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Schmerzenskinder

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Textdaten
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Autor: Alfred Spitzner
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Titel: Schmerzenskinder
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 42-44
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Schmerzenskinder.
Eine Betrachtung für Eltern und Erzieher von Dr. Alfred Spitzner.

Herzerhebend ist es, den verschiedenartigen Regungen der begabten, geistig und körperlich gesunden Kinder nachzugehen, sie zu beobachten und erzieherisch zu behandeln; niederdrückend aber und oft auch ärgerlich scheint es zu sein, sich mit Unarten, Fehlerhaftigkeiten und krankhaften Zuständen aller Art abgeben zu müssen. Was ist darum natürlicher, als daß gerade diejenigen Kinder, welche der schärfsten Beobachtung, des gewissenhaftesten Verständnisses, der größten Geduld bedürfen, oft mit ärgerlicher Hast und unbarmherziger Strenge oder mit Gleichgültigkeit und kühler Zurückhaltung erzogen werden – die Schmerzenskinder! Es sei ferne, in allen Fällen einen Mangel an Elternliebe oder Liebe zu den Kindern überhaupt finden zu wollen, wenn das Sorgenkind in der Familie unzweckmäßig behandelt wird. Gerade weil die geängstigte Mutter, in ihrer unermüdlichen Liebe für ihr Kind, dessen Unglück oder Irrtum schwer empfindet, treibt sie Dasselbe entweder in ungeduldiger Hast an oder behandelt es mit schmerzlicher Resignation. In Bezug hierauf dürfte es vielleicht für denkende Eltern nicht ohne Interesse sein, sich von einem praktischen Schulmanne die häufigsten Erscheinungen auf diesem Gebiete vorführen zu lassen.

Wir beginnen unsern Gang bei denjenigen Erscheinungen die sich als eine gewisse auffällige psychische Zartheit kennzeichnen. Kinder, namentlich Knaben dieser Art, sind häufig der erzieherischen Einwirkung so unzugänglich, daß sie Eltern und Lehrer mit nicht geringen Sorgen erfüllen. Zum Glück sind diese in den meisten Fällen nicht allzu ernst zu nehmen, weil die krankhafte Empfindlichkeit nicht selten bei zunehmender Entwicklung des Selbstbewußtseins im höheren Kindesalter zu verschwinden oder wenigstens sich zu vermindern pflegt. Die größte Anzahl psychisch überzarter Kinder findet sich daher unter den Abc-Schützen, in der kleinen lieben Schar, welche die höhere Ausbildung ihrer Geisteskräfte eben begonnen hat. Gesunde Kinder, die gerade in die Schule eingetreten sind, pflegen sich mit einer gewissen Würde und Sorglichkeit um die Aufgaben und Pflichten zu kümmern, die das für sie gänzlich neue Schulleben in sich birgt. Anders die in Rede stehenden Sorgenkinder. Sie weinen und zittern, wenn die Stunde kommt, wo sie zur Schule gehen sollen. Aengstlich schmiegen sie sich in eine Zimmerecke oder sind nicht von der Mutter wegzubringen. Und das alles ohne eigentliche Ursache! Der Gedanke, von der Mutter, von zu Hause fortgehen zu müssen, reicht allein in solchen Kindern das seelische Gleichgewicht zu stören.

In der Schule sind sie gewöhnlich schüchtern, ungeschickt und interesselos. Am meisten macht ihnen die Oeffentlichkeit der Klasse zu schaffen. Die Schule ist ja ein Staat im kleinen, und die Eigenschaften, wie auch die Leistungen des einzelnen Kindes sind in gewisser Hinsicht der öffentlichen Vergleichung, Beurteilung und Bewertung ausgesetzt. Hieraus entspringt ein zwar scharfer, aber doch gesunder Luftzug, der zur Bildung des Charakters mit Hilfe der Selbsterkenntnis, der Selbstbeherrschung und der Selbstveredlung unentbehrlich ist. Vielen Kindern geht es jedoch mit ihm wie mit dem scharfen Gebirgswind. Er ist ihnen zu rauh, und das oft auch noch dann, wenn der Lehrer alles thut, um die natürliche Strenge des auf Wahrheit und Gerechtigkeit begründeten Schullebens nach Maßgabe der Eigenart des einzelnen Kindes zu mildern. Einem tüchtigen Lehrer, der in den kindlichen Seelen zu lesen versteht, gelingt es allerdings in vielen Fällen, das Selbstbewußtsein der überzarten Schulkinder nach und nach so zu stärken, daß die kleinen Blumen im Schulgarten ihre Köpfchen und Aermchen kräftig heben und strecken, um im frischen und fröhlichen Wachstum und Blühen des Geistes mit den andern den Wettstreit zu versuchen.

