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Salvatore

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Textdaten
Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Salvatore
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14–25, S. 225–230, 246–248, 261–264, 277–279, 293–296, 309–312, 325–330, 341–346, 357–363, 382–384, 398–400, 414–418.
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Napoletanisches Sittenbild
Fortsetzungsroman in den Nummern 14–25
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Salvatore.
Napoletanisches Sittenbild. Von Ernst Eckstein.


Es war ein Herbsttag in den zwanziger Jahren. Am Hafen der Insel Capri herrschte ein dichtes Gedränge. Mit ausgespannten Segeln kam das große napoletanische Marktschiff über den Golf, – nur noch wenige hundert Ellen von der Stelle entfernt, wo es ankern sollte.

„Nun, Zingarella,“ wandte sich ein weißbärtiger Fischer zu dem schlanksten und schönsten der jungen Mädchen, die zuvorderst am Saume der sanft verschäumenden Brandung standen, – „Du machst uns ja kein sonderlich vergnügtes Gesicht, – gar nicht wie eine Braut, die den Liebsten erwartet! Oder bleibt Dein Salvatore noch bis Ende des Monats?“

„Nein,“ versetzte das Mädchen; „er kömmt.“

„Dann begreife ich nicht ... Was besagt dann die Falte da zwischen den Augenbrauen? So juble doch, Zingaralla, wie Du damals gejubelt ...“

„Ich heiße Maria,“ fiel sie ihm schroff in die Rede, – „und ob ich nun hier vor den Leuten albern thue mit Lachen und Fröhlichkeit, oder nicht – das wird Euch wohl keinen Kummer bereiten.“

„Schaut’s da heraus?“ brummte der Fischer. „Schon lang’ hab’ ich’s läuten hören, daß die schöne Maria sich besser dünkt, als die Andern, weil der stolze Apulier sie zur Gattin begehrt! Eine gewaltige Ehre! Und die ‚Zingarella‘ verbittest Du Dir? Nun, nichts für ungut, Maria! Hat doch Dein unvergeßlicher Vater selbst Dir den Beinamen zugelegt, weil Du als Kind mit Deinem kohlschwarzen Haar und Deinem sonnverbrannten Gesichtchen recht aussahst, wie eine wilde Zigeunerin! Seitdem hast Du Dich freilich verändert: das wirre Haar wird sorgsam gestrählt und geflochten und mit Blumen geschmückt, und Dein Antlitz ist heller geworden und schöner, – aber im Herzen bist Du nach wie vor die unwirsche Zingarella. ’S ist doch toll, meiner Treu’, wenn ich, ein Siebziger, und noch dazu Dein Verwandter, nicht ’mal das Recht haben soll, Dich anzureden, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und Dich um Dinge zu fragen, die ... die ...“

„Nun – die ...?“ wiederholte das Mädchen herausfordernd.

„Die aller Welt hier zu denken geben! Ja, wirf mir nur Blicke zu, als sollte ich gleich in den Boden sinken! Da es denn doch ’mal zur Sprache gekommen, so magst Du’s hören: Deine Liebschaft mit dem Apulier hat böses Blut gemacht auf der Insel. Zur Fischerstochter paßt nicht der fremde Schreiber, der auf ehrliche Leute, wie wir, vornehm herabsieht, obgleich Keiner hier weiß, was er eigentlich ist oder treibt. Viel mag’s nicht sein, sonst hätte er wohl, bei seiner großen Verliebtheit, längst Anstalt gemacht zur Heirath. Aber das kömmt davon, wenn Einer die Ketzer in’s Haus läßt! Seit der Engländer von damals Dich das Lesen und Schreiben gelehrt und Dir Bücher geschenkt hat, in denen allerlei thörichtes Zeug stand vom Laufe der großen Welt und den Geschicken der Völker, seitdem hast Du aufgehört, eine echte Tochter von Capri zu sein. Und wie der Apulier nun kam –“

„Genug, Silvio!“ unterbrach ihn Maria. „Wenn man nicht wüßte, weshalb Ihr Euch so hineinredet, man sollte glauben, ich hätte an Euch und allen Capresen gefrevelt, wie eine Landesverrätherin. Aber ich kann Euch nicht helfen: Euer guter Alberto ist kein Gatte für mich, und er muß sich drein finden.“

„Kein Gatte für Dich? Und warum nicht? Was mich betrifft – daß Du’s nur weißt, Zingarella – ich bin durchaus nicht böse darüber ...! Dich, die Leidenschaftliche, Unstäte als Schwiegertochter im Hause – das wäre mir altem Manne wohl die Hölle auf Erden! Aber wenn Du behauptest, er sei Deiner nicht werth – ei zum Henker, so sage mir doch, durch welche Vorzüge der Apulier ihn aussticht? Höchstens durch allerlei verrückte Ideen, durch phantastische Pläne und Einfälle, die an’s Narrenhaus grenzen! Und Dich hat er auch schon toll gemacht mit seiner unheimlich–gespenstischen Art! Ja, ja, man hat so seine Quellen, Maria! Im Uebrigen – schön gewachsen und stattlich ist mein Alberto, so gut wie er, – dazu eine Seele wie Gold, und ehrlicher Leute Kind, während Dein Salvatore ...“

„Laßt mich zufrieden!“ sagte Maria gekränkt.

„Ein Findelkind!“ lachte Silvio. „Und nun dieser unglaubliche Stolz, dieser fiebernde Ehrgeiz! Geh’, Maria, Du selber fühlst Dich bei der Komödie nicht wohl; Du beginnst einzusehen, daß er mit seiner glatten Verführerzunge Dir Allerlei vorgelogen, was er niemals erfüllen wird, – und deshalb blickst Du so finster, während das Schiff, das ihn bringen soll, fast schon im Hafen liegt!“

„Wie wenig begreift Ihr mich!“ versetzte sie mitleidig.

„Aber ich bitte Euch, Silvio!“ legte sich jetzt eines der jungen Mädchen ins Mittel. „Ihr solltet Euch schämen, so hinterrücks für Euren Alberto um Liebe zu werben – als wäre er Einer von Denen, die es nöthig haben! Der findet Zwanzig für Eine! Na, und was die finsteren Blicke der Zingarella betrifft und das Stirnrunzeln, so könntet Ihr wissen, Silvio, daß dies von je ihre Art ist, wenn ihr Wichtiges und Großes bevorsteht. [226] Sie liebt ihren Salvatore – heißer und grenzenloser als je zuvor; und gerade weil das Alles sie so erfüllt und so von Grund aus bewegt, gerade deshalb ist sie so ernst und so still! O, ich verstehe mich besser auf die Deutung der Mienen! Dafür haben wir die beiden dänischen Maler im Haus – ja wohl, Silvio – und ob Ihr sie Ketzer scheltet, sie sind gute, freundliche Männer, die Unsereinem Manches erklären, und nicht immer an’s Küssen denken, wie die jungen Leute von Capri.“

Der Fischer zuckte die Achseln.

„Du bist auch so Eine, Giulietta, die vor lauter Klugheit nicht sieht, was der Himmel ihr dicht vor die Füße legt! Treibt’s wie Ihr wollt – mir soll’s recht sein! Um die Maria aber ist’s schade, und ich bleibe dabei, sie ist unglücklich, mag sie noch so verliebt sein!“

Die letzten Worte waren halb in den Bart gemurmelt. Das Marktschiff hatte sich in mächtiger Schwenkung quer vor das Ufer gelegt, und alsbald war ein Dutzend Kähne zu dem Fahrzeug herangerudert, um zunächst die Passagiere, dann auch die mannigfaltigen Waaren an’s Gestade zu bringen.

Der Erste, welcher den Boden der Felseninsel betrat, war augenscheinlich ein Nordländer. Er trug einen modischen Tuchrock mit dem schweren kummtartigen Kragen, wie er damals im Schwange war, hohe Stiefel mit gelben Umschlägen und einen breitkrämpigen Filzhut. Trotz dieser sorgfältigen Toilette machte er den Eindruck fröhlicher Ungebundenheit und Naturwüchsigkeit.

Giulietta begrüßte den Ankömmling mit offener Herzlichkeit.

„Das freut mich, daß Ihr uns Wort gehalten, Signor Gustavo!“ sagte sie, ihm die Hand bietend. „Aber ich wußte es ja: Ihr taugt nicht in den Lärm der Toledo-Straße. Hier in Capri, in Eurem traulichen Stübchen, wo Ihr sinnen und malen könnt, ohne daß Euch das Rädergerassel die Staffelei erschüttert – das ist der rechte Ort für Euch – und ebenso für den werthen Herrn Bruder, der’s auch nicht mehr lange treiben wird in Palermo! Es ist ein Brief von ihm da; er schreibt gewiß, daß er vor dem Ersten noch aufbricht. Nein, wie gut Ihr ausseht, Signor Gustavo! Wahrhaftig, so stolz und so vornehm – aber im Leinwandkittel und vollends in der betreßten Sammetjacke gefallt Ihr mir doch hundertmal besser, als so im Herren-Costüm, – und das meint auch die Mutter.“

„Sehr verbunden,“ lachte der Däne, nach der mittelgroßen Männergestalt umschauend, die hinter ihm aus dem Kahne getreten war. „Einstweilen – hier, mein lieber Cesari, das ist Giulietta, die Tochter unserer gütigen Wirthin – matre pulchra filia pulchrior – also, was ich bemerken wollte: wie steht’s, Giulietta? Kann dieser Herr – ein Freund von mir – im Haus Deiner Mutter für acht Tage Logis bekommen? Er ist Avvocato am königlichen Gerichtshofe von Neapel und hat sich während der letzten Monate etwas zuviel gethan. Im Albergo zu wohnen, wäre ihm unerwünscht.“

„O, das wird sich schon machen,“ versetzte Giulietta. „Wenn der Herr fürlieb nehmen will ... Zunächst haben wir ja das Stübchen des Signor Frederik, – und wenn der wirklich in Kürze von Palermo zurückkehrt, so räum’ ich dem Signor Avvocato das meinige ein: ich wohne dann in der Küche.“

„Ihr seht,“ wandte sich Gustav an seinen Begleiter, „daß hier durchaus die Idylle herrscht. Procul negotiis – das läßt sich im Hause der braven Pamela auskosten, wie nirgends im Bereiche der Insel. Ihr sollt’s mir noch danken! Wahrhaftig, Ihr seht blaß aus, Signor Cesari, recht angegriffen und blaß! Und wenn man obendrein sich nun sagen muß, daß Euch die letzte Affaire mit der vermeintlichen Giftmischerin keine durchlöcherte Uncia eingetragen, sondern im Gegentheil Euch noch gutes, gemünztes Gold dazu gekostet, so wäre man wirklich versucht, Euch einen Thoren zu nennen, erlaubte dies die Bewunderung, die Eure Selbstlosigkeit einflößt.“

Antonio Cesari wiegte langsam den Kopf. Ein schmerzliches Lächeln spielte um die geschlossenen Lippen.

„Ihr wißt ja ...“ sagte er leise.

Giulietta war inzwischen vorausgeschritten. Die zwei Männer folgten ihr, von einem halbwüchsigen Burschen begleitet, der das geringe Gepäck trug.

„Ja, ich weiß,“ versetzte der Däne, an der Biegung des steilen Weges Halt machend und sich mit dem Taschentuche über die Stirn fahrend – „ich weiß, was Ihr damals schon in Pisa Euch zugeschworen! – Ein hochherziges Gelöbniß – einzig in seiner Art. Dennoch – das sind jetzt beinahe zwölf Jahre her, und ich dachte –“

„Was?“ fragte Cesari.

