Sie war ihm eine Genugthuung schuldig, das fühlte sie, und als sie ihm jetzt die kleine Hand hinhielt und „gute Nacht“ wünschte, sah sie ihn bittend an, und es war, als ob sie sagen wolle: „Sei mir nicht böse!“

Ueberraschung und Freude flammte auf seinem Gesichte auf. Ihr Auge, so bezaubernd, wenn es im Feuer der Erregung blitzte, wie unwiderstehlich war es, wenn es so wie jetzt im weichen, warmen Glanze der Bitte sich aufschlug und schüchtern, sanft und vertrauend in seiner unergründlich tiefen Nacht vor ihm lag! Ihm war, da er voll Entzücken hineinsah, als ob er nimmer wieder sich davon losreißen könne. Sie aber senkte tief erröthend die Augen nieder. Da beugte er sich über ihre dargebotene Hand, und sie ehrfürchtig küssend, fühlte er sich stolz beglückt, als ob eine Königin ihn zum Handkuß zugelassen habe.

Von diesem Augenblicke an gestaltete sich Carmen's Verkehr mit Alexander freundlicher, aber freilich konnte es nur von kurzer Dauer sein; denn es waren nur noch zwei Tage, die sie gemeinsam in Wollmershain verleben konnten – dann kehrte Carmen mit Adele wieder in die Colonie zurück.




5.

„Liebe Heimath, da bist du ja endlich!“ rief ein einsamer Wanderer und blieb, auf seinen Stab gestützt, stehen. Er nahm den Hut ab, als grüße er den Ort, der da vor ihm lag, und seine Hände falteten sich andächtig auf dem Stabe. Sein Fuß schien ermüdet, sein Körper erschöpft von langem Wandern – eine kurze Strecke nur trennte ihn noch von den ersten Häusern, aber er hielt doch hier an, wie um die Seele zu erlaben an dem Anblick, der sich ihm darbot.

Da lag vor ihm der kleine Ort der Colonie, in das sanfte Licht des Juni-Abends getaucht; leuchtende Wölkchen warfen Goldfunken auf die Spitzen der Dächer und an die Scheiben der Fenster und zitterten auf dem kleinen Spiegel des Flüßchens wieder, das mit leisem Gemurmel grüßend dem Dastehenden entgegensprang; lang gedehnt, streckten sich die dunkeln Schatten der Hügel in das Thal hinab, welches sich rechts von ihm öffnete und aus dessen Tiefe die alte, ihm so liebe Mühle hervorsah, während vorn auf den Wiesen um den Erlenteich die feuchten Dünste nebelhaft ihre Gebilde woben und der würzige Duft frischen Heues von dort herüberzog. Es war ein liebliches, friedliches Bild, das den Mann tief zu bewegen schien.

Und doch, er hatte Größeres, Schöneres, Erhabeneres auf der Erde gesehen! Er hatte das Meer befahren, und in der Großartigkeit dieses Anblickes hatten sich seine Gedanken verloren, um doch größer zu ihm zurückzukehren; unter der tropischen Sonne war er gewandelt; Palmen und Magnolien hatten sein Haus beschattet und die unendlichen Reichthümer der westindischen Welt ihr Füllhorn verschwenderisch über ihn ausgeschüttet; er hatte in die heiligen Fluthen des Ganges geblickt und die Tempel des Seligkeit spendenden Benares sich darin spiegeln gesehen; in „der Heimath des Schnees“, am Himalaya war er gewesen, und die Eiseskrone des Dhawalagiri hatte gigantisch nebelhaft zu ihm herabgeblickt in die grünen Thäler mit Bananen und Reisfeldern; er hatte die mongolischen Steppen durchwandert, und in die filzbedeckte Jurte des Nomaden hatte die feierliche Größe des weiten Sternenhimmels zu ihm hereingesehen – aber nie und nimmer hatte die Stimme des Heimwehs in ihm geschwiegen.

„Heimath!“ Das ist, als ob wieder der Tisch der Mutter uns winke und das Wort des Vaters uns rufe, wie damals, als [686] wir, noch Kinder, am Abend die Schwelle überschritten und uns traulich und süß zur Ruhe ausstrecken konnten. Und ob aus dem Kinde ein Greis geworden, ihm ist es doch noch immer, als ob dort erst wieder die Ruhe ihm winke.

Das Leben, was macht es doch aus uns! Als junger Mann mit blonden Locken war er frisch und muthig vor dreißig Jahren fortgezogen, in einen neuen Welttheil. Welches Glück hatte er seitdem sein genannt, welches Leid gekostet, und ach! wie viel Schuld und Trübsal getragen!

Und nun stand er wieder hier, die hohe, sonst über Alle hervorragende Gestalt gebeugt – war es von Leid, von Schuld oder von der Erschöpfung des Wanderns? – die blonden Locken weiß wie der Schnee des Himalaya, nur in den großen, blauen Augen noch etwas von dem leuchtenden Lenze des Lebens. – „Liebe Heimath, da bist Du nun endlich,“ sprach er vor sich hin. Und seine Brust hob sich wie im Danke, als löse sich von ihr eine Last befreiend und erleichternd, und je länger er hinsah, um so mehr füllten sich seine Augen mit Thränen, und er weinte zum ersten Male wieder, wie das Kind es sonst gethan.

Das Wolkengold am Himmel droben war inzwischen erloschen; die Dämmerung breitete ihre Schleier über die Erde hin, und der Abendwind erhob sich und spielte mit dem weißen Haare des Mannes.

„Es muß jetzt neun Uhr sein. Sie werden nun in die Singstunde gehen und das Abendgebet halten, wie es ehedem geschah, wie es auch heute sicher noch ist und immerdar sein wird; denn was sollte sich hier ändern? O, ich will hineintreten und fragen, ob mein Kind noch lebt, auf daß sich doch vielleicht Eines freue, weil ich wiedergekommen bin.“

Darauf, nach einer Weile, drückte er den Hut wieder fest auf die Stirn, rückte die Tasche, die über seine Schultern hing, zurecht, und auf den Wanderstab sich stützend, ging er auf die Colonie zu.

Es hatte sich hier nicht viel verändert, seitdem er fort gewesen. Einige neue Häuser waren hinzugekommen, aber die alten waren noch da, auch das, welches ehemals sein eigen war, vom Vater her, und in welchem er den Leinwandhandel betrieben hatte, bis er mit seiner ersten Frau in die neue Welt gegangen war. Leute kamen aus dem Betsaal zurück; da und dort saßen noch Einige vor den Thüren, sich am milden Sommerabend zu erfreuen, und er sagte ihnen sein „Grüß dich Gott, lieber Bruder – liebe Schwester!“ und sie dankten ihm freundlich, aber fremd; denn Keines kannte ihn, sondern sie sahen ihm nur erstaunt nach, wie er so müde dahinwankte und nach dem Schwesternhause ging.

„Das ist nicht das Brüderhaus, lieber Bruder,“ sagte berichtigend ein junger Mann zu ihm.

„Ja, ich weiß es, ich finde mich noch hier zurecht,“ erwiderte er, als freue er sich, daß ihm noch Alles so vertraut war. Dann zog er die Glocke am Schwesternhaus und bat, daß er die Chorälteste sprechen könne.

Man führte ihn in das Sprechzimmer, und die Herbeigerufene kam. Er erkannte auf den ersten Blick Schwester Agathe wieder.

„Schwester, lebt Carmen Mauer noch und ist sie hier?“ fragte er bebend und starrte sie ängstlich gespannt an.

Der Mann mußte sehr schön gewesen sein; fast konnte man ihn noch heute so nennen, aber dem Gesicht hatten viele Leiden, körperliche wie geistige wohl, ihren Stempel aufgedrückt und es in einem wirren Durcheinander von Linien und Falten durchfurcht; die Strahlen manch heißen Himmelsstriches hatten die Haut in einen tiefen Ton von Braun gefärbt, sodaß die großen, lichten, lebensvollen blauen Augen wie ein paar verirrte Sterne daraus hervorleuchteten.

Agathe sah ihn staunend an, und je mehr sie hinblickte, um so mehr verwirrte sie sich.

„Carmen lebt hier im Schwesternhaus,“ sagte sie endlich „und Du bist doch nicht etwa –“

„Bruder Mauer, den Ihr Alle wohl längst todt geglaubt habt,“ ergänzte er ihre stockenden Worte.

„Gelobt sei Gott in Ewigkeit!“ rief Schwester Agathe und brach auf einem Sessel zusammen – das Unerwartete war zu überwältigend über sie gekommen. Aber sie raffte sich schnell wieder auf, drückte dem Heimgekehrten herzlich die Hände, schob ihm einen Sessel hin und sagte:

„Laß mich gleich gehen, Carmen zu holen, auf daß Du, lieber Bruder, Dein Kind an das Herz drückst!“ [697] Schwester Agathe eilte hinaus.

„Freue Dich, liebe Carmen!“ sagte sie draußen. „Ein Bruder ist angekommen, welcher Dir endlich Kunde bringt von Deinem Vater, der noch lebt,“ und sie hatte erregter, als sonst ihre Art war, Carmen nach der Thür des Sprechzimmers geführt.

Zitternd überschritt diese die Schwelle.

Dort sah sie im hellen Licht der Lampe einen alten gebeugten Mann, der sich von seinem Platze nicht zu erheben vermochte; denn jetzt versagten ihm die Füße den Dienst; die Arme nur streckten sich der geliebten Tochter entgegen, und im nächsten Augenblicke lag sie an des Greises Brust. Den Blick dieser Augen hatte das Kind nicht vergessen, und sie las aus dem lieben Antlitz die theuren Züge sogleich wieder heraus. „Vater, mein lieber Vater!“

Von seinen Augen thaute es herab auf die Stirn des Mädchens; wie liebevoll waren die Töne, mit denen er wieder und immer wieder „mein Kind, mein Liebling!“ stammelte. Er empfand nun wieder die lange, schwere Jahre entbehrte Seligkeit des Besitzes in des Mädchens Umarmung. Dann bog er sanft ihren Kopf zurück und suchte in ihren reinen Zügen zu lesen.

„Ganz wie Inez bist Du geworden, Zug um Zug die Mutter wieder, wie ich sie damals unter den Palmen sah und liebte. So habe ich in Dir Euch Beide wiedergefunden,“ sagte er, und seine Augen strahlten glückselig unter Thränen.

„Und Du bleibst nun bei mir, lieber Vater? Du verlässest mich nicht wieder?“ fragte sie ängstlich.

„Ja, ich bleibe bei Dir, Carmen, in der alten, lieben Heimath, wo mir müdem Pilger wohl endlich Ruhe werden wird.“

„Armer Vater, wie viel magst Du gelitten haben bei Deinem fernen, schweren Werke! Einsam, ohne Hülfe und Beistand bist Du gewesen. Keiner von denen, die Dich suchten, konnte Dich finden; Niemand wußte von Dir,“ sagte Carmen und strich liebevoll mit der Hand über die braune, gefurchte Wange hin. „So völlig verschwunden, wie Du warst, haben Alle Dich für todt gehalten; nur mein Herz wollte nicht daran glauben. Warum doch hast Du nie eine Kunde von Dir gegeben?“

„Wohl gab ich eine, aber sie drang nicht zu Euch, mein Kind,“ entgegnete er. „Sieh, ich war am Ganges; dann aber ging ich höher hinauf nach dem Norden, um durch die Schluchten des Himalaya zu dringen. Dort ergriffen mich die Heiden und hielten mich als Sclaven gefangen. Jahrelang habe ich ihnen dienen müssen in niedriger, knechtischer Arbeit, und mein müder Rücken, oft zerschlagen von ihren Streichen, hat nur die steinige Erde zum Pfühl gehabt. Endlich glückte es mir doch, auf einem Pferde zu entweichen und in die mongolischen Steppen zu gelangen. Dort bin ich zwei Jahre mit den Nomaden umhergezogen, habe ihr Wanderleben getheilt, mit ihnen ihre Heerden gehütet, ihre einfachen Arbeiten verrichtet und dabei versucht, das Evangelium in ihre Herzen einzuführen. Aber in mir wogte die Unruhe, und die Sehnsucht drängte mich heim. Da habe ich den Wanderstab ergriffen und bin durch Sibirien gezogen in das russische Reich, immer zu Fuß, arm und mich durchbettelnd von Ort zu Ort, ich, der ich Hunderttausende besitze – bis ich endlich, zum Tode erschöpft, mit zerfetztem Kleide und zerrissenen Schuhen Sarepta erreichte. Dort wollten mich die Brüder behalten und pflegen, bis ich mich wieder stark und kräftig fühlte. Doch die Sehnsucht litt mich nicht dort. Nachdem ich einmal Europa erreicht hatte, schien es mir, ich stehe an der Schwelle der Heimath, und es trieb mich rastlos dorthin. Ich erbat mir von den Brüdern ein Darlehn, damit ich nun weiter fahren könnte, und sie statteten mich mit neuer Kleidung aus. Aber ich erkrankte auf der Reise, mußte in einem polnischen Städtchen liegen bleiben, und da meine Baarschaft hierdurch erschöpft wurde, habe ich die letzte Strecke bis hierher wieder durchwandern müssen. Nun ist Alles gut, da ich doch endlich hier bin, und das Ruhen wird hier köstlich sein,“ schloß er, befriedigt lächelnd, seinen traurigen Bericht.

Agathe war inzwischen wieder hereingekommen und hatte Erfrischungen für den Erschöpften gebracht. Welch eine süße Lust für den Wandermüden, diese erste Mahlzeit unter den Augen der Tochter, in den traulichen Wänden des alten, geliebten Heims! Und wie viel wußte er noch zu erzählen, während er sich an Speis' und Trank labte, von den Abenteuern und Wundern der Ferne! Spät erst, gekräftigt durch das wohlschmeckende Mahl und die tröstliche Nähe seines theueren Kindes, sagte er Carmen und Schwester Agathe „Gute Nacht!“ und begab sich in's Gemeinlogis, um sein Lager aufzusuchen. – – –

„Weißt Du es schon? Der Todte, der Verschollene, Bruder Mauer ist wieder da.“ So fragte und tönte es am andern Morgen allerorten in der Colonie. Es war das große Ereigniß, das Alle beschäftigte und mit grenzenlosem Staunen erfüllte.

Gesehen hatte ihn aber heute noch Niemand außer Carmen. Er hatte bis nahe an den Mittag heran geschlafen, als müsse er [698] viele verlorene Ruhe nachholen, und die Tochter hatte den ganzen Morgen still an seinem Bett gesessen, damit beim Erwachen sein erster Blick auf sie fallen möge. Dann hatten sie gemeinschaftlich auf seinem Zimmer gespeist, sich vom Vergangenen erzählt und Pläne für die nun kommende glückliche Zeit entworfen. Er wollte sich hier ein Haus kaufen, in dem Carmen mit ihm wohnen werde; nichts sollte Vater und Kind wieder trennen.

Carmen's Herz klopfte so glücklich, so erleichtert, endlich den Vater wieder zu haben, eine Liebe, die ihr sicher gehörte und ihr immer Schutz gewährte. Auch gegen Jonathan's furchtbare Leidenschaft würde sie ihr ein Schirm sein. Sie ging im Stillen mit sich zu Rathe, ob sie dem Vater gleich von dem Geschehenen sagen dürfe; sie hatte zu schweigen gelobt, aber nahm der Vater nicht eine Ausnahmestellung ein? Sie konnte sich nicht klar darüber werden und vermied darum lieber ganz, Jonathan's zu erwähnen. Dieser war überdem seit einigen Tagen verreist, und sie hatte noch Zeit, zu überlegen und eine ruhigere Stunde abzuwarten, in welcher sie den Vater zum Vertrauten machen wollte.

Nachmittags gingen sie in die Andachtsstunde. Alle strömten in den Betsaal, Bruder Mauer dort zu sehen, von seiner Missionsarbeit, seinen Erlebnissen und seiner merkwürdigen Rückkehr zu hören. Dort saß er unter dem Wittwerchor, andächtig singend und die Augen gesenkt, als fühle er Aller Blicke, die sich nach ihm richteten, und wolle von ihnen in seiner Andacht sich nicht stören lassen.

Als der Gesang schwieg, gingen der Gemeinhelfer und der Lehrer auf Mauer zu. Sie begrüßten ihn mit herzlichem Händedruck, sprachen freundlich einige Worte zu ihm und führten ihn dann vor, damit er nun zu der Gemeine rede.

Er ging heute fester emporgerichtet, und das Stattliche seiner hohen Figur trat wieder mehr hervor als am Tage zuvor. Mit glücklichem Lächeln streiften jetzt seine Blicke über die Versammelten hin, als wolle er alle die Brüder und Schwestern begrüßen; viele unter ihnen waren ihm unbekannt, ja die meisten waren es wohl, aber Alle ihm doch lieb als Theile seiner Heimath und Gemeine.

So ging er zwischen seinen beiden Führern dahin, die Seele voll lang entbehrten Glückes – da öffnete sich noch einmal die Thür des Saales, und ein verspäteter Besuch trat ein – es war Bruder Jonathan Fricke. Er ging schneller als gewöhnlich, und seine Augen irrten suchend umher; vermuthlich hatte er schon von dem Wiedergekehrten gehört, und er eilte ihn zu sehen. In dem mittleren freien Raume des menschenerfüllten Saales stieß er auf die Drei; seine Blicke trafen auf die hohe Gestalt des alten Freundes; er streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit gedämpfter Stimme:

„Stehen die Todten wieder auf, Bruder Michael?“

Mauer zuckte bei dem Tone dieser Stimme zusammen; seine Augen begegneten denen Jonathan's; sie weiteten sich wie in Entsetzen, Leichenblässe überzog sein Gesicht – er wankte.

„Du hier?“ stammelte er und – brach zusammen.

Eine allgemeine Aufregung folgte dieser Scene, aber man fand es recht begreiflich, daß die vielen Wiederbegrüßungen den Weitgewanderten und Erschöpften angreifen mußten; nun auch noch das so unvorbereitete Wiedersehen mit dem alten Freunde – es war wirklich zu viel für seine Kräfte gewesen. Man beklagte ihn lebhaft, und die Theilnahme für ihn wuchs nur um so höher.

Der Ohnmächtige mußte fortgeschafft werden, und Carmen folgte ihm in sein Zimmer im Gemeinlogis. Nach unausgesetzten Bemühungen schien er endlich wieder zur Besinnung zu kommen, und Carmen bat, daß man sie nun allein mit dem Vater lasse, damit er sich in Ruhe zu sammeln und zu erholen vermöge. Den Bruder Jonathan, der ihm seinen ärztlichen Beistand angedeihen lassen wollte, wies sie entschieden zurück.

Carmen setzte sich an das Lager des Vaters, und als er die Augen endlich wieder aufschlug und sich ängstlich im Zimmer umsah, flüsterte er:

„Kind, wer war das, den ich zuletzt im Betsaale gesehen und der zu mir sprach?“

„Beunruhige Dich nicht, lieber Vater! Es war ja Dein alter Freund, Jonathan Fricke,“ entgegnete Carmen, seine Hand wie beschwichtigend in der ihrigen haltend. Doch diese zuckte und fuhr zurück, als sie den Namen nannte.

„Ich wußte nicht, daß er wieder hier ist,“ sagte er fast stöhnend, als leide er sehr.

