Schulschluß und Ferien
Schulschluß und Ferien.
Die „großen Ferien“ nahten auf den schweren Flügeln dumpfer Sommerhitze, die erfahrungsmäßig nie hartnäckiger, schattenloser und anhaltender ist als in den letzten drei Wochen vor Schulschluß, um sich ebenso erfahrungsmäßig mit dem ersten Ferientage in kalte, regnerische und unfreundliche Witterung zu verwandeln – gleichsam, als hätte die Mutter Natur mit der weisen und mächtigen Schulbehörde den Grundsatz gemeinsam in Pacht, daß man den Kindern das Leben so sauer zu machen habe, als es irgend angehen will!
In zahlreichen Familien, welche große Städte bewohnen, macht sich um diese Zeit eine innere Gährung bemerklich! Väter suchen nach brauchbaren Vorwänden, um die Ihrigen auf eine möglichst erträgliche Insel zu bannen und mit dem beruhigten Bewußtsein, daß sie vier Wochen lang nicht davon weg können, selbst frank und frei die Welt nach allen Himmelsrichtungen zu durchstreifen.
Mütter beginnen, die Sommer- und Herbstgewänder ihrer Nachkommenschaft mit mißtrauischen Blicken auf Schönheit und Dauerhaftigkeit zu prüfen, und werden in diesen kritischen Lebensabschnitten meist nur mit einem über die Hand gezogenen Strumpf gesehen, den sie auf die wichtige Frage hin: „stopfen oder anstricken?“ zweifelhaft betrachten.
Die Kinder wagen sich vor der gelösten Censur- und Versetzungsfrage – im westlichen Deutschland mit den großen Ferien zusammenfallend – noch nicht zu freuen, da ihnen bei jedem Nachlassen in ihrer armen, kleinen Sisyphusarbeit die furchtbare Drohung entgegengeschleudert wird: „Wer sitzen bleibt, darf nicht mitreisen und bekommt Privatstunden während der Ferien.“ „Und es sollen Fälle vorgekommen sein, wo Eltern wirklich so ,entmenscht‘ waren, ihre Kinder nicht mitzunehmen,“ versicherte Paul Langer seine Geschwister, als die obige Frage zur Verhandlung kam.
Dr. Langers waren übrigens fest entschlossen, dies Jahr in die Sommerfrische zu gehen, und nur das Wo und Wie bedurfte noch der Feststellung. Hausvater und Hausmutter schworen jeder auf ein anderes Reisehandbuch, und der Streitruf „hie König – hie Becker!“ spaltete vorläufig die Familie in zwei feindliche Lager.
Die Schweiz mit ihren himmelhohen Bergen und blauen Seen lockte unwiderstehlich, und endlich war der Riesenentschluß gefaßt, daß man vollzählig diesen Aufenthalt wählen würde – und zwar unter Mitnahme des Dienstmädchens, da Frau Langer aus Sparsamkeitsrücksichten überall ihr Wirthschaftsbuch mit hinschleppen mußte und der furchtbaren Frage: „Was kochen wir morgen?“ in keiner Lage des Lebens zu entgehen bestimmt war.
Für die arme Hausfrau war daher der Zustand der Seligen im Paradiese vor allem an die Bedingung geknüpft, daß man daselbst nie vorher eine Ahnung haben dürfte, was auf dem Mittagstisch erscheinen werde – viel weniger denn eine bohrende Verantwortlichkeit im Innern fühlen, ob der Braten zu sehr „durch“ sei – ein Vorkommniß, welches den sonst milden und gütigen Hausvater mit Blitzesschnelle in einen tobenden Tyrannen zu verwandeln pflegte.
Ehe an die Ausführung des großen Reiseplans gegangen wurde, waren aber wie gesagt noch die Schulprüfungen und ihre Ergebnisse abzuwarten. Langers sahen sich demgemäß vor die süße und ehrenvolle Aufgabe gestellt, in den letzten drei Tagen vor der Abreise zu mehreren, verschiedenen Stunden sich durch den Augen- und Ohrenschein zu überzeugen, ob man nicht besser thäte, sich das Schulgeld für Paul, Karl, Elli und Anna baar wieder herauszahlen zu lassen, – oder ob das wochenlange Eintrichtern bestimmter Fragen und Antworten am Prüfungstage auch die gewünschten Erfolge haben werde.
Die Mutter hatte bereits einen lebhaften Vorgeschmack der zu erwartenden Freuden gehabt, indem Paul und Anna zu öffentlichem Hersagen je einer Dichtung von ihren verschiedenen Lehrern bestimmt waren.
Paul schnatterte daher seit vier Wochen bei jeder Gelegenheit, beim Essen, beim Schlafengehen, beim Aufstehen, sowie er der Mutter ansichtig wurde, los: „Une cigale ayant chanté tout l'été“ und setzte jedem Versuch, ihn zu dramatischer Auffassung des Gedichts von der „Grille, die den ganzen Sommer gesungen hatte“, zu bringen, einen dumpfen Widerstand entgegen, der wenigstens darüber beruhigte, daß er zu dem dornenvollen Pfade des Schauspielers keine Neigung zeigen werde. – Anna hatte ein kindlich belehrendes Zwiegespräch zwischen zwei Bäumen vorzutragen [450] und begrüßte auch täglich die Mutter beim Frühstück mit der wenig schmeichelhaften Anrede:
„Du alte Tanne im dunkeln Kleid,
Du solltest dich schämen zur Frühlingszeit!“
Der große Tag des „Mädelexamens“, wie die Brüder sich ausdrückten mit männlicher Verachtung des niederen Standpunkts, auf dem die Gelehrsamkeit der höhern Töchterschule in ihren Augen stand, war herangekommen. Die jungen Damen legten eine betrübend aufs Aeußerliche gerichtete Gesinnung an den Tag, indem beide viel aufgeregter darüber waren, ob die blauen Kleider gut paßten und die Schleifen an den Zöpfen auch die richtige Abschattirung dazu zeigten, als darüber, ob die Punischen Kriege und die amerikanischen Städte – die beiden Bildungszweige, über die kein Schulmädchen von der letzten bis zur ersten Klasse hinauskommt! – auch in den Köpfen fest säßen.
Die Mutter war mißgestimmt, da das Examen die Rücksichtslosigkeit beging, nachmittags um drei Uhr stattzufinden, zu einer Tageszeit, in welcher der normale Mensch sich mit Bewußtsein und Genuß dem Verdauungsgeschäfte anheimgiebt und zu nichts weiter Neigung hat, als sich aufs Sofa zu legen und bei einem Schmöker die Welt und ihre Sorgen auf eine halbe Stunde zu verabschieden.
Statt dessen mußte die Hausfrau unmittelbar nach dem letzten Bissen sich mit Hut und Tuch bekeiden und in wahrer Bratenhitze mit ihren fieberhaft aufgeregten Töchtern nach dem Schulhause wandern, wo bereits eine Schar hüpfender, schnatternder, langzöpfiger Mädchen vor der Hausthür stand und mit jenem prüfenden Blick die gegenseitige Toilette musterte, ohne den auch erwachsenere Damen schwer aneinander vorbeikommen können!
Oben angelangt, fand die Mutter zu ihrer Empörung und Beschämung, daß sie von der zum Zuhören eingeladenen Elternschaft „die erste“ war, ein Zustand, der merkwürdigerweise für jeden Menschen das Gefühl einer gewissen Blamage in sich schließt, wogegen „der letzte“ sich immer einigerniaßen vornehm vorkommt, – ein seelischer Vorgang, der ebenso räthselhaft als unbestreitbar ist!