„Nun, die überschwängliche Jugend gelobt so Vieles ... Ich war dennoch erstaunt, als ich jetzt in Erfahrung brachte, wie eifrig und rückhaltslos Ihr erfüllt, was Ihr Euch vorgeuommen.“

„Ihr habt Euren Vater niemals gekannt,“ sagte Cesari – und seine Stimme zitterte. „So könnt Ihr, trotz aller Lebhaftigkeit Eurer Phantasie, nicht vollständig nachfühlen, was das Herz des Sohnes bewegt, der den verehrtesten und geliebtesten Mann unschuldig leiden sieht, – verurtheilt zu schmachvoller, entsetzlicher Strafe und jener Verzweiflung überantwortet, die da Hand an sich selbst legt! Ich war fast noch ein Kind, aber Nichts von alledem, was uns damals durchwühlt und erschüttert hat, ist mir im Lauf der Jahre verblaßt! Jede Minute dieser entsetzlichen Zeit schwebt mir noch vor, als hätt’ ich sie eben jetzt erst durchlebt ... Und damals schon, da Alle an dem Verrathenen zweifelten, nur ich nicht, der ich ihn kannte wie mich selbst, – damals schon leistete ich mir den Schwur: wenn seine Unschuld dennoch an’s Tageslicht käme, solle mein ganzes zukünftiges Leben Denen geweiht sein, die das Gesetz mit seinem Zorne verfolgt, den Verlornen, die – man sage mir, was man wolle – fast ohne Ausnahme den Haß und die Entrüstung der Gesellschaft in geringerem Grade verdienen, als die Pharisäer sich träumen lassen!“

„Aber Ihr erzähltet mir doch ...“

„Ich verstehe Euch,“ gab Antonio Cesari zurück. „Jenes Gelöbniß war wie ein Opfer, das ich dem Himmel anbot, wenn er den Beschuldigten retten wolle! Späterhin – seht Ihr, Signor Gustavo ... ich dachte: in so heiligen Dingen soll der Mensch nicht drehen und deuteln! Die Unschuld kam ja wirklich zu Tage, wenn auch erst, nachdem das Fürchterliche geschehen war ... Ja, ja, ich mußte da Wort halten ... Oder – daß ich’s ehrlich bekenne: als nun das Schicksal uns so grausam zermalmt hatte, da war es für mich kein Opfer mehr; – im Gegentheil: mein einziger Trost! Ich wollte Rache nehmen an der bethörten Gesellschaft, und die Rache sollte des Mannes, den es zu rächen galt, würdig sein. Nichts aber fand ich, was mir höher erschienen wäre und edler ...“

„Ihr regt Euch auf, theurer Freund,“ sagte der Däne. „Verzeiht, daß ich so unbedacht war, diesen Punkt gerade jetzt zu berühren, da Ihr im Begriff steht, Euch zu erholen. Blickt lieber hinaus über den lechtenden Golf, oder zerstreut Euch im Genuß des farbigen Bildes, das da unten am Strande wimmelt! Wahrhaftig, diese capresischen Fischer sind noch echte Naturmenschen, – trotz der goldverstreuenden Briten, die von Jahr zu Jahr zahlreicher über die Bucht schwimmen. Und die Mädchen sind so frisch und so blühend – halb hellenischer Typus, wahre Perlen für Unsereinen. Nach Giulietta freilich müßt Ihr nicht urtheilen: die gleicht mehr den Napoletanerinnen. Aber saht Ihr nicht, als wir ausstiegen, rechts in der Gruppe die Dunkeläugige mit der Rose im Haar? Zingarella heißt sie bei ihren Gespielinnen – ein Prachtgeschöpf, tadellos, wie ein Werk des griechischen Meißels! Wenn ich ausführe, was mir seit lange schon vorschwebt – eine große Composition: Persephone an der Seite ihres Gemahls – dämonische Beleuchtung – symbolisirede Darstellung alles Dessen, was an verhaltener Leidenschaft in der Brust des Weibes glühen und lodern kann – beim Leibe des Bacchus, dann muß mir die schöne Zingarella Modell stehen, koste es, was es wolle! Da, seht Ihr, Signor Antonio, da kommt sie an der Seite ihres Apuliers den Pfad herauf! Wie ernst und schweigsam die Beiden dahin wandeln, – recht, als kämen sie vom Begräbniß! Und doch giebt’s kein zweites Paar auf der Insel, das so rasend in einander verliebt wäre, wie Salvatore und die Zigeunerin. Ich war ’mal Zeuge einer unglaublichen Scene, – drüben am Südgestade. Er war außer sich, nannte sie eine Schlange, eine ehrlose Heuchlerin und drohte sie von der Klippe in’s Meer zu stoßen. Irgend ein Streit: Gott mag wissen, üm was es sich handelte. Ich saß unten, fast in der Brandung, und malte. Ich sag’ Euch: es war ein gewaltiger Anblick – die stolze Jünglingsgestalt mit den flammensprüheden Augen, Zorn und dennoch Anmuth in jeder Bewegung, und neben ihm das herrliche Weib, zaghaft, flehend und völlig zur Unterwerfung gezwungen, – sie, [227] die sonst doch dreinschaut wie eine Königin! Sie sank ihm zu Füßen – und dann küßten sie sich, – ein unbeschreibliches Bild menschlicher Leidenschaft in der Einöde der wildzerklüfteten Felswände! Seitdem habe ich die Zingarella auf’s Korn genommen.“

Antonio Cesari hatte sich umgekehrt. Nun die Wanderung fortsetzend, sagte er zu dem Dänen:

„Ihr habt Recht! Ein überraschendes Paar! Beide wie von unterirdischem Feuer durchglüht – zumal er in seiner dämonisch-geistvollen Schönheit. Aus solchem Thone formt das Schicksal die Helden, die Abenteurer und die großen Verbrecher. In den ersten Stadien ihrer Entwickelung sehn sich die drei Kategorien oft zum Verwechseln ähnlich. Ja, ich behaupte: das Fatum weiß zu Anfang oft selber nicht, wo es hinaus will, und erst die Umstände vollenden die Prägung.“

„Der Rechtsgelehrte!“ rief Gustav Nyborg. „Laßt uns nicht wieder auf das alte Thema gerathen, Signor Cesari! Natur und glückseliges Nichtsthun – auch im Punkt der Gedanken – das sei die Parole! Seht Ihr das duftige Lichtwölkchen über dem Aschenkegel? Das bedeutet sonniges Wetter und Meeresstille, auf lange hinaus! Wir wollen’s genießen, Antonio! Ich will Euer Führer sein bei den Wanderungen über die Wunderinsel. Kommt nur: Giulietta wird ungeduldig.“

Sie folgten ihr geradeaus.

Maria indeß bog mit Salvatore nach rechts ab. Ohne ein Wort zu sprechen, schritten sie die hundert Stufen hinan, die zu den westlichen Ausläufern des vignen-umblühten Städtchens führten. Hier wohnte Bertalda, Maria’s Muhme und Pflegemutter. Das Häuschen, nur aus einem Erdgeschosse bestehend, war in zwei ungleiche Theile gesondert; links von der Thür befand sich ein einziges schmales Viereck: das Stübchen Maria’s; rechts davon ein größeres Zimmer und eine Küche: die Räume Bertalda’s. Hier, in der Stube der Pflegemutter, sollte nun Salvatore während der Ferien, die auch ihm zu Gewinn kamen – denn er schrieb ausschließlich für einen Collegen Signor Cesari’s – Station machen.

Als Maria mit ihrem Verlobten eintrat, stand die Muhme just im Begriff, das Haus zu verlassen, um ihre spärlichen Einkäufe für den kommenden Festtag zu bewerkstelligen. Sie begrüßte den jungen Apulier mit einer ehrfürchtigen Scheu, die das Echo war der mannigfachen Erzählungen und Betheuerungen Maria’s. Die Zingarella mußte es wissen: dieser schwarzlockige Salvatore mit der hohen, leuchtenden Stirn und den flammensprühenden Augen war zu was Besserm geboren als zur Tagesarbeit im Bureau des Avvocato Pezzini. Wenn das Schicksal ihm nach Verdienst entgegenkam, so fuhr er demnächst in goldbeschlagner Carrosse über die Chiaja und erstand eine glänzende Villa unter den Feigenbäumen des Posilipp.

Nachdem sich Bertalda entfernt hatte – die Verlegung ihres Ausgangs auf diese Stunde geschah aus guter Berechnung, denn sie wollte die Beiden zunächst allein lassen – trug Maria ihrem Verlobten eine Foglietta mit Landwein und etwas Brod auf und hieß ihn zulangen, – Alles in kurzer, hastig hingeworfener Rede. Salvatore goß sich ein Glas voll, trank es auf einen Zug aus und setzte es dann mit leichtem Stirnrunzeln neben die Flasche.

„Schmeckt’s Dir nicht?“ fragte Maria.

„Muß wohl!“ gab Salvatore zurück. „Wenigstens vorläufig.“

„Vorläufig!“ seufzte Maria. „Ach, Salvatore, wenn Du doch lernen wolltest ... wenn Du begriffest ...! Aber nein! Sei nicht böse! Ich seh’ ja vollkommen ein, daß Du Recht hast! Ein Mann wie Du – es ist eine Schmach, daß Du so im Niedrigen und Gemeinen Dich abquälen sollst, während Dir’s zukäme, frei und reich und glänzend wie ein Fürst durch das Leben zu wandeln. Wär’s nur um meinetwillen – Gott, ich wollte zufrieden sein auch mit Wenigem: Du aber, – nein Du kannst, Du darfst nicht entsagen; Du mußt’s erstreben mit aller Kraft – das bist Du Dir schuldig, Geliebter!“

„Mir und Dir!“ sagte der junge Mann, schwer aufathmend. „Aber der Himmel weiß es: die Sache ist leichter geredet, als zum Ziele geführt. Bei Gott, Zingarella - Du kennst nicht die Welt, und wie feindlich sie uns entgegentritt! Was hab’ ich nicht Alles versucht in den letzten Wochen!“

„Harre nur aus!“ meinte sie schmeichlerisch. „Mit der Zeit wirst Du die Hindernisse schon aus dem Wege räumen – und wir sind ja noch jung!“

„Harren und Hoffen – das sind die Köder, an denen das Schicksal die Narren fängt. Ich mühe und martre mich, – aber da fehlt’s am Nothwendigsten. Find’ ich etwa die Goldstücke im Grunde des Tintenfasses? Oder bin ich ein Zaubrer, der Actenpapier in bedruckte Bankscheine umwandelt? Das mit der Herberge droben am Aschenkegel war eine schöne Idee, und fast schon hatt’ ich den reichen Catone –: da kömmt der Ausbruch, geringfügig zwar, aber doch polternd genug, um den Alten stutzig zu machen. Lächerlich! Als wenn die Häuser in Torre del Greco und Annunziata nicht ganz ebenso von der Lava bedroht wären! Und Hunderttausende hätt’ es uns eingebracht!“

„Unzweifelhaft – aber es ging nicht, und da mußt Du nicht weiter um die Sache den Kopf hängen. Tag und Nacht hast Du dem Alten im Ohr gelegen – gut! Mehr kannst Du nicht leisten! War Catone zu seinem eignen Schaden so kurzsichtig – so laß ihn fahren, und erwäge was anders!“

Voll unendlicher Zärtlichkeit weilte ihr Blick auf seinem sorgenumflorten Antlitz. Da ging ein Leuchten über die ernsten Züge; ein Strahl heißester Liebe brach ihm unter den Wimpern hervor.

„Du hast Recht!“ sprach er aufstehend. „Reden wir nicht weiter davon! Besseres und Größeres hab’ ich seitdem in Aussicht genommen – ich schrieb Dir’s ja! Ueberhaupt – wir verderben uns die Freude des Wiedersehns! Zingarella, ist’s möglich, daß wir seit fünf Minuten allein sind, ohne daß die süße Maria ihren Salvatore umarmt hat?“

Sie warf sich an seine Brust. Mit einem seligen Lächeln bot sie ihm den schwellenden Mund. Er küßte sie stürmisch, und hielt dann ihr schönes Haupt eine Weile wie traumverloren mit beiden Händen. Dann plötzlich drängte sich ihm ein schwerer Seufzer auf die halbgeöffneten Lippen.

„Wie schön Du bist, Maria, wie unbeschrerblich schön!“ sagte er schwermuthsvoll. „Ein Gott dürfte mich um Deine Liebe beneiden, und dennoch, – ich kann nicht glücklich sein, wenn mir der Stachel der Verbitterung im Herzen sitzt! Es ist mein Fluch, – ich leide darunter, – aber ich vermag’s nicht zu ändern! Wie beneide ich Deine Jugendgespielen! Sie alle sind zufrieden mit dem, was das Schicksal ihnen bescheert hat, – denn sie kennen Nichts von dem Glanz dieser Welt; sie wissen und ahnen nicht, was Leben heißt und Genießen, und wie Du, die Herrliche, nicht geschaffen bist für dies kärgliche Alltagsloos! Ich aber weiß es, und keine Stunde vergeht, daß ich nicht Pläne schmiede, Pläne ...“

„Vielleicht suchst Du das Gelingen zu weit,“ sagte Maria. „Kannst Du denn nicht von der Stelle aus, wo Du stehst, zu Besserm hinaufreichen?“

Der Apulier lachte.