„Kann ich Dir mit nichts helfen, lieber Vater?“ fragte Carmen besorgt. „Hast Du Schmerzen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf statt jeder Antwort und lag dann still da, die Augen geschlossen. Nach einer geraumen Weile sah er Carmen wieder an – trostlos und gramvoll. Er seufzte leise auf.

„Erzähle mir von ihm!“ bat er. „Er war doch in Bethlehem in Nordamerika – wie kommt er hierher, und seit wann ist er unter Euch?“

Sie erzählte lange und eingehend von Jonathan's Schicksalen, nur was sich zwischen ihm und ihr zugetragen, wagte sie bei der Erregung des Vaters nun gar nicht zu erwähnen. Als sie endlich schwieg, war es still geworden um die Beiden; nur eine Uhr tickte leise. Zuweilen drang ein tiefer Athemzug des Vaters an Carmen's Ohr; er hatte das Gesicht der Wand zugekehrt und lag regungslos da, sodaß sie meinte, er sei erschöpft eingeschlafen, und auch sie wagte nicht sich zu regen, um diesen wohlthätigen Schlummer nicht zu stören. Da seufzte er plötzlich leise auf und flüsterte vor sich hin:

„Die alte Geschichte, die immer noch nicht schlafen will! Liebe Heimath, mit Deiner süßen Ruhe war es nichts.“

„Was meinst Du, lieber Vater?“ fragte Carmen, sich über ihn beugend. Er hatte die Augen geschlossen. Lautlos sank sie auf den Stuhl neben dem Schlafenden zurück.




6.

Am andern Tage war Mauer noch so völlig erschöpft, so gebrochen von dem gehabten Anfall, daß er sich kaum von seinem Lager zu erheben vermochte. Und doch litt es ihn nicht dort; kein Zureden von Seiten Carmen's half; er stand auf und kleidete sich an, aber er vermochte nicht aus dem Hause zu gehen, und es war nöthig, daß er sich ruhig verhalte. Sie versuchte, so viel sie konnte, ihn durch heitere Gespräche von einer schweren, trübsinnigen Stimmung abzulenken, die ihn mit der Schwäche befallen hatte. Es tat ihr im Herzen weh, wenn sie heute in dieses unsagbar gramvolle Gesicht sah, das noch gestern so hell in süßer Freude geleuchtet hatte.

Um zehn Uhr am Morgen kam Jonathan, nach dem kranken Freunde zu sehen. Es war gut, daß Carmen am Fenster stand und ihn über die Straße herüber auf das Haus zuschreiten sah und dadurch den Vater auf den Besuch vorbereiten konnte; denn er schrak sichtlich zusammen, als sie ihm davon sagte. Aber er faßte sich bald und antwortete mit einem Lächeln der Ergebung:

„Laß ihn nur hereinkommen! Je früher ich all das Wiedersehen und Begrüßen abmache, um so eher gelange ich zur Ruhe. Ich muß mich doch wieder an das Frühere gewöhnen, was auch dazwischen liege, und es wird heute besser gehen, als gestern. Ich habe ihn nicht gesehen, seitdem Deine gute Mutter todt ist, Carmen, und es ist eine furchtbar schwere Zeit, die ich seitdem durchlebt habe.“

Sie wollte sich entfernen, um den Beiden das erste Beisammensein nicht zu stören; Mauer aber hielt sie zurück und bat: „Bleibe bei mir, Kind!“ als könne er ihrer Nähe nicht entbehren.

Jonathan trat ein. Er blieb einen Augenblick an der Thür stehen, und seine Augen flogen auf den Kranken hin, wie um dessen Gesichtsausdruck zu prüfen. Dieser saß erschöpft, in die Kissen des Sophas gedrückt und richtete die großen, eingesunkenen Augen fragend oder bittend auf den Eintretenden; es war, als wollten sie sagen: schone meiner!

„Guten Morgen, Bruder Michael,“ sagte Jonathan, „hast Du Dich wieder ein wenig erholt?“

Er hielt ihm die Hand hin, in welche der Andere die seinige zögernd legte, und als er sie dann wieder zurückzuziehen suchte, hielt Jonathan sie fest, indem er hinzufügte:

„Laß mich Dir gleich nach dem Pulse fühlen! Du siehst noch immer sehr angegriffen aus, und Deine Hand ist kalt wie Eis.“

„Ich danke Dir, Bruder Jonathan,“ sagte der Kranke, „ich denke, wenn ich nur ruhen kann, wird es am ehesten wieder gut mit mir werden. Ich habe Schweres getragen, lieber Bruder, und es hat mir die Schultern wund gedrückt; nun hat Gott mich doch wieder heimgeführt, und Euer Mitleid und Euer Erbarmen dürfte um das, was ich litt, wohl mit mir Aermstem sein.“

„Gewiß, lieber Bruder, es soll Dir auch werden. Freuen [699] wir uns doch Alle, daß der Herr Dich hat wieder heimkehren lassen, und preisen ihn dafür,“ antwortete Jonathan. „Aber ein Beruhigungsmittel werde ich Dir denn doch aufschreiben müssen, damit Du schneller wieder zu Kräften kommst. Und sprich heute nicht viel, berichte uns lieber später einmal von dem, was Du erlebt hast!“

Er kehrte sich bei diesen Worten nach dem jungen Mädchen um und blickte sie besorgt und forschend an, als wolle er ergründen, wie weit er ihrem Schweigen vertrauen könne. Sie hielt die Augen gesenkt und stand halb von ihm abgewendet da.

„Ich mache ihr den Vater wieder gesund, ja gewiß, wenn sie mich darum freundlich ansehen will,“ fügte er mit Betonung hinzu. Da schlug sie die Augen zu ihm auf; sie mußte ihn ansehen, obgleich sie nicht wollte; er beherrschte sie, trotz ihres Widerwillens.

„Wenn Du für das Wohlbefinden meines Vaters etwas thun kannst, so komme ich dabei gar nicht in Betracht, Bruder Jonathan; denn Du wirst es doch um Gottes- und um Deinetwillen thun,“ sagte sie ruhig.

Er setzte sich an den Tisch und zog ein Stück Papier hervor, worauf er ein Recept schrieb, und dieses Carmen hinreichte.

„Laß das bereiten, liebe Schwester,“ sagte er, „und gieb dem Vater nach Verordnung davon – es wird ihm wohlthun und ihn bald wieder kräftigen. Du weißt, Bruder Michael, meine Mittel sind wirksam.“

Ein eigenthümlicher Zug von Hohn zuckte um seinen Mund, als er so sprach, und Carmen, die das gewahrte, fragte sich erstaunt, wessen er wohl spotte? Ob ihrer Angst um den Vater, oder ob dessen Schwäche? Aber es war nur wie ein flüchtiger Blitz gewesen, und sein Gesicht hatte den gewohnten milden Ausdruck wieder angenommen, als er sich jetzt zum Gehen erhob und zu Mauer sagte:

„Adieu, Bruder Michael! Der Herr behüte Dich und gebe Dir baldige Genesung, damit Du Dich der Heimath erfreuen kannst.“

„Ich werde die Medicin gleich bereiten lassen lieber Vater,“ meinte Carmen erleichtert, als die Thür sich hinter dem Fortgegangenen wieder geschlossen hatte. Da gewahrte sie mit Schrecken, daß der Vater die Hände vor's Gesicht geschlagen hatte und daß große Thränen zwischen seinen Fingern hervorperlten. – – –

Tage waren seit jenem Besuche Jonathan's in's Land gegangen. Carmen's besänftigendem und erheiterndem Einflusse war es allmählich gelungen, das erregte Gemüth des Vaters zu beschwichtigen, so daß nach und nach eine ruhigere gleichmäßigere Stimmung über den Kranken kam und sein Befinden sich von Tag zu Tag besserte. Etwas Bedrücktes wich aber nie von ihm.

Dabei war seine Hand freigebig und immer gern bereit, mit seinen reichen Mitteln zu helfen und zu nützen, wo es in der Gemeine nöthig war. Für sich selbst bedurfte er außerordentlich wenig; die Entsagung aller Annehmlichkeiten und Genüsse des Lebens schien ihm zur andern Natur geworden zu sein – nur daß er Ruhe habe und ein Haus finde, in welchem er mit Carmen wohnen könne, war sein einziger Wunsch.

Es war gerade kein solches zum Vermiethen oder zum Verkauf in dem kleinen Orte frei, und so entschied er sich, nach seinen Wünschen selbst bauen zu lassen.

Inzwischen sah er sich nach einer vorläufigen Behausung um; denn er mochte nicht erst im Wittwerhaus Wohnung nehmen. Darum mietete er sich bei Andern in einem Zimmer ein; Carmen aber blieb noch wie bisher im Schwesternhaus, gab den Kindern einigen Unterricht und verbrachte den übrigen Theil des Tages bis zum Abend mit dem Vater.

Ihr hatte dieser die ganze alte Heiterkeit und Sicherheit zurückgegeben; denn in ihm sah sie ihren Schutz und ihre Stütze, ohne zu ahnen, daß eigentlich sie es war, welche den Vater stütze. Vor ihm wagte sie den natürlichen Frohsinn ihres Charakters ganz unbeschränkt hervorleuchten zu lassen, und er lächelte sie glücklich an, wenn ihre schöne Stimme einmal ein anderes als ein geistliches, ein lebensfrisches spanisches Lied trillerte, ihre Füße sich im Kreise zu drehen wagten und einen alten, halbvergessenen spanischen Tanz wieder versuchten, der wie ein Gruß aus tropischer Welt ihr aus Jamaica noch im Gedächtniß geblieben war. Oder sie liebkoste ihn mit ihrer herzgewinnenden, lebhaften Ausdrucksweise, als müsse sie die zurückgehaltene Zärtlichkeit der langen Jahre der Trennung nun über ihn ausschütten.

„Ganz wie Inez! Froh und heißblütig wie sie!“ konnte Mauer da bewegt ausrufen, und seine großen blauen Augen leuchteten in heller Freude über die Tochter hin. So gelang es ihr, die Wolken von seiner Stirn wenigstens momentan hinwegzuzaubern, und sie selbst war nie glücklicher, als wenn ihr dies gelang.

Aber seitdem Mauer wohler war, drängte sich Alles zu ihm. Die Jugendgenossen suchten den Zurückgekehrten auf; der Gemeinhelfer und die Vorsteher der Aeltesten-Conferenz wollten Bericht über sein Missionswerk bei den Mongolen haben, über den Cultus- und Religionszustand, den er bei den Heiden in Bengalen und am Himalaya gefunden hatte, und Mauer mußte in den Versammlungen öffentlich darüber sprechen.

Es konnte nicht fehlen, daß Mauer so zu einer gewissen Bedeutung in der Gemeine gelangte, und man sprach davon, ihm dieses oder jenes Amt übertragen zu wollen. Er aber bat mit eindringlichem Ernst, daß man daran nicht denken, vielmehr völlig von ihm absehen möge; er hatte eine wahrhafte Scheu, aus sich herauszutreten, und wo er genöthigt wurde, öffentlich zu sprechen, geschah es immer mit sichtlicher Selbstüberwindung.

Nicht einmal dem alten Freunde gegenüber wich dieses scheue Wesen von ihm.

„Eine sonderbare Freundschaft!“ konnte Carmen oftmals sich nicht enthalten zu denken, wenn sie die beiden Freunde beobachtete. Der Vater verlangte nie nach Jonathan, wie seine Sehnsucht überhaupt auf nichts als auf Carmen und auf Ruhe gerichtet war. In Jonathan's Gegenwart war er immer sehr erregt; etwas wie bittende Unterordnung sprach sich in seinem Verkehre mit dem Freunde aus, als sei er der Empfangende, Jonathan der Gewährende. Oft, wenn Jonathan mit ihm sprach, wechselte er plötzlich die Farbe, und dann lag es wie jäher Schreck auf seinem Gesichte. Oft klang es auch wie leiser Spott aus den Worten Jonathan's, und sofort senkte Mauer demüthig die Blicke.

Einige Tage nach seinem Ohnmachtsanfalle im Betsaale fragte ihn Jonathan, wie ihm die verordnete Medicin bekomme.

„Gut,“ entgegnete Mauer. „Ich fühle mich kräftiger.“

„Ich erwartete das,“ meinte Jonathan, freundlich lächelnd. „Fünfzehn Tropfen habe ich verordnet. Nun, auch zwanzig kannst Du davon nehmen – das wird nicht schaden – aber ja nicht mehr, lieber Bruder.“

Da sah Mauer bleich und verstört zu ihm auf und rang nach Athem, während Jener doch fortfuhr, ihn anzulächeln.

Und darum dachte Carmen: „Eine sonderbare Freundschaft!“ „Ich glaube, dem guten Vater geht es wie mir,“ sagte sie erklärend zu sich selbst; „er fühlt etwas wie den kalten Leib der Schlange an Jonathan, aber er wagt nicht, sich das einzugestehen oder sich dagegen zu wehren, da er ihn dennoch lieb hat – vielleicht auch das nur aus alter Gewohnheit von der Jugendzeit her.“

So gingen Wochen, Monate in's Land. Der Bau des Hauses war von Mauer in Angriff genommen worden; er trieb damit, denn es verlangte ihn, dasselbe möglichst bald beziehen zu können. Der Plan zu dem Hause war unter Anlehnung an den Stilgeschmack und die Raumverhältnisse der Hacienda auf Jamaica entworfen worden, in welcher einstmals Carmen's Mutter geschaltet hatte. Wie dort sollte das Haus von einer breiten Veranda rings umgeben werden, die in einen großen Garten hinabführt. Auf die Veranda sollten sich tiefgehende Fenster öffnen und an Stelle der Magnolien Platanen das Haus beschatten.

Aber von der Veranda mußten sie alsbald absehen; denn kaum war den Aeltesten der Plan zu Gehör gekommen, als der Gemeinhelfer bei Mauer erschien und ihm vorstellte, daß dies ein Abweichen von der Einfachheit ihrer Einrichtungen sei und der Colonie nur zu Aergerniß gereichen würde. Wer in der Colonie leben wolle, müsse schlicht und ohne alles Prunken an dem Hergebrachten halten und als ein demüthig Glied dem Ganzen sich fügen.

„Daß ich alter Mann doch mit thörichten Ideen Dir vorangehen mußte!“ sagte Mauer tief beschämt zu der Tochter. „Man bringt doch unbewußt viel von der Welt draußen mit heim, wenn man so lange fort war, wie ich es gewesen bin, und erst unter den Brüdern bemerkt man, wie viel davon Einem anhaftet. Das Aufgeben des eigenen Willens und Wünschens und das sich unterordnende Schicken in's Ganze, das vergißt sich so leicht und muß nun erst wieder gelernt werden.“

„Sie finden aber auch in so vielen Dingen hier ein Unrecht, [700] daß man es wirklich aufgeben muß, selbst zu denken, um nur in das Ganze zu passen,“ rief Carmen ungeduldig. „Den freien Geist schränken sie ein, und Jeder hört auf, er selbst zu sein. Gutsein, Vater, ist doch nicht ein automatenhaftes Nachahmen des Vorgeschriebenen, sondern ein freies Ergreifen des Rechten – erst wenn ich es selbst erwähle, mache ich es mir wahrhaft zu eigen.“

„Den freien Geist – was nennst Du so? Er ist doch so oft sein eigener Sclave, Sclave von Gelüsten, die den Begriff von Recht und Unrecht schwankend machen und uns oft genug das Heil der Seele kosten,“ entgegnete der Vater beunruhigt. „Darum verwirf nicht den Weg, den die Brüderkirche uns mit ihren Schranken vorzeichnet, und wandle ihn lieber still und ergeben, ohne zu grübeln oder Dich dagegen auflehnen zu wollen!“

So wurde aus dem mit so vieler Liebe geplanten Baue nichts als eines jener kleinen Häuser, wie sie hier die Reihen der Straßen bilden. Aber Carmen wurde das Aufgeben ihres mit so vieler Liebe und Freude entworfenen Planes nicht so leicht, wie dem Vater. Der Aufenthalt in Wollmershain hatte in ihr nicht neue Wünsche und Abneigung gegen das Althergebrachte erweckt, wohl aber hatte er in ihr vieles vertieft, was als heißes Verlangen oder als unwillkürliches Auflehnen gegen hier Bestehendes längst in ihr lag. Sie verehrte Frau von Trautenau außerordentlich, und alles in deren Art und dem Haushalte von Wollmershain war ihrer eigenen Natur ungemein sympathisch. So geschah es, daß, obschon sie nicht wieder nach Wollmershain gekommen war, sie doch viel in Gedanken daselbst verweilte und von Menschen und Dingen dort sprach.

Als sie so auch eines Tages von dem freien, ungebundenen und doch so harmonisch schönen Leben auf Wollmershain sprach, klangen durch die geöffneten Fenster Posaunentöne herein – man blies einen Choral.

„Wer ist denn gestorben, Carmen?“ fragte Mauer und horchte gespannt hinaus nach dem kleinen Platze vor dem Hause. „Ist das nicht das Sterbelied der ledigen Brüder? Ich erkenne den Choral wieder, wie ich mich aller unserer Sterbelieder erinnere. Wie oft doch, als ich unter dem Joche des Sclaven litt, habe ich gedacht, daß bei meinem Tode kein Sterbelied ertönen werde – nun werden die Posaunentöne doch auch den Brüdern es einmal sagen, wenn das Herz des alten Wittwer Mauer ausgeschlagen hat.“

„O Vater, daran darfst Du jetzt nicht denken!“ bat Carmen. „Der aber, für welchen das Lied ertönt, war der ledige Bruder Christoph Jäger, welcher gestern Abend gestorben ist. Er war unser Vertreter, der für uns ledige Schwestern im Gemeinrath spricht, und es muß nun ein neuer für uns gewählt werden.“

Diese Wahl erfolgte denn auch sofort. Die Aeltesten gaben ihre Stimmen ab über die, welche sie am geeignetsten für diese Stelle hielten. Die Meisten schlugen Bruder Jonathan Fricke vor, und als nun, wie üblich, über die Vorgeschlagenen geloost wurde, fiel auch, zu allgemeiner Freude, das gezogene Loos auf Bruder Jonathan. Niemand war dadurch befriedigter, als Schwester Agathe, die stets so gern auf Jonathan's Rath gehört hatte. Nun die Angelegenheiten ihres Chores nach außen hin seiner Umsicht und Weisheit, seiner Frömmigkeit und Bruderliebe anzuvertrauen, war ihr, als ob sie ihr Schiff der kundigen Hand eines sicheren Fährmannes übergebe.

Er selbst nahm das Amt demüthig und ergeben wie eine Pflicht an, welche der Herr ihm auferlege und welcher er auf dessen Geheiß sich unterziehen müsse, wenn er auch nicht würdig dazu sei und die Erfüllung ihm schwer werde. Aber bei aller Demuth seines gebeugten Hauptes hatte er doch etwas von einem Könige, dem man huldigt, als er von den versammelten Schwestern das Versprechen hinnahm: seiner Vertretung vertrauen und seiner Weisung folgen zu wollen.

[713]
7.

Trotz des Septembermorgens brütete eine wahre Julihitze über der Landschaft, und so oft ein Luftzug sich erhob, wirbelte er mit sengendem Hauch den Staub der Landstraße in die stillen Gassen der Colonie.