Ein Tisch, mit Handarbeiten bedeckt, zeigte zur Befriedigung unserer Hausfrau, daß die dem weiblichen Geschlecht angemessenen Beschäftigungen noch nicht im Wuste der Gelehrsamkeit erstickt waren, und ihre Freude wäre noch größer gewesen, wenn ihr nicht Anna ein graubraunes, räthselhaftes Gewebe mit schönem Selbstgefühl als „mein Strumpf“ vorgestellt und sogar sich nicht entblödet hätte, eine Karte mit dem auf diese Weise recht gebrandmarkten Familiennamen an dem furchtbaren Werk zu befestigen. Als Erstgekommene wurde die Mutter auf einen der allgemeinen Aufmerksamkeit ausgesetzten Platz in dem etwas dumpfen, heißen Raum genöthigt und saß daselbst wohl zwanzig Minuten lang regungslos und schmorend einer Reihe leerer Bänke gegenüber, indem sie sich geradezu tödlich langweilte und sich beständig innerlich erbittert ausrechnete, wie gut und reichlich sie in dieser Zeit hätte Siesta halten können!
Endlich gab der Klingelton das Zeichen zum Beginn der „Vorstellung“, die jungen Damen erschienen paarweis, verlegen lächelnd, und nahmen ihre Plätze ein. Die beiden Schwestern unserer Familie Langer gehörten zum Glück derselben Klasse an und waren die zunächst Examinirten.
Die Mutter hatte nun den Hochgenuß, das Gedicht von der „alten Tanne“ mit wenigstens der Abwechselung wieder zu hören, daß Elli, von Schüchternheit übermannt, gänzlich unhörbar flüsterte und die Versammlung in lebhafter Spannung darüber erhielt, ob sie die Schillersche „Bürgschaft“ oder „Gott grüß' Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen?“ deklamire – ein Zweifel, der auch noch ungelöst blieb, als Elli mit einem Tanzstundenknix von etwas windschiefer Richtung der Oeffentlichkeit für heut Lebewohl gesagt hatte.
Das nun folgende Examen in der Erdkunde war für die Mutter ebenfalls kein glücklicher Zustand. Der drohende Zeigefinger des lehrenden Fräuleins kehrte von den Mägen ihrer Töchter, auf die er bei jeder Frage gerichtet war, leer und unverrichteter Sache zurück, ja, nicht genug damit, – Anna suchte sogar zweimal zu zeigen, daß sie Bescheid wisse, und als sie auf diese Andeutungen hin mit einem ermutigenden „Nun, Aennchen?“ zum Verwerten ihrer Kenntnisse aufgefordert wurde, schwieg sie gänzlich und ließ es ewig unaufgeklärt, warum sie sich so löwenkühn der furchtbaren Möglichkeit des Gefragtwerdens ausgesetzt habe!
Das einzige Mal, wo Frau Langer die Stimme einer ihrer Töchter vernahm, war, als Elli auf die bescheidene Anfrage: „Welcher bekannte Held war in Küstrin gefangen?“ mit sanfter Sicherheit die überraschende Antwort gab: „Columbus!“, ein geringfügiger Irrthum, den das gewandte Fräulein mit einem schnellen und unbefangenen „ganz recht – Friedrich der Große!“ in einen Treffer erster Güte umzuwandeln wußte.
Die Mutter, auf ihrem bevorzugten Platz, wünschte fortgesetzt, daß sie die Erde verschlänge, da sie die Kritik sämmtlicher Bekannten fürchtete, – eine Besorgniß, die darum recht unbegründet war, weil alle Eltern nur auf ihre eigenen Paulas, Emmys oder Elsen achteten und hinterher beim besten Willen nichts darüber hätten berichten können, was die Töchter anderer Leute gewußt oder in diesem Fall nicht gewußt hätten!
Die Prüfung ging solchergestalt ruhmlos für die Familie Langer zu Ende, und als die Mutter mit ihren beiden jungen Damen den Heimweg antrat, that sie als einzige Kritik den vernichtenden Ausspruch: „Wie gut, daß der Papa nicht mit war!“ eine Wahrheit, der sich der betreffende Papa nachher aus voller Seele anschloß, indem er auf den Bericht der Mutter nach etwas roher Männerart bemerkte: „Es ist mir übrigens ganz einerlei, Auguste, ob die Mädel etwas lernen – wenn sie eine gute Suppe kochen können, so mögen sie meinetwegen sagen: ‚Der Cid ist in Preußisch-Eylau geboren und in Myslowitz erzogen worden‘ – darauf kommt es nicht an!“
Die Prüfung der Söhne hätte naturgemäß ernster genommen werden müssen, doch da sich dieselbe für die in Frage kommenden Klassen nur auf ein Deklamatorium beschränkte und die entscheidende Thatsache, daß sowohl Paul wie Karl – letzterer allerdings als neunundzwanzigster unter einunddreißig Schülern! – versetzt seien, bereits auf geheimnißvollem Wege durchgesickert war, so konnte man diesem großen Akt mit heiterer Ruhe entgegensehen.
Die Kleiderfrage der namenlos glatt gebürsteten jungen Männer war ja auch viel leichter zu entscheiden! Paul wüthete allerdings im letzten Augenblick durch das ganze Haus, um alle Schubfächer und sogar die Speisekammer aufzureißen und einen dunkelblauen Shlips zu suchen, den er verlegt hatte, und Karl vergoß ein paar stille, aber bittere Zähren über einen Kittel, dessen Schnitt ihm die schimpfliche Bezeichnung „Mädeljacke“ eingetragen hatte. Aber im großen und ganzen wurde die Sache doch weniger wichtig behandelt, und die Eltern – bei den Jungen gingen beide Eltern mit! – begaben sich in gehobener Stimmung nach dem Turnsaal des Gymnasiums, wo das Deklamatorium stattzufinden hatte.
Die Sexta eröffnete dasselbe mit ihren rührenden Piepsstimmen und dem Gesang: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“ – eine Zeitverwechselung, welche in der Glut des Augustmorgens allerdings nicht zu streng genommen werden durfte!
Dann betrat ein beseligter Abiturient, der schon wußte, daß ihm die Marteranstalt der Schule nichts mehr anhaben konnte, freien Blicks die erhöhte Rednerbühne und donnerte eine vernichtende Verurtheilung der spartanischen Einseitigkeit und ein ebenso begeistertes Loblied auf die perikleische Hochbildung, die auch dies Gymnasium durchwehe, in den Zuhörerkreis, zugleich die Versicherung abgebend, daß die Studentenzeit vom ersten Semester an für ihn und seine Genossen nur eine Gelegenheit zu eisernem Fleiß und unaufhörlichem Arbeiten sein werde – ein kühner Ausspruch, der von den Vätern mit säuerlichem Lächeln und mäßig überzeugt angehört wurde.
Als erste Frucht der perikleischen Bildung trat nun unser Paul mit der wochenlang eingeübten Dichtung von der Grille und der Ameise auf die Bretter, die ihm heute die Welt bedeuteten, und fing auch ganz frisch an, bis etwa zur Hälfte, wo das ruchlose Gedächtniß ihm plötzlich mitten durchzuknicken schien, er bis unter die Haarwurzeln erröthete und einen wilden, flehenden Blick in die Menge warf.
Ein freundlicher Mitschüler überlieferte ihm übrigens im brüllenden Flüsterton das verhängnißvolle Fehlwort, und somit durfte der Kunstgenuß nun ohne weitere Unterbrechung zu Ende gehen.
Die Mutter konnte sich aber, ehe Paul mit fürstlichem Anstand von seinem erhöhten Standpunkt herabkroch, eines leisen, mißbilligenden Kopfschüttelns an seine Adresse nicht erwehren, da ihr die beständigen häuslichen Uebungen der letzten Wochen angesichts dieses Unfalls als recht überflüssig erscheinen mußten.