„Wenn Du wüßtest ...!“ versetzte er ingrimmig. „Bis zur Stunde verdien’ ich kaum genug für mich selbst – und wenn ich ausharre auf dem betretenen Wege, so kann’s in zehn oder zwölf Jahren wohl zulangen, daß wir gemeinsam das Leben fristen. Ja, wenn’s noch glückte, unter dem Porticus des Carlo- Theaters einen Tisch zu erobern! Aber die Posten der Volksschreiber werden nicht so blindlings vertheilt; es kostet heillose Mühe, die Concession zu bekommen. Schließlich ist auch das nur ein Bettelbrod! Nein, Maria, ich betrachte meinen Beruf nur als Uebergang; ich schäme mich seiner, – und nicht eher will ich ruhen und rasten, bis ich ihn von mir geworfen! Ich habe jetzt eine neue Idee – und dann noch eine ...“

„Nun?“ fragte das Mädchen.

Salvatore blickte sich ängstlich um.

„Die eine – die könnt’ ich Dir gleich erzählen – aber die andere – Ich fürchte die Lauscher, und stehst Du, Maria, wenn die Sache nicht so geheim bliebe, wie ein Bekentniß im Beichtstuhl ... dann ... dann wäre Alles, Alles verloren, – jetzt und für immer! Dir sogar darf ich nur andeuten ... und Du mußt mir schwören bei der Madonna ...“

„Mein Gott, Du erschreckst mich ...“

„Weißt Du was, Maria? Laß uns hinaus in die See rudern! Ich habe ein wahres Verlangen darnach, allein mit Dir und dem blauen Himmel zu sein, wo keine Stimme der Menschen an unser Ohr schlägt! Das wird mich erquicken und aufrichten nach all’ dieser Drangsal. Aber nicht hier in den Golf will ich steuern, sondern in’s offene Meer! Komm nach dem Südgestade! [230] Dort im Angesichte der unermeßlichen Felswände, wenn mein heißes Blut sich gekühlt hat – Du ahnst nicht, Maria, wie mir’s hier in den Schläfen hämmert! – dort sollst Du erfahren, was ich Dir sagen kann!“

Sein Mund zuckte, als er so sprach; die Augen dunkelten wie eine schwüle Gewitternacht. Da er, bei Seite tretend, sich zum zweiten Mal das Glas füllte, zitterte seine Hand heftig, sodaß er eine breite röthliche Weinlache über den Tisch goß.

Maria war zu beklommen, um Zeit zu der Erwägung zu finden, daß die einzige Barke, die am Südgestade zu haben war, ihrem Vetter Alberto Petagna gehörte und daß es grausam sei, den ehrlichen Jungen, der zu vergessen bemüht war, in seiner Einsamkeit aufzustören.

„Gut!“ versetzte sie, als der Apulier ihr jetzt voll in’s Gesicht sah. „Auch mir ist’s seltsam bänglich und dumpf hier in der niedrigen Stube! Was hast Du nur, Salvatore? Wie schaust Du mich an? Bei Gott, Du führst Größeres im Schilde als den Albergo am Aschenkegel!“

Sie trat zur Bettstatt, wo unter dem Bildniß der Gottesmutter zwei Palmen gekreuzt über einander hingen.

„Der Erzbischof selber hat sie geweiht,“ sagte sie, von der größern die Spitze abbrechend. „Hier, hefte das an die Brust: das wird uns Glück bringen und gute Gedanken! Und nun komm, damit wir vor Dunkelheit wieder zurück sind!“

Sie hing sich an seinen Arm. So verließen die Beiden das Haus.


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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 15, S. 246–248
[246]
2.

Oberhalb der sogenannten Marina Piccola, mit dem Ausblick nach Süden, lag völlig vereinsamt die steingemauerte Hütte Alberto Petagna’s.

Der Insasse – der Sohn jenes gesprächigen Silvio – war mit seinen drei- oder vierundzwanzig Jahren ein Sonderling. Er hauste hier ganz allein, und fuhr auf eigene Faust in die offne See. Nur wenn die Fahrt sich besonders weit von der Küste entfernte, begleitete ihn wohl ein Knabe, der sich bald hier, bald dort auf der Insel herumtrieb und von Zeit zu Zeit bei Alberto anfragte.

Neben dem Fischerkahn besaß Alberto eine zierliche Barke, die in den Nachmittagsstunden ab und zu von den Fremden benutzt wurde; denn das Gestade ist hier auf der Südseite besonders reich an großartigen Naturschönheiten.

Nach dem Städtchen jenseits des Bergrückens kam Alberto fast nur des Sonntags, wenn er im kurzen Wams, den breitkrämpigen Filzhut über der Stirn, zur Messe ging. Dann verweilte er bis zum Abend, brachte die Mittagsstunden im Hause des Vaters, die späteren auf einem der Plätze zu, wo die jüngeren Leute sich am Spiel der Morra ergötztem und genoß wohl in der Osteria zum Falken ein Glas Vesuvwein. Geflissentlich aber mied er die Gesellschaft der jungen Mädchen; er sah nicht zu, wenn zum Klange des Tambourins der Reigen getanzt wurde, – geschweige denn, daß er selbst sich jemals betheiligt hätte. Nur seine Cousine, die dunkelzöpfige Zingarella, traf er zuweilen im Elternhause, bis das Verhältniß Maria’s zu dem apulischen Schreiber hier eine Aendrung hervorbrachte, indem es zwischen ihr und dem greisen Silvio eine immer wachsende Spannung hervorrief.

An jenem Nachmittag saß Alberto vor der Thür und las. Gleich den meisten capresischen Fischern war auch er, wie die Statistik es ausdrückt, alphabetlos aufgewachsen; aber seit Zingarella den Unterricht jenes Fremdlings genossen hatte, ließ es ihm keine Ruhe mehr. Voll verzehrender Neugier hatte er die Bücher bestaunt, die Maria einst in das Haus seines Vaters gebracht, um daraus vorzulesen und dem Zweifler so zu beweisen, daß nichts Unrechtes und Sündhaftes in denselben enthalten sei. Und da nun Alberto sie darum anging, brachte sie eins dieser Bücher auch am folgenden Sonntage mit, und so fort, und Alberto fragte sie, wie zum Spiele, nach der Bedeutung der einzelnen Lettern, die er bald unterscheiden lernte, ohne daß sie sich träumen ließ, die Belehrung werde ihm haften bleiben. Und dann geschah es, daß er insgeheim dem Steuermanne des Marktschiffs den Auftrag ertheilte, ihm ein ähnliches Buch aus Neapel mitzubringen, und späterhin andre, bis der alphabetlose Fischer fließend las und den Inhalt dieser Bücher begriff und sich nun ernstlich mit dem großen Gedanken trug, auch die Kunst des Schreibens zu lernen.

Das Buch, das er jetzt mit beiden Händen gepackt hielt, als gelänge es ihm so besser, das Alles, was er hier fand, in sich aufzunehmen, war ein classisches Werk, weit berühmt im liederfrohen Italien: die Sonette des liebeskranken Petrarca.

Für ein Geringes hatte der Steuermann das fleckige, umschlag-entblößte und verstümmelte Exemplar bei einem der Straßen-Buchhändler in der Molo-Straße gekauft, ohne sich vorzustellen, wie wenig diese schmelzenden Klänge gerade jetzt in die Gemüthsverfassung Albertos paßten.

So oft das Wort „Laura“ in den Sonetten wiederkehrte, las Alberto mit heimlicher Gluth „Maria“; denn er liebte seine Cousine, so lange er denken konnte.

Schon als elfjähriger Knabe, da sie, sechs oder sieben Jahre alt, an seiner Hand nach Anacapri gewandert, um dort die Großmutter zu besuchen, die nun seit lange schon todt war, hatte er die Blicke nicht wegwenden können von dem reizenden, sonnverbrannten Gesichtchen, von den nachtschwarzen Augen, die so trotzig rings in die Welt schauten, und den prächtigen Zöpfen, die ihr so breit und schwer über das rothe Kleidchen mit dem citronenfarbenen Bund fielen.

Wenn sie dann müde war oder der Bergpfad sich gar zu steinig und schroff nach der Höhe wand, wie glückselig hatte er sie mit beiden Armen umklammert und hinaufgetragen bis zur nächsten Terrasse, wo sie im Schatten eines großblätterigen Feigenbaums ruhen und plaudern konnten!

Die Kleine war launisch und übermüthig; oft zerzauste sie ihm das Haar; oft schalt sie ihn, wo er freundlichen Dank erwartet hatte; ja einmal, als er in gutem Glauben ihr eine Frucht bot, die ihr nicht mundete, schlug sie ihm mit der kleinen Hand in’s Gesicht, mitten auf’s Auge, daß ihm das helle Feuer heraussprang. Und dennoch: er konnte nicht zürnen; ihr Uebermuth, ja selbst ihre Unart beglückte ihn. Sie war doch da, sie saß neben ihm; er hörte die klare, tiefe Stimme, fast zu tief für ein siebenjähriges Mädchen, aber so zauberisch, so unsagbar berückend!


Dann später, als sie heranwuchs und immer schöner ward, so schön, daß ihr Anblick ihn fast mit bangender Scheu erfüllte – wie verzehrte er sich in quälenden Widersprüchen! Denn – sagte er sich – je vollkommner sie ist, um so weniger wird sie Acht haben auf Dich und Deine heimliche Liebe. – Er hätte, Gott weiß was, darum gegeben, wenn er irgend etwas hätte entdecken können, was ihren Liebreiz verringerte, – eine Narbe vielleicht, wie er sie links auf der Stirn trug als Erinnerung an den ersten Ritterdienst, den er dem Mädchen geleistet, da es sich nämlich um die Abwehr eines zudringlichen Napoletaners handelte; oder ein Muttermal; oder selbst Schlimmeres; denn er meinte, er würde sie lieben, und wenn ihr ein Felsstück von der Höhe des Salto herab beide Füße zerschmetterte, oder die schrecklichste Krankheit ihr das Antlitz für immer zerrisse! Die Augen würden doch bleiben, und die Stimme, die er vergötterte, die er nicht hören konnte, ohne ergriffen zu werden, wie vom Klange der Orgel! Dann schält er sich wieder, daß er so gottlose Thorheiten denke, und suchte sich einzureden, trotz ihrer Schönheit und trotz der Bewunderung, die ihr allenthalben zu Theil wurde, möchte Maria wohl die Ehrlichkeit seiner Gesinnungen und die Unermeßlichkeit seiner Hingebung höher schätzen, als die kecke Beweglichkeit Derer, die sie mit lockenden Schmeichelworten tagtäglich umschwärmten. Er konnte nicht schmeicheln; er war froh, wenn er in ihrer Gegenwart überhaupt nur ein vernünftiges Wort über die Lippeu brachte. Als er nun eines Tages dazu kam, wie sie drunteu am Ufer im Schatten der altersgrauen Olivenbäume mit dem hübschesten Burschen von Capri, dem hochgewachsenen Masetto, sich im Wirbel der Tarantella schwang, da gelobte er sich, die Stätten, wo die Jünglinge und Mädchen mit einander verkehrten, nie wieder aufzusuchen. Der Anblick hatte ihm tief in das Herz geschnitten.

Von jenem Tage an trug er sich mit dem Plane, das Haus des Vaters, sobald es anginge, zu verlassen und sich jenseits des Bergrückens eine Art von Einsiedelet zu gründen.

Schon im folgenden Herbst führte er diesen Plan aus. Der Pfarrer, ein leutseliger, freundlicher Herr, der ihm besonders wohlwollte, streckte ihm gern die geringe Summe vor, die zur Erbauung der dürftigen Steinhütte nöthig war; auch für das Uebrige fand sich Rath, und so entzog sich denn Alberto mit Gewalt der Nähe des Mädchens, dessen sein Herz so voll war.

Ursprünglich hatte er die Absicht gehegt, sie ganz zu meiden, und wochenlang war er ihr aus dem Wege gegangen. Dann aber fühlte er die innere und äußere Unmöglichkeit, das auf die Dauer so durchzuführen. In dieser völligen Trennung fand er nicht Ruhe; die Sehnsucht verzehrte ihn; überdies hatte er Pflichten gegen den Vater, dessen einziger Sohn er war, nachdem die beiden älteren Brüder an den Klippen der Punta di Campanella den Tod gefunden.