Aber in manchen Fällen ist alle Kunst umsonst. Es sind dem Verfasser Kinder bekannt, die während ihrer ganzen Schulzeit stets mit einer gewissen stumpfen Empfindlichkeit zu kämpfen haben, die ihnen die Freude am Unterricht und am Lernen nimmt. Unter ihnen befinden sich solche, welche sogleich in eine unerklärliche ablehnende, ärgerliche oder auch gedrückte Stimmung verfallen, wenn es sich um ihre Person handelt. So wird z. B. ein 13jähriger Knabe, dessen Leistungen mit zu den bessern gehören, gleichwohl stets eigentümlich unangenehm berührt, wenn er aufgerufen wird, um etwa eine von ihm gelieferte schriftliche Arbeit zu besprechen oder zu verbessern. Die Folge ist gewöhnlich die, daß er nach einigen Fragen keine korrekte Antwort mehr erteilen kann. Dann ist mit ihm nichts mehr anzufangen, und er sitzt 10 bis 15 Minuten lang in dumpfem Hinbrüten in seiner Bank. Allmählich erst beteiligt er sich wieder am Gange des Unterrichts. Besonders schlimm sind diese Zustände bei ihm während des mündlichen Rechnens. Es kommt vor, daß er, sobald sein Name genannt wird, Aufgabe und Lösung aus dem Bewußtsein verliert. Die hierdurch in seinem Geiste hervorgerufene Verwirrung mit allen den unangenehmen Gefühlszuständen bewirkt nicht selten eine völlige geistige Unfähigkeit des Kindes während der betreffenden Unterrichtsstunde.

Das ist ein sehr störender und bedenklicher Fall von psychischer Zartheit. In Fällen leichterer Art sind die Kinder mit einer allzu weichherzigen Empfindsamkeit und weinerlichen Befangenheit belastet. Von einem Mädchen wird berichtet, daß es erst ein langes, krankhaftes Weinen vorübergehen lassen muß, bevor es imstande ist, dem von ihm nicht etwa gefürchteten, sondern vielmehr hochgeschätzten Lehrer eine einfache Bitte auszusprechen. Neben dem weinenden Kinde fällt oft auch das lachende als bedenkliche Erscheinung auf. In einer Knabenklasse des Verfassers saß vor Jahren ein Kind, welches hin und wieder bei besonders ernsten Unterrichtsgegenständen in ein unbezwingliches Lachen verfiel. So mancher Tadel, ernste Strafen, eindringliche sittliche Verweise und Belehrungen rufen bei den Kindern nicht selten ein Lächeln hervor, das nicht in jedem Falle eine Aeußerung roher Gesinnung und Gemütsverfassung zu sein braucht. Man kann es auf dem Gesichte von Kindern beobachten, die davon weit entfernt sind.

Einen ernsteren Charakter als die Erscheinungen einer gewissen psychischen Zartheit nehmen solche Aeußerungen an, welche man am treffendsten als abnorme Aufregung bezeichnet.