Karl war einer ähnlichen Probe überhoben. Da er nur, wie er zu Hause triumphirend erzählte, „solo mit sechzig andern“ ein Lied vortrug, so war nicht anzunehmen, daß er so betrübend falsch singen werde, um sämmtliche sechzig Solisten zu übertönen, [451] und das „Ade, du mein lieb Heimathland“ ging denn auch glänzend und glatt vorüber.
Einige erheiternde Zwischenfälle fehlten dem großen Tage nicht. Daß dem Wilhelm Tell beim Verkünden seines Vorhabens
„Mach deine Rechnung mit dem Himmel, Vogt,
Fort mußt du, deine Uhr ist abgelaufen!“
die Stimme vom dräuenden Baß zu quietschender Kindlichkeit umschlug, nahm der Sache viel von ihrem unheimlichen Charakter. Der „Die Kraniche des Ibykus“ Vortragende machte sich des kleinen Versehens schuldig, in tiefbewegtem Ton zu verkünden:
„Er sieht, schon kann er nicht mehr sehn,
Die nahen Stimmen furchtbar krähn!“
eine Leistung, die bei der Schwierigkeit der Ausführung ein verwundertes Gefühl in der Brust der Hörer weckte.
Jetzt traten zwei Obertertianer auf, von denen der eine sich durch einen kugelrunden, schwarzen Krauskopf auszeichnete und zu allgemeiner stürmischer Heiterkeit von seinem Gefährten angeredet wurde: „O König, schöner König mit Deinem goldnen Haar“ – eine Mißachtung der Thatsachen, die allerdings dem tragischen Inhalt des Gedichts vom armen König Enzio einen drolligen Beigeschmack verlieh, der den Verfasser gewiß recht schmerzlich berührt hätte.
Noch stärkere Zumuthungen an die Einbildungskraft der Hörer wurden aber gestellt, als zwei muntere Sekundaner sich als Elisabeth und Maria Stuart in den bekannten lebhaften Zank einzulassen hatten. Und als der eine in seinem Fräckchen in die Kniee sank und von dem andern beschuldigt wurde, daß er durch seine Schönheit und Gefallsucht in der Männerwelt doch unverantwortlich viel Schaden angerichtet habe, – da brach minutenlang ein so tosender Jubel los, wie er kaum je eine Maria Stuart lebhafter gefeiert haben dürfte, wenn ihr auch vielleicht eine weniger heitere Färbung des Beifalls angenehmer gewesen wäre!
Wie alle Freuden der Erde, so nahm auch diese ein Ende! Der Oberlehrer, ein zweiter Paris, der statt der Aepfel die Zeugnisse in Händen hielt, hatte das Urtheil über die Häupter seiner Untergebenen gerufen – Karl und Paul waren versetzt!
Diese Thatsache ist für Eltern und Kinder ja stets beglückend, obwohl sie, bei Licht besehen, zunächst die gänzlich unbeschäftigten, tobenden Ferien ohne Aufgaben und sodann die massenhafte Anschaffung neuer Schulbücher nach sich zieht. Während nämlich Schiller, Goethe, Homer, Shakespeare und andere gewöhnliche Sterbliche die angenehme Eigenschaft besitzen, daß ihre Werke jahraus, jahrein dem Wechsel der Moden Trotz bieten, haben der unsterbliche Plötz, der gesegnete Ostermann und der brave Daniel die berechtigte Eigenthümlichkeit, mit rasender Schnelle zu „veralten“ und bei jeder Klasse einer neuen Ausgabe zu bedürfen, so daß in Elternherzen der schmerzliche Seufzer aufsteigt, ob nicht ihr Inhalt von etwas dauerhafterem Stoff gemacht werden könnte. Selbst Lesebücher „veralten“ von Jahr zu Jahr und können nicht von vorgerückten Geschwistern geerbt werden, obwohl nach vielfacher Erfahrung die Schüler und Schülerinnen nach der Auffassung des beschränkten Elternverstandes gerade so gut nach einer Ausgabe von 1875 lesen lernen könnten, als nach der „neuesten“ und „allerneuesten“.
Doch das ist nun nicht zu ändern, und wie andere Leute, so finden sich auch Langers mit Würde in das Unvermeidliche und freuen sich der Thatsache, nun wieder auf ein Jahr der bangen Frage „sitzen bleiben oder nicht?“ überhoben zu sein, einer Frage, welche Söhne nur durch ihre Kindheit zu begleiten – bei Töchtern dagegen erst nach der Einsegnung entscheidende Wichtigkeit zu erlangen pflegt.
Da diese ernste Angelegenheit nun abgethan war, so konnte sich die Mutter mit ganzer Seele dem Packen des Frachtkorbes zuwenden, eine Beschäftigung, in der sie nur durch das kleinste Kind des Hauses unterbrochen wurde, welches alles, was zu Reisezwecken dienen sollte, als eßbar aufzufassen geneigt war und von der Hausfrau durch beständige eintönige Zurufe. „Nicht in den Mund!“ an diesem unheilvollen Beginnen gehindert wurde.
Die größeren Kinder brachten voll Eifer allerhand geschleppt, was sie für die Reise unbedingt zu brauchen betheuerten.
Die beiden Puppen wurden, ohne Rücksicht auf ihre Gliedmaßen, auch glücklich mit eingestopft, ebenso eine Schachtel Bleisoldaten. Als aber Paul mit einem Schild von etwa zwei Metern Länge und entsprechender Breite antrat und ohne diesen nicht vier Wochen leben zu können behauptete, schien es doch an der Zeit, den übermäßigen Ansprüchen Einhalt zu thun; der Indianerschild blieb zurück und ebenso die Steinsammlung, da die letztere der Leichtigkeit des Frachtgepäcks nicht eben förderlich erschien.
Nachdem der umfangreiche Korb als solider Zugvogel den Weg in die wärmere Zone der Schweiz vorangeflogen war, nahte für die Familie selbst der Reisetag. Der Vater, dessen kurz bemessene Urlaubszeit bedächtiges Eintheilen derselben benöthigte, machte sich bereits vorher von der Familie los, da er es sich mit Recht nicht allzu niedlich dachte, mit fünf Kindern unter zwölf Jahren zu reisen.
Als unsere Hausmutter am Morgen mit ihrer etwas verdrießlichen Küchenfee und allen Kindern reisefertig dastand, überzählte sie mit Feldherrnblick das Handgepäck. Da nämlich die genommenen Rundreisebillette kein Freigepäck gestatteten, so mußte alles, was eine große Familie auf der Reise und in den ersten Tagen am neuen Aufenthaltsort etwa gebraucht, „auf Händen“ getragen werden, ein Verfahren, welches nur der zu schätzen weiß, der es „schaudernd selbst erlebt“. Die Gepäckstücke erreichten die erfreuliche Zahl elf ohne das Tragkind, welches als einjähriges Menschenwesen doch vollberechtigt war, ebenfalls als Handgepäck zu gelten.
Die elf Gegenstände, beginnend bei der Rolle mit Regenschirmen und endend bei dem Korbe mit gewärmten Milchflaschen, wurden nun zu übersichtlicher Vertheilung gruppirt; da aber beständig einer noch etwas hinzubrachte oder wegnahm, so gestaltete sich dieses Bild etwa wie die Figuren in einem Kaleidoskop. Besonders ein kleiner, grauer Koffer zeichnete sich durch beständiges, tückisches Verschwinden aus, so daß der Ruf: „Wo ist der graue Koffer?“ mit solcher Regelmäßigkeit erklang wie der Schlag einer Kuckucksuhr.
Jetzt wurden nach dem Spruch: „Ein jeder Stand hat seine Last“ den einzelnen Mitgliedern der Familie ein oder mehrere Stücke zugetheilt. Die Jungen, die es erniedrigend für ihre gesellschaftliche Stellung fanden, überhaupt etwas zu tragen, erlagen im ersten Augenblick schon unter dem Gewicht jedes, auch des kleinsten Päckchens, das ihnen zugemuthet wurde, und mußten erst durch die höfliche Anfrage: „Ihr habt wohl schon lange keine Prügel mehr gekriegt?“ auf den Weg der Mannszucht zurückgeführt werden.