So ergab sich nachgerade die Lebensführung, die er noch jetzt befolgte: die Woche hindurch blieb er für sich; des Sonntags weilte er bis zum Abend im Städtchen.

Für den Silvio war es ein Freudenfest, wenn sein Alberto herüberkam; denn ihm selbst war der steile Pfad über den Bergrücken zu beschwerlich, und seine Zeit war beschränkt.

[247] Natürlich hatte er die Beweggründe dieser einsiedlerischen Neigung von Anfang durchschaut. Wie er den Sohn kannte, wäre es vergeblich gewesen, ihn zur Rede zu stellen; Alberto hätte ihm hocheeröthend in’s Antlitz gestarrt und keine Silbe der Entgegnung gefunden. Wohl aber sprach Silvio rückhaltslos mit Maria, und diese, anfangs erstaunt und dann, wie es schien, recht wohl geneigt, ihm Gehör zu geben, ward plötzlich rebellisch: denn in diese Zeit fiel der erste Besuch des Apuliers ...

Nun kam für Alberto eine Reihe unerhörter Gemüthsbewegungen. In starrer Verzweiflung folgte er den Phasen dieses Verhältnisses; denn ob sein Vater auch schwieg: der Knabe, der dem Einsiedler beim Fischen half, erzählte ihm in seiner Harmlosigkeit mehr, als er zu wissen begehrte. – Zum ersten Male, seit er dachte und fühlte, goß sich etwas wie Haß durch die Brust Alberto’s. Das Vorurtheil des Inselbewohners gegen den Fremdling, der auf die Tochter Capri’s kein Recht hatte, trug dazu bei, diese Empfindung zur Wuth zu steigern. – Er hätte den glücklichen Nebenbuhler erdrosseln, er hätte ihm an den Klippen des Felseneilandes die übermüthige Stirn zerschmettern mögen!

Zwischen solchen Momenten des innern Aufruhrs lagen dann viele Tage schmerzlich-stiller Entsagung und phantastischer Wehmuth. Alberto hatte entdeckt, daß ein Stück Poet in ihm schlummere; wenigstens war ihm jede Zeile seines Petrarca aus der Seele geschrieben, und wenn er des Abends sein Lager aufsuchte, klangen die Verse, die er gelesen, in hundertfacher Variation durch sein Hirn, und es drängte ihn, Aehnliches aus dem Eignen zu schaffen und es mit Zügen zu schmücken, die an die schönen Tage seiner ersten Jugend erinnerten.

Eine so traumhafte Stimmung beherrschte ihn auch in jener Nachmittagsstunde vor seiner Hütte. Um diese Zeit kam selten Jemand über den Bergrücken. So brauchte er nicht geheim zu thun mit seiner Lectüre. Ohne Scheu saß er auf dem niedrigen Felsstück, das ihm die Stelle der Bank vertrat, – mit einem Ausdruck der Sicherheit, als sei das Alles ringsum – der Strand, die zerklüfteten Bergwände, die umbrandeten Klippen und landeinwärts die fernen Olivengärten und Vignen – nur die Decoration seiner Bühne, nur der Zubehör seines verschwiegenen Heims.

Von Zeit zu Zeit hob er den Blick von den halb vermoderten Blättern und schaute sinnend ins Blau der offenen See, die, eine scharf begrenzte Wand, vor ihm aufstieg, ohne Segel, einsam und schweigend, ein rechtes Bild seines stillen, abgesonderten Daseins.

Da raschelte von dem Pfad, der in mannigfachen Windungen über den Kamm führte, etwas Geröll über die Böschung. Aufhorchend vernahm Alberto dann Schritte. Er schob das Buch in die Tasche und machte Anstalten, die Fremdlinge zu empfangen; denn er vermuthete, es seien Inglesi, die seiner Dienste bedürften. Blaß aber und ohne die Fähigkeit, sich zu regen, blieb er auf halbem Weg stehen: die da leichtfüßig über die rohen Felsstufen herabschritt, war seine heißgeliebte Maria, und hinter ihr stirnrunzelnd, als ob ein schwerer Gedanke ihn ganz gebannt hielte – kam Salvatore, der verhaßte Apulier.

Das war zuviel! Hatte er sich um deswillen hier in die Wildniß der Felsenküste geflüchtet, damit die grausame Zingarella ihm nachzöge, um ihr Glück ihm zu zeigen und ihn vor den Augen des Nebenbuhlers zu höhnen? Oder was wollte sie sonst, die Undankbare, die immer schöner wurde, je mehr sie sein Herz bluten ließ? Aber sie sollte sich irren, falls sie den Knaben zu finden hoffte, dem ihre übermüthige Kinderhand einst ins Auge geschlagen! Wenn’s denn nicht anders war, wenn man den Streit und die Rache ihm aufdrängte – so mochten sie ernten, was sie gesäet hatten! Wie der Blitz konnte er den Apulier ergreifen, ihn herüberzerren zum Abgrund, wo die Felswand lothrecht in die brandende See fiel, und dann – ein letzter Ruf: „Maria, Dich allein habe ich bis zum Tode geliebt!“ – und hinab in die grausige Tiefe! Mochte die Meerfluth so die zerschmetterten Glieder des Glücklichen wie des Verschmähten in tödtlicher Umarmung begraben!

Das zuckte ihm so heiß durch den Sinn. Unwillkürlich strafften sich ihm die Muskeln.

Da klang ihr Gruß an sein Ohr, und alle Wuth und Qual schmolz dahin. Diese Stimme war allmächtig über sein Herz; sie verzauberte ihn so vollständig, daß jede Erinnerung an das Erlittene verlosch, daß er selbst für den Apulier nicht einen Schimmer von dem herausfordernden Blick übrig hatte, mit dem er den Gegner erwarten wollte.

„Du bist’s, Marie?“ sagte er beinahe demüthig. „Was führt Dich hierher – und wen hast Du da bei Dir?“

„Salvatore Padovanino, meinen Verlobten,“ versetzte Maria. „Er kommt von Neapel, um das Meer zu genießen, – nicht nur den Golf, und deshalb komme ich zu Dir: Du sollst uns die Barke leihen – ich will ihn rudern.“

„Ich grüße Euch!“ sprach der Apulier, zu Alberto herantretend. „Die Zingarella hat mir Manches von Euch erzählt; Ihr seid ihr Vetter, und so – wenn Gott will – bald auch der meinige. Hier, meine Hand!“

Alberto zögerte; aber das Auge der Zingarella sah ihn so freundlich und doch so gebietend an, daß er sein Herz bezwang. So reichte er denn, einen schweren Seufzer verschluckend, dem Apulier die Rechte.

„Wo liegt die Barke?“ frug Salvatore.

Alberto deutete schweigend die Stufen hinab nach einer kleinen Bucht, wo am Rande der schmalen Uferfläche ein Pflock aufragte.

„Dort hinter dem Buschwerk,“ sagte Maria. „Du verlierst doch nichts, guter Alberto? Nach der Stadt zu wenigstens sah ich Niemand, und von Anacapri her kommt selten ein Fremdling. Du weißt“ – fuhr sie erröthend fort – „wie’s vom Apostel heißt: Gold und Silber habe ich nicht ...!“

Alberto machte eine Bewegung, als rede sie thöricht, da es doch klar auf der Hand liege, daß er von ihr, seiner Jugendgespielin, keine Bezahlung annehme. Der Apulier aber nagte heftig die Lippen. Ein dunkles Roth ergoß sich über sein Antlitz: die Scham der Armuth, die sich gedemüthigt sieht. Er besaß in der That nur gerade so viel, um die Rückfahrt nach Neapel bestreiten zu können. – Wie ein Mensch, dem der Boden unter den Füßen brennt, fragte er unsicher, ob die Kette der Barke mit dem Schlüssel befestigt sei, und da Alberto verneinte, eilte er hastig die Stufen hinab, seine Braut mit kurzem Zuruf bedeutend, daß sie ihm folgen möge.

Die Zingarella jedoch verweilte noch einige Augenblicke bei ihrem Vetter.

„Weißt Du, Alberto,“ sagte sie, „daß ich Dir’s übel nehme? Hier in der Einsamkeit muß ich Dich aufsuchen, um Salvatore mit Dir bekannt zu machen, und viermal schon ist er seit jenem ersten Tage auf Capri gewesen. Was hast Du nur? Wir waren ehedem Freunde, Alberto; ja, ich glaube, nächst der guten Bertalda meint es Keiner auf der ganzen Insel so ehrlich mit mir, wie Du. Soll denn das Alles vorüber sein? Du bist so gut, und mehr als Eine würde sich glücklich schätzen, wenn Du ihr einen Blick gönntest. Giulietta zum Beispiel! Also laß die Kopfhängerei und gieb mir offen und ehrlich die Hand, – nicht so bang und verstört, wie Du sie eben meinem Apulier gereicht hast, sondern geradezu und von Herzen. Du wirst schon wieder froh werden, wenn’s denn wahr ist, was Dein Vater behauptet.“

„Oh! Wie konnte er . . .!“

„Hat er sich gar getäuscht . . .? Um so besser für Dich! Gleich das erste Mal gab ich ihm rundweg zur Antwort: er müsse wohl träumen; wenn es so wäre, dann hätte ich all die Jahre her doch was merken müssen. Aber wie er nun ist: er bestand darauf!“

„Er hat die Wahrheit gesprochen,“ fuhr Alberto heraus. „Ja – Du . . . Du . . .“

Er wandte sich nach dem Eingang der Hütte. Sein Herz pochte; sein Auge umdunkelte sich. Er fühlte, daß er nicht mehr im Stande war, sich zu bändigen. Eine Secunde noch, und er wäre vor der grausamen Zingarella auf den steinigen Boden gestürzt und hätte sein thränenbeströmtes Antlitz wider den Saum ihres Kleides gepreßt.

Er trat in die Hütte. Maria folgte ihm.

„Alberto,“ sagte sie mild, „zürne mir nicht, wenn das Schicksal uns trennt! Oder nein –: was red’ ich von Trennung! Vereint wollen wir bleiben, wenn auch anders, als Dein treues Herz es geträumt hat. Gieb mir die Hand, Alberto! Versprich mir, daß Du mir immer gut sein willst – wie ein Freund, wie ein Bruder, und daß Du um meinetwillen die Eifersucht auf den Apulier bezwingen willst! Siehst Du“ – ihre Stimme ward [248] mit jedem Worte tiefer und seelenvoller – „ich könnte nicht glücklich sein, wenn ich mir sagen müßte, daß Du mir grollst, mir und Dem, den ich liebe.“

Sie nahm seine Hände zwischen die ihren.

„Willst Du, Alberto? Willst Du mir’s zugeloben? Ich bitte so flehentlich! Wenn Du mich wirklich lieb hast –“

„Mehr als mein Leben,“ raunte Alberto leidenschaftlich.

Er sah ihr zum ersten Male seit ihrem Erscheinen ganz und voll ins Gesicht, in die großen herrlichen Augen, und mit einem Male überkam’s ihn, wie ein überirdischer Bann. Er bedeckte ihre Hände mit Küssen.

„Ich gelobe Dir’s!“ stammelte er fieberhaft. „Du, Maria, sollst glücklich sein, wenn auch ich vor Weh und Elend zu Grund gehe. Dein Freund will ich sein, so lange ich athme, – treu, treu, Maria, – bis in den Tod! Du bist ja die Herrin, die mir befiehlt! Dir muß ich gehorchen!“

Unter den Wimpern Maria’s blitzte es feucht. Ein Lächeln wehmuthsvoller Befriedigung bebte über ihr Antlitz.

„Zingarella! Wo bleibst Du denn?“ erklang jetzt die Stimme ihres Verlobten, der die Barke vom Pflocke gelöst hatte.

„Ich komme! Also: gute Freundschaft, Alberto, für jetzt und allezeit!“

Ein letzter Händedruck, ein freundliches Nicken – dann eilte sie an’s Gestade.