Ungeachtet der Sonnengluth arbeiteten Maurer und Zimmerleute rüstig an dem Baue des neuen Hauses, das Bruder Mauer aufführte und das außerhalb der inneren Straßen am Saume der Gärten einen anmuthigen Platz hatte. Die weite sonnige Landschaft konnte man von dem Erdgeschosse, das sich schon über dem Grunde erhob, überblicken, zunächst die grünen Wiesen mit dem Ententeiche, an dem vorüber der Weg nach der alten Mühle im Thale führt, dann die Landstraße, den Hügel mit dem freundlichen Gottesacker und endlich im Süden zu Höhen emporsteigende Waldmassen und ragende Bergkuppen, welche die weite Aussicht abschließen.

„Das also wird Dein Zimmer werden, lieber Vater, und das hier daneben das meinige,“ sagte Carmen vergnügt zu dem Alten; denn sie waren Beide in den lichten Morgen hinausgewandert, um mit eigenen Augen zu sehen, wie ihr zukünftiges Heim wachse und werde. „Wie hübsch es sich darin wohnen wird, Vater! Ich werde mir Weinlaub um die Fenster ziehen, damit im Sommer ein traulich gedämpftes Licht hereinfällt, und wenn auch kein Schmuck in das Zimmer kommt, einen Schrank mit Büchern und hier am Fenster einen Tisch mit Blumen soll es darin geben, und zwischen diesen beiden schaffe ich mir einen solchen lieben, behaglichen Winkel, wie ihn Frau von Trautenau in ihrem Zimmer hat. Und da, wenn es am Abend dämmert, lieber Vater, sitzest Du bei mir und erzählst mir von den Schneebergen des Himalaya und den Wundern der indischen Welt; oder wenn dann die Lampe brennt, lese ich Dir vor – gerade so, wie ich es mit Frau von Trautenau in ihrem heimlich stillen Traumwinkel gethan habe.“

„Wie viel Du doch immer von dieser Frau sprichst, Carmen! Ist sie Dir denn so sehr lieb geworden?“ fragte Mauer.

„Ja, sehr lieb, Vater!“ entgegnete sie lebhaft, und die Wärme ihrer Empfindung glänzte auf ihrem schönen Gesicht; „denn sie ist so voll großer Güte für mich, und bei ihr habe ich, die damals Vereinsamte, es wieder empfunden, wie schön es doch ist, wenn man einer Mutter vertrauend in's Auge sehen kann. Bei ihr würde ich immer Schutz und Verständniß gefunden haben, wenn Du mir nicht wiedergekehrt wärest, lieber Vater. Sie ist nicht so still und einfach, wie unsere Schwestern es sind, aber sie ist in Allem edel und gut, und obgleich sie zu denen von der Welt draußen gehört, kann man doch nicht fehl gehen, wenn man ihr folgt. Die Welt!“ fuhr sie sinnend fort. „Wir Alle sind doch von dieser so gescholtenen Welt, so lange wir leben – o, wie kann ein Theil dieser sich da für besser halten als die anderen?“

„Nicht für besser halten wir uns, Kind, aber auf sicherem Wege, um besser zu werden,“ fiel der Vater ein. „Und doch, auch bei uns sind die Abwege nicht ausgeschlossen, die vom Ziele ablenken,“ fügte er seufzend hinzu.

„Siehst Du, lieber Vater,“ sagte sie mit holdem Lächeln, „das ist es, was auch ich meine: der rechte Weg und der falsche kreuzen sich nun einmal überall in dieser Welt, und unser Herz muß treulich suchen, daß es den rechten immerdar finde.“

„O, daß Dich das Deine nie mißleite!“ meinte der alte Mann bewegt. „Wer lange gelebt hat, wie ich, wer gefehlt und gebüßt hat, der lernt dem Herzen mißtrauen.“

„Horch, Vater, sind das nicht Schüsse?“ unterbrach Carmen erregt den Vater.

In der That ertönten schon mehrmals von fern her dumpfe Schläge, wie Kanonenschüsse; plötzlich war es, als ließen sie sich aus kürzerer Entfernung vernehmen, und dazwischen schallte auch das Knattern von Gewehrsalven herüber – von dem Saume des nach Süden sich hinstreckenden Waldes kräuselten sich Rauchwolken auf und zogen langsam an der schwarzen Masse der Tannen hin.

Vater und Tochter waren zu einer alten Linde getreten, die etwas erhöht neben dem Baue stand. Von hier blickten sie, bequem auf dem Rasen gelagert, in den Morgen hinaus; der Himmel hatte im Westen eine dunkle Färbung angenommen; schwarze Wolken ballten sich dort drohend zusammen – man mußte auf Unwetter gefaßt sein.

Und immer und immer wieder dröhnte es von drüben aus dem Walde zu ihnen herüber.

„So viel Schüsse! Sind Jäger dort?“ fuhr Carmen erstaunt zu fragen fort.

„Soldaten sind's, die dort ein Manöver haben,“ rief einer der Arbeiter, der neugierig herbeigeeilt war. „Ich habe davon gehört, daß sie in den Ortschaften jenseits des Waldes im Quartier liegen.“

[714] Soldaten, welch ein Ereigniß! Die andern Werkleute, so fleißig und rührig bis jetzt, hielten ebenfalls mit der Arbeit inne und blickten neugierig staunend dorthin, von wo der Rauch aufgestiegen war.

Es war aber auch etwas ganz Außerordentliches, Soldaten in der Nähe zu wissen, da man hier solche seit langen Zeiten nicht gesehen hatte. Der Bruder der Unität, der doch das Waffenhandwerk für Sünde hält, war zur Zeit unserer Erzählung, also im Anfange dieses Jahrhunderts, durch eine Verordnung des Landesherrn noch vom Militärdienste befreit, und so war Mancher in der Colonie, der, wenn er nicht auf Reisen gewesen war, Soldaten nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Jetzt leuchteten plötzlich von einem der waldbedeckten Hügel Blitze auf, und wieder dröhnte das Krachen von Kanonenschüssen, diesmal lauter als zuvor; gleichzeitig antworteten Gewehre aus dem Walde. Aus den Waldwegen ließen sich die bunten Uniformen, zuerst einzelne, dann mehr und mehr, zuletzt in ganzen Truppen unter den Bäumen blicken; Bajonnette blitzten im Sonnenlicht; Fahnen und Standarten wehten, und Hornsignale tönten aus der Ferne herüber.

„O, da sind sie – die Soldaten! Wie das blitzt und funkelt!“ rief Carmen entzückt. „Wie die Reiter dahinsprengen und die Waffen in ihrer Hand leuchten – sieh doch, lieber Vater, wie herrlich sich das ausnimmt!“

„Ja, wenn kein blutiger Ernst darin ist und man dem Schauspiel aus sicherer Ferne zusehen kann!“ meinte Mauer bedächtig.

„Ich weiß doch nicht, Vater, wenn ich ein Mann wäre, ob ich nicht gern Soldat sein möchte,“ warf das Mädchen lebhaft ein. „Tödten ist zwar große Sünde, aber für das Vaterland kämpfen, das muß schön für einen rechten Mann sein – ein rechter Mann, Vater, scheint mir, ist der, welcher fest dasteht und Furcht niemals kennt, der sich der Gefahr muthig entgegenwirft, mit scharfem Auge sie übersieht und mit fester Hand sie abwehrt, unter dessen Schutz die Schwachen flüchten und der doch dabei das weiche, gute Herz und den gerechten Sinn hat – solch ein Mann, Vater, der wie eine Eiche nicht schwankt, wenn die Bäumchen im Winde zittern.“

„Hast Du denn schon Soldaten gesehen?“ fragte Mauer, erstaunt über das Feuer, das aus dem Mädchen sprach.

„Ja, in Wollmershain,“ antwortete sie schnell.

„Und waren sie denn auch solche Männer, wie Du sie schilderst?“

Sie zauderte einen Augenblick.

„Nein, alle doch nicht, Vater – es ist eben nicht Jeder ein rechter Mann.“

„Wollmershain und Frau von Trautenau – dazwischen scheinen sich Deine Gedanken und Deine Erfahrungen zu drehen, Carmen; denn Alles, was Du denkst und mir erzählst, geht von dort aus und führt dorthin zurück,“ sagte Mauer fast beunruhigt. „Sie haben großen Eindruck auf Dich gemacht – ich fürchte, größeren, als Dir gut ist.“

Sie antwortete nicht. Ihre Blicke hingen an dem Bilde vor ihr. Immer neue Truppen drangen aus dem Walde hervor – plötzlich schwenkte auch seitwärts eine große Anzahl Reiter um die Waldecke; das Schauspiel wurde immer lebhafter; Carmen’s Gesicht glühte vor Vergnügen, und ihre Augen flogen rastlos hin und her, um das ganze Bild zu umfassen.

„Ich möchte den ganzen Tag hier sitzen und dem Gewoge zusehen,“ sagte sie. „Es kann doch noch nicht spät sein, lieber Vater – nicht wahr? Schwester Agathe sagte mir heute früh, als ich fortging, ich möchte einer wichtigen Sache wegen um elf Uhr wieder im Schwesternhaus sein.“

„Elf Uhr?“ fragte Mauer, erschrocken auf seine Uhr sehend. „Aber Kind, es ist beinahe zwölf Uhr und der Mittag herangekommen.“

Carmen sprang vom Rasen auf.

„Dann muß ich fort, eilig fort. Wie schade doch! Ich bliebe so gern noch hier. Adieu, lieber Vater! Heute Nachmittag bin ich wieder bei Dir.“

Sie küßte und umarmte den Vater und eilte davon. – – –

Inzwischen hatte im Schwesternhause eine ungewöhnliche Erregung geherrscht. Wo Zwei sich in den Gängen trafen, flüsterten sie gespannt; bei der Arbeit in den Zimmern rasteten heute öfter die Hände, und die Köpfe neigten sich zu einem leise gesprochenen Worte zusammen; die Augen irrten fragend umher oder hafteten an dem Zeiger der großen Uhr, der ruhig seinen gewohnten Gang vorwärts rückte. Endlich wies er auf die erwartete Stunde, und die Uhr schlug bedächtig ihre elf Schläge, worauf aus allen Thüren die Schwestern hervorströmten und sich nach dem Versammlungssaal begaben.

Schwester Agathe und der neuerwählte Vorsteher der unverheiratheten Schwestern, Bruder Jonathan, standen inmitten des Saales, an ihrer Seite der Lehrer und die verschiedenen Chorältesten. Da nun Alle in den Saal eingetreten waren und eine lautlose Stille über den vielen erwartungsvollen Gesichtern lag, begann Jonathan zu den Versammelten zu sprechen:

„Wie Ihr vielleicht schon wissen werdet, liebe Schwestern, ist ein Brief unseres Bruders Daniel aus dem Capland bei uns eingetroffen, in welchem er uns seine glückliche Ankunft in dem Lande der Kaffern mittheilt. Sodann berichtet er uns, wie er dort mit Bruder Joseph Hübner und noch zweien Brüdern zusammen getroffen sei – wie eine kleine Gemeine gläubiger Christen sich um diese zu bilden angefangen habe und wie sie mit Hülfe des Herrn weiter fortzuarbeiten hoffen, um immer mehr Seelen der Unwissenheit zu entreißen und für den Heiland zu gewinnen. Es ist ein großes Werk, das sie gläubig begonnen haben, und Heil einem Jeden, der daran mit bauen hilft! Es fehlt ihnen an nichts, wessen sie zu ihrem einfachen Leben bedürfen – nur an Einem fehlt es ihnen: an weiblichen Händen, die ihnen beistehen und das schwere Werk ihnen erleichtern und tragen helfen. So bittet denn Bruder Joseph, daß seine Frau, Schwester Christine, die er hier zurückgelassen, ihm nachfolge, und Bruder Daniel, daß wir für ihn eine Gefährtin erwählen und in Schwester Christine’s Begleitung zu ihm senden möchten. Diese Bitte ist eine sehr gerechte und für die Frau, welche ihm angehören wird, ist ein schönes Feld bereitet, auf dem sie mit ihm wirken kann. So wollen wir denn jetzt, liebe Schwestern, durch das Loos entscheiden lassen, welche von Euch zu der Ehre berufen sei, eine Gehülfin unseres lieben Bruders bei dem Bau von des Heilandes Kirche zu werden, und wollen wir Alle in der solcher Weise getroffenen Wahl die unmittelbare Aeußerung von des Herrn Willen erkennen und ihm freudig und demüthig gehorchen.“

Jonathan schwieg, und es entstand nun eine lebhafte Bewegung unter den Schwestern, als jetzt in üblicher Weise zu dem Ziehen der Loose geschritten wurde. Spannung stand deutlich auf allen Gesichtern geschrieben, aber man würde vergeblich gesucht haben, auf einem derselben Furcht statt der gewohnten stillen Ergebung zu lesen.

Der Gebrauch des Loosens, der früher in der Brüderunität bei Besetzung von Aemtern und bei Eheschließungen allgemein angewendet wurde, war im Laufe der Zeit dahin eingeschränkt worden, daß es jetzt dem Ermessen jeder Ortsgemeine freigegeben war, sich desselben zu bedienen oder nicht; hier gab das Loos noch immer die Entscheidung in unsicheren Fällen, wie bei Besetzung von Aemtern, bei der Wahl von Gefährtinnen für die Mitglieder der Aeltesten-Conferenz oder für Missionäre und sonstige Brüder, die in ihren entfernten Stationen das Verlangen nach einer Frau aussprachen.

Die Gewohnheit, welche ja die Gefühle der Menschen beherrscht, ließ die Schwestern nichts Verletzendes oder Abschreckendes finden in dieser Art, über sie zu verfügen.

So ließen sie es auch heute mit heiterer Ergebung geschehen, daß Bruder Jonathan seinerseits von den gezogenen Zetteln die Namen der Schwestern, einen nach dem andern, ablas, während Agathe ihrerseits die gleichzeitig gezogenen unbeschriebenen Loose Blatt auf Blatt auf den Boden fallen ließ, wartend bis der Treffer kommen werde, welcher den Namen Bruder Daniel’s trage, und ihn so der Schwester verlobe, deren Namen Jonathan zuletzt verlesen. Die stille Demuth, die Alles, als vom Herrn kommend, gelassen hinnahm und immer auf diesen sanften Gesichtern geschrieben stand, schien selbst dieser schweren Probe standzuhalten. Keine der Schwestern zitterte, wenn ihr Name von den Lippen Jonathan’s klang.

Die Hälfte der anwesenden Schwestern mochte wohl auf diese Weise genannt worden sein; da entfaltete Jonathan ein neues Blatt, und es betrachtend, erbleichte er. Einen Augenblick hielt er den Zettel zaudernd in seiner Hand fest. [715] „Schwester Carmen Mauer!“ las er dann mit unsicherer Stimme.

Nun blickte er mit eigenthümlicher Erwartung auf Schwester Agathe, deren Finger auch ein wenig zitterten, als sie das soeben zusammengefaltete Blatt zu öffnen suchten. Lange wollte es ihnen nicht gelingen – endlich war es offen; ein Blick auf dasselbe, und ihre Hand sank langsam herab, aber diesmal ohne das Blatt niederfallen zu lassen, und ihre Augen erschrocken zu Jonathan aufschlagend, sagte sie tonlos:

„Bruder Daniel Becker!“

Haß oder Liebe, Triumph oder Verzweiflung, was war es doch, das auf Jonathan’s Zügen geschrieben stand? Diesmal vergaßen sie alle Selbstbeherrschung.

„Schwester Carmen Mauer!“ Der Name ging von Mund zu Mund und wiederholte sich überall in dem Versammlungssaale. Carmen war Allen lieb, obschon sie doch eigentlich so ganz anders als die Uebrigen war – aber das Anmuthige ihres Wesens bestrickte Alle, und die Güte ihres fröhlichen Herzens nahm Jede für sie ein.

„Carmen Mauer!“ der Name wiederhallte im Saale, aber es erfolgte keine Antwort darauf – Carmen war nicht da.

„Wo ist Schwester Carmen Mauer?“ fragte jetzt nochmals Bruder Jonathan, der sich wieder gefaßt hatte, und es schimmerte wie ein helles Licht der Hoffnung auf seinem Gesichte auf.

„Hier!“ entgegnete da plötzlich ihre Stimme, noch athemlos vom schnellen Laufe. Alle kehrten sich um, und unter der geöffneten Thür des Saales stand sie, die Wangen geröthet, und mit den großen schwarzen Augen verwundert über die Versammelten hinschweifend.

„Hier bin ich,“ wiederholte sie vortretend, da Alle schwiegen, „bedürft Ihr meiner?“

Schwester Agathe zauderte; sie wußte nicht gleich zu antworten. Daß Carmen auch gerade diesen Morgen so lange ausbleiben und es ihr dadurch unmöglich machen mußte, sie auf den eben abgeschlossenen Act vorzubereiten! Am liebsten hätte Schwester Agathe auch jetzt noch allein mit dem Mädchen gesprochen und ihr freundlich zugeredet, ehe ihr vor Aller Ohren die auf sie gefallene Entscheidung mitgetheilt wurde.

Aber da trat schon Jonathan auf Carmen zu. Seine alte Ruhe war ihm wiedergekehrt, ja es lag etwas Siegesgewisses in seinem Blicke, wie er die Augen fest auf die Ahnungslose richtete, als habe er diese nun sicher in seiner Hand.

„Liebe Schwester Carmen,“ redete er sie an, „Du hast durch Dein Fernsein es zu hören verabsäumt, daß Bruder Daniel Becker aus dem Kaffernlande an die Gemeine geschrieben und die Wahl einer Gefährtin für sich erbeten hat. Soeben ist hier das Loos darüber gezogen worden, und der Heiland hat durch dasselbe die Wahl auf Dich gelenkt.“

„Auf mich?“ fragte Carmen verwirrt, die Augen groß und erstaunt auf den Sprechenden richtend, als begreife sie nicht, was er ihr sage.

„Ja, auf Dich, liebe Schwester,“ fuhr Jonathan mit erhobener Stimme fort, „und ich hoffe, Du wirst diese Wahl demüthig annehmen, wie es sich geziemt, und Deiner Bestimmung als Frau und Gehülfin Bruder Daniel’s folgen –“ er stockte einen Augenblick und schloß dann mit Betonung: „wenn Du noch keinem andern Manne verlobt bist.“

Da flammten Carmen’s Augen leidenschaftlich und stolz auf.

„Ueber mich geloost?“ stieß sie empört hervor, „durch blinde Willkür über mich verfügt, als ob ich eine todte Zahl, eine leblose Waare sei? Einem Manne mich zugesprochen, zu dem kein Zug des Herzens mich zieht und dem es gleich ist, ob ich oder eine Andere ihm zufalle? Und das Alles in des Heilands Namen? Aber das ist ja Entwürdigung, Sclaverei, wie sie auf den Inseln schlimmer nicht sein konnte, Sclaverei, die zu mildern und zu lösen Ihr doch mit dem ganzen Aufwande Eurer Christenliebe Euch für die armen Schwarzen in den Missionen müht!“

Sie hatte leidenschaftlich gesprochen – jetzt hielt sie erschöpft inne. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen; nur die großen Augen sprühten in dunklem Feuer.

„Ich werde mich nimmer Eurem Gottesurtheil fügen und erkenne diese Wahl nicht an.“

Alle sahen entsetzt auf Carmen, erschrocken ob dieses unumwunden und schroff ausgesprochenen Eigenwillens. Plötzlich, als wäre sie eine Aussätzige, wichen alle Schwestern von ihr zurück – sie stand allein da; Agathe nur trat zu ihr hinan und ergriff bekümmert ihre Hand.