In zwei Droschken wurde nun die Familie mit allen Sachen hoch aufgethürmt; allein die Ueberfüllung der Gefährte hatte die betrübende Wirkung, daß unterwegs mehrere Stücke Gepäck, darunter natürlich der boshafte graue Koffer, herausfielen, so daß man halten und unter dem Angstgeschrei der Kinder: „Wir kommen zu spät!“ das Entrollte wieder holen mußte.
Man kam erstaunlicherweise doch noch rechtzeitig an und fand, dank einem Fünfzigpfennigstück, welches in die Hand eines vollständig ahnungslos dabei dreinschauenden Schaffners wanderte, ein Coupé für sich allein, in dem man nun, wie sich mit Leichtigkeit berechnen ließ, etwa anderthalb Stunden lang reisen würde.
Die schon vor der Abfahrt fast zu Tode erschöpfte Mutter befand sich aber noch immer in qualvoller Verfassung, da das Dienstmädchen einen Theil des Handgepäcks mit in der andern Wagenklasse hatte und beständige Zweifel die Seele der Hausfrau zerwühlten, ob die verhängnißvolle Zahl elf auch stimmte. Infolgedessen wurde auf jeder Station mit Wagenwechsel der Zettel mit dem Verzeichniß der Sachen wie das Aufgebot in der Kirche abgelesen, ein Verfahren, welches die Reise zu einer beständigen Hetzjagd gestaltete, da zum Zugwechsel gewöhnlich nur zehn Minuten Zeit war.
Die Kinder waren zuerst noch artig genug! Sie hatten ein segensreiches Spiel alter Karten mit und spielten auf Pauls Tornister „Tod und Leben“, während das Kleine ein Biskuit unparteiisch in seinen Mund, über sein Gesicht und seine Kleider vertheilte und in dieser Beschäftigung vollstes Genügen zu finden schien.
Nach dem dritten Male Umsteigen aber, und nachdem der Korb mit den Eßwaren infolge der an ihn gestellten ungeheuren Anforderungen fast geleert war, begann die Reiseungezogenheit in ihrer furchtbarsten Gestalt Platz zu greifen. Man war zum Ueberfluß noch mit einigen schwer zu beklagenden Mitreisenden in ein Coupé gekommen, deren einer, augenscheinlich ein Handlungsdiener mit einer lawn-tennis-Mütze, der gern für einen Lord gehalten sein wollte, beim Erblicken der Kinderschar und des eben heftig schreienden Nesthäkchens fast in Weinkrämpfe verfiel und der [452] verlegenen Mutter solche giftigen Blicke zuwarf, als wenn Kinder überhaupt etwas Verwerfliches, schreiende Kinder aber eine ganz ausgesuchte Niederträchtigkeit wären.
So kam man bis Luzern, wo die Alpenkette in ihrer ganzen Schönheit sich vor den Blicken der Fremden aufthat und die Mutter, in großer Besorgniß vor der berufenen Theuerung großer Gasthöfe, ihre Angehörigen in eine kleine, furchtbare Räuberkneipe führte, bei Ueberreichung der Rechnung für das ungenießbare Futter aber trotzdem fast ohnmächtig wurde, da dieselbe ihre kühnsten Erwartungen um das Dreifache ungefähr übertraf und die Kinder beständig laut und leise versicherten, sie wären nicht satt geworden! –
[466] Der Dampfer "Germania" nahm unsere Gesellschaft freundlich auf. Wie es bescheidenen Ferienreisendeu geziemt, bestieg man die zweite Klasse und hatte sich eben daselbst häuslich einzurichten begonnen, als der erschreckende Zuruf: "Weg da es chimmt a Viech!" alles emporfahren ließ. Wirklich nahmen ein cholerisch aussehender Ochse nebst eitlem sanften Kalbe neben der Familie Langer Platz, entschieden in der Absicht, auch eine Vergnügungsreise zu machen, wenn auch vielleicht mehr zum Vergnügen des sie erwartenden Fleischers als zu ihrem eigenen!
Der Ochse brüllte die ganze Zeit tief und laut in langgezogenen Tönen, was recht nervenberuhigend wirkte und nur den einen Vortheil hatte, daß er das Wimmern des Jüngsten übertönte, welches sich wie alle kleinen Kinder auf Reisen unsäglich unglücklich fühlte und alle ihm sonst eigene philosophische Ruhe eingebüßt hatte.
Mit Einbruch der Dämmerung erreichte man den Ort, der für die nächsten vier bis fünf Wochen den Vorzug haben sollte, Langers zum Aufenthalt und zur Erholungsstätte zu dienen. Die unbesehen gemietete Wohnung erwiese sich trotz dieser Tollkühnheit als sehr hübsch und freundlich, und der erste Eindruck des Landaufenthalts war ein durchaus anmuthender.
Daß die Zimmerthüren unglaublich niedrig waren und die Decken nahe über den Häuptern der Einwohner schwebten, konnte unsere Hausfrau mit verhältnißmäßiger Gemütsruhe ertragen, da sie klein von Gestalt war, ihre Kinder ebenfalls noch nicht „das Maß“ hatten und man überdies mit Zuversicht darauf rechnete, die Ferien größtenteils unter Gottes freiem Himmel zu verleben.
So ergriff man denn ganz wohlgemut Besitz von dem neuen Quartier.
Paul und Karl erwiesen sich allerdings sofort als störend, indem sie schon in der Ankunftsminute die Mutter von beiden Seiten am Kleide zogen und flehten, heute abend noch im See baden zu dürfen, ein unsinniges Verlangen, welches mit der ihm gebührenden sittlichen Entrüstung zurückgewiesen wurde: „Ihr seid wohl verrückt?"
Nach diesem Bescheid langweilten sich beide Jungen sofort bis zur Verzweiflung und verlangten zu wissen, was sie dann überhaupt hier machen sollten, - eine Frage, die sich als Zukunftsschatten düster vor die Seele der Mutter stellte.
Die Köchin, die draußen in dem ihr geweihten Raum das Fläschchen für das Kleine zu wärmen hatte, tobte wie ein Ungewitter umher, denn die Bauart des Ofens war eine ihr fremde, und sie frug sich und alle andern beständig in den höchsten Tönen, wie man denn in diesem Ofen kochen sollte! Der Vorstellung, daß doch Generationen schon hier gekocht und geschmort hätten, setzte sie ein verächtlich ungläubiges Gesicht entgegen und war allem Anschein nach fest entschlossen, sich und der Hausfrau nach Kräften das Leben in der Schweiz zu verbittern. Jeder Hinweis auf die Schönheit der umgebenden Natur wurde von der Köchin mir empfindungsloser Gleichgültigkeit hingenommen, da ihr ein heimischer Biergarten mit dem dazu gehörigen Schlosser, Tischler oder Weichensteller viel anmuthender war als Alpen und See.
Die ersten Tage im neuen Aufenthaltsorte gingen äußerlich und innerlich ziemlich wolkenlos vorüber. Das Wetter war warm und klar und die Kinder konnten durch Spaziergänge und Spiele im [467] Freien leicht beschäftigt werden. Als drohender Feind des häuslichen Friedens stellte sich nur ein Einwohner des benachbarten Gasthofs zum „Goldenen Stern“ dar. Dieser Mann, ein wohlwollender Brite, der wegen seines behäbigen blühenden Aeußeren von den Jungen ungalant, aber bezeichnend „das Beefsteak“ genannt wurde, hatte ein Ruderboot auf die Dauer gepachtet und sehnte sich beständig nach einem Opfer, das sich von ihm in den See hinaus rudern ließe.