„Ich habe ihm zugeredet, daß er sein junges Leben nicht so vertrauern soll,“ sagte sie zum Apulier. „Sein Vater sorgt sich um ihn, weil er allen Verkehr flieht, – und so nützte ich die Gelegenheit. Jetzt aber: hinaus in die See! Ich vergehe vor Ungeduld. Was Du mir unterwegs so flüchtig bedeutet hast, – ach, Salvatore . . .!“

„Ich erzähle nicht eher, als bis wir weit ab sind vom Ufer! Das ist mir jetzt wie ein Aberglaube, – und dann auch beinah’ wie eine Vorübung; denn wie ich Dir sagte: beim Zweiten, was ich im Sinn führe, heißt’s: die Zunge gehütet!“

Er hatte die letzten Worte geflüstert, als fürchte er selbst hier, in der Einöde der schweigenden Felsenküste, Verräther und Lauscher.

Jetzt stieß die Barke vom Strand. Mit kräftigem, gleichmäßigem Schlage theilten die Ruder Maria’s die blaugrüne Fluth. Salvatore saß am Steuer, das er bald darnach festband.

Von seiner Hütte aus folgte Alberto dem Fahrzeuge mit dem Blicke. Was hätte er Alles dahingegeben, wenn er an Stelle dieses verhaßten Fremdlings mit ihr hinaus hätte steuern dürfen in die Einsamkeit der freien, leuchtenden See! Seine erregte Einbildungskraft malte sich alle erdenklichen Scenen. Bald sah er sich in den Kahn gestreckt, wie ein Kind in der Wiege, sein Haupt in Maria’s Schooß gelegt – über sich nur die Sonne, den Himmel und ihre leuchtenden Augen. Dann wühlte plötzlich ein Sturm die Gewässer auf, und die Barke mit Zingarella und dem Apulier ward hin- und hergeschleudert, wie ein elender Spielball. Sie rief um Hülfe, und bleich und rathlos rang der noch eben so übermüthige Salvatore die Hände. Da – ein letzter Anprall – der Kahn schlug um, und er, Alberto, stürzte sich wie ein Pfeil in die rollenden Wogen. In kurzer Frist hatte er Maria erreicht. Sie lebte noch; ihr triefendes Haar legte sich wie liebkosend um sein Gesicht; Salvatore aber schrie noch einmal auf und versank – versank, um nie wieder aufzutauchen! Und nun war sie sein. Er trug sie in seine Hütte, er hegte und pflegte sie; er küßte sie auf den blühenden Mund, und sie umschlang ihn zärtlich im Ueberschwange des Dankes …

So träumte er, dem Fahrzeuge nachstarrend. Aber kein Sturm erhob sich von der weiten azurblauen Fläche; der Sturm tobte nur drinnen in seiner pochenden Brust.

Er legte die Hand vor die Angen und schritt dann, tief erschauernd, in die Hütte zurück.

Unterdeß erreichte die Barke einen Punkt, der die größere Hälfte der Südküste in weitem Panorama entrollte, – ein Anblick von unbeschreiblicher Großartigkeit: himmelhoch ragten die lotrecht aufsteigenden Felswände aus den Wassern empor; die schmale Niederung an der Bucht, wo die Hütte stand, war für das Auge verschwunden; eine einzige gigantische Mauer, scharf gezackt, und darüber der blaue Octoberhimmel – so erhob sich das Bild der Insel über den weißlichen Saum der Brandung.

Trotz der Gedanken, die ihn erfüllten, war Salvatore von der Erhabenheit dieses Anblicks erschüttert; seine Phantasie arbeitete unaufhörlich; seine Stimme klang hohl und feierlich, als er nun endlich anhub, von dem zu sprechen, was er der Geliebten eröffnen wollte.

„Zunächst das Leichtere,“ sagte er nachdrücklich. „Du weißt – denn ich sandte Dir oft genug die ‚Gazetta del Regno‘ – daß in Griechenland der Kampf wider die Ungläubigen auf’s Neue entbrannt ist. Gestern erst schifften sich am Uferdamme von Santa Lucia zwanzig vornehme Napoletaner ein, um theilzunehmen an diesem Gott wohlgefälligen Kriege. In der Osteria des Paolo Maddaloni traf ich nun vor einiger Zeit einen Sulioten, der mir besser als irgend sonst wer im Weichbilde Neapels Auskunft ertheilen konnte über Alles, was hier in Betracht kommt. Aus Frankreich, aus Deutschland, ja selbst aus England und Dänemark strömen die jungen Leute herzu, um mit Hand anzulegen bei der Niederwerfung der Heiden. Von Einem besonders erzählte mir der Suliote, von dem Sohne eines nordischen Bauern, der kaum einige Monate Dienste gethan auf einem griechischen Fahrzeuge, und jetzt wie ein Fürst glänzend und herrlich dastehe vor aller Welt; – der unermeßliche Schätze erworben und die Hand einer der reichsten Erbinnen von Korinth. Der Suliote zeigte mir das Bildniß des Mannes, und wie ich’s erblickte, da sagte ich mir: was Der vermag, das gelingt mir im Handumdrehen! Der Suliote – seinen Namen behielt ich nicht, denn er hat zehn oder zwölf Silben – versprach mir, Alles vorzubereiten, damit ich zu Anfang des nächsten Monats mit einigen dreißig Genossen nach einer der griechischen Inseln aufbrechen könnte; er bot mir sogar als eifriger Patriot ein Darlehn an, falls ich Geld brauche zur ersten Ausrüstung. Ich bat mir natürlich Bedenkzeit aus, denn ich wollte erst hören, was Du dazu sagst, – aber das hielt uns nicht ab, einen Plan zu entwerfen, der die unglaublichsten Erfolge verspricht. Ich zweifle nicht, Maria, daß ich binnen weniger Monate mehr erreicht habe, als jener nordische Bauernsohn; daß ich vielleicht schon zu Anfang des neuen Jahres zurückkehre – reich und mit Ruhm bedeckt. Nur der Gedanke, so weit hinweg zu sollen von Deiner Heimath, läßt mich noch schwanken. Was meinst Du, Maria?“

Die Zingarella schüttelte heftig den Kopf.

„Krieg – jenseits des Meeres . . .? Nein, Salvatore: der Einsatz scheint mir zu hoch. Zudem habe ich ein Vorzeichen, das mir abräth, – und Du selber hast mir’s gegeben. Wolltest Du nicht erreichen, was dem nordischen Bauernsohne geglückt ist? Zu den Gewinnen aber, die der erobert hat, gehörte auch die korinthische Erbin, – und wahrlich, das wäre ein schlechter Lohn, daß ich hier in Capri mich abhärmte und Todesangst für Dich litte, während Du, von einer Griechin bethört . . .“

„Zingarella!“ rief der Apulier.

„Ich scherze ja; denn ich weiß: mein Salvatore kann mir nicht treulos werden! Aber ich bleibe dabei: daß Dir die Wendung von der korinthischen Erbin so unterlief, obgleich sie doch gar nicht auf Dich und Deine Verhältnisse paßt, das nehme ich für ein Zeichen der Abmahnung. Ein Krieg mit den Heiden – das wäre zu viel der Umwege! Mag sein, daß Mancher bei dem wüsten Getümmel zu Geld und Gut kommt; aber die Andern, die elend zu Grunde gehen, beraubt und verstümmelt oder gar weggeschleppt in die Sclaverei, die nennt und kennt man nicht!“

„Also Du meinst, ich soll’s dem Sulioten ablehnen?“

„Rundweg!“

Salvatore holte tief und bedächtig Athem.

„So bleibt nur das Andere,“ sagte er; „aber dies Andere, ich weiß es im Voraus, wird Dich noch mehr erschrecken, als der Kampf mit den Türken. – Gleichviel: mein Entschluß ist gefaßt. Ich muß endlich an’s Ziel gelangen!“

„Ist die Sache so schwer und gefahrvoll?“

„Weder schwer noch gefahrvoll – aber so eigenartig, so unerhört . . . Und dann: Schlauheit wird sie schon kosten und große Geduld und Verschwiegenheit. Ja, wenn ich’s recht bedenke, so waltet auch eine Gefahr ob – allerdings nicht so –“

„Sprich nur ganz ohne Umschweife!“ unterbrach ihn Maria. „Wenn Du’s beschlossen hast – so wird’s wohl das Rechte sein.“

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 16, S. 261–264

[261] Salvatore stützte das Kinn auf die Handfläche. Nach einigem Besinnen fragte er langsam:

„Weißt Du, daß unser König und mehr noch sein erster Rathgeber, der hochwürdige Cardinal De Fabris, wüthende Feinde haben?“

„Wer hätte die nicht!“ versetzte Maria. „Was soll’s damit?“

„Nun, ich rede hier nicht von dem, was man gemeinhin so Feinde nennt: Leute, die uns beneiden und hassen und gelegentlich Schaden zufügen. Die freilich hat Jeder, – aber sie bleiben vereinzelt, und meistens stumpft ihre Wuth sich ab, und die eigene Bequemlichkeit hindert sie, uns zu nahe zu treten. Ein Regent aber, der streng am Gesetz hält und keinen Aufruhr duldet oder sonstigen Unfug, der macht sich die Menschen, die von der Gesetzwidrigkeit ihren Vortheil haben, gleich tausendweise zu Gegnern, und diese Feindschaft stumpft sich nicht ab, sondern sie nimmt von Tag zu Tag zu, je länger die Verhältnisse dauern, die den Gegnern verhaßt sind. Siehst Du, da giebt’s in Neapel eine große Partei – sie nennen sich Freiheitsfreunde oder neuerdings Liberale – die behaupten, Seine Eminenz der Cardinal De Fabris unterdrücke das Recht und liefere den Staat und das Volk an die Kirche und an die Vornehmen aus, während der hochwürdige Cardinal doch nur Sorge trägt, daß die Verwaltung der geistlichen Angelegenheiten im Sinne des heiligen Vaters vollzogen werde, und daß Ordnung herrsche im Königreiche Neapel. Diese Partei der Liberalen – anfänglich klein und, wie es schien, leicht durch die Furcht des Kerkers und der Verbannung im Zaum zu halten – wird nachgerade bedrohlich. Sie läßt Flugschriften drucken, die sie unter das Volk vertheilt, und mit großer Beredsamkeit setzen die Liberalen in diesen Flugschriften dem Volk aus einander, daß sie im Rechte seien, und nicht Seine Eminenz; und daß der König, wenn’s ihm darum zu thun wäre, das Heil seines Staates zu fördern, den hochwürdigen Cardinal zurück nach Rom schicken müsse, von wo er gekommen, und Einen aus der Schaar der Liberalen an dessen Stelle setzen. Da ist besonders ein Avvocato beim königlichen Gerichtshof, der sich unter den Schreiern hervorthut, – Antonio Cesari heißt er, ein kluger und äußerst gewandter Mensch, der’s immer so schlau anfängt, daß Keiner ihn fassen kann, zumal er Verbindungen hat bis hinauf in die nächste Umgebung des Königs. Dieser Cesari hat kürzlich das Schlagwort ausgegeben: ‚Fort mit dem Cardinal!‘ Und dabei verleiht er sich so den Anschein, als wolle er das Alles auf gesetzlichem Wege und ohne Eingriff in die Rechte der Krone; weißt Du, so ganz behaglich und sanft, daß Niemand merken soll, wie er doch eigentlich die blanke, offene Rebellion predigt. Nun – daß ich’s kurz mache, die Lage der Dinge erscheint der königlichen Regierung äußerst bedenklich; der Cardinal wird mit jedem Tage verstimmter, und Alle bis herab zu den letzten Beamten haben darunter zu leiden. Es liegt gewitterschwül über Neapel, und Keiner weiß, wo und wann der erste Blitz einschlagen wird.“

Maria hatte ihm staunend zugehört.

„Woher weißt Du das Alles?“ fragte sie jetzt, die Arme unter der Brust kreuzend.