„Liebe Schwester,“ sagte sie begütigend, „Du bist erregt; da kann man des Herrn Stimme nicht hören. Geh’ in Dich!“

Carmen schüttelte abwehrend den Kopf, und in dem eigenthümlichen Gemisch von Stolz und Demuth ihres Charakters von dem einen zum andern übergehend, neigte sie sich kindlich demüthig vor der treuen Pflegerin.

„O, verzeihe mir, liebe Schwester Agathe,“ bat sie, indem sie dieselbe innig umschlang, „verzeihe mir, wenn ich anders reden muß, als Du für recht hältst – aber Du kannst nichts ändern an dem, was ich gesagt. Laß mich jetzt zu meinem Vater gehen! Er ist mein natürlicher Beschützer und hat am ehesten ein Recht auf mich und über mich zu verfügen.“

Sie hatte vermieden, Jonathan wieder anzusehen, es war ihr, als könne dieses Unheil nur von ihm über sie heraufbeschworen sein, und es gährte wild in ihr auf, sobald sie ihn anblickte. Jetzt löste sie sanft ihre Arme von Agathens Nacken und, ohne sich umzusehen, verließ sie den Saal.

Es duldete sie nicht im Hause; es drängte sie fort von hier, als müsse sie sich einer Gewalt entziehen, die ihr drohe. Sie eilte über die Straße; dunkle Wolken waren am Himmel heraufgezogen; Donner grollte – ob aus den Kanonen der noch immer in rüstigem Scheinkampf agirenden Soldaten oder aus den Wolken, sie beachtete es nicht – erst im Zimmer des Vaters hemmte sie die hastigen Schritte.

Mauer saß sinnend im Lehnstuhl. Sie warf sich an seiner Seite nieder, umschlang ihn mit ihren Armen und den Kopf an seine Brust drückend, sagte sie athemlos:

„Vater, beschütze mich!“

Er sah das Mädchen verwirrt an. Noch vor einer Stunde so heiter und jetzt fassungslos zu seinen Füßen?! Er hob ihren Kopf auf und blickte ihr in das bleiche Gesicht.

„Gott im Himmel, was ist Dir denn widerfahren, Kind?“

„Vater – man hat Dein Kind verloost!“

„Verloost?“

„Ja, verloost, wie ein Ding, das nicht lebt und nicht fühlt, keinen Willen und keine Menschenwürde hat – einem Manne preisgegeben, von dem ich nichts mag, und das in des Heilands Namen! Vater, schütze mich!“

„Verloost?“ fragte der Alte noch einmal, als könne sein Kopf nicht fassen, was sein Ohr vernommen. „Nein, da sei Gott für, daß solches mit Dir geschehe! Es ist genug, daß Eines von uns schon unter diesem Unheil gelebt und gelitten hat. Nein, Carmen, mein liebes Kind, sei ruhig, Dein Vater wird den Aeltesten sagen, daß er seines Kindes nicht entbehren könne.“

Der schwache Schimmer eines Lächelns irrte wieder um Carmen’s bleiche Lippen, als er so zu ihr sprach, und sie athmete erleichtert auf.

„Wußte ich doch, daß Du mir beistehen werdest, mein lieber Vater. Ich habe auch schon die Wahl von mir gewiesen und bin zu Dir geeilt, damit Du Deinem Kinde helfest.“

„Aber für wen sollte denn eine Gefährtin verloost werden?“ fragte jetzt Mauer, ihr sanft über die bleichen Wangen streichend.

„Für Daniel Becker, den Bruder Missionar, der vor einem halben Jahre zu den Kaffern ging. Nein, Vater, Du lässest mich nicht von Dir; wir bleiben beisammen – uns soll Niemand trennen – auch dieser Jonathan nicht,“ stieß sie unwillkürlich hervor.

Mauer schrak bei Nennung dieses Namens zusammen und starrte sie an.

„Jonathan?“ fragte er gedehnt. „Warum dieser?“

„Vater, ich fürchtete, Dir davon zu sagen,“ stotterte sie erschrocken über das, was sie soeben verrathen. „Er ist Dein Freund – Du bist so erregt, wenn irgend etwas ihn betrifft. Aber Du mußt es hören: ehe Du wiederkehrtest, hatte er mich von Schwester Agathe zur Frau begehrt – und da ich ihn nicht mochte – ich kann mir nicht helfen, mir graut vor ihm – ach Vater, da verfolgte er mich mit wilder Liebe, umarmte und küßte mich wider meinen Willen. Er bat, daß ich schweige über das, was er gegen mich gewagt, und ich habe es ihm versprochen – aber es war ja, ehe ich wußte, daß ich meinen Vater noch habe, und da es nun einmal gesagt ist, mag es auch gut sein, daß Du es weißt.“

[716] Ihre großen Augen blickten vertrauend zu ihm auf, aber sie konnten seinen Blick nicht finden; er hielt ihn von ihr abgewendet und sah bestürzt, voll Kummer und Angst in's Weite.

„Lieber Vater, bist Du mir böse?“ fragte sie besorgt.

„Nicht böse, nein, aber es ist ein Unglück, ein großes Unglück,“ sagte er tonlos.

In diesem Augenblicke klopfte es an die Thür – sie öffnete sich und – Jonathan trat ein. Vater und Tochter starrten ihn erschrocken an, ohne sich zu rühren: keines von ihnen sagte ein Wort und keines erhob sich. Mauer blieb zurückgesunken in seinem Lehnstuhl sitzen. Carmen erhob sich nicht aus ihrer knieenden Stellung und drängte sich nur fester an des Vaters Brust.

Jonathan betrachtete die Gruppe einige Augenblicke lang schweigend – nie war Carmen ihm schöner erschienen, als in dieser anschmiegenden Stellung, in der Hingabe von Liebe und Vertrauen. Sie so an dem Herzen des Vaters ruhen zu sehen war nichts, was eifersüchtige Gefühle reizen konnte, aber es reizte ihn, um zu begehren, daß sie so an seine Brust sich lehnen möchte. Seine Augen schwelgten in dem Anblick und seine Leidenschaft nährte sich an ihm.

„Ihr seid bekümmert – ich wußte es und komme, Euch zu helfen,“ sagte er endlich, da die Beiden noch immer schwiegen, mit dem mildesten Ausdruck seiner ruhigen Stimme. „Es thut mir leid, sehr leid, daß Schwester Carmen sich hat hinreißen lassen, aller Pflicht und Demuth zu vergessen und so wilde, hitzige Worte vor den Versammelten zu sprechen. Wir müssen sehen, wie wir das wieder ausgleichen können – ich will überlegen, was sich dagegen thun läßt, wenn Carmen mir es möglich macht, Schritte für sie zu unternehmen.“

„Lieber Bruder, schone meines Kindes!“ bat der alte Mann mit unsicherer Stimme. „Sie darf die durch das Loos auf sie gefallene Wahl nicht annehmen; sie darf nicht von mir gehen, nicht so weit fort von mir, und ich, der ich sie kaum erst wiedergefunden, kann meine Tochter nicht missen.“

„Du weißt, lieber Bruder,“ entgegnete Jonathan, „wir von der Brüderunität erkennen in dem Loose, wo es nöthig ist, sich desselben zu bedienen, den Willen des Herrn. Jeder von uns soll die Pflicht und das Amt tragen, welche der Herr ihm auferlegt, und nicht fragen, ob sie mit seines Herzens Wünschen zusammentreffen. Wenn Carmen's Hand noch frei ist, muß sie dem Rufe folgen, der an sie ergeht. Es wird ja auch nicht auf immer sein, daß sie von uns scheidet; ein paar Jahre – – und sie kehrt mit dem Gatten zurück.“

„Ein paar Jahre! Werden mir denn deren beschieden sein?“ fragte Mauer traurig.

„Lieber Bruder, ich sagte im Schwesternhause bereits, daß, wenn Carmen sich einem Manne schon verlobt habe, man die durch das Loos getroffene Wahl ablehnen und dann die Aeltesten um ihre Zustimmung für diesen Bund bitten könnte,“ entgegnete Jonathan, jedes seiner Worte scharf betonend.

Carmen's Lippen kräuselten sich stolz auf, als er so sprach, und sie sah mit schneidender Kälte, als sei ihr Blick von hartem Stahl, zu ihm hin. Sie ahnte, wo hinaus er wolle, aber sie entgegnete kein Wort. Sie lehnte an ihres Vater Brust; sie fühlte sich gewiß, an ihm eine Stütze und einen Rückhalt zu haben, und in dieser köstlichen Sicherheit nahm sie jetzt Alles ruhig hin.

An ihren stolzen, abweisenden Blicken erhitzte sich aber Jonathan, wie ruhig er auch schien, immer mehr – er mußte nun mit ihr fertig werden, so oder so; er wußte jetzt eigentlich nicht, was er für das Mädchen empfinde, Haß oder Liebe; aber er sagte sich: diesen Stolz zu beugen, diese Sicherheit zu vernichten, das müßte eine unendliche Befriedigung sein.

„Aber sie ist ja nicht verlobt,“ warf Mauer ein, da Jonathan schwieg. „Ich jedoch habe als Vater das natürliche Recht, bei der Bestimmung über mein Kind zu entscheiden.“

„Das Recht, lieber Bruder?“ Jonathan blickte höhnisch auf Mauer hin. „Es käme darauf an – nicht jedem Vater in der Brüdergemeinde würde dasselbe zugestanden werden können!“ und als der alte Mann erbleichend vor ihm die Augen senkte, fügte er lächelnd hinzu: „Doch wenn ich Dich bäte, um der alten Freundschaft willen bäte, mir Carmen zum Weibe zu geben, würde das Deine väterliche Zustimmung finden?“

Es war ein hülflos flehender Blick, den Mauer jetzt auf die Tochter richtete; seine Hände faßten nach den ihrigen und drückten sie krampfhaft; seine Lippen bewegten sich, als wollten sie sprechen, aber es klang kein Laut über sie hinweg.

Carmen sah den Vater erstaunt an.

„Vater, lieber Vater, auch das Weib Dieses hier kann ich nicht werden,“ flüsterte sie, bittend zu ihm aufblickend.

„Kind, kannst Du es um meinetwillen nicht?“ rangen sich die Worte von seinen Lippen.

„Nein, ich kann es nicht. Dringe nicht in mich, lieber Vater, es würde mich elend und Dich nicht glücklicher machen.“

Dunkle Röthe übergoß das Gesicht Jonathan's bei ihren Worten, und der Zorn, die Wuth der Enttäuschung siegten über die gewaltsam festgehaltene Selbstbeherrschung. „Du kannst nicht mein Weib werden, Schwester Carmen?“ rief er drohend aus. „Nun wohl, dann magst Du als Gefährtin Bruder Daniel's nach dem Capland gehen; denkst Du, ich werde Dein auflehnendes, störrisches Wesen dulden, das so schlecht für ein Glied der Gemeine paßt? Laß' Dir von Deinem Vater sagen, daß ich wohl Mittel in Händen habe, Dich zu dem Einen oder dem Andern zu zwingen!“

Carmen war aufgesprungen, und hochaufgerichtet maß sie ihn mit ihren stolzesten, kältesten Blicken; dann, als ob sie nicht mit ihm reden möge, kehrte sie sich gelassen zu ihrem Vater um.

„Bitte, lieber Vater,“ sagte sie, „sprich Du für Dein Kind und beschütze Du es!“

Sie ergriff seine Hand, und ihre Augen flehten in rührender Bitte, aber er schüttelte in Gram und Herzensnoth den Kopf und schwieg.

„Vater,“ schrie sie auf, „Du sagst nichts?“

Kein Ton kam über seine farblosen Lippen, nur Seelenangst sprach aus seinen Augen. Da schlug sie die Hände vor das Gesicht und brach kraftlos zusammen.

Jonathan's Augen blitzten im Triumph auf. Wie sie da lag, den Kopf an die Lehne von ihres Vaters Stuhl gesunken, das Gesicht in ihre Hände vergraben, weideten sich seine Blicke an der zusammengebrochenen Gestalt. Jetzt war sie endlich gebeugt, jetzt war sie sein, mußte es werden.

„Ihr werdet gut thun,“ sagte Jonathan, „die Sache ruhig zu überlegen und zu besprechen; dann wirst Du mir Deine endgültige Entscheidung geben, lieber Bruder Michael; ich werde heute Abend kommen, Dich danach zu fragen. Wir sollen einander in Liebe helfen und beistehen um des Heilandes willen, und Du weißt, ich übe gern Schonung und Duldung, wie der Herr es befiehlt, aber es giebt Fälle, wo beide aufhören müssen.“

Er verließ das Zimmer.




8.

Bruder Mauer war mit seiner Tochter allein; es war still geworden um die Beiden und auch düster – schwere Wolken hingen am Himmel und warfen ihre Schatten durch's Fenster. Zeitweilig fuhr ein irrer Schein an den Scheiben nieder und beleuchtete momentan mit grellem Licht Vater und Tochter, und ein Donnerschlag rief ihnen laut seine dröhnende Mahnung zu, als wolle er sie aufrütteln aus ihrer Starrheit – sie rührten sich nicht. Draußen strömte der Regen nieder, und der Wind fegte heulend über den kleinen Platz hin – sie schienen nichts davon zu vernehmen.

Endlich tastete Mauer's Hand nach dem Kopf des Mädchens und strich liebevoll, zärtlich darüber hin. Sie griff nach der Hand, als ob diese ihr wieder Leben gebe, und das Gesicht emporrichtend, suchte sie mit ihren heißen, trocknen Augen nach ihm und unsäglich traurig ihn anblickend, sagte sie:

„Vater, warum hast Du Dein Kind in der Noth verlassen?“

„Carmen, weil ich machtlos bin Diesem gegenüber,“ flüsterte er.

„Machtlos?“ fragte sie. „Aber wie kann er Gewalt haben über Dich, wenn Du sie nicht dulden willst? Er, ein Freund, gegenüber dem Freunde?“

„Ach Carmen,“ entgegnete mit sanfter Klage der alte Mann, „daß er seine Macht noch nicht an mir geübt, ist eben nur ein Beweis seiner großen Freundschaft für mich, aber, wenn er sie gebrauchen will – ich kann es ihm nicht wehren und muß es dulden. Ich sagte Dir, es ist ein großes Unglück, daß er Dich liebt und Du ihn nicht magst.“

[718] „Vater, meine Gedanken verwirren sich bei alledem; ich kann Dich nicht verstehen, nicht begreifen. Wie kann ein Mensch solche Macht über den anderen haben, daß darum ein Vater sein Kind schutzlos läßt?“

Mauer seufzte schwer auf. Carmen erhob sich und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Draußen tobten Sturm und Gewitter im unaufhaltsamen Kampf; hier innen suchte das arme Kind ihr stürmisches Herz zu beruhigen und die heftig arbeitenden Gedanken zu klären, zu ordnen.

„Vater,“ brach sie endlich das Schweigen, indem sie sich in einen Sessel neben den Alten niederließ, „rede, laß mich hören, wie und womit Bruder Jonathan Dir zu schaden vermag, wenn er seine Macht, von welcher Du sprichst, gegen Dich kehren sollte? Wie wenden wir die Gefahr ab?“

„Carmen,“ erwiderte er leise und zaghaft, „könntest Du es denn ertragen, in Deinem Vater einen Schuldigen, einen großen Sünder zu sehen?“

Er sah so gebrochen, so grenzenlos elend aus, daß ihr gutes, liebendes Herz von Mitgefühl und Erbarmen überströmte. In das theure Angesicht des Vaters zu sehen und darin den Jammer von Schuld und Selbstanklage zu lesen – das krampfte ihr das Herz schmerzlich zusammen, und heiße Thränen traten ihr in’s Auge.

Sie schlang die Arme um seinen Hals und sagte zärtlich: „Vor Deiner Tochter kannst Du keine Schuld haben und hast Du sie vor der Welt – o, glaube mir, ich werde Dich trotzdem lieben und Dein Leid Dir tragen helfen, Vater.“

Er schluchzte laut auf und drückte das Mädchen an sich.

„Mag es Gottes barmherzige Gnade sein, die durch den Mund meines Kindes zu mir spricht! Er segne Dich, und um Deinetwillen, und weil ich schwer gebüßt habe, mag er mir großem Sünder vergeben! Es ist eine alte Geschichte von Trübsal und Schuld, die ich Dir erzählen muß, mein Kind – von Trübsal und Schuld, an denen ich schwer und lange getragen habe – schon neunzehn Jahre. Höre denn, Carmen!“ [729] Bruder Mauer schwieg einen Augenblick, als suchte er in seinem Gedächtnisse die halb erblichenen Farben längst vergangener Ereignisse neu zu beleben und ihre im Nebel der Zeit verschwommenen Umrisse klarer und frischer zu gestalten.

„Vor dreißig Jahren, mein Kind,“ sagte er endlich, „bin ich mit meiner ersten Frau von hier fortgezogen, um den Leinwandhandel in Jamaica zu betreiben, wo die Brüder verschiedene Missionen begründet hatten. Wir kamen im Mai dort an und gewöhnten uns schnell ein – das Land ist ja wunderbar herrlich, aber nach der Regenzeit im Herbst, als der feuchte Boden seine Miasmen in der großen Wärme ausdampfte, befiel uns Beide das Fieber. Mein kräftiger Körper überwand die Krankheit ziemlich schnell, aber meine arme, zarte kleine Frau erlag ihr nur zu bald. Ich war nun zwei Jahre lang Wittwer und führte ein einsames Leben in harter Arbeit. Am liebsten wäre ich heimgekehrt nach Europa, aber das einmal begonnene Geschäft war nicht gleich wieder aufzugeben; es würde nur mit großen Verlusten haben geschehen können. So schrieb ich denn heim, daß ich eine Gefährtin bedürfe und sie eine solche mir senden möchten. Ich nannte zwei der Schwestern, die ich in der Heimath gern gehabt hatte, ob vielleicht eine von diesen mir folgen wolle, oder sonst eine andere. Aber die eine der Genannten war gestorben, die andere inzwischen schon verheirathet; so ließen die Schwestern das Loos darüber bestimmen, wer mir angehören solle – es traf auf Schwester Julie.

Als die neue Lebensgefährtin bei mir ankam, erschrak ich; sie war sehr häßlich von Gesicht und hatte eine ganz mißgeformte Gestalt. Trotz meines lebhaften Schönheitsgefühls bezwang ich mich und hoffte, daß sie um so schöner von Gemüth sein werde. Doch sie hatte eine stumpfe, starre Seele, aus der kein Ton hervorzulocken war, welcher zu der meinen gestimmt hätte. Sie betete wohl eifrig und arbeitete fleißig, alles genau, wie es uns vorgeschrieben ist, sie dachte aber nicht über das nüchterne Werk ihrer Hände hinaus, und wenn ihre Lippen nicht beteten, war sie stumm und verdrossen, mißtrauisch und geizig. Beinahe acht Jahre hatte ich unter wachsender Abneigung mit ihr zusammen gelebt: da wollte es das Unglück, daß ein Geschäftsfreund auf Jamaica, der mir viel schuldete, starb, daß seine Geschäfte sich als sehr zerrüttet auswiesen und daß ich für meine Forderung seine Plantage annehmen mußte. Diese befand sich in einem heruntergekommenen Zustande, und damit ich das Meinige nicht verliere, entschloß ich mich, einem Geschäftsführer meinen Handel in der Mission zu übergeben und mit meiner Frau auf die Plantage hinaus zu ziehen, und – da kam das Verhängniß über mich, und in meine verdüsterte Seele, in die trostlose Leere meines Gemüthslebens fiel der Lichtschein einer großen Empfindung.