Nachdem Karl und Paul dies einmal erfahren hatten - den Mädchen war Rudern in handelnder und leidender Form als etwas Unweibliches ein für allemal streng untersagt worden! - strebten ihre Seelen nur noch nach diesem lebensgefährlichen Vergnügen und sie schwänzelten und wedelten so lange mit sprechenden Blicken um den seefahrenden Gentleman herum, bis dieser ihre stumme Bitte verstand und fortan täglich mehrmals durch die Frage. „Uollen Ihre Knaben mit mir wudern?" die Mutter in die unangenehmste Lage brachte, die wie Scylla und Charybdis keinen Ausweg zuließ!
Sagte sie ja, so beraubte sie sich auf zwei Stunden jedes Seelenfriedens, da sie während dieser Zeit ihre wilden, unbändigen Söhne unter der Obhut eines ganz Fremden auf den Wogen schaukelnd wußte und bei jedem Wölkchen am Himmel schon innerlich wiederhalte:
„Es rast der See und will sein Opfer haben!"
Sagte sie nein, so saßen Paul und Karl als gemißhandeltes Eigentum einer überängstlichen Mutter zornig und mürrisch in der Stube, wiesen jede andere vorgeschlagene Zerstreuung mit dem überraschenden Vergleich zurück, sie sei „langweilig wie die Pest!" - und verwünschten die Ferien, die Schweiz und die ganze Welt in längeren Selbstgesprächen.
Frau Langer zählte demgemäß schon die Tage, bis das "Beefsteak" die heimischen Gestade wieder aufsuchen würde.
Die Mädchen waren leichter zu beschäftigen. Sie errichteten Kaufläden im Garten und hatten überdies eine tief zu beklagende junge Katze entdeckt, mit der sie Zeit und Weile vergaßen und die sie in liebendem Wettstreit um ihren Besitz schon zu über zwei Drittel ihrer natürlichen Länge ausgezerrt hatten.
Soweit ging alles gut und schön - da überzog sich eines Morgens der Himmel und traf die unverkennbarsten Anstalten, sich auf ein dauerhaftes Regenwetter einzurichten. Die Berge verschwanden langsam, aber sicher hinter dicken Nebelschleiern, der Dorfweg weichte zu einer braunen, zähen Crême auf, die in liebender Anhänglichkeit sich jeder Schuhsohle anheftete, und die einzige Staffage der Landschaft waren Regenschirme.
Nun begann für die Mutter eine Zeit, die wahrlich an Schrecken nichts zu wünschen übrig ließ! Ihre Unterkunft bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einem Badenraum. In einem Schlafzimmer schlief zwei Drittel des Tages das kleine Kind, welches bei jedem lauten Geräusch jammernd emporzufahren und dann ungefähr anderthalb Stunden zu schreien pflegte. Die vier großen Kinder mußten daher leise und doch heiter beschäftigt werden, eine Aufgabe, die für die Hausfrau recht erholend und stärkend zu nennen war.
Die beiden ersten Tage hatten die Kinder ohne Pause den Regen beobachtet und mit der ganz unbegründeten Behauptung. „Es läßt nach!" sich in jedem unbewachten Augenblick ins Freie begeben, Regenfußtapfen und Erdspuren mit ins Haus bringend, welche die Köchin, drohend mit einem Scheuerlumpen hinter ihnen herstürzend, wieder zu verwischen bestrebt war.
Als aber das Wetter mit vollster Entschiedenheit auf seinem Starrsinn beharrte und die Kinder sich „geben" mußten, traten wahrhaft unerträgliche Zustände ein. Eine furchtbare Episode bildete ein altes, tief verstimmtes Pianino, auf dem einen ganzen Tag über abwechselnd eins der Vier in Tönen jubelte und klagte - in angenehmer Abstufung von dem Heraussuchen des unsterblichen „Kommt ein Vogel geflogen" bis zum fröhlichen Aufklatschen mit beiden Händen zugleich, oder dem melodischen Hinaufgleiten eines Fingers vom tiefsten Baßton bis zum quiekenden, klappernden Sopran der höchsten Raten. Das war ganz wunderhübsch und, wie man sich denken kann, für die Mutter eine wahre Erquickung, um so mehr, da sie beständig durch: „Mutter, hör' doch!" zu ungeteilter Aufmerksamkeit und Hingabe an den Kunstgenuß ermuntert wurde.
Elli und Anna hatten zum Ueberfluß in diesen schrecklichen Tagen nach eine Freundin, welche zuerst unter dem allgemeinen Namen „die Polin" gegangen war und den unerklärten Zauber alles Ausländischen auf die Kindergemüther ausgeübt hatte. Beide Mädchen verlangten tagelang mit stürmischer Leidenschaft nach der "Polin", die nicht ordentlich Deutsch konnte und einen unaussprechlich schönen Namen hatte.
Durch diplomatische Kunstgriffe und Bemühungen gelang es endlich der Mutter, den Umgang mit der Polin anzubahnen, die sich leider aber als ein „Blender“ erwies und nach wenigen Tagen von den Freundinnen ebenso heftig verabscheut als vorher geliebt wurde.
Die Polin hatte die Eigentümlichkeit, alles übelzunehmen und vom gemeinsamen Spiele etwa jede Viertelstunde weinend wegzurennen - leider aber immer nach zehn Minuten wiederzukommen und großmüthig ihre Verzeihung zu verkünden. Die Polenmutter, welche glückselig sein mochte, in diesen Regentagen eine Zuflucht für ihre beschäftigungslose Sascha zu finden, lagerte diese gänzlich auf Langers ab, so daß unsere arme Hausfrau die Travestie der Schillerschen Glocke ungefähr auf sich anwenden konnte:
„Sie zählt die Häupter ihrer Lieben, und sieh, es sind statt sechse - sieben!"
Während die Mutter entsagungsvoll am Fenster saß, Strümpfe stopfte, in den Regen sah und sich fragte, wie sie so wahnwitzig habe handeln können, ihre bequeme angenehme Stadtwohnung für schweres Geld mit diesem traurigen Aufenthalt zu vertauschen, wurde sie in ihrem Nachdenken beständig durch Meldungen der jungen Damen unterbrachen: "Die Sascha kratzt mich, die Sascha will nach Hause gehen, die Sascha läßt mich nicht mitspielen," wobei Frau Langer nach den ungerechten Forderungen der Gastlichkeit immer nach der entsetzlichen Polin zum Schein Recht geben mußte, während ihre ganze Seele danach lechzte, sie durch ein paar Ohrfeigen unheilbar in ihrem Nationalstolz zu verwunden und auf Nimmerwiederkehr nach Hause zu jagen.
Die Jungen fühlten sich auch ziemlich unglücklich. Zuerst hatten sie im Besitz zweier Gasballons, einem Abschiedsgeschenke des „Beefsteaks", die Ungunst des Wetters vergessen und die bunten Bälle beständig zum Fenster hinaussteigen lassen. Da durchschnitt plötzlich ein Jammergeschrei Karls die Lüfte: der Faden, der seinen blauen Ballon hielt, war der leitenden Hand entglitten, und der Treulose stieg hoch empor und entschwand den Blicken seines heulenden Besitzers, wahrscheinlich des Landaufenthaltes überdrüssig, was ihm Frau Langer von ganzem Herzen nachfühlen kannte.
Karls Thränen vermischten sich infolge dieses betrübenden Ereignisses zwei Tage lang mit dem Regen draußen, und er saß, mit bis zur Unkenntlichkeit verschwollenen Augen, am Fenster und sah dem entflohenen Juwel nach, als könnten seine Blicke es zurückholen. Paul raste währenddem in der etwas schadenfrohen Empfindung „ich habe meinen noch!" mit seinem roten Ballon durch die Zimmer und hatte die schöne Gewißheit, daß die niedrige Stubendecke etwaigen Fluggelüsten desselben erfolgreich „Halt!" gebieten würde.