„Von Einem, der mitten darin steht, den ich aber nicht nennen darf, und läge ich gleich auf der Folter.“

„Ein Beamter?“

„Ein Polizei-Beamter. Aber eh’ ich jetzt weiter rede, mußt Du mir einen Eid leisten, daß keine Silbe von dem, was Du hören wirst, Dir je über die Lippen kommt. Auch das hab’ ich ihm zugesagt. Er wollte erst, daß ich nicht nur den Namen, sondern die Sache selbst Dir verschweigen sollte: aber ich machte ihm klar, wie das völlig unmöglich sei; denn – sagte ich – wenn ich im Kerker sitze, und sie weiß nicht, wie’s zugeht, so thut sie sich entweder ein Leids oder sie läßt mich laufen und heirathet ihren Vetter, den verliebten Alberto.“

„Was? Was redest Du?“

„Du wirst Alles begreifen: erst schwöre nur! Das goldene Kreuz da auf Deiner Brust – nimm’s zwischen die Hände und sprich ein Ave, und dann rufe mir San Gennaro zum Zeugen an, daß Du unverbrüchliches Schweigen gelobst!“

Maria that, wie geheißen. Sie athmete lebhafter, als der Apulier nun anhub:

„Also – ein Polizei-Beamter hat mir das Alles klar gemacht und mir einige solcher Flugschriften zu lesen gegeben. Es war in der nämlichen Osteria, wo mir später – acht Tage etwa darnach – der Suliote begegnete. Gerade wie Der, kam auch der Polizei-Beamte so durch Zufall heran, als ich still und mißmuthig über dem Glase saß und immer wieder erwog, wie ich’s betreiben sollte, um endlich ein Stück vorwärts zu kommen. Er setzte sich neben mich, fing ein Gespräch an und bezeigte mir so viel Artigkeit, so viel höfliche Sympathie, daß er mich ganz für sich einnahm. Er bestellte eine Foglietta, und wie er gesprächiger ward, erzählte er von seinen Erlebnissen, von Rom und Bologna, und wie’s ihm gelungen sei, nach mancherlei Schwierigkeiten sich hier in Neapel eine Position zu verschaffen. Er gehört nämlich [262] zur Geheim-Polizei; aber wenn Du ihn siehst, so ahnst Du nicht, was er ist; er schaut aus wie ein Schulprofessor oder sonst was Gelehrtes – auch in der Kleidung. – Ein Wort gab nun das andere. Er ließ mich Blicke thun – ich sag’ Dir, Maria, nie im Leben hab’ ich geahnt, wie verwickelt all’ diese Verhältnisse und Beziehungen sind, und was sich Alles so abspielt unter der Oberfläche!“

„Weiter, weiter!“ drängte die Zingarella. „Was hat das Alles mit dem Kerker zu thun und mit der Möglichkeit, daß Du, Salvatore –?“

„Sehr einfach. Der Beamte setzte mir auseinander, wie das Staatsinteresse – er sagte: das Staatsinteresse – allem Andern voransteht; wie es die Pflicht jedes ehrlichen Bürgers sei, im Sinne dieses Interesses zu wirken und selbst persönliche Opfer zu bringen; ja, wie im Kampf mit den Gegnern der Staatsordnung jede Kriegslist erlaubt sei, wenn nur kein Unschuldiger darüber zu Grunde gehe. Gerade heraus, – die Sache ist die: das Volk – was man das rechte, wirkliche Volk nennt – fängt neuerdings an, zu glauben, die Liberalen seien so übel nicht, und ihre Lehren könnten dem Staate zum Heil dienen. Diesen Irrthum gilt’s zu beseitigen, und da wußte der Polizei-Beamte, der erst kürzlich die Ehre hatte, mit Seiner Eminenz persönlich über die Angelegenheit Rücksprache zu nehmen, nichts Besseres, als eine That, die dem Volke handgreiflich bewiese, daß die ‚Freiheitsfreunde‘ von jeder teuflischen Bosheit erfüllt sind.“

„Ja, wer kann die Leute denn zwingen, eine solche That zu begehen?“

„Die Liberalen? Niemand. Aber es könnte sie Einer doch gleichsam auf Rechnung der Liberalen begehen, – und wenn das Volk dann die Meinung gewänne, die ‚Freiheitsfreunde‘ hätten’s zu Wege gebracht, dann würde sich die beginnende Vorliebe plötzlich in Haß verwandeln.“

„Salvatore! Das wäre ja eine Schlechtigkeit!“

„Das Staatsinteresse hat eine andere Moral, als der bürgerliche Verkehr. Wagst Du die Meinung eines Cardinals der heiligen Kirche zu lästern?“

Er warf ihr einen seiner lodernden Blicke zu.

„Das ist wahr!“ sagte Maria. „Seine Eminenz muß ja wissen . . .“

„Hör’ also weiter! Der Polizei-Beamte gab mir nun zu verstehen, daß er eine geeignete Persönlichkeit für diese That suche. Wenn ich gewillt sei, sie zu begehn – oder doch vorzubereiten, – so etwa, daß er in seiner Eigenschaft als Geheim-Polizist sie unmittelbar vor der Ausführung zu entdecken vermöge, – und wenn ich dann aussagen wollte, ich sei ein Anhänger des Liberalismus, und habe aus Haß gegen die Regierung gehandelt, so wolle mir Seine Eminenz sofort nach meiner Freilassung eine Viertel-Million auszahlen und, wie selbstverständlich, Sorge tragen, daß ich nach wenigen Wochen einer erträglichen Haft begnadigt würde.“

„Begnadigt!“ wiederholte Maria. „Und was soll das für eine That sein?“

Salvatore schaute ihr voll in’s Gesicht.

„Ein bewaffneter Anfall auf Seine Eminenz den Cardinal Monsignore De Fabris!“ versetzte er langsam.

„Was? Die That eines Briganten?“

„Nur der Schein dieser That – und zum Heil der Regierung und aller Napoletaner!“

„Dennoch – es ist unmöglich! Soll zeitlebens auf Deinem Namen der Makel haften, daß Du ein Feind dieser Regierung gewesen, daß Du den Wohlthäter Neapels und der heiligen Kirche hast tödten wollen?“

„Auch dafür ist Sorge getragen! Wenn der Staat erst wieder gefestigt ist, wenn man die unzufriedenen Geister verdrängt hat, und Alles wieder im stillen, ruhigen Geleise geht, dann will Seine Eminenz mit der Wahrheit hervortreten, und mich rechtfertigen – und dann erblüht mir erst recht das Glück und der Ruhm und der Reichthum, denn ganz Neapel wird mir entgegenjauchzen und mich als Retter des Vaterlandes begrüßen, und Monsignore de Fabris kann mir die Viertel-Million, die er aus eignen Mitteln gezahlt hat, aus der Staatscasse verdoppeln und verdreifachen lassen.“

Die Zingarella athmete schwer und bänglich.

„Und glaubst Du, daß jenem Polizei-Beamten zu trauen ist?“ frug sie nach einer Weile.

„Einem Schützling des Cardinals!“

„Vielleicht sagt er nur so!“

Salvatore schüttelte überlegen den Kopf.

„Welchen Zweck sollte das haben? Nein, Maria: der Mann steht zweifellos in Beziehung zu den Spitzen des Gouvernements! Von Grund aus kennt er die Geheimnisse der Regierung, die Absichten Seiner Eminenz, die Verhältnisse der Stadt und des Staates! Das kann er sich doch nicht aus den Fingern saugen!“

„Freilich -!“ sagte Maria.

„Die Sache ist klar,“ fuhr der Apulier fort, „und verantworten vor Gott und seinen Heiligen kann ich sie auch. – Der Cardinal muß doch wissen, was einem Christen erlaubt und was Sünde ist! Seiner Mahnung aber leiste ich Folge, nicht den Lockungen eines Laien, der irren kann!“

Tief nachdenklich blickte Maria in die flimmernden Wellen. Endlich hob sie leuchtenden Auges das schöne Haupt.

„Ich hab’s!“ rief sie lebhaft. „Willst Du’s hören, oder verschmähst Du die Rathschläge Deiner Zingarella?“

„Sprich!“

„Siehst Du, ich sage mir so: kömmt der Plan Deines Beamten vom Cardinal, so ist’s recht und ehrlich, daß Du ihn ausführst, und die Madonna wird Alles zum guten Ende leiten; kömmt er von dem Beamten selbst, und seine Beziehungen zum Cardinal sind erdichtet, so ist das Ganze – so oder so – eine verderbliche Gaukelei, wenn nicht gar eine Falle! Darf ich Dir also rathen, so verlangst Du Beweise – und der beste Beweis wäre ein Wort aus dem Munde des Monsignore De Fabris! Briefe kann Einer schon fälschen, zumal so ein pfiffiger Polizist; führt er Dich aber direct in den Palast Seiner Eminenz, und ihr sprecht so zu Dreien die Angelegenheit durch, dann hast Du alle nöthige Bürgschaft!“

„Gut!“ versetzte Salvatore nach kurzem Besinnen. „Wenn’s Dich beruhigt – das kann ich ja fordern! – Aber nun sag’ mir, süße Maria: falls die Sache nun ihren Verlauf nimmt – wirst Du’s ertragen, daß ich verhaftet, angeklagt und verurtheilt werde? Wirst Du muthig und standhaft sein, bis Alles vorüber ist?“

Maria seufzte.

„Ich muß wohl!“ sagte sie schwermuthsvoll.

„So bleibt’s dabei! Die Sorge um Dich, Maria, war mein einziger Kummer bei dem glorreichen Plane! Nun ich sehe, daß Du vernünftig bist, werd’ ich frisch und freudig an’s Werk gehen. Jetzt aber – fort mit allen Gedanken! Acht Tage nur kann ich bleiben – und die Zeit ist so flüchtig, wenn man der Liebsten in’s Auge schaut!“

Er kauerte auf den Boden der Barke, schmiegte sein Haupt wider Maria’s Knie und sah zu ihr auf.

Sie beugte sich zu ihm nieder und küßte ihn lange und voll glühender Leidenschaft. Dann seine Hände ergreifend, sang sie das alte Lied der Mädchen von Capri:

Quando divento cenere . . .

und verzückt lauschte Salvatore der wonnigen Melodie, deren Klänge, wie die Stimmen verborgner Sirenen, aus der Tiefe des Meers zu quellen schienen.

„Für sie würde ich Größeres wagen!“ murmelte er berauscht vor sich hin . . .

Und wieder senkte sich ihr glühender Mund auf den seinen.




3.

In jenem Theile Neapels, der zwischen der südlichen Hälfte der Via Toledo und der ostwärts aufsteigenden Hügelkette belegen ist, und sich vor allen andern Quartieren der Stadt durch die Enge und Dichtigkeit seines schachbrettartig gekreuzten Straßennetzes auszeichnet, stand um die Zeit unserer Geschichte ein siebenstöckiges Haus, – dergestalt wider die Böschung gelehnt, daß die vierte Etage nach der Bergwand zu als Parterre auf die Straße ging. Obgleich nur von gewöhnlichem Umfang, bildete es eine einzige „Insel“, deren Ostfront durch den schmalen Vico di Balbo begrenzt wurde, während die noch schmäleren Straßen der Nord- und der Südseite direct auf die steile Hügelwand ausmündeten.

Dieses Haus war trotz der massiven Bauart, die es mit vielen andern seiner nächsten Umgebung gemein hatte, eine Höhle des Elends.

[263] Der Eigenthümer, ein reicher sicilianischer Weinhändler, fand seine Rechnung dabei, die acht Wohnungen, die das Gebäude, dem ursprünglichen Plan zufolge, enthielt, in einige dreißig aus einander zu splittern und diese, meist nur aus einem einzigen Zimmer bestehend, an den Auswurf der großstädtischen Bevölkerung zu vermiethen.

Ein Portier, in der verschlagähnlichen Loge neben der Eingangsthür hausend, vereinnahmte allwöchentlich pränumerando die Miethsgelder, welche in ihrer Gesammtheit fast das Dreifache des Normal-Ertrages erreichten. Wer nicht zahlte, der ward am folgenden Tag auf die Straße gesetzt, und das zurückbehaltene Mobiliar, so erbärmlich es sein mochte, bürgte immerhin für den unerheblichen Rückstand. Uebrigens war eine derartige Exmission aus der Mieths-Caserne des Sicilianers seit mehreren Jahren nicht vorgekommen; denn da man die Unerbittlichkeit des Herrn und seines Portiers kannte, und die jedesmal zu erschwingende Summe an sich ja nicht hoch war, so bot man Alles auf, um sich das Geld zu beschaffen, – fünf oder sechs der Insassen durch ehrliche rastlose Arbeit, die Uebrigen auf jedem beliebigen Wege, vornehmlich durch das beliebte Gelegenheitsmittel der napoletanischen Lazzaroni: das Betteln.

Im obersten Stockwerk dieses Gebäudes wohnte seit mehreren Monaten eine Familie, die den übrigen Theilhabern der Etage aus mehr als Einem Gesichtspunkte interessant war.