Ein Neger war von der Plantage eines Spaniers, die zwei Stunden von der meinigen entfernt lag, geflohen und Schutz suchend zu mir gekommen – die Sclaven wußten, daß meine Schwarzen freie Arbeiter seien, und das lockte die Unglücklichen an. Don Manuel war keiner von den harten Herren, aber der Neger hatte sich vergangen und fürchtete nun die Heimkehr; so entschloß ich mich, hinüber zu reiten und seinetwegen mit Don Manuel selbst zu verhandeln. Als ich die Hacienda des Spaniers erreichte, sah ich unter den Palmen in einer Hängematte eine schlanke, zarte weibliche Gestalt in weißem Gewande ruhen; sie hatte die Arme unter den Kopf geschlagen, und die zurückfallenden Spitzen der weiten Aermel ließen mich die schöne Form frei erblicken. Ein Stampfen meines Pferdes schreckte sie auf; sie glitt anmuthig aus der Hängematte und sah erröthend und erstaunt den Fremdling an; denn sie hatte noch niemals einen blonden Mann gesehen. Sie war fast noch ein Kind, erst fünfzehn Jahre alt, aber das schönste, lieblichste Gebilde, das meine Augen je erschaut. Es war Inez, Deine Mutter.

Sie führte mich zu ihrem Vater, und während ich mit ihm verhandelte, sah ich sie an der Veranda die Pfauen füttern und ein niedliches Aeffchen liebkosen; ich konnte nicht die Augen von ihr wenden – jede ihrer Stellungen war wie diejenige eines Kunstgebildes; ich konnte das Ohr nicht von ihr lenken – jedes ihrer Worte war Musik. Ich war schon damals des Spanischen mächtig, und wir redeten nun in dieser Sprache. Als ich dann fortritt, sah ich Inez unter den Palmen lehnen und ihre weiße Kinderhand mir nachwinken, und als ich nach einer Strecke mich wieder umschaute, erblickte ich ihre schlanke Gestalt noch immer dort stehen.“

Mauer hielt ergriffen in seiner Erzählung inne. Vor der Seele des alten Mannes stieg das Einst mit seiner Herrlichkeit auf, und die süße Erinnerung überwältigte ihn. Carmen hatte ihm gespannt zugehört und über dem, was er von der Mutter erzählt, ganz vergessen, daß sie doch Unheilvolles hören solle. Mit glücklichem Lächeln sah sie auf den Vater und wartete mit Ungeduld, daß er fortfahre. Draußen strömte noch immer der Regen hernieder, und das Gewitter brach mit erneuter Kraft immer wieder aus. –

[730] „Wie doch das Gewitter tobt!“ begann Mauer wieder, „und dennoch ist es nichts gegen das auf den westindischen Inseln. Kannst Du Dich dessen noch erinnern, Carmen? Sieh, es war auch im September, einige Wochen nachdem ich bei Don Manuel gewesen war; die Seewinde hatten aufgehört zu wehen, und wir hatten eine wahrhaft erstickende Hitze. Seit vielen Tagen schon war der Himmel verhangen; Wolken thürmten sich, immer schwärzer werdend, in ungeheuerer Menge über uns auf; die elektrischen Massen durchzuckten sie tausendfältig, und ein immerwährendes dumpfes Grollen dröhnte gefahrdrohend aus ihnen hervor – alles das zeigte an, daß die große Regenzeit nahe, und wer auf den Inseln gelebt, weiß, daß sie gewöhnlich mit fürchterlich sich entladendem Gewitter und heftigem Orkane beginnt. Ich war in der Mission gewesen, nach meinem Geschäft zu sehen, und ritt bei der furchtbar drückenden Schwüle langsam wieder heim. Eine Stunde war ich noch von meiner Plantage entfernt, als sich mit einem Male jählings der Sturm erhob, von den blauen Bergen kam er über die Savannen wüthend dahergepeitscht, und ich gab meinem Pferde die Sporen, um noch vor dem völligen Ausbruche des Unwetters nach Haus zu gelangen; denn ich wußte, daß es mit dem Sturme dahergejagt kam. Da sah ich auf einem weißen Rosse eine helle Frauengestalt heransprengen, die augenscheinlich sich vergeblich mühte, des scheugewordenen Thieres Herr zu werden; ich erkannte sogleich Inez in ihr. Ich warf mich ihr entgegen, und es gelang mir, die Zügel zu erhaschen und das Pferd aufzuhalten. Aber es war nun keine Zeit zu verlieren, das Mädchen zu ihrem Vater nach Haus zu bringen, und bei der fürchterlichen Gefahr des ausbrechenden Wetters mußte ich sie dahin begleiten. Sie war allein ausgeritten, wie so oft; sie hatte wieder heimkehren wollen, aber das scheugewordene Pferd hatte sie in die falsche Richtung entführt.

Der Sturm wurde immer heftiger: Blitze fuhren vor uns nieder, daß die Thiere immer von Neuem scheuten; jetzt fing auch der Regen an zu strömen, und es war keine Möglichkeit, daß Inez sich länger im Sattel halte, obgleich sie eine sichere Reiterin war. Sie wußte in der Nähe unter Magnolien eine kleine verlassene Negerhütte; dorthin flüchteten wir. Es war dunkel in der Hütte; der Sturm beugte die Wipfel der Bäume auf das Dach herab und peitschte den Regen gegen die Wände, daß wir jeden Augenblick denken mußten, sie brächen über uns zusammen. Inez drückte sich immer ängstlicher an mich heran; ich hielt die zitternde Gestalt in meinem Arme aufrecht, während sie meinen Hals umschlang und ihr Kopf an meiner Brust lehnte. Ich sprach zu ihr, wie man einem ängstlichen Kinde zuredet, und als ich mich über sie beugte, sie zu beschwichtigen, fuhr grell ein Blitz nieder, daß ich ihr in die großen, angsterfüllten Augen sehen konnte und sie in die meinen, die wohl freundlich zu ihr sprachen, und – da küßte sie mich und küßte mich immer wieder.

Carmen, Deine Mutter war das unschuldigste, reinste Wesen unter der Sonne; in ihrer Seele war kein unlauterer Gedanke, keine Handlung in ihrem Leben, die nicht vor Gott und Menschen bestehen konnte. Aber dort, unter der glühenden Sonne der tropischen Welt, da fließt das Blut heißer in den Adern, und sie lieben anders, schneller und glühender, als hier im kühlen Deutschland, und vom Kinde zur Jungfrau ist dort ein rascher Sprung. Als ihr Kuß auf meinem Munde brannte, erschrak ich – ich hatte sie wie ein schönes, liebliches Kind angesehen, aber ihr Kuß lehrte mich, sie anders zu betrachten, und – ich war ja doch ein verheiratheter Mann.

Da drangen ängstliche Rufe an unsere Ohren: es waren Neger, die Don Manuel in Sorge um sein Kind ausgesendet hatte, die Vermißte zu suchen, und da nun der erste Stoß des Wetters etwas nachließ, schieden wir alsbald von einander.

Als ich nach Haus kam, war mir das Antlitz meiner Frau in ihrer Häßlichkeit peinlicher denn je; auch ihr Wesen war nie bedrückender für mich gewesen; sah ich doch immer Inez’ liebliche Gestalt, ihre anmuthsvolle Weise vor mir. Aber ich sagte mir, daß dies sündhaft sei, und ich nahm mir vor, nicht wieder zu Don Manuel zu gehen und Inez nicht wiederzusehen. Aber ihr Bild wollte nicht von mir weichen, und mit jedem Tage wurde der Kampf schwerer in meiner Seele.

So ging die Regenzeit hin, während welcher ich kaum die Hacienda verließ und Keinen sah und hörte, als mein Weib. Plötzlich erkrankte diese, und es wurde schnell so schlimm mit ihr, daß Bruder Jonathan, der als Arzt in der Mission lebte und den ich herbeiholte, ein sehr besorgtes Gesicht machte. Es war am fünften Tage ihres Krankseins; Jonathan war am Nachmittag dagewesen; am Abend wurde es plötzlich schlimmer mit ihr; sie klagte immer heftiger, und so entschloß ich mich, noch um zehn Uhr nach der Mission zu reiten. Jonathan war ein gesuchter Arzt; als ich gegen elf Uhr bei ihm anlangte, hatte ihn schon ein Mann aus dem ersten Schlafe geweckt, der für ein Kind Hülfe haben wollte; er saß bei dem Dämmerschein eines Lichtes, auf das Mittel wartend, da – ach, ich erinnere mich noch jeder Kleinigkeit so genau, als sei es gestern geschehen. Jonathan meinte, als ich ihm sagte, daß es sich mit meiner Frau verschlimmert habe: er wolle mir ein Beruhigungsmittel bereiten lassen, aber er habe kaum eine Hoffnung mehr, daß ihr zu helfen sei. Ich war voll Unruhe und Hast, wieder zurückzukehren, und auch der Mann drängte, daß er die gewünschte Arznei empfange. Endlich brachte Thomas, der Gehülfe Jonathan’s, die bereiteten Mittel herein; ich griff eilig nach dem meinigen, denn ich hatte den weiteren Weg. Der Bruder sagte mir noch: 'Es sind Opiumtropfen; gieb ihr fünfzehn davon, wenn Du heimkommst! Und bessert es sich nicht mit ihr, so lasse sie zwei Stunden darnach noch einmal dieselbe Zahl nehmen!' Dann jagte ich auf meinem Pferde davon, in die Nacht hinaus. Als ich so dahinritt, hörte ich immer Jonathan’s Worte: 'Ich habe kaum eine Hoffnung mehr.' Ach, Carmen, es war mir, als seien es erlösende Worte. Ich trug so lange schon furchtbar schwer an dem Joch, das mir in dieser Frau, deren Seele fast noch häßlicher war als ihr Leib, aufgeladen war. Endlich war ich zu Hause angelangt; es war zwölf Uhr geworden; mit der Kranken ging es noch ebenso schlecht; sie klagte heftiger über Schmerzen, und ich zog hastig das Mittel hervor, es ihr zu reichen. Sie stöhnte – da fing ich an die Tropfen zu zählen: eins, zwei, drei, und dabei sagte ich mir: 'Kaum eine Hoffnung mehr – aber doch noch nicht alle Möglichkeit ausgeschlossen.' Meine Hand zitterte; es war, als lege sich ein Nebel vor meine Augen, die Tropfen fielen schneller; ich zählte weiter, immer weiter: dreizehn, vierzehn, fünfzehn – da waren unversehens ein paar Tropfen mehr, als verordnet, in den Löffel gefallen; es folgte noch einer und abermals einer, fünfundzwanzig, sechsundzwanzig – da stieß ich das Fläschchen von mir hinweg.

'Wo sind die Tropfen? Gieb sie her!' rief die Kranke mit schwächer werdender Stimme; sie nahm den Löffel aus meiner Hand, und ich kehrte das Gesicht ab. – Und da hat mein guter Geist sich auch von mir gewendet.“

Mauer stöhnte und barg das Gesicht in den Händen.

Carmen stockte der Athem; sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen, um den Vater nicht ansehen zu müssen; sie wagte nicht sich zu regen noch zu denken.

„Die Kranke,“ begann Mauer nach längerer Pause des Schweigens, „war ruhiger geworden; ihre Athemzüge waren kaum hörbar; schlief sie? In mir schrie es: Gott, Barmherziger, laß sie schlafen, nicht sterben – nur jetzt nicht! Aber ich wagte nicht, zu ihr hinzusehen, nicht hinzuhorchen. Ich war auf mein Lager gesunken und hatte im Grauen, das mich erfüllte, die Decke über mich hingezogen. Die Zeit ging hin, eintönig mit dem Pendelschlage – ich wußte nicht, ob kurz, ob lang. Da hörte ich Pferdehufe vor der Hacienda; es hielt an, und ich erhob mich, die Thür zu öffnen; denn die Diener waren eingeschlafen. Es war erst drei Uhr am Morgen. Der so früh Ankommende war zu meiner Ueberraschung Bruder Jonathan.

'Wie geht es?' fragte er hastig, als er vorn Pferde sprang, und ich antwortete leise:

'Sie schläft.'

Er trat an ihr Lager, drehte die Lampe nach ihr hin, betrachtete sie und sprach:

'Ja, um nicht wieder zu erwachen – ich wußte es, daß sie nicht zu retten war.'

Ich konnte nichts erwidern; ich konnte die Zunge nicht lösen, die mir den Dienst versagte. War sie gestorben, weil sie nicht mehr zu retten war, oder weil ich ihr die doppelte Zahl der betäubenden Tropfen gegeben? Das verhängnißvolle Fläschchen stand noch da auf dem Tische am Bette, wo ich es jählings hingestellt hatte – ich fürchtete, es wieder zu berühren. Jonathan nahm es auf, und es betrachtend, sagte er leichthin:

[731] 'Hast Du ihr noch einmal davon gegeben? Ich sehe, es sind mehr als fünfzehn Tropfen heraus.'

Ich nickte mit dem Kopfe.

'Nach zwei Stunden?' fragte er abermals und steckte das Fläschchen ein; ich aber nickte wieder bejahend. Er betrachtete nochmals aufmerksam die Todte, befühlte sie und hob ihr die Augenlider empor. 'Sonderbar,' begann er wieder, 'Du hast ihr etwa um zwölf Uhr die erste Anzahl der Tropfen gegeben und dann um zwei Uhr die anderen; jetzt haben wir erst drei Uhr, und diese Leiche ist schon seit mehreren Stunden kalt; Dein Weib muß mindestens schon vor zwei Stunden verschieden sein – wie geht das zu?'

Er sah mich erstaunt an; ich fühlte, wie ich unter seinen fragenden Blicken immer mehr erbleichte; die Füße hielten mich nicht länger, und ich sank ohnmächtig hin. – – –

Die Todte war beerdigt; ich war krank geworden und hatte mich wieder erholt; es waren zwei Wochen verstrichen – da kam ein Bote, der mich sogleich zu Don Manuel rief, welcher dringend meiner bedürfe. Er war bei einem Ritt mit dem Pferde gestürzt, hatte innerliche Schäden erlitten und man erwartete stündlich seinen Tod. Ich wurde an sein Lager geführt, an welchem Inez' liebliche Gestalt kniete, das Gesicht in des Vaters Kissen gedrückt; am Fußende aber stand der Arzt, Bruder Jonathan. Don Manuel winkte mich zu sich heran.

'Don Mauer,' sagte er mit schwacher Stimme, 'ich muß sterben, möchte aber vorher noch für mein Kind sorgen, das schon ohne Mutter ist. Ihr habt sie neulich im Sturm errettet, und sie hat mir anvertraut, daß sie Euch liebe und denke, Ihr liebt sie wieder. Daher frage ich Euch jetzt, wo der Tod mich drängt: könnt Ihr sie lieben und wollt Ihr sie als Euer Weib an Euer Herz nehmen und sie ehren und hochhalten? Sie war mir immer eine gute Tochter; sie wird Euch auch eine gute Gattin sein.'

Da hob Inez den Kopf empor, und die schönen dunklen Augen, die in ihrer Unschuld ihre Gefühle nicht zu verbergen verstanden, sahen heiß und flehend zu mir auf. Ich legte die eine Hand auf dieses holde, reine Haupt, die andere in Don Manuel’s Rechte.

'Ja, ich werde sie ehren und behüten als mein köstlichstes Kleinod,' sagte ich feierlich, 'denn ich liebe sie über Alles in der Welt.'

Da sank Inez an meine Brust, und der Sterbende segnete uns. Er drang darauf, daß ein schnell herbeigerufener Priester uns noch gleich an seinem Sterbelager traue, damit er Inez sicher geborgen wisse. Kaum war der bedeutungsvolle Act vorüber – verschied er.

Das Ueberraschende, Ueberwältigende dieses Ereignisses drang so mächtig auf mich ein, daß ich außer dem einen Gedanken: 'Inez ist mein!' nichts dachte, nichts erwog. – Als ich nach dem Verscheiden des Vaters das weinende, erschöpfte Mädchen der Obhut der treuen alten Sara übergeben hatte und ich wieder heim nach meiner Plantage ritt, gesellte sich Jonathan zu mir.

'Bruder Michael,' sagte er und blickte mich dabei finster und drohend an, 'nun weiß ich, welcher sündhaften Liebe wegen Julie, Deine Frau, die doppelte Anzahl der betäubenden Tropfen von Dir erhalten hat und warum, als ich am frühen Morgen zu Dir kam, die Leiche schon seit mehreren Stunden erkaltet war.'

Als ich erbleichte, lachte er höhnisch, wendete sein Pferd und ritt in die Mission. Seitdem wurde mir Jonathan’s Anblick zur Folter; ich las immer die entsetzliche Anklage auf seinem Gesicht, obschon er dieselbe nie ausgesprochen hat. Auch Inez, meinem geliebten Weibe, war Jonathan unheimlich, ja sie haßte ihn; hatte er ihr doch, wie sie mir erzählte, glühende Liebesanträge gemacht, jetzt und schon früher, bevor ich noch zu Don Manuel gekommen war. Sie vermied ihn, wo sie nur konnte, sobald er in die Hacienda kam, und es war ihr wie mir eine willkommene Nachricht, als er uns sagte, er könne das Klima nicht mehr vertragen, und hätte er Geld genug, so würde er nach dem Norden gehen. Da gab ich ihm mehrere Tausende von meinem Vermögen, damit wir frei von ihm würden; er ging mit seinem Thomas nach Bethlehem in Pennsylvanien, und zu meiner Erleichterung sah ich ihn nicht wieder. Er schrieb mir nach einiger Zeit, ich aber antwortete nicht darauf, und nun hörte ich nichts wieder von ihm.