Hierher gehören zunächst solche Naturen, die durch eine Neigung zu großer Schreckhaftigkeit, Furchtsamkeit und Aengstlichkeit auffallen. Diese Zustände treten häufig schon bei den geringsten Anlässen auf, und manche Mutter hat ihre liebe Not damit. In der Schule fühlen sich Kinder dieser Art geradezu unglücklich. Sie schrecken zusammen, erröten, bekommen gewaltiges Herzklopfen, werden ganz verwirrt, sobald sie eine plötzlich an sie gerichtete Frage beantworten sollen, obwohl sie dazu Gaben und Kenntnisse genug besitzen. Bei zweien dieser Kinder fand einst der Verfasser, daß seine bloße Nähe schon erregend wirkte, und er erzielte eine bedeutende Besserung dadurch, daß er sie von seiner unmittelbaren Nähe wegsetzte, und daß er gewöhnlich nur aus einer gewissen Ferne zu ihnen sprach. Die Kinder wurden sehr bald unterrichtsfähiger. Es ist gewiß ein großer Trost, wenn derartige Besserungen sichtbar werden. Leider aber giebt es auch Kinder, die so empfindlich sind, daß sich ihrer nach und nach eine maßlose Verstimmung bemächtigt, gegen welche kein Mittel der Erziehung zu wirken scheint, am allerwenigsten Strafen. Mitunter kann die leichte Erregbarkeit zu einer lebhaften, ja begeisterten Teilnahme des Kindes an Lerngegenständen führen, nur allzu bald muß man aber die Erfahrung machen, daß diese Begeisterung keinen Bestand hat, wie Strohfeuer nach kurzem Aufflackern erlischt. Auf die übermäßige Erregung folgt rasch völlige Erschlaffung. „Reizbare Schwäche“ nennt die Wissenschaft diesen Zustand. Reizbar schwache Kinder erscheinen launenhaft, sie schließen schnell schwärmerische Freundschaften werden von vielerlei Gegenständen oder Beschäftigungen lebhaft angezogen, aber kaum gesehen – gemieden! Jetzt wollen sie alles mögliche erlernen, sie geraten z. B. in Begeisterung für das Violinspielen oder für das Malen oder für irgend eine Handfertigkeit; nach kurzer Zeit aber ist jedes Interesse verflogen!

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß bei solchen Kindern sehr [43] leicht eine falsche Beurteilung Platz greifen und zu einer recht unzweckmäßigen Erziehungsweise veranlassen kann. Die Reizbarkeit wird zunächst als vielversprechende Eigenheit aufgefaßt. Eltern und Lehrer fühlen sich zu den besten Hoffnungen in Betreff des Kindes berechtigt. Plötzlich aber verblaßt der Schimmer, und schwere Sorgen belasten das Elternherz. Anstatt aber die Kinder in derartigen Zuständen sofort zu schonen und einer sachverständigen Erziehung zu übergeben, hetzt man sie häufig mit Nachhilfe und sonstigen Privatunterrichtsstunden, mit Strafen und aufreizenden Strafreden ab. Bei solcher Thorheit, die oft genug aus unverständiger Eitelkeit das wahre Wesen des „begabten Kindes“ nicht erkennt oder erkennen will, ist es allerdings kein Wunder, wenn das arme Wesen mit der Zeit, völlig abgehetzt, mehr und mehr zurückgeht – wenn schließlich mit einem Male die Erschlaffung in ihrer ganzen Trostlosigkeit Eltern und Lehrern zum Bewußtsein kommt und das Kind unter das Mittelmaß herabsinkt.

Zu den ersten Anzeichen der eintretenden Schwäche gehören fehlerhafte Erscheinungen auf dem Gebiete des Gedächtnisses. „Neben leichtem Lernen steht ein promptes Vergessen.“ Vokabeln, Gedichte, Sprüche, oft spielend gelernt, haben keinen Halt, und das Kind ist schwer imstande, dieselben unterrichtlich zu verwerten. Mitten in der Antwort sogar halten solche Kinder nicht selten inne, weil es ihnen sozusagen dunkel im Bewußtsein wird. Auf die Wiederholung derartiger Zustände muß im Haus und in der Schule recht aufmerksam geachtet werden, weil man daraus mit Sicherheit auf eine gewisse psychische Schwäche schließen kann. Auch in der Rede und in der Schrift des Kindes ist dieselbe bemerkbar. Was man in gewöhnlichen Fällen als Leichtsinnsfehler, als Ruschelei, Flatterhaftigkeit, Zerstreutheit bezeichnet und dem Kinde stark übelnimmt, das ist unter Umständen krankhafte Schwäche. Die charakteristischen Merkmale derselben sind vor allem die Wiederholung, Umstellung, Vorausnahme und das Auslassen von Buchstaben (Lauten), Silben und Wörtern. Diese Erscheinungen treten bei den in Rede stehenden Kindern mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit auf und sind ganz anderer Art als die der bloßen Liederlichkeit, Faulheit und Zerstreutheit. Am bemerkenswertesten erscheint eine gewisse unrichtige Wiedergabe der Wörter in Aussprache und Schrift. Ihre Hauptmerkmale sind Umstellungen und Vorausnahmen der Silben und Laute (Buchstaben). Man spricht und schreibt Fausatz für Aufsatz, anhin für hinan, Pfred für Pferd, blald für bald u. s. w.