Aber noch am zweiten Tage fing der rothe Ballon auf räthselhafte Weise an, sich zu verkleinern, und schrumpfte vor den Augen des entsetzten Paul immer mehr zusammen, bis er schließlich aus seiner strahlenden, ausgeblähten Herrlichkeit sich in ein schwarzrotes, faltiges Beutelchen verwandelt hatte, dessen altersschwaches Aussehen jeden Versuch, es zum Fliegen zu ermuntern, als unvernünftige Grausamkeit erscheinen. ließ.
Wohl gelang es der Mutter, mit Ausbietung aller Lungenkräfte, dem zusammengeschrumpften Ballon wieder etwas von seiner früheren Fülle zu geben, aber seine Flugfähigkeit war dahin und blieb es, trotzdem die Mutter mit rührender Geduld sich immer neuen Wiederherstellungsversuchen unterzog.
Dies bildete ziemlich die einzige Zerstreuung und Abwechselung für die Hausfrau während ihres Sommeraufenthaltes, indessen der Gatte mit leichtem Gepäck und frohem Sinn eine Streiftour durch die Welt unternahm und jubelnde Karten auf fröhlicher Reisegesellschaft mit herzlichem Gruß an Frau und Kind entsendete.
Man wird es unter diesen Umständen der Hausfrau nicht allzusehr verargen dürfen, wenn sie, als 14 Tage in dieser Art herumgegangen waren, sich mit allen Fibern ihrer Seele nach einem Vorwand zu sehnen begann, um in die Kultur, in die Stadt, mit einem Wort in all das zurückzukehren, was sie so freudig und erwartungsvoll verlassen hatte. Nach drei Wochen an dem regengepeitschten See aufzuhalten, schielt ihr fast [468] unmöglich – die Tage würden immer kürzer, die melancholischen Abende, an denen die Kinder nicht zu Bett gehen wollten, immer länger – und wenn sich die Doktorin nicht geschämt hätte, so wäre sie lieber heut als morgen in die Heimath zurückgekehrt.
Nachdem man gestern schon zu der tödlichen Thätigkeit der Schreibspiele gegriffen und Pauls Ordinarius es sich zehnmal hatte gefallen lassen müssen, daß sein Steckbrief mit „Nase blau, Hände gelb, besondere Kennzeichen: wacklig“ und ähnlichen geistreichen Bemerkungen unter donnerndem Beifall der jeweiligen Verfasser ausgestellt worden war, hatte die thatenlose Ungezogenheit den höchsten Grad erreicht.
Erst prügelten und zanken sich alle Kinder ohne jeden ersichtlichen Grund, und dann verfielen sie auf den nicht minder unerfreulichen Zeitvertreib, das kleinste Geschwisterchen so lange zu küssen, bis dieses in blinder Wuth um sich schlug und sich jedem, der ihm mit zärtlichen Absichten nahte, in Haare und Augen einkrallte – ein unfreundliches Benehmen, zu dem die Mutter nach herzlos bemerkte, „sie könnte es dem Kinde keinen Augenblick verdenken!“
Frau Langer griff schließlich zu dem Auskunftsmittel, daß sie ihre sämmtlichen großen Kinder beiderlei Geschlechts unerbittlich mit dem Ausbogen von Unterröckchen für das Jüngste beschäftigte, ein Zweig der Thätigkeit, der die Jungen natürlich in ihren eignen Augen aufs tiefste herabwürdigte und von ihnen dementsprechend ausgeübt wurde.
Während Karl seine Arbeit nicht zu deren Vortheil mit Wuththränen befeuchtete, nähte Paul buchstäblich mit geballten Fäusten und fädelte bei jedem zweiten Stich die Nadel aus, in den Pausen furchtbare Drohungen gegen alle ausstoßend, die es je weiter sagen würden, daß er genäht hätte; denn ein Tertianer ließe es sich doch zehnmal lieber nachsagen, daß er Straßenraub getrieben, als daß er ein Unterröckchen ausgebogt hätte!
Die Drohung: „Du wirst gleich wieder nähen!“ blieb infolge dieses Nachmittags noch lange von unschätzbarem pädagogischen Werth für Karls moralische Ausbildung.
Die Spannung unter den Familiengliedern hatte unter diesen Verhältnissen den höchsten möglichen Grad erreicht; und wie es zu geschehen pflegt, so sollte auch hier die mit Zündstoff angefüllte häusliche Atmosphäre plötzlich und verderblich sich entladen.
Das Wetter war immer trostloser geworden, der Barometer sank so tief, daß man gar nicht begriff, wie er es anfing, nicht schon unten zu seinem Gehäuse herauszufallen, und die Kinder wurden immer ungebärdiger, je weniger ihre Lebensgeister sich in freier Lust austoben konnten. –
Das Haus, in dem unsere Ferienreisenden wohnten, diente in seinem Erdgeschoß als Telegraphenbureau, ein Umstand, der glühendes Interesse bei den Kindern erregte nebst dem sehnlichen Wunsch, einmal auch im Telegraphiren sich versuchen zu dürfen.
Das Heiligthum war ihnen aber streng verschlossen, und der Beamte, der das geheimnißvolle Ticken des Apparates zu deuten und zu leiten hatte, blieb immer unsichtbar. Er verrieth seine Anwesenheit nur, indem er bei zu lärmenden Spielen der Kinder laut und zornig gegen seine Zimmerdecke pochte.
Dieser Vorgang übte auf Elli und Anna ungefähr die Wirkung aus, die ein herabstoßender Weih auf eine Hühnerschar hervorzubringen pflegt – sie rannten ängstlich kreischend in eine Ecke und saßen dann gewöhnlich ein paar Stunden still verschüchtert da. Die Jungen dagegen trieben bald einen gewissen Sport damit, den Telegraphenmann so lange zu ärgern, bis er klopfte, ein artiges Spiel, welches seinen Reiz auch durch die Wiederholung nicht verlor.
Ein Sonntag brach für die schwergeprüfte Familie herein, der alle seine Vorgänger durch Regen und Wind beschämte. Eiskalte Luftströmungen zogen durch das ganze Haus, und die beherrschende Empfindung in dieser Sommerfrische war heut nur die Sehnsucht nach einem steifen Grog und einem Fußsack.
Das Kleine hatte sich erkältet und nieste ohne Aufhören, was es wie alle keinen Kinder jedesmal als persönliche Beleidigung auffaßte und worüber es bitterlich weinte. Elli hatte eine Fensterscheibe eingeschlagen und konnte sich, in einer Anwandlung von Gefühlsduselei, nicht über die Vollständigkeit der mütterlichen Verzeihung beruhigen. Mit marternder, zäher Ausdauer frug sie ohne Aufhören: „Mutter, bist Du auch wirklich wieder gut?“ eine Art von Gewissenhaftigkeit, über welche die Mutter viel ärgerlicher wurde als über die Fensterscheibe, und welche ihr zuletzt die Versichernug: „Ja, ich bin gut!“ in einem Tone entlockte, der besser zu „halt’ den Mund!“ gepaßt hätte. – Anna hatte sich in den Finger geschnitten und schrie nach Heftpflaster und alter Leinwand, die Jungen besaßen ein Blaserohr – woher, wußte kein Mensch! – und schossen mit Thonkugeln auf lebende und todte Gegenstände. Zum Ueberfluß kam die ewig beleidigte Sascha schon nach dem ersten Frühstück und wollte ein Kinderbuch wieder haben, das sie ihrer Freundin geborgt hatte, und das nun in allen Winkeln mit beständig offen gelassenen Thüren gesucht wurde – kurz, es war ein recht behaglicher Zustand.