In meinem Herzen saß zwar der Wurm der Selbstanklage, aber so lange Inez lebte, war mir in ihr ein so unermeßliches Glück beschieden, daß über dieser Seligkeit selbst die Stimme des Gewissens schwieg. Jedoch als der Herr sie mir wieder nahm, da schrie es in mir auf: 'das ist Deine Strafe – sie muß sterben um Deiner Sünde willen,’ und aller Friede wich von mir. Da nahm ich mir vor, dem Herrn zu büßen mit meinem Leben; ich wollte es aufopfern, um für des Heilands Sache zu leiden und Seelen für ihn zu gewinnen. Ich ließ Dich, das Einzige, was mir von Inez geblieben, von mir gehen, verkaufte all mein Gut in Jamaica und ging, arm, wo es meinen Bedürfnissen galt, hin über die Meere nach Indien, wo noch am wenigsten für unsere Missionen geschehen war. Das Uebrige weißt Du schon, aber nicht, wie gern ich litt, so schwer auch diese Leidensjahre der Sclaverei waren; ich hoffte mir damit die Gnade Gottes wieder zu erkaufen. Und als nun der Herr mir die heiß ersehnte Heimkehr gewährte, da sah ich darin die Bestätigung, daß mir meine Missethat vergeben sei. Aber sie ist mir nicht vergeben, Carmen, denn Bruder Jonathan lebt und ist hier, und in ihm wandelt sie als fortwährende Mahnung neben mir her. Jedes seiner Worte rührt daran, vielleicht ohne daß er es weiß, und ich zucke immer schmerzhaft unter der Berührung dieser Wunde zusammen. In seine Hand ist es gegeben, jeden Tag, jede Stunde meine Schuld an das Licht zu ziehen, und war es ein Zeichen seiner großen Freundschaft für mich, daß er bisher geschwiegen hat – wenn er Dir und mir zürnt, wird er die alte Rücksicht zu meinen Gunsten nicht mehr gelten lassen. Du hast seine Drohung gehört; er wird sie erfüllen. Mag geschehen, was muß! Ich will es in Ergebung auf mich nehmen, aber ich bin auch nicht vermögend, Dich, mein geliebtes Kind, zu beschützen. Jonathan wird meine Schuld nun offenbaren, wenn Du ihn nicht zu Deinem Gefährten haben magst – ich, ein Sünder, kann nichts für Dich thun, sondern muß still tragen, was über mich kommt.“

Er schwieg und er wagte nicht, Carmen anzusehen; denn er fürchtete ein vernichtendes Urtheil in ihrem Antlitze zu lesen. Und sie saß still und in sich versunken da, die Augen mit der Hand beschattet, und athmete schwer und beklommen. Ihr war das Blut wie zu Eis geronnen unter dem Furchtbaren, was sie erfahren; sie hatte ein muthiges Herz, aber es erzitterte jetzt unter dem Weh dieses Elends, dem sie nicht zu begegnen wußte. Und doch, sie dachte daran, daß sie jetzt vor Allem ihre Liebe zeigen müsse; denn er werde dieser Liebe bedürfen; sie hatte ihm ja gesagt, daß sie ihn lieben werde, trotz seiner Schuld, und daß sie sein Leid mit ihm tragen wolle; er hatte um ihrer Mutter willen gesündigt, und diese würde ihm gewiß vergeben und ihn trotzdem geliebt haben – wie auch die Menschen ihn richten mochten; die Tochter war nicht zu ihres Vaters Richter gesetzt, Gott aber würde ihn milde beurtheilen, nach der Tiefe seiner Reue und seiner Leiden – das fühlte sie mit unumstößlicher Klarheit. So erhob sie denn den Kopf und wendete dem Vater das Gesicht zu, und ob sie auch bebte, schlang sie doch den Arm um des gebeugten Mannes Nacken.

„Sei getrost, lieber Vater, und hoffe auf Gott!“ sagte sie liebevoll, „Du hast so tief, so lange und schwer gebüßt, daß er Dir Deine Sünde gewiß vergeben hat. Er wird uns wohl auch helfen aus diesem Elend.“

Sie schwieg einen Augenblick, in tiefes Sinnen versunken.

„So muß ich wohl von meiner guten Mutter den unüberwindlichen Widerwillen gegen Bruder Jonathan geerbt haben; denn ich habe mich vor ihm gescheut, so lange ich denken kann, und es wäre mir unmöglich, ihm anzugehören. Er ist mir verhaßt wie die Sünde; ich würde alles Schlimme in ihm suchen, und doch ist, was er thut, immer gut, und er hat auch an Dir sich freundlich bewiesen. Laß uns überlegen, ob sich nicht doch noch ein Ausweg in unserer Noth finde.“

Der alte Mann lehnte weinend an dem Mädchen, das er als Vater doch hätte schützen und halten sollen, und ihr armer Kopf sann und dachte für ihn und für sich.




9.

Das Gewitter war vorübergezogen, der Regen aber strömte noch immer hernieder. Es war gegen fünf Uhr Nachmittags, als zwei Compagnien der Truppen, welche den Tag über manövrirt hatten, in ziemlich ungeordnetem Zuge auf der Landstraße daher [732] marschirt kamen und die Richtung nach der Colonie nahmen. Die Soldaten hatten sich in ihre Mäntel gehüllt.

„Es ist gut, daß das angeordnete Bivouac bei dieser Sündfluth gnädig vom Commandirenden abbestellt worden ist; denn wir wären wahrlich elendiglich wie die Mäuse ersoffen,“ sagte einer der beiden voranschreitenden Officiere zu dem andern; „aber es wäre mir doch lieber gewesen, wir hätten unser Massenquartier anderswo, als gerade bei den frommen Brüdern aufschlagen können – ob wir bei diesen gut ankommen werden, scheint mir mehr als fraglich. Wir sind in ihren Augen doch nur wilde Cannibalen und Mordgesellen und ich schaudere schon vor den Bekehrungsversuchen ihres heiligen Eifers.“

Der neben ihm gehende Officier lachte.

„Es wird nicht gar so gefährlich werden, wie Sie es befürchten, Hansen,“ meinte er; „aber sehr gelegen werden unsere wilden Burschen ihnen allerdings nicht kommen – eine Störung, wie sie bei ihrer peinlich durchgeführten Ordnung und stillen Lebensart nicht schlimmer gedacht werden könnte.“

„Nun, Sie haben das Commando überkommen, Trautenau,“ begann der Andere wieder, „Sie sind schon in diesem Bethanien gewesen, haben sogar eine Schwester bei diesen Heiligen – Sie müssen zusehen, wie Sie mit ihnen fertig werden und uns am besten unterbringen können.“

Sie hatten jetzt die ersten Häuser des Ortes erreicht. Alexander von Trautenau ließ Halt machen und die Soldaten in Reih' und Glied treten.

„Wir wollen als imposante Macht in die Colonie einrücken,“ sagte er mit leisem Humor, und als sie durch die stillen Straßen marschirten, fuhr manch erschrockenes und erstauntes Gesicht an die Fenster der Häuser und betrachtete verdutzt die Ankömmlinge.

Alexander, vertraut mit der Oertlichkeit, rückte mit seiner Truppe direct nach dem Brüderhause und in den großen Hof desselben ein; dort commandirte er „Gewehr ab!“ und ließ die Gewehre zusammenstellen: das mußte sich doch friedlich und beruhigend ausnehmen.

Das Brüderhaus war ein noch größeres Gebäude, als das Schwesternhaus, da die ledigen Brüder darin zugleich ihre verschiedenen Gewerbe betrieben und ihre Werkstätten hatten. Jetzt öffnete sich die Thür desselben, und mit bleichem, entsetztem Gesichte trat Bruder Martin, der Aelteste des ledigen Brüderchores, heraus. Alexander ging sogleich auf ihn zu und fragte höflich:

„Sind Sie der Vorsteher dieses Hauses?“

Als Bruder Martin bejahte, fuhr Alexander fort:

„Ich bin mit diesen beiden Compagnien in die Colonie commandirt worden, um die Leute für diese Nacht unter Dach und Fach zu bringen, da bei dem strömenden Regen das für heute angeordnete Bivouac nicht stattfinden kann. Wollen Sie so gefällig sein, mit Hülfe der Gemeinvorsteher mir Räume für die Leute anzuweisen?“

„Ganz recht, Herr Officier – aber vor allen Dingen sagen Sie mir, ich bitte, ob diese Flinten dort geladen sind?“ fragte Bruder Martin, sehr ängstlich auf die Gewehrpyramiden deutend.

„Allerdings sind die Gewehre geladen, aber ohne Kugel, und es ist durchaus keine Gefahr vorhanden, daß sie von selbst losgehen,“ beruhigte ihn Alexander.

Bruder Martin wurde bei diesen Worten noch bleicher als zuvor.

„Herr Officier,“ rief er zum Hause zurück flüchtend, „ich muß sehr bitten, die Flinten entfernen zu lassen.“

„Mit Vergnügen, Herr Vorsteher,“ willfahrte ihm Alexander, „wenn Sie mir nur einen Raum anweisen wollen, in dem meine Leute die Gewehre unterbringen können.“

Bruder Martin lief bereitwillig in das Haus und schloß eine Stube im Erdgeschoß auf; die gefürchteten Mordwaffen wurden von den Soldaten hineingetragen, Alexander schloß überdem die Thür ab und steckte, zur großen Beruhigung des Chorführers, den Schlüssel ein.

Hauptmann Hansen hatte inzwischen seine sarkastischen Bemerkungen nicht zu unterdrücken vermocht:

„Gott steh mir bei, einem ehrlichen Soldaten muß sich das Herz im Leibe umdrehen, wenn er das hören muß,“ meinte er. „Flinten! Als ob wir Schießprügel führten – der gute Mann muß von Olim's Zeiten noch übrig geblieben sein.“

Alexander vertheilte die Leute truppweise für die ihnen zugewiesenen Räume, wo sie auf einer Streu ein Massenlager finden sollten – da näherte sich ihm einer der inzwischen einzeln herbeigekommenen verheiratheten Brüder, ein schon älterer Mann.

„Herr Officier,“ sagte er bescheiden und höflich, „ich habe in meinem Hause Raum für einige Soldaten. Wollen Sie mir so etwa vier bis sechs als Einquartierung mitgeben? Ich verspreche Ihnen gewißlich, daß ich sie gut halten und verpflegen werde.“

„Warum das nicht, bester Herr!“ rief Alexander sehr erfreut. „Bitte, suchen Sie sich deren aus – die armen durchnäßten Menschen werden für Ihre Freundlichkeit nur um so dankbarer sein.“

Der Mann nahm denn auch, ohne zu wählen, sechs aus der Menge mit sich fort, und als er in seiner Gutmüthigkeit so recht von Herzen vergnügt mit seinen Leuten abzog, war damit das Eis der Verlegenheit und Scheu gebrochen: einer nach dem andern drängten sich Brüder herbei und wollten auch Soldaten als Einquartierung haben, und nicht lange, so waren im Brüderhause und in einer Menge Bürgerhäusern alle zur allgemeinsten Zufriedenheit untergebracht. Bruder Martin aber erbat sich die Officiere als seine Gäste.

Mit herzlicher Freude zogen die Wirthe mit ihrer Einquartierung ab und suchten, voll regen Eifers, in ihren einfachen Hauseinrichtungen das Beste hervor, es den Fremden zu bieten. Sauberes, weißes Linnen wurde über die Lagerstätten gebreitet; was die Küche schnell darzubringen vermochte, wurde herbeigetragen, die Erschöpften zu stärken, und alles getan, es ihnen so angenehm und bequem wie möglich zu machen.

Jetzt kam auch der Wagen mit den für das Bivouac bestimmten Bedürfnissen in den Hof gefahren; Holz und Lagerstroh, Fleisch und Zukost wurden abgeladen, und es sollte nun an das Zubereiten der Mahlzeit für die hungrige Mannschaft gegangen werden. Die Pioniere traten vor und fingen an, Pflastersteine im Hofe aufzureißen, um einen vertieften Raum für das Kochfeuer des improvisirten Herdes zu schaffen. Doch da stürzte Bruder Martin ganz entsetzt wieder herbei.

„Herr Officier,“ rief er, „Sie werden doch nicht zugeben, daß die guten Leute hier im Hofe Feuer anbrennen? Ich bitte Sie dringend, das zu verbieten – welches Unheil kann dadurch für uns entstehen, und außerdem: wie wird mir der reinliche Hof zugerichtet!“

„Wo sollen denn die Leute ihr Essen kochen, wenn es Ihnen hier für zu gefährlich erscheint?“ fragte Alexander etwas ungeduldig. „Die Leute sind naß und hungrig, haben viel Strapatze und heute noch keine ordentliche Mahlzeit gehabt; es ist ihnen zu gönnen, daß sie nun etwas Warmes zu essen bekommen.“

„O, das versteht sich, Herr Officier,“ meinte Bruder Martin sehr mitleidig; „wir werden doch die Erschöpften nicht hungern und leiden lassen? Ich will ja auch recht gern das Essen für die Leute in meiner großen Brüderküche zubereiten lassen, wo täglich für hundert Brüder gekocht wird.“

Das war ein Vorschlag, der mit Dank angenommen wurde.

Auch die Officiere fanden im Brüderhause alles zu ihrer Bequemlichkeit und Stärkung Erforderliche herbeigetragen, und Hauptmann Hansen meinte, sich vergnügt die Hände reibend:

„Trautenau, die Sache läßt sich wahrlich vortrefflich hier an, und wenn nicht noch das Beten und Singen mit uns losgeht, uns Sünder zu bekehren, so haben wir noch kein so gutes Quartier gehabt. Gott strafe mich, die Duckmäuser haben sogar ein ausgezeichnetes Glas Wein in ihrem Bereich, wovon uns Bruder Martin – die 'Flinten' seien ihm deshalb vergeben – freigebig hergestellt hat, und ich dachte doch, sie selber leben nur von Wasser und Lobgesang und sie würden uns auch so tractiren.“

„Aber, Hansen, nur nicht spotten!“ drohte Alexander, „sonst stehe ich nicht dafür, daß Sie aus diesem Paradiese wieder in den Regen hinausgesteckt werden. Ich bitte Sie, machen Sie mir inzwischen keine Schande hier, während ich gehe, meine Schwester aufzusuchen, ehe es zu spät wird – denn morgen früh wird zeitig wieder ausgerückt.“




10.

Von allen diesen außerordentlichen Vorkommnissen, die sich seit fünf Uhr in der Colonie zugetragen, hatten die beiden tief bekümmerten Menschen, Bruder Mauer und seine Tochter, in ihrem stillen Zimmer nichts bemerkt; die Außenwelt war ihnen völlig entschwunden über dem Leid, das sie in ihrem Innern [734] drückte; sie beschlossen endlich alles von einer Unterredung des Vaters mit Jonathan abhängig zu machen, und Carmen trat den Heimweg an; denn es war nach acht Uhr geworden.

Als sie die Treppe herunterkam, blieb sie unter dem Thorbogen des Hauses stehen. Es graute ihr vor dem Vater, vor sich selbst, vor der ganzen Welt. Es war ihr, als habe sie neben diesem Vater selbst kein reines Gewissen mehr. Und was sollte nun werden? Seine Schuld und ihre Kindespflicht drängten sie unabweislich in’s Elend, in die Arme dieses Jonathan. Nirgends wollte sich ein Ausweg zeigen. Sollte sie ausscheiden aus der Brüdergemeine? Das wäre gleichbedeutend mit der Trennung vom Vater; denn bei seiner Seelenstimmung, die in Reue sich quälte und in Buße allein Befriedigung fand, würde er nimmer in ein Losreißen von seiner alten Glaubensrichtung und von der Gemeinschaft der Brüder sich finden. Den Vater verlassen? Nimmermehr! Wohl lockte sie ein Gedanke – der Gedanke an Wollmershain und an Frau von Trautenau, aber sie verwarf ihn sofort wieder – sie konnte, sie durfte nicht: dort gehörte sie Keinem, hier ihrem Vater. Ach, wie ihr doch das arme Herz ächzte! Sie dachte: wenn sie nur weinen könnte, müßte doch ein wenig der bedrückenden Last mit hinwegrinnen, aber keine befreienden Thränen wollte in ihr brennendes Auge kommen.

Sie hatte sich auf einen Mauervorsprung in dem großen Thorbogen des Hauses niedergesetzt, nur um noch ein Weilchen allein zu sein und sich zu sammeln, ehe sie den schweren Gang nach dem Schwesternhaus antrat. Es hatte nun endlich aufgehört zu regnen. Eine trübe brennende Laterne, die vereinzelt auf dem Platze stand, lichtete etwas die Finsterniß und warf einen unsicheren Schein von Helle über die nassen Steine des Pflasters zu Carmen hinüber.

Es war still in den Straßen geworden; von den Dächern nur tropfte eintönig noch das Naß des gefallenen Regens herab; hin und wieder schallte auch einmal verloren der Schritt eines einsam Dahingehenden aus einer der Seitengassen hervor – dann herrschte wieder tiefe Stille, und die fallenden Tropfen bildeten das einzig hörbare Geräusch. Es lag etwas Besänftigendes in dieser Ruhe und in dem monotonen Fall der Wassertropfen, etwas, wie wenn man mit leiser Stimme ein müdes Kind zum Schlafen einsingt. Carmen fühlte sich wie in einen süßen Zauberkreis gebannt; sie zauderte lange und immer länger.

Jetzt ertönte aus der Ferne ein Schritt; ein Mann ging über den Platz, und als er in die Nähe der Laterne gelangte, blitzte es da und dort an seiner Kleidung wie Funken auf, und bei seinen Schritten, die fest und eilig auftraten, klirrte etwas nebenher – Carmen sah und hörte es wohl, aber ohne sich dessen bewußt zu werden; sie träumte in sich hinein; bewegungslos starrte sie in das Dunkel hinaus und ihr Herz, ihr armes Herz schien todt zu sein, todt und starr. Da – schien nicht der blitzende, klirrende Wanderer gerade auf den Thorbogen zuzuschreiten? Er näherte sich wirklich, und als er nun in dem unsicheren Licht deutlicher aus dem Dunkel hervorwuchs, klopfte plötzlich ihr Herz, das arme Herz, das eben noch so starr und todt in der Brust gelegen, heftiger auf – sie drückte sich dichter an die Wand zurück und starrte dem Kommenden mit weitgeöffneten Augen entgegen.

Jetzt stand er unter dem Thor und gewahrte im hellen Licht die zusammengedrückte Gestalt an der Seitenwand; er stutzte, schien zu forschen, und grüßend die Hand an den Rand seiner Kopfbedeckung legend, rief er freudig:

„Fräulein Carmen, Sie sind es wirklich? Ich komme noch zu so später Stunde, Sie zu begrüßen und Ihren Herrn Vater kennen zu lernen, da ich nur diese Nacht hier bin. Adele sagte mir soeben, daß ich seine Wohnung in dem Hause mit dem großen Thorbogen finden würde und daß Sie sicherlich bei ihm wären.“

Er sprach in lebhafter Bewegung, und hielt ihr die Hand zum Gruße hin; sie waren in Wollmershain mit herzlichem Händedruck von einander geschieden, und nun machte er das gewonnene Recht bei ihr wieder geltend.

Das Mädchen legte ihre Hand in die seinige; diese Hand war so starr und kalt, daß es ihn fast durchschauerte, und Carmen lehnte so müde und gebrochen mit ihrem Kopf gegen die Steinwand, daß er beunruhigt fragen mußte:

„Um Gottes willen, es ist Ihnen doch kein Unglück widerfahren? – Carmen, liebes Fräulein Carmen, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir nur ein Wort, daß ich weiß, was Ihnen fehlt, und lassen Sie mich Ihnen helfen, wenn ich es vermag!“

Sie hatte sich langsam und mühsam erhoben; die Kniee zitterten ihr und konnten sie kaum tragen – ihre Hand lag, wie sich stützend, noch immer in der seinigen. Da, bei dem tiefen Klange seiner theilnehmend bewegten Stimme löste sich plötzlich der schwere Druck ihres gequälten Herzens; ein krampfhaftes Schluchzen drang über ihre Lippen, und das heiß ersehnte Labsal befreiender Thränen kam endlich in ihre Augen. Sie wankte, und da sein Arm sie zu stützen und zu halten suchte, sank ihr Kopf kraftlos gegen seine Schulter.

„O Carmen,“ bat er, „vermögen Sie denn gar nicht mir zu sagen, was Ihnen widerfahren ist? Sie können nicht ahnen, wie mich die Besorgniß um Sie foltert. Wie soll ich Ihnen von meinen Gefühlen sprechen? Ich leide sehr – o glauben Sie es mir! – Sie in solchem Schmerze wiederzufinden.“

Sie weinte bei seinen Worten nur um so heftiger, und doch, wie wohl thaten ihr diese strömenden Thränen; wie ein Engel des Lichts erschien ihr Der, der sie ihr wiedergegeben hatte! Sie wehrte ihm nicht, da jetzt sein Arm sie umschlang, und an seiner Schulter lehnend, hatte sie nur das eine Empfinden: daß es ein rechter Mann sei, der sie da halte, daß er allein es vermöge, ihr zu helfen und sie zu stützen, und daß es wunderbare Seligkeit sei, sich von ihm stützen zu lassen. Bei dem Vater keine Hülfe, ihre eigene Kraft im tiefen Weh gebrochen – in ihm aber – das fühlte sie – in ihm lag Wollen, Muth und Kraft, ihr aus allem Weh zu helfen. Als seine Fragen sie immer drängender bestürmten, versuchte sie endlich zu reden.