Ein eingehender Vergleich der geistigen Beschaffenheit ähnlicher Schmerzenskinder mit derjenigen der ausgesprochen Leichtsinnigen ergiebt als durchgreifenden Unterschied den Umstand, daß das psychisch schwache, aber aufgeregte Kind auch bei Aufbietung der äußersten Willenskraft jene Fehler nicht oder nur teilweise überwinden kann, während die Fehlerhaftigkeiten des Leichtsinns sofort verschwinden, wenn die Willensenergie aufgerüttelt wird.

Zu den psychisch zarten und unnatürlich erregten gesellen sich endlich Kinder, welche mit dauernder Geistesschwäche behaftet sind. Das sind die größten Schmerzenskinder für Schulen und Familien. Diese geistige Schwäche erstreckt sich manchmal nur auf das Gebiet der Verstandesthätigkeit, manchmal auch nur auf das Leben des Gemütes, gewöhnlich aber auf beide Gebiete gleich stark.

Der Unterricht in der Schule geht von der Anschauung, d. h. von der Erfahrung aus. Er läßt die Kinder etwas empfinden. Er läßt sie sehen, hören, tasten – redet eine dem Anschauungskreis des bestimmten Jugendalters angemessene Sprache, vermittelt dem Kinde klare Bilder und packende Handlungen und sucht auf allen Gebieten das Interesse des Schülers zu wecken und zu erhalten.

Den geistesschwachen Kindern bereitet dieses Verfahren große Schwierigkeiten, es fällt ihnen mehr oder minder schwer, eine eigene sinnlich auffällige Erfahrung oder eine Anschauung, eine einfache anschauliche Mitteilung und Belehrung so zu erfassen daß sie dieselbe deutlich im Bewußtsein behalten sprachlich aufnehmen und ihrem Bewußtseinsinhalt einverleiben. In der Schule bleiben sie zurück und sind nicht selten eine Zielscheibe des Spottes und Hohnes ihrer Kameraden trotz energischer Abwehr seitens des Lehrers. Welche inneren Regungen dadurch wach werden, und wie dadurch die geistige Entwicklung gehemmt werden kann, das läßt sich leicht ermessen, wenn man Gelegenheit hatte, das hohe Selbstgefühl mancher dieser Kinder kennenzulernen. Sie haben den besten Willen zum Lernen. Aber man sieht es ihrer krausen Stirn und dem schmerzlich verzogenen Mund an, wie schwer es ihnen fällt, ihr Bewußtsein auf einen Punkt zu richten. Nach kurzer Geistesthätigkeit tritt Ermüdung ein, so daß ihre Aufmerksamkeit schwindet. Mit offenem Munde und träumerischem Blick sitzen sie dann da, das Mitleid herausfordernd, das der geistig Arme verdient. Und arm bleibt ihr Geist, denn es steht außer allem Zweifel, daß bei solchen Erscheinungen die Kraft des Gedächtnisses ganz ungenügend sein muß. Man kann nur solche Vorstellungen erwecken, die mit ihrem lebhaften Interesse für ihre Person verknüpft sind. Hat man aber in dieser Richtung einmal nur eine glückliche Entdeckung gemacht, so kann unter Umständen eine kleine Steigerung und Belebung des geistigen Lebens und Könnens erzielt werden. Dabei gilt freilich keine Erziehungsschablone, hier heißt es, das Auge offen halten, beobachten! Auf Grund vielfacher pädagogischer Erfahrungen kann man sagen, daß nicht selten bei sonstiger geistiger Schwäche einseitige Fertigkeiten und Talente zu finden sind, und zwar besonders in Bezug auf mechanisches Rechnen, Gedächtnis für Zahlen und Namen, sowie Handarbeiten. Das ist ein gewisser Trost für die Eltern und ein Glück für die Kinder, weil dadurch für die Erziehung Angriffspunkte gegeben sind. Ein Knabe dieser Art, der Sohn eines strebsamen Postbeamten war für die Eltern ein rechtes Sorgenkind, weil nach Ansicht derselben „aus ihm nichts ordentliches werden könnte“. Allerdings mußte der Verfasser zugestehen, daß ein „Beruf“ der Federn dem Knaben verschlossen sei. Es konnte aber mit Befriedigung darauf hingewiesen werden, daß der Junge in der Handhabung der Instrumente, namentlich im geometrischen Unterrichte, sowie in der Herstellung der Körper für diese Lehrstunden eine hervorragende Geschicklichkeit entwickele. Die Eltern ließen ihm deshalb auf Anraten des Verfassers den Handfertigkeitsunterricht zu teil werden. Hier zeichnete er sich bald im Schnitzen derart aus, daß seine Arbeiten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Es erwachte in ihm das Verlangen, Tischler zu werden. Sein Wunsch wurde ihm erfüllt und – soweit der Verfasser unterrichtet ist – zu seinem Glück.

