Schriftstellerloos
[700] Schriftstellerloos. Mit wie schweren Sorgen oft der Dichter sein trocknes Brot ißt; wie er mit dem Elende, das riesig sich erhebt, den ungleichen Kampf kämpft, bis ihm das Herz bricht; Wenige wissen es. Erst in der neueren Zeit ist der Schleier hier und da gehoben worden. Wer kümmert sich um Den, dessen Geistesschöpfungen erfreuen, erheben? Man liest sie. Die Neugierde tritt einmal zu ihm heran und begafft ihn, aber die Liebe, die Dankbarkeit fragt nicht: warum ist dein Auge trübe, deine Stirne gefaltet? Am wenigsten ist eine rettende, erhebende, helfende Hand da. Und die Reichen und Hochgestellten? Nun, sie lassen sich die Dichtungen vorlesen, diniren, halten Jagden, Feste – und der Dichter hungert. Ist nicht der Dichter Friedrichsen vor dreißig und etlichen Jahren in der Metropole der Geistesbildung Hungers gestorben?
Auf ein ähnliches Lebensbild möchte ich die Blicke richten, wenn es auch weit hinter unseren Tagen liegt. Pendants fehlen auch in dieser Zeit nicht.
Louis von Boissy war unter der Regierung Ludwig’s XV. von Frankreich einer der begabtesten und beliebtesten Lustspieldichter in Paris. Seine Texte zu komischen Opern wurden mit Lob überhäuft, füllten die Theater – aber ihm brachten sie kaum soviel ein, daß er leben konnte. Vermögen hatte er nicht, aber eine theuere Familie, ein geliebtes Weib, ein herziges Kind. Er arbeitete Tag und Nacht, aber er sank, bei geringem Ehrensolde, in immer tiefere Armuth. Weder Theaterdirektoren noch Komponisten achteten darauf; noch weniger die Buchhändler; am allerwenigsten das Publikum, das er ergötzte und erfreute. Zu Amt und Würden führten nur zwei Wege: entweder man mußte es erkaufen – dazu fehlte Boissy das Geld – ober man mußte zu Füßen eines Höflings von Einfluß oder gar der regierenden Maitresse kriechen – dazu war der edle Boissy zu stolz. Da blieb nur eins – arbeiten und hungern, und das war in reichlichem Maße sein Loos. Er war zu stolz, zu betteln. Nun, Einer oder der Andere hätte vielleicht ein gnädiges Almosen gegeben, aber das mochte Boissy nicht. So blieb auch den wenigen Bessern seine wahre Lebenslage verborgen. Allmälig wuchs das Maß des Elendes ihn, über den Köpf. Verzweiflung ergriff ihn. Der Gedanke, durch den Tod seinem Jammer ein Ende zu machen, erfüllte ihn anfänglich mit Schauder und Entsetzen; aber mit dem Uebermaße seines Elendes schwand auch das zuletzt und er sah im Tode nur den Erretter, den letzten, besten Freund, der allein Wort hält. So weit war es mit dem Armen gekommen, und die ihm helfen konnten, lebten herrlich und in Freuden, und doch – die Brosamen von ihren Tischen hätten ihn glücklich gemacht – Niemand gab sie ihm! – Vor seiner ihn zärtlich liebenden Gattin hatte er kein Geheimniß, sie keins vor ihm. Sie war den elenden Daseins eben so müde, wie er. Mit ihm sterben zu können, erhob sie; nur das theure Kind? – Aber welch’ ein Loos stand ihm bevor? – Sie schauderten. Es war ein fünfjähriger hoffnungsvoller Knabe. War's nicht besser, wenn er mit ihnen hinüberging, dahin, wo die Jammertage des Lebens enden und das arme Herz Frieden findet, den es hier nie findet? Unter maßlosem Elende reifte der Entschluß, Hungers zu sterben. Das war ja das Leichteste und Wohlfeilste. Der Tod auf diesem Wege war ja nur die Meisterschaft, zu der sie tägliche Uebung befähigte. So weit führte die unglücklichen Menschen der Wahnsinn des Elendes.
Sie bewohnten ein Dachstübchen, das allein, abgeschlossen lag. Sie verschlossen denn lebensmüde, todesmuthig ihre Thüre. Wenn Jemand klopfte, schwiegen sie. Der Knabe, der das Bedürfniß der Natur nicht mit wahnsinnigen Ideen beherrschen konnte, jammerte nach Brot, aber es gelang, ihn zu beruhigen. So war es bis zum Morgen des dritten Tages. Das Ziel war bald errungen; es war nahe.
Boissy hatte einen redlichen Freund, der mehrmals kam und vergeblich pochte. Er glaubte, die Familie sei ausgegangen, aber der Portier des Gebäudes versicherte entschieden das Gegentheil. Den Freund überkam eine unbeschreibliche Angst. Als er am Morgen des dritten Tages zitternd wiederkam und heftiger pochte, da meinte er, er höre ein leisen Wimmern. – Er hatte, recht gehört, es war die Stimme des verschmachtenden Kindes. Jetzt rief er in Todesangst Hülfe herbei, sprengte die Thüre und stand erstarrend da – denn Boissy, seine Gattin und das Kind lagen bleich, entstellt, keines Tones fähig da; sie hielten sich fest umschlungen. Das wimmernde Kind konnte noch seine Aermchen ausrecken und den Laut hinhauchen. Der Freund legte sein Ohr an seine Lippe und: „Brot!“ vernahm er mit furchtbarem Entsetzen! – Gatte und Gattin waren schon im Hinsterben. Sie hatten länger gehungert, als das Kind.
Sie glaubten schon das Schwerste überstanden zu haben, als man sie wieder in das arme Leben zurückrufen wollte. Darum widerstanden sie hartnäckig allen rettenden Versuchen, die ihnen dargeboten wurden. Endlich nahm der Freund das Kind aus ihren Armen; das weckte die Liebe, die im Elternherzen allmächtig ist. Das Kind war durch die gewonnene Nahrung neu belebt. Es rief die theuern Namen; es schmeichelte der Eltern Wangen mit seinem Händchen, weinend, flehend. Das wirkte. Sie versuchten, sich auszurichten; sie nahmen die vorsichtig gebotene, kräftige Nahrung. Sie erwachten endlich zum klaren Bewußtsein und Leben.
„Ach, warum ließest Du uns nicht sterben? Wir wollten es ja, um dem Elende zu entgehen!“ flüsterte Boissy in des Freundes Ohr. Der aber verließ sie nicht mehr. Er that Alles, was in seinen Kräften stand, bis sie gerettet waren.
Er selbst, der treue Freund, machte das Ereigniß in Paris bekannt. Es war der Gegenstand in allen Gesellschaften, in allen Kaffeehäusern, an allen Theetischen. Auch am Hofe redete man davon; aber Niemand dachte daran, die Unglücklichen dauernd ihrem Elende zu entheben. Nur Einer hatte ein Herz unter diesen Schranzen, es war der edle Graf von Termin. Er schilderte der Frau von Pompadour die Lage dieser Familie mit so glühenden, brennenden Farben, daß sie erschüttert wurde. Sie legte in des Grafen Hand ein reiches Geldgeschenk, und bewirkte durch ihren mächtigen Arm, daß Boissy ein Amt erhielt, von dessen Einkünften er nun gemächlich leben und sein Kind erziehen konnte. Aber bis zur Schwelle des Hungertodes ließ man den Dichter kommen, ehe man ihm ein Loos bereitete, das ihn vor Aehnlichem beschützte! – Tout, comme chez nous! möchte man ausrufen.