„Man hat heute das Loos über mich geworfen,“ stammelte sie, „ich soll das Weib eines ungeliebten Mannes werden – durch das Loos, Herr von Trautenau!“

„Durch das Loos?“ fragte er, indem er sich verfärbte. „Sie, unsere schöne, stolze Carmen, durch das Loos verschenkt? Aber das ist ja ganz undenkbar, und Ihr Vater kann und wird solchen Mißbrauch nicht dulden.“

„Mein armer Vater!“ klagte sie. „Er kann nichts dagegen thun; er kann mich nicht beschützen.“

„Aber ich, bei Gott, ich werde es nicht dulden!“ sagte er leidenschaftlich und zog sie fester an sich. „Carmen, ich beschwöre Sie, Sie dürfen dieser schmachvollen Sitte Ihrer Gemeine sich nicht unterwerfen.“

„Nein, eher sterben als das,“ rief sie aus. Ein Theil ihres alten Muthes kehrte ihr wunderbar zurück; nun, da er bei ihr stand, fühlte sie: es mußte eine Rettung für sie möglich sein.

Sie trocknete die Thränen von den Wangen, erhob den Kopf, der so kraftlos an seiner Schulter gelehnt, um sich aus ihrer selbstvergessenen Lage, die ihr jetzt peinlich wurde, zu befreien – da aber fuhr sie erschrocken zurück; denn von ihnen ungehört war Jonathan’s schleichender Schritt genaht, und nun blickte sie in sein verzerrtes Gesicht, in seine zornfunkelnden Augen.

[760] „Eher sterben als mein Weib werden?“ fragte Jonathan höhnisch, indem er an Carmen und Alexander hinantrat. „Fürwahr, eine schöne Antwort, die ich mir zu holen komme! Das also ist die züchtige Schwester, die ich nicht berühren darf? Einen rechtschaffenen Mann, der sie liebt, stößt sie von sich und weist den Willen des Heilandes zurück, um dafür einem fremden Eindringlinge sich in die Arme zu werfen? Denkst Du, wir werden eine Schwester unter uns dulden, die aller demüthigen Liebe und Ergebung, aller Zucht und Sittsamkeit entbehrt, wie sie für ein Glied der Gemeine sich geziemen? Ich, als Vorsteher der Schwestern, werde nun bei den Aeltesten darauf antragen, daß Carmen Mauer aus der Gemeine gestoßen werde.“

Carmen stand wie betäubt unter diesen entsetzlichen Worten; sie athmete tief, aber sie antwortete nichts. Sie preßte nur die Hände gegen das klopfende Herz und hob das bleiche Gesicht zu ihm empor, ruhig, theilnahmlos, als ob seine Beschuldigungen und Drohungen jetzt unempfunden an ihr abprallten.

„Fräulein Carmen!“ rief, als Jonathan schwieg, Alexander’s tiefe, wohllautende Stimme. Dieser Laut scheuchte alles Entsetzen von ihr hinweg, und sie kehrte die Augen fragend und vertrauensvoll wieder zu ihm hin.

„Fräulein Carmen,“ fuhr er fort, „Sie haben mir einmal gesagt: nur der Arm des Vaters oder des Gatten dürfe Sie umschlingen. Wenn mein Arm Sie jetzt stützend umfangen hielt, haben Sie es geduldet, weil Sie meiner Ehre und meiner Liebe so fest vertrauen, um damit für alle Zeit mir das Recht zu geben, Sie als Gatte zu beschützen?“

Sie sah ihn an mit freudigem Stolze. „Ja!“ sagte sie fest, ohne Zaudern, ihm die Hand hinreichend.

Er drückte diese Hand mit leidenschaftlicher Wärme.

[762] „Mein Herr,“ wandte er sich dann kalt und fest zu Jonathan, „wollen Sie, als Vorsteher der Schwestern, den Aeltesten Ihrer Gemeine gefälligst die Mittheilung machen, um jedem beleidigenden Mißverständniß dadurch zuvorzukommen: daß Sie Fräulein Carmen Mauer mit ihrem Bräutigam, dem Hauptmann von Trautenau, an der Wohnung ihres Vaters angetroffen haben, daß diese Dame, wegen ihrer Verlobung mit mir, die Wahl des auf sie gefallenen Looses ablehnen muß und überdem bald aus der Gemeine scheiden werde, um ihrem Gatten zu folgen?“

Er verbeugte sich gemessen vor dem maßlos Erstaunten, zog Carmen's noch immer fest gehaltene Hand durch seinen Arm und wendete sich mit ihr dem Hause zu.

Carmen hatte verwirrt, beinahe fassungslos auf seine Worte gehört; was er sagte, benahm ihr fast Athem und Besinnung, aber wie die Kraft seines Armes sie gehalten hatte, so hielt sie auch die Kraft seines Willens, und sie wäre ihm ohne Widerspruch gefolgt bis an das Ende der Welt. Doch jetzt, als sie mit ihm die Schwelle des Thores überschreiten sollte, durchzuckte sie die Angst um den Theuren, Tiefgebeugten, der dort oben einsam in seinem Zimmer weilte – ihm mußte zuerst geholfen werden, und besorgt wandte sie sich nochmals zu Jonathan um. Die Anklage und Drohung, welche dieser ihr entgegen geschleudert, hatten ihr plötzlich die Stelle gezeigt, wo sie vielleicht vermöge ihn zu fassen und für den armen Vater unschädlich zu machen.

„Bruder Jonathan,“ redete sie ihn an, „Du sagtest selbst, daß, wenn ich einem Manne schon verlobt sei, dies dem Loose seine Kraft nehmen würde. Du siehst nun, daß Deine Drohungen mir gegenüber ohnmächtig sind, wohl aber vermöchte ich der Gemeine eine Geschichte zu erzählen, die das Ansehen des frommen Bruders Jonathan nicht eben erhöhen würde. Du warst bisher gütig gegen meinen Vater – bitte, sei es auch fernerhin und schone seiner! Ich möchte gewiß nicht Unheil über Dich bringen, aber mit jeder Anklage gegen ihn würdest Du mich zwingen – – Du verstehst mich schon.“

Jonathan stand wie zerknirscht da, Alexander aber zog Carmen hinweg, indem er dringend bat: „Gehen wir zu dem Vater!“

Er öffnete das Thor und trat mit ihr in das Haus.

„Verweilen wir hier einen Augenblick, Carmen!“ sagte er. „Ich war zu schnell; der einzige Wunsch, Dich zu retten, hat vorhin meine schnelle Frage und Deine sofortige Antwort dictirt – die rasche That eines Mannes, der Dich mit seiner heißen Liebe einer drohenden Gefahr entrücken wollte, soll aber Deine Freiheit nicht hindern. Ueberlege es nun still, ob Du mich ein wenig lieben kannst – sonst nimm das schnell gegebene Wort wieder vor mir und nach einiger Zeit, wenn es ungefährdet für Deine Sicherheit geschehen kann, auch vor der Welt zurück! Laß meine Liebe Dich schützen vor Gefahr, so weit sie es vermag, aber nur wenn Du mich lieben kannst, sei mein!“

Es war dunkel um die Beiden, nur ein matter Lichtschein drang durch das Fenster über dem Hausthor herein und lag schimmernd auf dem weißen Häubchen des Mädchens. Für Alexander war es wie ein Heiligenschein; seine Augen blickten andachtsvoll darauf hin, und er wartete, ob ihm von dort das Heil kommen werde.

Carmen hatte mit gefalteten Händen da gestanden; nun hob sie die Arme und umschlang zärtlich Alexander's Hals.

„Ich liebe Dich mit meiner ganzen Seele,“ sagte sie leise, und mein Glück ist nur bei Dir.“

Er preßte sie mit stürmisch hervorbrechender Leidenschaft an sich und fast wie ein Schluchzen war es, als der starke Mann ausrief: „Carmen, meine Carmen!“ Er küßte sie innig. – –




11.

Von dem klingenden Marsch, unter dem die Einquartierung am nächsten Morgen abzog, drangen auch einige verlorene Töne in die einsame Zelle Bruder Mauer's. Er saß in sich vertieft. Eine Welt von neuen Gedanken war seit gestern Abend auf ihn eingestürmt: Carmen die Braut eines fremden Mannes! Anders, ganz anders auf einmal Gegenwart und Zukunft! Er sollte sein Jawort geben zu dem Bunde der Tochter. Alexander hatte sein ganzes Vertrauen. Die Entschlossenheit, Kraft und Würde, die sich in dem Wesen des jungen Officiers aussprach, berührten den innerlich Gebrochenen, Hülflosen belebend und hebend. Die Verbindung mit diesem Manne war ja für sein armes, bedrängtes Kind die einzig glückliche Lösung unseliger Verhältnisse, und wenn auch auf diese Weise Carmen aus seiner unmittelbaren Nähe entrückt wurde, war sie doch für ihn erreichbarer, denn als Frau des Missionars. Aber daß mit dieser Verbindung eine Trennung von der Gemeine verknüpft sein solle, machte ihn auf das Aeußerste besorgt für das Wohl seines Kindes; denn für ihn lag alles Heil und Glück und aller Friede nur in der Gemeinschaft der Brüder, in der strengen Ausübung ihres Glaubens und ihrer Gebräuche, in der gegenseitigen Liebe und Duldung.

Von der Gemeine wollte Carmen sich trennen um eines einzigen Mannes willen!? Er konnte es nicht fassen, sich nicht entschließen, dem zuzustimmen. Doch als sie bittend ihm zurief: „Vater, ich liebe Alexander so heiß, wie meine Mutter Dich geliebt haben mag,“ da durchzitterte ihn die Erinnerung an Inez' glühende Liebe, wie sie mit völliger Hingebung an ihm gehangen und ihre ganze Welt in ihm gesucht hatte, und er segnete den Bund der Liebenden.

Einen harten Kampf aber hatte Carmen mit Agathe zu bestehen. Als die Schwestern am Morgen aus dem Betsaale kamen, ging sie in das Zimmer der Chorältesten und theilte ihr mit, was sich gestern Abend ereignet hatte und welchen Entschluß sie gefaßt.

Agathe hatte aufmerksam und nachdenklich des Mädchens Worten zugehört. Auf ihrem sanften Gesichte lag tiefer Kummer.

„Carmen,“ sprach sie traurig, „nach dem, was Du sagst, hast Du Dich innerlich schon völlig von dem Gnadenantheil, der in der selbstlosen Hingabe an unsern Heiland liegt, und von unserer Brüdergemeinschaft gelöst, und dann ist es besser, es geschieht auch äußerlich; denn heucheln sollst Du nicht, nein, das nicht – Du würdest Dich selbst verlieren und uns nicht damit dienen.“

Sie stand auf, legte sanft die Hand auf Carmen's Kopf und sprach zu ihr:

„So gehe denn, liebe Schwester, den neuen Weg, den Du erwählet, und Gott gebe, daß er nicht zum Verderben führe! Wenn aber der Friede Dir fehlt und Dein Herz nach ihm verlangt und lechzt, wie der Verdurstende in der Wüste, dann kehre zurück zu der Gemeinschaft Deines Heilandes, auf daß wir Dir helfen, ihn wiederzufinden!“

Sie küßte das Mädchen zärtlich auf die Stirn, drückte sie nochmals an sich und entließ sie dann. Ihre Augen folgten wehmüthig der lieblichen Erscheinung Carmen's, wie diese nach der Thür schritt und das Zimmer verließ; dann faltete sie die Hände in einander und sagte in der tiefen Betrübniß ihres Herzens:

„Herr, vergieb Deiner Magd! Eine Seele, die mir anvertraut war von Dir und die zu leiten ich nicht verstand, scheidet von mir. Geht sie irre, so laß mich ihren Irrthum mit tragen; denn ich habe ihn mit verschuldet; weiß sie aber auch auf anderem Wege sich zu Dir zu finden, so nimm sie in Gnaden an! Ach, wie viel habe ich doch noch an mir und meinen Mängeln zu arbeiten, und doch soll ich für die Seelen derer sorgen, die Du mir übergeben hast. Aber ich gelobe Dir, nicht an mich zu denken und meiner nicht zu schonen, ob ich auch für Deine Sache, o Herr, leiden muß.“ – –

So war denn Carmen frei von den Banden, die sie lange genug widerwillig getragen. Alexander hatte mit ihr und dem Vater verabredet, daß sie jetzt zu seiner Mutter nach Wollmershain sich begebe, und die Trennung von dem Vater wurde ihrem liebevollem Herzen unendlich schwer. Das Schicksal hatte Beide kaum erst wieder vereinigt, und schon sollte Eines das Andere entbehren; dabei zu wissen, welche Seelenqual der Einsame erdulde, machte Carmen das Gehen beinahe zur Unmöglichkeit. Und doch mußte es sein; sie gehörte ja von nun an nicht mehr zur Brüdergemeinschaft, aber als sie schied, versprach sie, daß sie wöchentlich ein paar Mal den Vater besuchen wolle, und war erst dessen Haus fertig, so konnte sie auf längere Zeit zu ihm kommen – –

Bruder Mauer verlebte nun einsame Tage im Brüderhause, und als der Winter kam, war sein Haus vollendet, und er konnte es beziehen. Er nahm Schwester Ursula, eine ältliche Wittwe, als Dienerin mit dahin, ihm sein Hauswesen zu führen. Wie gern saß er hier an dem Fenster seines Zimmers, von wo aus er den Hügel mit dem Friedhof übersehen konnte!

„Diesen Weg werden die Brüder mich bald tragen,“ dachte er, „und es wird mir wohl sein, wenn es so weit ist. Wie habe [763] ich mir doch immer gewünscht, einmal dort auf unserm freundlichen Gottesacker unter den Brüdern und Schwestern ruhen und zu unseres Herrn Freude eingehen zu können!“

Nun hatte er auch das Glück, Carmen oftmals auf Tage bei sich zu haben. Es war in dem Hause geworden, wie sie es sich ausgemalt hatte; ihr Zimmer grenzte an das seinige; es waren Blumen darin, die er sorgsam für sie pflegte, und ein behagliches Plätzchen, wo sie trauliche Stunden verlebten. Aber mit dem fürchterlichen Geheimniß, das sie in Gemeinschaft mit dem Vater tragen mußte, war ein tiefer Ernst über sie gekommen, der ihre sonst übersprudelnde Lebendigkeit und Heiterkeit hemmte, und Alexander fragte sich oft, ob es wohl die Liebe und Sehnsucht sei, die sie für ihn empfinde, welche den Glanz unbefangenen Frohsinns von ihr genommen, der sonst wie Sonnenschein auf ihr gelegen.

Und dieser ihr früher so fremde Ernst wich auch dann nicht von ihr, als bald nach dem Weihnachtsfest ihre Hochzeit gefeiert wurde und Mauer ihr eröffnete, daß er das bedeutende Vermögen, welches er von Inez geerbt, von seinem Besitzthum getrennt habe, um es schon jetzt seiner Tochter zu übergeben, der es von Rechtswegen einmal gehöre.

So blieb denn das junge Paar, nachdem Alexander vom Heere seinen Abschied genommen, in Wollmershain, und Mauer war froh in dem Gedanken, seine Tochter sich für immer nahe zu wissen.




12.

An einem trüben Novembertage, der Alles in melancholisches Grau hüllte, geschah es, daß der in der Colonie jetzt wohlbekannte Trautenau'sche Landauer, mit den Füchsen davor, durch die leblosen Straßen dahergejagt kam und am Ende des kleinen Ortes vor dem Hause Mauer's anhielt. Die Pferde standen kaum, als auch schon, den Schlag öffnend, Alexander heraussprang und Carmen aus dem Wagen hob, deren Gesicht Spuren frischer Thränen trug.

„Sei muthig, liebes Herz!“ bat er.

„Ich habe ja Dich und das Kind,“ antwortete sie warm und wendete sich besorgt zum Wagen zurück, aus dem sich jetzt eine Dienerin beugte; sie trug einen kleinen Knaben auf dem Arme.

Carmen nahm ihr das Kind ab und küßte dieses zärtlich. Der Kleine schlug die Händchen in einander und lachte fröhlich auf, als die Mutter ihn nahm; dann sahen unter dem blonden Lockengeringel des Köpfchens ein paar mächtig große, schwarze Augen verwundert auf die fremde Umgebung und auf die dunkle Gestalt im weißen Häubchen, welche jetzt in der geöffneten Hausthür erschien.

Carmen erschrak, als sie in Letzterer Schwester Agathe erkannte.

„Ich komme wohl schon zu spät?“ rief sie angstvoll.

„Nein, liebe Carmen, er lebt noch,“ beruhigte die treue Pflegerin. „Aber es geht rasch mit ihm zu Ende, seitdem er heute Morgen den Anfall gehabt. Er war ja in der letzten Zeit schon immer so hinfällig, daß man vorbereitet sein mußte, ein schneller Tod werde einmal plötzlich den schwachen Lebensfunken auslöschen. Er hat sehnsüchtig nach Dir verlangt, seitdem er wieder Besinnung hat. Schwester Ursula schickte gleich nach mir, damit ich Dich benachrichtige, da Bruder Jonathan gerade über Land zu der Müllerin im Buchengrund gerufen worden war und sie für Deinen Vater den andern Arzt zu Hülfe nehmen mußte.“

„Wie gut bist Du doch, liebe Agathe!“ sagte Carmen, ihr gerührt die Hand drückend.

Sie waren in das Haus getreten. Alexander blieb mit dem Kinde im Nebenzimmer zurück, während Carmen sich sofort zum Vater begab. Man hatte das Bett des Kranken von der Wand ab, mehr gegen das Fenster gerückt und dieses geöffnet, da er Athembeschwerden hatte. Jetzt ruhte er still, als ob er schlafe, die Hände über die Brust gekreuzt, und auf seinem Gesichte lagen schon die Schatten des Todes, – Carmen erschrak, als sie ihn so verändert sah.

„Mein lieber Vater, ich bin bei Dir; erkennst Du mich, Deine Carmen?“ fragte sie und kniete an seinem Lager nieder.

Bei dem Klange ihrer Stimme öffnete er die Augen, und ein mattes, freudiges Lächeln glitt über die schon starren Züge.

„Mein Kind, bist Du da? Nun mag der Befreier kommen!“

„Vater, laß uns hoffen, daß Dich Gott uns noch erhält!“ sagte Carmen bewegt.

„Nein, mein Liebling, laß uns hoffen, daß er mich nun endlich erlöse; denn mich verlangt, ach so sehnsüchtig, nach seinem Frieden,“ sagte er mit schwacher Stimme. „Carmen, ein schuldig Gewissen ist wie ein Scorpion, der uns innerlich ewig martert und um alle Ruhe des Daseins bringt. Darum halte Dein Herz rein, mein Kind, und Gottes Gebote Dir immer vor Augen, auf daß Du nicht gegen sie sündigst! Laß mich Dich in den Schooß unserer Gemeine noch zurückziehen, führe auch Deinen Gatten mit herüber! Ihr könnt ihr angehören, auch wenn Ihr nicht unter den Brüdern lebt. O halte Dich doch an den Gnadenschatz unserer Gemeine, auf daß Dein Leben nicht auch durch Reue vergiftet werde, wie es das meinige war!“

Carmen küßte des Vaters Hände mit inniger Liebe und Ehrfurcht; dann hob sie den Kopf und sah in seine Augen, die so angstvoll auf ihr ruhten. „Vater, ich gelobe Dir, daß ich treulich zu Gott und seinen Geboten halten will.“

Mauer sank erschöpft in die Kissen zurück.