Indeß die Mutter mit dem Fuß den Kinderwagen hin und her schob und mit der Hand Annas Finger kunstgerecht verband, ertönte plötzlich aus der anderen Stube ein lautes Geschrei, und ehe die Mutter noch Zeit fand, aufzuspringen und sich über die Ursache des Lärms aufzuklären, wurde die Thür stürmisch aufgerissen, Sascha stürzte im Sonntagskleide, in Thränen aufgelöst, ins Zimmer und mit dem zornigen Ruf: „Ich sag’s meiner Mama!“ zur andern Thür wieder hinaus, während plötzliche Todtenstille im Nebengemach auf düstere, dramatische Vorgänge zu deuten schien.
Ein vorsichtiges und leises Thürenklappen belehrte die Mutter, daß ihre Herren Söhne sich durch den zweiten Ausgang entfernt hatten, folglich wohl Ursache haben mochten, den mütterlichen Blick zu scheuen. Karl und Paul waren sich wirklich böser Thaten bewußt, indem sie die Polin mit einer Thonkugel an der linken Hand verwundet hatten, und der Androhung eingedenk, daß beim ersten Schaden am lebenden Inventar ihnen das Blaserohr weggenommen werden sollte, entfernten sie sich nun geräuschlos, mit den mütterlichen Zorn erst kalt werden zu lassen. Thatendurstig, wie die Langeweile so oft werden läßt, durchspähten sie das Haus und machten sich durch glückselige Rippenstöße und Mienenspiele auf die herrliche Gelegenheit zum Anstiften von Dummheiten aufmerksam, die sich ihnen darbot.
Der Telegraphenmann war einem sonntäglichen Vergnügen nachgegangen und hatte in unbegreiflichem Leichtsinn den Schlüssel in der Thür zu seinem Allerheiligsten stecken lassen! Die beiden Bruder näherten sich dem Gemach, zögernd wie Blaubarts Gemahlin – aber wie bei dieser, so siegte auch hier die Neugier – und mit der gegenseitigen Versicherung: „Wir wollen's uns bloß mal ansehn!“ verschwanden Karl und Paul in dem Telegraphenbureau und wurden nicht mehr gesehen!
Die Mutter, welche nie Ruhe hatte, wenn sie die Jungen sah, und noch weit weniger, wenn sie sie nicht sah, horchte und spähte indeß besorgt zum Fenster hinaus. Eine halbe Stunde nach der andern verging, ohne daß die sonst so geräuschvollen Brüder ihre Anwesenheit irgendwie kundgegeben hätten, und niemand wollte sie gesehen haben.
Alle gewöhnlichen Zufluchtsorte waren schon durchsucht worden, auch „der Hermann“, ein befreundeter Eingeborener, der immer einen Tag als „ganz nett“ besucht, den nächsten als „furchtbar frech“ in Acht und Bann gethan war, wußte nichts vom Verbleib der beiden Wackern zu berichten.
Jedes vorbeifahrende Boot verursachte der Mutter Herzklopfen in dem Gedanken, ihre Söhne könnten eine Lustfahrt auf eigene Faust unternommen haben! Elli und Anna durchrannten unter langgezogenen Rufen nach den Brüdern den ganzen Ort – aber alles war und blieb vergeblich.
Als nun gar die Vesperstunde hereinbrach, welche sich sollst als das unfehlbarste Mittel erwies, die Söhne des Hauses unter lautem Geschrei nach „Schnitten“ aus den entferntesten Winkeln der Erde herbeizulocken, und sich trotzdem nichts sehen und hören ließ, begann sich die Mutter einer gelinden Verzweiflung zu überlassen, die in einem Thränenstrom und halblauten Verwünschungen gegen jeden Landaufenthalt und diesen im ganz Besondern Ausdruck suchte und fand.
Während so die Stimmung drinnen dem trüben Wetter draußen glich, Elli und Anna sich um die Mutter mit den reizenden Trostgründen beschäftigten: „Vielleicht sind die Jungen ins Wasser gefallen! – vielleicht hat sie ein Zigeuner gestohlen!“ und sogar das kleine Geschwisterchen, vom allgemeinen Jammer verschüchtert, stumm und betrübt am Daumen lutschte, öffnete sich plötzlich die Thür, und mit dem eigentümlichen Bewillkommnungsgruß „au – zum Donnerwetter!“ trat der Vater ins Zimmer. [470] Er hatte es sich allerliebst gedacht, ganz unerwartet bei den Seinigen einzutreffen, aber wie die meisten Ueberraschungen, so schien auch diese unter einem unglücklichen Stern geboren. Zunächst wurde der Vater selbst überrascht, und zwar, indem er beim Betreten der Schwelle den Kopf mit großer Heftigkeit gegen die für so hochgewachsene Leute nicht berechnete Thür stieß, was den obigen Ausruf und eine schon etwas herabgeminderte Fröhlichkeit zur Folge hatte. Sodann fand er seine Lieben erstens nicht vollzählig und zweitens in Thränen schwimmend vor und empfing den stets sehr widerlichen Eindruck, daß er zu ungelegenster Stunde gekommen sei.
Die allerdings etwas unüberlegte Frage, welche die Mutter an den vor fünf Minuten mit dem Dampfer angekommenen Hausherrn richtete – wie sie sie im Augenblick an jeden gerichtet hätte! – „hast Du die Jungen nicht gesehen?“ hatte bei dem Doktor die männlich unwirsche Antwort zur Folge: „Sprich doch nicht solchen Unsinn, mein Kind! Woher soll ich denn die gesehen haben?“ wodurch sich der Augenblick des Wiedersehens recht unfreundlich anließ.
Der Vater sah sich nun aus seiner erwarteten Gestalt als hocherfreuende Ueberraschung und Hauptperson in die Nebenrolle eines Suchenden gedrängt und begann, mit einigem Knurren das Haus ebenfalls nach Paul und Karl zu durchstöbern.
Ein vorsichtig polterndes Geräusch aus der Stube im Erdgeschoß, welches bei der Frage des Doktors „wer wohnt denn da?“ sofort in verdächtiger Weise verstummte, veranlaßte den Frager zu einem sofortigen kräftigen Donner an die von innen verriegelte Thür mit dem den Jungen wohl bekannten Zuruf: „Wollt Ihr wohl sofort aufmachen?“
Daraufhin näherten sich äußerst zögernde Schritte, der Riegel wurde langsam zurückgeschoben, und den eindringenden Eltern bot sich der entsetzensvolle Anblick, wie Karl eben mit seinem Alpstock in dem kunstvollen Getriebe des telegraphischen Apparats bohrte, um ein von ihm ersichtlich angerichtetes Unheil auf diese wunderbare Art wieder gutzumachen.
Beim Anblick des Vaters schien erst die ganze Größe des begangenen Verbrechens im Bewußtsein der Brüder aufzudämmern, und sie brachen in ein zweistimmiges, wehklagendes Geheul aus. Karl flüchtete mit seinem Alpstock, der dem Vater im Augenblick ganz handgerecht erschien, in die äußerste Ecke des Gemaches, während Paul kurz entschlossen das Fenster aufriß, hinaussprang und durch ein klatschendes Geräusch den Ohren der Zurückbleibenden die angenehme Thatsache vermittelte, daß er im Sonntagsanzug auf die aufgeweichte Gartenerde gefallen sei. In einem dieser Voraussetzung entsprechenden Zustande wurde er denn auch, nachdem Karl bereits den gerechten Zorn seines natürlichen Vorgesetzten fühlbar geschmeckt hatte, im Garten aufgefunden, und zwar durch den Hausknecht des Gasthofs, in dem Sascha wohnte. Dieser Sendbote brachte einen Brief an Frau Langer und betraute Paul mit einem boshaften „na, freu Dich nur!“ mit der Abgabe desselben. Paul betrat denn nun zitternd, seine Rücken- und Seitenansicht vorsichtig verbergend, das Wohnzimmer. Die Mutter betrachtete ihn durchbohrend und richtete, ohne seinem stumm hingehaltenen Empfehlungsschreiben vorläufig irgend welche Beachtung zu schenken, die peinliche Aufforderung an ihn: „Dreh’ Dich doch einmal herum!“
Paul sah sich solchergestalt in der schmerzlichen Lage, seine beschädigte Toilette einer unnachsichtlichen Kritik auszusetzen, die denn auch in einer das Mutterherz wesentlich erleichternden Tracht Prügel kräftigen Ausdruck fand. Während nun in jeder Ecke des Zimmers ein Verbrecher schluchzte und der Vater beständig das schwierige Exempel im Kopf auszurechnen suchte, was die Wiederherstellung eines Telegraphenapparates etwa kosten könnte, öffnete die Mutter den Brief, den man über dem Strafvollzug fast vergessen hätte.