Der Mann, ein ausgetrockneter Dreißiger von unglaublicher Hagerkeit, sah allerdings, wenn er so auf den Vorsprung des eisenvergitterten Ballons trat, um einen Arm voll Kinderwäsche auf die gestraffte Schnur zu hängen, wie der erste, beste Vagabund von Santa Lucia aus. Er trug dann ein zerrissenes und schmutziges Hemd, eine verschabte, mit Flicken besetzte Manchester-Hose, nur über der einen Schulter mit einem Bindfaden gehalten, – und, wenn’s hoch kam, eine Weste von gleichem Stoff, deren Vorderseite von den hartgewordenen Resten abgetropfter Macaroni-Brühe beinah versteinert erschien. Wenn er jedoch, was täglich um dieselbe Stunde geschah, das Haus verließ, so war er wie umgewandelt. Elegant war seine Erscheinung freilich auch dann nicht: aber es lag doch ein Hauch darüber, der die Proletarier des Miethshauses begreifen ließ, daß Emmanuele Nacosta einer besseren Sphäre entstammte. Sein sonst so wirres und langsträhniges Haar schmiegte sich dann ölgetränkt wider die unebenen Linien des eigenthümlich geformten Kopfes; er trug eine silberne Brille, einen modischen Hut, der bis auf einen verdächtig glänzenden Fettstreifen über der Krempe wohl conservirt war, und ein Costüm, das – man wußte nicht recht weshalb – einen Anflug geistlichen Wesens hatte – so ernst, so ehrbar und so gelehrt schlossen sich die schwarzen Kniehosen um die dunkelfarbigen Strümpfe, und so würdevoll hingen die schweren Rockfalten von den schmalen Hüften herab.

Vergeblich zerbrach man sich im siebenten Stockwerk die Köpfe, was Emmanuele Nacosta eigentlich treibe. Ernstliche Arbeit unmöglich – denn dazu verließ er viel zu spät seine Wohnung; das Metier eines Poverino jedoch, der die Inglesi um kleine Münze anspricht, weil er „vor Hunger sterbe“, ließ sich in diesem Costüm schlechterdings nicht ausüben. Ihn direct zu befragen, hatte Niemand den Muth, denn finster und in sich gekehrt schritt Nacosta an den Leuten vorüber, kaum ihren Gruß erwidernd und allzeit von übler Laune beherrscht.

Soviel war zweifellos, daß der geheimnißvolle Mensch wochenlang in der äußersten Noth gelebt hatte; erst seit Kurzem schien seine traurige Lage sich ein wenig gebessert zu haben: die Frau holte ab und zu ein paar Fische und etwas Obst, einmal sogar ein junges Huhn von den benachbarten Kaufständen, und dem anderthalbjährigen Kind hatte sie jüngst in der Strada dei Miracoli ein neues Gewand gekauft.

Diese Frau, mit Namen Crispina, war in vielen Beziehungen der gerade Gegensatz zu dem Gatten. Klein von Statur, ein wenig beleibt, aber von unglaublicher Lebhaftigkeit, beherrschte sie ihn durchaus. Im Anfang hatte sie ihren gebieterischen Einfluß derart geltend gemacht, daß ihr Mann Ordnung hielt in dem engen, freudlosen Raum und auch sich selbst, trotz aller Verstimmtheit, nicht ungebührlich vernachlässigte. Dann mit einemmal, wie sie gewahrte, daß Emmanuele’s Bemühungen, sich eine Stellung zu schaffen, dauernd erfolglos blieben, war sie gleichgültig geworden; ja, es hatte beinah’ den Anschein, als gewähre es ihr eine herbe Genugthuung, wenn sie den Menschen, der ihr goldne Berge versprochen, so traurig verwahrlost erblickte in seiner zerfetzten, schmierigen Haustracht – ein Bild des Ekels und des Jammers zugleich. Bei Nacosta selbst war es eine ähnliche Indolenz, die ihn, den ehemaligen päpstlichen Steuerbeamten, so kläglich herabwürdigte; nur entsprang sie aus andern Erwägungen. Er glich ein wenig jenen Verzweifelten, die ein Gelübde thun, nicht eher das Haar und den Bart zu scheeren, bis sie einen Verlust wieder eingebracht, eine Scharte ausgewetzt, eine Unbill gerächt haben.

Die Unbill, die Nacosta zu rächen hatte, war allerdings wohl verdient.

Ein Jahr lang hatte er zu Civitavecchia wegen schwerer Veruntreuungen im Bagno gesessen, bis der heilige Vater, aus Anlaß einiger aufsehnerregender Bekehrungen, ihn und eine Reihe andrer Verbrecher begnadigte.

Es hatte eine furchtbare Scene gegeben, als Emmanuele, von Civitavecchia nach Rom zurückkehrend, eben dazu kam, wie seine Gattin Crispina an der Seite eines eleganten Franzosen eine Carrozza bestieg, um nach der Oper zu fahren. Der begnadigte Sträfling, in der Qual seiner Eifersucht, packte den jungen Mann bei der Brust und schien im Begriff, sich über ihn herzuwerfen, wie ein reißendes Thier. Der Energie Crispina’s gelang es, die beiden Gegner zu trennen. Mit einem lächelnden „Auf Wiedersehn!“ wandte sie sich zu dem Franzosen und bat ihn, allein zu fahren; sie wolle sich unterdeß mit dem Wahnsinnigen, der nicht begreife, daß nach Allem, was vorgefallen, keine Gemeinschaft mehr obwalte zwischen ihr und dem Züchtling von Civitavecchia, ein für allemal aus einander setzen.

So erreichte sie mit Emmanuele Nacosta das Haus ihrer Mutter, wo sie seit der Verurtheilung ihres Mannes gewohnt hatte. Die Auseinandersetzung führte jedoch nicht zu dem erwarteten Resultat.

Emmanuele, sonst die Gefügigkeit selbst und fast ihr Sclave, weigerte sich mit kalter Entschlossenheit, die Treulose frei zu geben; und als sie ihm in’s Gesicht lachte und ihm zurief, er sei wohl der Letzte, den sie bei Ausführung ihrer Entschlüsse befragen würde, und nur um den Skandal zu vermeiden, habe sie ihn überhaupt mit nach Hause genommen, – da erinnerte er sie unheimlich rollenden Auges an die Thatsache, daß sie bei dem Verbrechen, für das er gebüßt hatte, seine Mitschuldige gewesen, und daß er ferner nicht schweigen werde, wenn sie ihn um des Fremdlings willen verrathe. Keine Drohung verfing, kein Flehen und keine Vorstellung. Vergebens suchte sie ihm mit ihrer unglaublichen Zungenfertigkeit darzuthun, daß er ohne sie weit bessere Aussichten habe, sich durch die Welt zu schlagen und sich anderwärts eine Heimath zu gründen; vergeblich schwur sie, ihm jeden Tag zu vergällen und ihn zu peinigen bis auf’s Blut, wenn er sie trotz alledem zwinge, ihm ferner anzugehören. Sie liebe ihn nicht; sie habe ihn niemals geliebt; jener französische Kaufmannssohn werde nach wie vor all’ ihre Gedanken ausfüllen. – Emmanuele blieb unerbittlich.

„Das wird sich finden,“ sagte er mit bebender Stimme. „Hab’ ich Dich nur erst wieder ganz in meiner Gewalt, kann ich Dir erst durch die That beweisen, wie es mir Ernst ist mit meiner Absicht, Dich froh und reich und glücklich zu machen, so wirst Du vergessen, was Dich bethört hat, und Du wirst einsehn, wie schmachvoll es war, Den verlassen zu wollen, den Du selber in’s Unglück gebracht hast.“

Kurz, die aufgeregte Crispina mußte sich fügen: es blieb ihr nur die Wahl, zu gehorchen oder nach dem Bagno zu wandern; denn vorläufig hatte der junge Marseiller, wenn die Sache ihm überhaupt mehr war, als eine flüchtige Tändelei, anderthalb Jahre noch in Rom zu verbleiben, daher denn die Entführung, die Crispina als Schlagwort in’s Treffen geschickt hatte, als dritte Möglichkeit nicht in Betracht kam.

Acht Tage später folgte Crispina ihrem Eheherrn nach Livorno. – Dort fand Emmanuele durch einen glücklichen Zufall schon nach kurzer Frist Arbeit, und zwar in den Bureaux eines großen Exportgeschäfts, das namentlich mit der Provence und Catalonien ausgedehnte Beziehungen unterhielt.

Zu Anfang ging Alles gut. Crispina empfand allmählich etwas wie Rührung beim Anblick seiner lustlosen Thätigkeit, die nur für sie und ihr Wohlergehn am Werke zu sein schien. Von wüthender [264] Erbitterung gefoltert, sobald der Gedanke an den Marseiller ihn heimsuchte, vermied Emmanuele mit ängstlicher Sorgfalt auch die leiseste Anspielung. Crispina jedoch nahm diese Zurückhaltung für selbstlose Großmuth, und dieser Irrthum verfehlte nicht seine Wirkung. Sie gewöhnte sich an die Nähe des Mannes, den sie während der ersten Tage nach der Uebersiedlung wirklich gehaßt hatte, und aus der Gewohnheit entspann sich nach und nach eine Art von Regung, die um so mehr Aussicht auf Dauer versprach, als die äußere Situation Emmanuele’s mit jedem Quartal günstiger ward. Ursprünglich in bescheidenster Stellung, rückte er ziemlich rasch auf, nicht nur weil er ein gewandter und tüchtiger Arbeiter war, sondern vielleicht mehr noch mit Rücksicht auf die geradezu frappirende Bescheidenheit und Demuth seines Auftretens, die freilich in erster Linie durch das lastende Schuldbewußtsein und die immer nagende Angst bedingt war, seine Vergangenheit, die er bis dahin mit großer Geschicklichkeit zu bemänteln gewußt, möchte über kurz oder lang an den Tag kommen.

Ganz und gar schien Crispina mit ihrem Schicksal versöhnt, als sie am Schluß des ersten Jahres eine Tochter gebar, die ihrem ungestümen Thätigkeitstrieb eine neue Richtung gab. Die eitle, vergnügungssüchtige Frau ward – wenigstens vorläufig – zur eifrig sorgenden Mutter, die nichts Höheres kannte, als die rastlose Pflege ihres geliebten Kindes; die zum ersten Male seit Jahren zufrieden war mit der Gegenwart, und, so schwer es ihr sonst hielt, ein Unrecht einzugestehn, das Bekenntniß nicht unterdrücken konnte: der Zwang, den Emmanuele an jenem ereignißvollen Nachmittage in Rom auf sie ausgeübt, sei zu ihrem Heile gewesen.

Nacosta erschrak, als sie so ein Ereigniß erwähnte, das er grundsätzlich niemals mit einer Silbe berührt hatte. Das Ignoriren alles Vergangnen war bei ihm zu einer Art von abergläubischer Observanz geworden. Die Rede Crispina’s fiel ihm auf’s Herz, wie ein übles Vorzeichen.

Die nächsten Monate schon gaben ihm Recht. Eines Tages, da er mit einer geschäftlichen Meldung das Cabinet seines Principals betrat, erblickte er in der Fensternische die elegante Gestalt des jungen Marseillers, der ihn augenblicklich erkannte. Bleich und zitternd erledigte Emmanuele die Angelegenheit, die ihn hergeführt. Der Principal war durch anderweitige Interessen zu sehr in Anspruch genommen, um das seltsame Gebahren seines Angestellten einer besondern Aufmerksamkeit zu würdigen. Der Marseiller aber – das fühlte Emmaunele – war seiner Sache nun absolut sicher.

Wie ein Träumender schritt der Unglückliche nach seinem Bureau zurück. Noch am nämlichen Abend empfing er von seinem Chef eine Zuschrift, der das Gehalt für drei Monate in französischen Bankscheinen beilag. Herr Nacosta werde wohl wissen, welche Veranlassung für den Principal obwalte, die bisherigen Beziehungen ohne Weiteres zu lösen. Sollte er, der Chef, beziehungsweise sein Gewährsmann, Monsieur Andre Lacombe aus Marseille, sich wider Erwarten getäuscht haben, so gebe man Herrn Nacosta anheim, den Irrthum aufzuklären, wonach er alsdann die gegenwärtige Zuschrift als nicht geschehen betrachten möge.