„Bruder Jonathan,“ flüsterte er nach einer Pause, „hat mein schrecklich Geheimniß behütet, und wenn er mich auch stets unwillkürlich daran erinnerte, hat er mir doch seine Freundschaft und Bruderliebe bis heute erhalten. Immer aber wußte er mir an das Herz zu legen, daß mein Gut, als ein dargebrachtes Opfer für mein Vergehen, der Gemeine gehören müsse, da Du Dich von ihr abgewendet hast, und so habe ich testamentarisch, als Sühne einer schweren Schuld, Alles der Casse zum Wohle der Brüderschaft und ihren Missionen bestimmt, damit ich dem Ganzen vergelte, was ich an einem Gliede gesündigt habe.“

Carmen küßte schweigend seine bleichen Lippen; dann erhob sie sich, ging in das Nebenzimmer und kehrte mit ihrem Gatten und dem Kinde zurück. Sie knieeten an dem Lager des Sterbenden nieder, und Carmen bat:

„Vater, segne Deine Kinder!“

„Ist Dir denn an dem Segen Eines, wie ich bin, gelegen?“ fragte er demüthig und zaghaft.

„Ja, Vater, ich möchte nicht leben ohne ihn.“

Da berührte der alte Mann mit zitternden Händen die drei geliebten Häupter und segnete sie. –

[778] Es war vier Uhr am Nachmittage, und schon hüllte der graue Tag die Erde in Abenddämmerung. Agathe brachte die Lampe; dann ging sie mit Alexander, der das Kind trug, leise wieder in das offenstehende Nebengemach, um Vater und Tochter im letzten Beisammensein nicht zu stören.

Mauer lag erschöpft da und hatte die Augen geschlossen, [779] während die Tochter seine Hand umfangen hielt und den Kopf tief auf sein Lager gedrückt hatte.

In der lautlosen Stille, die um den Sterbenden herrschte, hörte man jetzt die Hausthür sich öffnen; leise Schritte nahten dem Zimmer und traten geräuschlos ein, aber der Zugwind, der durch das geöffnete Fenster hereintrieb, schlug die Thür hart hinter dem Kommenden zu. Es war Jonathan, der nach dem Kranken sehen wollte. Mauer öffnete bei dem entstandenen Geräusche die Augen wieder und sah wie abwesend empor, als kenne er Jonathan nicht mehr. Auch Carmen blickte auf, da sie aber Jonathan sah, vergrub sie ihr Gesicht sogleich wieder in die Kissen des Bettes; denn es widerstand ihr auf’s Höchste, jetzt gerade mit diesem da reden zu müssen. Knieend zwischen dem Bette und der Wand, von welcher jenes ab und gegen das Fenster gerückt worden war, verschwand ihre Gestalt ungesehen in dem Dunkel des tiefen Schattens.

„Bruder Michael, ich bin soeben erst vom Lande wieder nach Haus gekommen und höre da, daß Du krank geworden bist. Was fehlt Dir?“ fragte jetzt Jonathan.

Bei dem Klange dieser doch so ruhigen Stimme fuhr der Sterbende zusammen, wie wenn Entsetzen ihn schüttele. Er starrte ihn mit großen Augen ängstlich an.

„Bruder Jonathan,“ sagte er, „nun ist das Ende da, und die alte finstere Geschichte soll sich mit mir in’s Grab legen, damit sie endlich ruhen kann. Ich weiß, daß ich schwer gesündigt habe, aber mit einem Leben voll Reue und furchtbarem Leid habe ich gebüßt – diesen Mord eines wehrlosen Weibes.“

Jonathan blickte den alten Mann, während dieser so zu ihm sprach, scharf und forschend an. Das Licht der Lampe zeigte ihm die veränderten Züge desselben, und er sah deutlich die Schrift des ganz nahen Todes darauf geschrieben. Er erfaßte seine Hand – der Puls war kaum mehr zu spüren. Er erkannte sehr wohl: hier war keine Möglichkeit mehr vorhanden, das Leben zu erhalten – jeder kommende Augenblick mußte es verlöschen. Da brach Haß, Rache, Hohn in Jonathan aus und blitzte unverhüllt in den grauen Augen, die sich fest und gierig auf sein Gegenüber hefteten.

Zwanzig Jahre lang hatte er diesen Mann gehaßt, wie nichts Anderes auf der Welt, und er hatte ihm doch Liebe heucheln müssen, zwanzig Jahre – was will das sagen bei heißen, gährenden Leidenschaften!

Jetzt endlich war der Zeitpunkt gekommen, wo sein langjähriger Feind ihm nicht mehr zu schaden vermochte, wenn Jonathan nun vor ihm sein Visir aufschlug, ihm sein wahres Antlitz zu zeigen; jetzt war es an der Zeit, seiner Rache die Krone aufzusetzen, ehe jener ihm für immer unerreichbar entfloh.

Nur flüchtig ließ Jonathan die grauen, jetzt so stechenden Augen über das stille, düstere Gemach gleiten, um sich zu überzeugen, daß er allein mit Mauer sei – er erblickte Niemand weiter. Nur das gedämpfte Licht der Lampe zeigte die todtenfahlen Gesichtszüge des Sterbenden auf den weißen Kissen. Wer sollte auch noch da sein? Die alte Ursula, die einzige Mitbewohnerin des Hauses, hatte er draußen in der Küche jammernd und weinend beschäftigt gesehen.

Jonathan wußte sich allein mit dem Sterbenden – – er ließ seinen wilden Leidenschaften freien Lauf.

„Mord Deines Weibes?“ fragte er höhnisch. „Thor, wegen der Tropfen, die Du ihr gereicht, könnte sie heute noch leben, wenn sie sonst noch zu retten gewesen wäre. Thomas hatte in der Eile und Hast, womit Du und der andere Mann in jener Nacht bei mir zum Fortkommen drängtet, aus Versehen die Fläschchen vertauscht, und das, welches Du mit Dir genommen, enthielt unschuldige, krampfstillende Tropfen für ein halbjähriges Kind – Schwester Julie hätte das ganze Fläschchen austrinken mögen, ohne daß es ihr hätte schaden können.“

Mauer’s Blicke irrten unsicher über den Sprechenden hin; es lief ein Zittern über seinen ersterbenden Körper, und sein Geist mühte sich, den Nebel des Unbegreiflichen zu durchdringen.

„Ich, ich hätte Julien nicht getödtet, und Du, Du wußtest es und sagtest mir es nicht?“ stammelte er ungläubig, mit fast versagender Stimme.

„Gewiß wußte ich es, aber hast Du mich darnach gefragt?“ entgegnete Jonathan triumphirenden Tones. „Der Mann war vorsichtiger als Du gewesen und hatte erst die Aufschrift des Fläschchens gelesen, ehe er seinem Kinde davon gab, und da er Deinen Namen darauf sah, brachte er dasselbe eiligst zurück. Freilich waren beinahe zwei Stunden darüber vergangen, ehe er wieder bei mir sein konnte. Thomas mußte ihm sein Medicament nochmals bereiten; dann nahm ich die Opiumtropfen für Schwester Julie und schwang mich damit in den Sattel meines Pferdes. Denn, obgleich ich wußte, daß die Kranke nicht mehr zu retten sei, wollte ich doch meiner Schuldigkeit als Arzt nachkommen und versuchen, was ich noch für sie thun könne, das Versehen meines Thomas gut zu machen. Aber ich fand sie schon todt, ja, sie mußte allen Anzeichen nach schon vor mehreren Stunden gestorben sein. Als ich bei meiner deshalb erstaunten Frage, wie das mit den Tropfen zugegangen sein könne, Dein verstörtes Gesicht sah und Du erbleichend ohnmächtig wurdest, hielt ich Dich für ergriffen von dem Tode Deines Weibes und kam nicht entfernt auf den Gedanken: in böser Absicht habest Du ihr die doppelte Anzahl der Tropfen gegeben, welche Du doch für betäubend hieltest. Ich steckte das Fläschchen nur darum zu mir, damit das Versehen, welches Thomas verschuldet, nicht ihm und Dir selbst noch unnütze Vorwürfe bereite – es war ja nun doch nichts mehr daran zu ändern. Aber, Michael,“ rief Jonathan, plötzlich wild und leidenschaftlich, „als ich an Don Manuel’s Sterbelager stand und dort sich Deine sündliche Liebe für Inez mir enthüllte, der doch Dein Weib im Wege gestanden, da wurde mir plötzlich Alles klar.“

„Du hast davon gewußt, Bruder Jonathan, daß ich mein Leben ohne Ursache mit der furchtbaren Selbstanklage vergiftete, und dennoch hast Du sie mit keinem Wort der Aufklärung von mir genommen?“ stöhnte der Unglückliche.

„Das wundert Dich noch? Weißt Du denn nicht, was Haß ist? Du wußtest, daß auch ich Inez geliebt – dachtest Du nicht, wie ich Dich hassen müsse, der Du sie mir geraubt?“ rief Jonathan kalt und erbarmungslos. „Ja, ich habe es gewußt, daß Du Dich für einen Mörder hieltest und es doch nicht warst; es war mir eine Wonne zu sehen, wie dieser Wahn Dich marterte; es war mir ein Genuß, Dich immer an Dein vermeintliches Verbrechen zu erinnern, Dich in meiner Hand zu halten, wie den zuckenden Schmetterling an der Nadel, welcher er nicht wieder entrinnen kann und die ihn nur langsam tödtet. Denkst Du, ich hätte Dein Verbrechen nicht vor’s Gericht gebracht? Sicher – wenn ich nur gekonnt hätte. Aber Thomas!! der wußte um die geschehene Verwechselung; er lebte, war bei mir in der Mission und jetzt auch hier – er würde gegen mich gezeugt haben, wollte ich diese falsche Anklage erheben. Aber ich habe mich doch zu rächen gewußt, zu rächen dafür, daß Du mir Inez’ Liebe geraubt und Carmen’s Hand versagst hast: Dein Leben mußte wegen Inez büßen, Dein Tod Carmen berauben; denn um Deines vermeintlichen Verbrechens willen hast Du ihr Dein Gut entzogen und es der Gemeine vermacht. So stirb denn zuletzt noch mit dem Bedauern, ein ganzes Leben in unnöthiger Reue vergeudet zu haben – Dein stiller Mund nehme nun die alte Geschichte und ihre Enthüllung unwiederbringlich mit in Dein Grab hinab! Ich aber will auf demselben mit dem Triumphgefühl stehen, daß mein Fuß es war, der Dich zertreten hat.“

Er schwieg. Die Arme in einander geschlagen, stand er da und sah frohlockend auf Mauer nieder. Er bemerkte gar nicht, daß sich im Dunkel zwischen Bett und Wand ein Haupt erhoben hatte. Jetzt wuchs dort plötzlich eine dunkle Gestalt schattenhaft empor, und jählings erblaßte er.

„Inez!“ keuchte er und prallte zurück.

„Nein, Carmen, die jedes Eurer grausamen Worte vernommen hat, damit dieser erkaltende Mund Euer fluchwürdig Handeln nicht in das stumme Grab mit hinab nehme. Elender, Teufel in Menschengestalt! Kann denn die Erde solchen Abschaum von Schlechtigkeit tragen, und hat der Himmel keinen Blitz, ihn zu vernichten? O Vater, mein armer, gepeinigter Vater! Es giebt kein Wort, das zu sagen vermöchte, was Du gelitten hast durch Diesen da.“

Und sie warf sich wieder über das Lager und schlang weinend die Arme um den Theueren. Wie leuchtete es aber jetzt auf diesem blassen Antlitz von himmlischem Frieden und Verklärung! Mit plötzlich wunderbar gewonnener Kraft raffte sich der Sterbende in seiner Tochter Armen empor, erhob die Hände und rief voll seliger Freude:

„Kind, freue Dich und preise den Herrn mit mir; denn Dein Vater kann nun rein von dieser Schuld vor seinen Richter treten. Gelobt sei Gott dafür in Ewigkeit – Amen!“

[780] Er breitete die Arme aus und sank zurück – ein Seufzer noch, als ob die befreite Seele die Flügel hebe, und er lag still und friedvoll in seines Kindes Armen.

Sie küßte ihm schluchzend die Hände, die bleichen Lippen – sie drückte ihm sanft die erdenmüden Augen zu und flüsterte zärtlich unter heißen Thränen:

„Lieber Vater, schlafe sanft! Wohl Dir, daß Du nun ausgerungen!“

Da regte sich etwas leise in dem stillen Todtengemach – trotz ihres furchtbaren Schmerzes entging Carmen diese Bewegung nicht. Sie fuhr auf und schnellte empor – der dort durfte ihr so nicht entgehen; denn Jonathan wollte jetzt geräuschlos das Zimmer verlassen.

„Jonathan Fricke!“ rief sie gebietend; sie richtete sich empor, und sein Fuß blieb wie gebannt durch ihren Ruf stehen.

Sie schritt um das Bett herum, trat an den Tisch und stellte die Lampe so, daß der volle Schein des Lichtes hell auf das still verklärte Antlitz des Todten fiel, um dessen Mund ein seliges Lächeln schwebte.

„Blickt auf dieses Antlitz!“ sagte sie, und es klang wie ein Befehl. Ihr Gesicht flammte auf in düsterem, heiligem Zorn, und sie stand gebietend und drohend, aber wunderbar schön, vor ihm da, als sei sie jetzt in Wahrheit der Erzengel, den Sünder hinab in die Tiefe der Verdammniß zu stoßen.

„Sehet diesen Frieden und diese heilige Ruhe an! Werdet Ihr wohl einmal so daliegen können, wenn der Herr den Odem von Euch nimmt? Ihr wendet die Blicke hinweg,“ rief sie zürnend, als Jonathan, selbst leichenfahl, das Gesicht von dem Todten abwendete. „Ihr werdet dieses Antlitz nicht aus Eurer Seele bannen können – es wird mit Euch gehen, wo Ihr auch seid, bei Tag und bei Nacht; Euch folternd wird es meines Vaters stiller Rächer sein hienieden und Euer Ankläger dort oben an dem Thron des allgerechten Gottes.“

Fassungslos, vernichtet stand Jonathan da vor dem zürnenden Antlitz der jungen Frau.

„Denket nicht, mein Vater habe sein Vergehen vor mir verheimlicht,“ fuhr sie fort, und der Klang ihrer Stimme wurde tiefer, drohender, wie wenn die in ihr grollende Empörung aus dem Grunde ihrer Seele sich gewaltsam hervordränge. „Ich weiß Alles; ich weiß, wie es kam, daß in der Leidenschaft und Schwäche eines Augenblickes der Versucher ihm nahen und ihn zur Sünde verlocken konnte. Aber mit dem Geiste nur hat er gesündigt; der Allerbarmer verhinderte gnädig die That. Was wiegt seine Sünde vor dem Auge Gottes gegen die Eurige?“

„Ich beschwöre Sie,“ bat Jonathan zerknirscht, „vernichten Sie mich nicht vor der Gemeine!“

„Geht!“ erwiderte sie, „ich werde auf das Gedächtniß meines armen Vaters keinen Flecken werfen, indem ich Euch anklage. Die Vergeltung ist Gottes.“

Jetzt fühlte sie, daß die Kräfte sie verlassen wollten. Die furchtbare Gemüthserregung wich der Erschöpfung. Da aber gewahrte sie an der offenen Thür des Nebenzimmers Alexander mit Agathen – sie streckte dem Gatten die Arme, wie Trost und Hülfe suchend, entgegen; er eilte auf sie zu, und sie sank schluchzend an seine Brust.

„Carmen, mein geliebtes Weib, das also war das schwere Leid, das Dich all diese Zeit bedrückte!“ flüsterte er ihr zu.

Agathe aber war bis an das Bett getreten und breitete ein weißes Tuch über das Gesicht des Todten.

„Carmen,“ sagte sie dann, „Deiner Anklage bedarf es nicht. Ich werde Zeugniß vor den Aeltesten gegen Diesen ablegen, auf daß nicht länger Gottlosigkeit im heuchlerischen Gewande der Frömmigkeit unter uns weile.“

Jonathan hatte sie mit Entsetzen angestarrt.

„Ist denn die Hölle losgelassen?“ schrie er wüthend und stampfte mit dem Fuße. „Seid Ihr Alle gekommen, mich zu verderben?“

„Störe nicht die heilige Ruhe hier mit Deinen freventlichen Worten!“ gebot ihm Agathe. „Ihm, dem Todten, wird Gnade werden, Du aber wirst gerichtet werden, Jonathan, hier wie dort. Geh!“

Sie wies gebietend nach der Thür.

Er wollte versuchen, Agathen etwas zu erwidern, sie aber schnitt ihm das Wort ab, indem sie streng wiederholte: „Geh!“ – er zögerte eine Weile; er kämpfte mit sich; dann wankte er hinaus.

Bald nach diesem Auftritt hatten Posaunenklänge der Gemeine verkündet, daß der alte Mauer geendet habe, und zugleich verbreitete sich das Gerücht, daß Bruder Jonathan gegen den Verstorbenen sich großer Missethat schuldig gemacht und daß der Rath der Aeltesten nach ihm suche, um ihn zur Rechenschaft und Strafe zu ziehen. Es bemeisterte sich damit eine große Aufregung aller Glieder der Gemeine. Aber Jonathan war nirgends zu finden.

So wurde denn sein Ausbleiben als ein Zugeständniß seiner Schuld betrachtet und überall hin, wo Brüder lebten, der Bericht von Jonathan's Vergehen gesendet, damit er sich nicht anderswo wieder mit List und Heuchelei als Bruder einniste. Er war ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Brüder, wo immer auf der Erde sie sich angesiedelt haben mochten. Gleichzeitig beschloß der Rath der Aeltesten das zur Sühne bestimmte Vermächtniß des Heimgegangenen zurückzuweisen und es der Tochter zu überlassen. Die Familie Trautenau gab es aber, um den Willen des Todten zu erfüllen, an die Brüdergemeine zurück, damit es zu dem Zwecke diene, zu welchem es Mauer bestimmt hatte. – –

Mit dem ersten Schnee des November war ein langer, anhaltend strenger Winter eingezogen, der mit dem starren Bann seines Eises die Erde gefesselt hielt. Aber endlich regten die milden Lüfte sich wieder mit belebendem Odem und nahmen von den Gewässern die harte Decke des Eises hinweg – es war Frühling geworden.

Da warf die befreite Fluth des Erlenteiches aus seiner Tiefe einen entstellten Leichnam heraus. welchen sie den Winter hindurch geborgen gehalten hatte – es war die Leiche Jonathan's. Die Werthgegestände die bei ihr vorgefunden wurden, berechtigten zu der Annahme, daß Jonathan in der Flucht sein Heil hatte suchen wollen. Verlor der schuldbeladene Mann in jener nebligen Winternacht den Pfad und fand in den Wellen seinen Tod – oder trieb ihn die Angst seines erwachten Gewissens in die Fluth?