Das Schreiben rührte von Saschas Mutter her und enthielt den unwillkommenen und überraschenden Satz: „Ihr neunjähriger Sohn hat meine Tochter angeschossen! Ich werde die Polizei benachrichtigen!“ Der Vater sank wie ein geknicktes Rohr auf einen Stuhl.
„Ihr scheint ja hier recht artig geworden zu sein!“ bemerkte er mit schneidender Ironie.
In der folgenden peinlichen Pause warf Karl noch das letzte Fünkchen in die explosionsbereite Atmosphäre, indem er, als einzige Erwiderung und Entschuldigung auf die gegen ihn geschleuderte Anklage, es sehr übelnahm, daß er in dem Brief als „neunjährig“ bezeichnet war, und wüthend erklärte, er wäre zehn Jahr!
Daß nach diesem Brief und allem, was dazu gehörte und vorangegangen sein mußte, der Vater das segensreiche Geschäft des Durchprügelns wieder aufnahm und noch eine ganze Weile fortsetzte, wird jeder Freund der erziehungsbedürftigen Jugend nur verstehen und billigen.
Nach erfolgter Abstrafung wurden Karl und Paul erbarmungslos zu Bett gejagt; Elli und Anna aber, die sich tugendhaft mit auffälliger Vortrefflichkeit brüsteten und kleine Seitenbemerkungen über die unartigen Brüder machten, mußten vom Vater die niederschlagende Erkundigung vernehmen: „Ihr wollt wohl auch was haben?“ – ein Anerbieten, welches trotz seiner allgemein gehaltenen Form doch verständlich schien.
Zornig und verstimmt warf sich der Hausherr in die steinharte Sofaecke.
„Das fängt ja hübsch an!“ bemerkte er bitter. „Dazu bin ich zwei Tage früher vom Berner Oberland weggegangen! Sei jetzt wenigstens so gut, Auguste, und sorge für ein ordentliches Essen – ich bin seit heute morgen unterwegs und habe noch kein Mittagsbrot gehabt!“
Diese an sich ja durchaus berechtigte Forderung gab der armen Auguste einen Stich ins Herz! Man urtheile! Es war Sonntag nachmittags – noch dazu der Sonntag“ der Köchin, die, aufgeputzt wie ein Pfingst-röslein, unter dem Regenschirm und Schutz des Hausknechts vom „Goldenen Stern“ vor zwei Stunden abgewandert war – und der Fleischer hatte nicht „geschlachtet“, was dem betreffenden Kalbe gewiß sehr angenehm, für die augenblicklichen wirthschaftlichen Verhältnisse aber recht unvortheilhaft sich erwies.
Die Mutter sah sich demgemäß genöthigt, erröthend einzugestehen, daß sie kein Fleisch erlangen könne, und der ob dieser Enttäuschung fast weinende Vater mußte eine Stunde später sich an Eierkuchen, Pellkartoffeln und Butterbrot laben – eine Entbehrung, die ihn zu der beißenden Bemerkung veranlaßte, daß er sich „satt“ allerdings anders dächte.
Das Ergebniß aller dieser Erlebnisse zog der Doktor, indem er unnachsichtlich erklärte, er reise morgen wieder ab, und die Seinen hätten ihm in längstens drei Tagen zu folgen – ein Bescheid, den die Kinder, trotz aller ausgestandenen Langeweile, schluchzend, die Mutter aber mit innerlicher Erleichterung aufnahm.
Eine leise Hoffnung, daß der Vater sich – ein schon öfter dagewesener Vorgang! – seinen Aerger ausschlafen würde, trog diesmal!
Der Doktor, dem man bei seiner unerwarteten Ankunft die einzige lange Bettstelle des Hauses zurecht gemacht hatte, war auf eine Matratze von eigenthümlichem Bau gerathen, die, an beiden Seiten abfallend, sich in der Mitte zu einem festen, runden Hügel aufbeulte, so daß der ermüdete Hausvater durchschnittlich alle zehn Minuten nach rechts oder links herunterrollte – ein Zustand, dem selbst der ihn naturgemäß begleitende Traum von einer Rigibesteigung keinen besonderen Reiz zu verleihen vermochte.
Wie gerädert stand der Doktor am nächsten Morgen auf. Ein Hausherr, der nicht geschlafen hat, ist immer etwas Unangenehmes und wird von den Seinen nach dem alt bewährten Grundsatz behandelt: „Und im Kreise scheu umgeht er den Leu“. Nach allem Vorhergegangenen aber war der Vater heute ein geradezu furchtbares Naturschauspiel, und es hätte der ortsbehördlichen Beschwerde wegen des zerstörten Telegraphenapparates, dessen Herstellung die Reisekasse gänzlich erschöpfte, nicht bedurft, um tobenden Zorn zu entfesseln. Da der Doktor in dieser nicht ungerechtfertigten Empfindung nun aufgeregt und scheltend durch alle Zimmer jagte, dabei aber immer wieder die niedrige Thür vergaß und sich noch dreimal furchtbar an den Kopf stieß, sich demgemäß noch immer mehr in Wuth steigerte, so war es schließlich bei aller dem Familienoberhaupt gezollten und gebührenden Liebe und Hochachtung ein erleichterndes Gefühl für seine Frau, als der keuchende Dampfer ihn davon trug. Der Trennungsschmerz wurde ja durch die Gewißheit gemildert, daß man in einigen Tagen wieder beieinander sein werde.
Und so wurde es!
Mit kaum verhehlter Freude ob des unerwarteten Abschlusses der Sommerfrische packte die Mutter den Frachtkorb zum zweiten [471] Male, und selbst die Thatsache, daß die boshafte Sonne am Abfahrtsmorgen hell, heiß und strahlend über dem wundervollen See funkelte, vermochte kein Reuegefühl über die beschleunigte Heimkehr in die Stadt bei unserer Hausfrau hervorzurufen. Die Kinder, wie Kinder sind, waren auch getröstet und freuten sich auf die heimischen Spielsachen – die Köchin auf ihren Schlosser – und alles war befriedigt.
Als das Ehepaar am ersten Abend nach der Heimkehr wieder vereinigt in seinem behaglichen Wohnzimmer und bei dem gemüthlichen, wohlbekannten Theegeräth saß, rieb sich der Vater vergnügt die Hände: „Was meinst Du, Alte,“ bemerke er, „Ost, Nord, Süd, West – daheim ist das Best! Nicht wahr?“
„Ja, ja!“ stimmte seine Frau bei und fügte dann so recht aus tiefstem Herzen hinzu: „Ach, wie freue ich mich auf die nächste Sommerreise! Da reise ich alle Morgen aus der Schlafstube in die Wohnstube und abends wieder zurück! Das ist die beste und billigste Ferienerholung für eine Mutter von mehreren Kindern!"
„Nun, das kannst Du ja haben!“ sagte der Doktor großmüthig.