Weit gefährlicher als die geistige Schwäche des Denkens und Urteilens ist die sittliche, die Schwäche auf dem Gebiete der Herzensbildung. Was schön, was wahr, was gut ist, das müssen die Kinder empfinden, das muß ihr Gefühl erregen, wenn dadurch wirksame Kräfte im Geistesleben des Kindes gebildet werden sollen. Es giebt aber leider Naturen, die weder bei der Betrachtung eines schönen Bildes, noch bei der Erkenntnis der Macht der Wahrheit, z. B. im Leben der Völker, noch bei der Darstellung einer edelmütigen Handlung von einem solchen Gefühl beseelt werden, daß dadurch die neugewonnene Vorstellung eine sittliche Kraft wird. Bei den sittlich schwachen Kindern ist diese Selbstzucht mehr oder minder ausgeschlossen. Die sittlichen Vorstellungen bleiben auf einer niedrigen Stufe stehen, die sittlichen Grundsätze bleiben arm, beschränkt, wenig lebendig und nachhaltig. Die unsittlichen Antriebe finden nur geringen oder gar keinen Widerstand, infolgedessen tritt eine egoistisch-sinnliche und widerliche Richtung der Gedanken und Wünsche hervor, und die so gearteten Kinder geben zu den größten Sorgen in Betreff ihrer Charakterentwicklung Anlaß.

Am schwersten sind diejenigen Kinder zu behandeln, bei denen sich geistige und sittliche Schwäche verbinden. Es möchte den Anschein haben, als seien diese Naturen zumeist recht passiv, recht stumpf. Da, wo Blödigkeit oder Schwachsinn vorliegt, ist das in sehr vielen Fällen nicht zu verkennen und nicht anders zu erwarten. Indessen giebt es unter den hier bezeichneten Kindern auch recht viele reizbare und zu Tätlichkeiten geneigte, weil bei ihnen zumeist eine Verwilderung des Trieblebens zu finden ist und die schlechten Triebe mit aller Energie sich nach außen entladen wollen. Gelingt ihnen das in wiederholten Fällen, dann ist es mit der Bildungsfähigkeit des Kindes bald vorbei, und eine Selbstsucht, die keine Rücksicht kennt, wird mehr und mehr die treibende Kraft in seinem Geistesleben. Tritt dann das väterliche Verbot oder der Zwang der Schule den ungestümen [44] Wünschen solcher Naturen entgegen, Entsagung, Selbstbeherrschung, Unterordnung fordernd, so verfällt das Kind in schwer bezähmbaren Jähzorn. Solche Kinder sind eine große Last und eine Qual für Schule und Haus. Sie fordern einen großen Aufwand an Nachsicht und Aussicht, an Geduld und Wohlwollen, an Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung seitens des Erziehers.

In Schulen und sonstigen Erziehungsanstalten sind sie geradezu eine ständige Gefahr für Mitschüler und Genossen. Für sie muß noch in weit umfassenderer Weise, als das jetzt bereits geschieht, gesorgt werden, denn der Staat und die Familie können an solchen Erscheinungen nicht achtlos vorübergehen.

Ist die Entartung zu weit fortgeschritten, dann kann sich die Notwendigkeit herausstellen, ein solches Kind vom regelmäßigen Unterricht in der Volksschule auszuschließen und es besonderen Lehranstalten für derartige krankhaft veranlagte oder verwahrloste Kinder zu übergeben.

In vielen, sehr vielen Fällen aber können diese Schmerzenkinder durch ein unermüdliches hingebendes Zusammenwirken von Schule und Haus vom Untergang gerettet werden. Darum ist eine offene Aussprache zwischen Eltern und Lehrern bei solchen Anlässen dringend erwünscht – eine Aussprache, die nicht nur über die Fortschritte der Kinder in den Schulfächern, sondern auch über deren sittliche Eigenschaften sich erstrecken muß. Niemals sollte man aber vergessen, den Arzt als Dritten im Bunde zu diesem Rettungswerke heranzuziehen, denn oft sind körperliche Leiden Ursachen der seelischen Mängel, und mit der Gesundung des Leibes pflegt dann auch der Geist aufzublühen.