Emmanuele war niedergeschmettert. Er wagte natürlich keinerlei Vorstellungen, weder den Hinweis auf die Gnade des heiligen Vaters, die ihm doch wohl dann nicht zu Theil geworden wäre, wenn er sich ihrer völlig unwerth erwiesen, noch die Berufung auf die nahezu anderthalbjährige untadlige Thätigkeit im Dienste der Firma, die ihn jetzt ungehört auf die Straße stieß. Zu einem solchen Versuch fehlte ihm jedes Selbstvertrauen, jeder Funke von Energie. Selbst das Zureden der empörten Crispina, die in der Derbheit ihrer trasteverinischen Sprache den Marseiller ein über’s andere Mal einen ehrlosen Schuft, einen Basilisken, einen giftigen Hund nannte, vermochte ihn aus seiner Erstarrung nicht aufzurütteln.

So beschloß denn Crispina, auf eigne Faust ihr Heil zu versuchen. Sie ließ sich in der Privatwohnung des Principals anmelden. Aber sie ward nicht vorgelassen. Zornentbrannt aus dem Vorzimmer nach der Treppe schreitend, begegnete sie ihrem ehemaligen Anbeter, der in höchster Gala, strahlend von Jugend und Eleganz, zum Diner kam. Sie sprach ihn an; sie ergriff ihn, da er vorüber wollte, beim Arme und überhäufte ihn mit den grimmigsten Vorwürfen. Wie er sich, erst mit Höflichkeit, dann mit Gewalt losmachen wollte, versetzte sie ihm mit dem wüthenden Zuruf: „Feige Canaille!“ einen Schlag in’s Gesicht und stürzte von dannen, – dem Portier in die Arme, der sie mit Gewalt in die Loge zog, minder aus Pflichtgefühl, als in übertriebenem Eifer, den vornehmen jungen Mann zu verpflichten, der hocherglühenden Angesichts oben am Rande der Treppe stand und wiederholt vor sich hinmurmelte: „Ah, l'infecte créature!“ Hatte er sie schon vorher gehaßt – aus verletzter Eitelkeit nämlich, weil er glaubte, sie habe ihn leichtherzig aufgegeben, – so hegte er jetzt einen förmlichen Abscheu vor der brutalen Derbheit dieses Vorstadt-Naturells, das ihn ehedem so entzückt hatte, und mit Genugthuung sah er dem etwas willkürlichen Verfahren des Portiers zu, der alsbald durch sein zehnjähriges Töchterchen einen der städtischen Sbirren herbei holen und die exaltirte Crispina in’s Municipal-Gefängniß abführen ließ.

Am nächsten Tage schon ward sie wieder entlassen, denn der livornesische Kaufmann, ein ängstlicher Herr und der geschworene Feind alles Dessen, was Aufsehen erregt oder die Kritik des Publicums herausfordert, hatte den Marseiller ersucht, die verwegene Angreiferin mit Verachtung zu strafen und von einer weiteren Verfolgung der Sache Abstand zu nehmen. Crispina aber war durch die eine Nacht, die sie hinter den Mauern des Kerkers verlebt hatte, wie in den Grundfesten ihres Wesens erschüttert. Eine dumpfe Wuth, eine Feindseligkeit wider Alles, was nur entfernt wie ein Gegner aussah, beherrschte sie von dieser Stunde an vollständig.

Der fernere Verlauf ihres Schicksals trug dazu bei, die Hartnäckigkeit ihrer Erbitterung zu steigern.

Während der kurzen Frist, die sie noch in Livorno verweilte, kamen ihr allerlei Gerüchte zu Ohren, die ihr das Blut in die Stirn trieben. Das Publicum, den stadtkundigen Zwischenfall in seiner Art commentirend, verwechselte Altes und Neues und erzählte sich so mit mannigfaltigen Ausschmückungen, der Grund jener Entlassung bestehe in der Veruntreuung einer namhaften Summe zum Nachtheil des livornesischen Kaufherrn. Auch Crispina ward auf seltsame Weise in die Affaire gemengt, dergestalt, daß die Hauswirthin, in deren Mansarde das unglückliche Paar sich ein Heim gegründet, die junge Frau eines Tags auf der Treppe ohne Weiteres zur Rede stellte, ihr unter leidenschaftlicher Anrufung Gottes und seiner Heiligen die Versicherung gab, so schmachvoll, wie durch die Ehrlosigkeit der Nacosta’s, sei ihr gut katholisches Haus niemals entweiht worden, und wenn die saubre Familie sofort ausziehe, so wolle sie, die Wirthin, gern auf die zwanzig Tage Miethzins, die seit dem Ersten des Quartals zu bezahlen wären, Verzicht leisten. –

So wenig die leichtsinnige Crispina seiner Zeit Bedenken getragen, als es galt, die Rechte Andrer unter die Füße zu treten, so scharf und so kraftvoll erwies sich ihr Gerechtigkeitssinn hier, wo sie die Beschädigte und Mißhandelte war.

Maßlos in ihrer Erwiderung, drohte sie dem Weibe mit Gift und Dolch, und erklärte ihr schließlich, daß die Nacosta’s viel zu hoch von sich dächten, um auch nur eine Secunde länger als nöthig unter dem Dache einer solchen verleumderischen Bestie zu weilen.

Tags darauf schon verkauften sie das geringe Mobiliar, das sie sich angeschafft hatten, zu einem Drittel des Werthes an einen Trödler, und wenige Stunden später saß die Familie in den Polstern der Diligence, die über Pisa nach der Hauptstadt Toscana’s führte.

Die glückliche Constellation, die es dem Manne ermöglicht hatte, in Livorno trotz der Unzulänglichkeit seiner Papiere eine Stellung zu finden, wollte sich nicht wiederholen. Vier Wochen lang machte Emmanuele alle erdenklichen Anstrengungen, – umsonst. – Zudem herrschte damals in Florenz eine so unnatürliche Ueberfüllung in allen Geschäftszweigen, daß er, selbst auf zureichende Empfehlungen gestützt, nur geringe Aussichten gehabt hätte.

Die Gelegenheit eines Fuhrwerks, das in Ermangelung zahlender Fahrgäste leer nach Ancona zurück wollte, veranlaßte ihn, ebenso plötzlich wie von Livorno sich von der Arno-Stadt zu verabschieden. Nach mehrtägiger Fahrt über den Apennin langte er in Ancona an.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 17, S. 277–279

[277] Emmanuele war nun längst schon entschlossen, jede nur denkbare Position, auch die untergeordnetste und erbärmlichste, anzunehmen, wenn sie ihm nur halbwege die Existenz fristete. Trotz dieser Bescheidenheit seiner Ansprüche blieb der Eifer, mit dem er suchte, auch hier resultatlos. Die mäßige Baarschaft, die er von Livorno her mitgebracht, schmolz bedenklich zusammen, und Tag für Tag mußte er, in die kleine Herberge des Hafenquartiers zurückkehrend, der angstvoll harrenden Crispina die gleiche Nachricht bringen: Nichts – absolut Nichts. Ja, es schien, daß ein Unterkommen für ihn um so schwerer zu finden sei, je mehr er auf der Scala seiner Bewerbung herabstieg. Es erregte Verdacht, daß ein gut gekleideter Mann, dessen ganzes Auftreten eine gewisse Bildung verrieth, sich als Portier oder gar als Hausdiener und Ausläufer anbot. Dazu kam das scharfe, hagere Gesicht mit den unstäten Augen, die sich nachgerade daran gewöhnt hatten, in jeder Nische einen Verräther zu wittern, – und das „Nein“ ergab sich von selbst.

Kurz, zu Anfang der dritten Woche war Emmanuele der Verzweiflung nahe, und nur der Trotz der zornerfüllten Crispina erhielt ihn aufrecht. Sie, die anfangs geneigt gewesen, ihm Vorwürfe zu machen, daß er sie in’s Elend gestürzt, lobte jetzt seinen Eifer, sprach ihm Muth ein und tobte, wenn sie ihrem beklommenen Herzen Luft machen wollte, nicht, wie ehedem, gegen ihn, sondern wider die „niederträchtigen Hundesöhne“ die ihrem guten Emmanuele den Zutritt verweigerten, wider die Reichen und Vornehmen, die im Golde wühlten, während Leute, wie die braven Nacosta’s, am Hungertuch nagten. – Schließlich machte sie ihrem Gatten kein Hehl daraus, wie ihr jetzt, nachdem ihr die Gesellschaft mit so teuflischer Brutalität den Stuhl vor die Thüre gesetzt, jedes Mittel genehm sei, das ihr Genugthuung und Rache gewährleiste.

So ward aus den beiden Menschen, die sich auf dem besten Wege befunden, mit ihrer befleckten Vergangenheit dauernd zu brechen, ein Paar verstockter und verzweifelter Feinde der menschlichen Ordnung, – Abenteurer, die Nichts zu verlieren hatten, und zu jedem Frevel bereit schienen, wenn er Erlösung versprach aus diesem Zustande tiefster Bitterniß und Erniedrigung.

Eines Nachmittags, da er wieder erschöpft von langer fruchtloser Wanderung vor dem kleinen Kaffeehaus Halt machte, das er als Station betrachtete zwischen dem Mittelpunkte der Stadt und seiner entlegenen Herberge, fiel ihm ein Zeitungsblatt in die Hände: das zu Bologna erscheinende „Giornale d’Emilia“. Die letzte Seite enthielt einen ausführlichen Berlcht über die staatlichen und städtischen Zustände von Neapel, insbesondere über die Organisation der politischen Geheimpolizei. Das „Giornale d’Emilia“, streng päpstlich gesinnt, pries die Maßnahmen des Cardinals De Fabris als die vollkommenste Leistung staatsmännischer Gewandtheit und Klugheit, constatirte die schon jetzt zu Tage tretenden Erfolge des furchtlos durchgeführten Systems und fügte hinzu: der beste Beweis für die Popularität solcher Bemühungen bestehe wohl darin, daß der Andrang zu den neu geschaffenen Posten der höheren und niederen Geheimpolizisten gerade unter den Eingeborenen ein außerordentlich starker sei, wenngleich die Regierung bei der augenfälligen Wichtigkeit dieser Aemter und den positiven Eigenschaften, die sie erforderten, nur eine verhaltnißmäßig geringe Zahl der Bewerber berücksichtigen könne.

Alsbald stand der Entschluß Emmanuele’s fest. Er, als früherer Beamter, der mit dem Wesen der Bureaukratie und ihrer Erfordernisse völlig vertraut war, hatte, so schien es ihm, die begründetste Aussicht, in diesem neugeschaffenen Organismus des Monsignore De Fabris anzukommen, zumal der offen bekannte Umstand, daß der heilige Vater ihn, den reuigen Verbrecher, begnadigt hatte, dem Cardinal und seinen Unterbeamten eine Art von Verpflichtung auflegte.

In höchster Aufregung stürzte er nach der Herberge und theilte der jungen Frau mit, was er im Schilde führte. Crispina blieb zwar kühler und skeptischer, als Emmanuele vorausgesetzt hatte; aber da sie begriff, daß eine mäßige Aussicht immerhin besser sei, als die völlige Trostlosigkeit, so willigte sie ohne Verzug ein, und mit dem nächsten Schiffe, das, Foggia anlaufend, nach Brindisi absegelte, verließen sie das verhaßte Ancona.

Zu Anfang Mai langten sie mit der Eilpost, die von Foggia aus über’s Gebirge führte, in Neapel an – gerade noch im Besitze einiger Silberstücke, die da ausreichten, den Miethspreis der engen Dachstube im Hause des wucherischen Weinhändlers für eine Woche pränumerando zu zahlen und die nothwendigsten Lebensmittel zu kaufen.

Alsbald that Emmanuele Nacosta die erforderlichen Schritte, seinen Plan zu verwirklichen.

Der Polizeigeneral des Quartiers, den er um Auskunft anging, wies ihn nach einigem Zögern an einen Secretär Seiner Eminenz, und dieser, von dem inständigen Flehen Emmanuele’s gerührt, brachte ihn zu einer Persönlichkeit, die sich einstweilen nicht nannte, auch nur an drittem Orte Begegnungen zuließ und den Bewerber schließlich einem untergeordneten Mitgliede der [278] Geheimpolizei gleichsam als Volontär zutheilte. Dieser Unterbeamte, Marsucci mit Namen, sollte den Aspiranten durch gelegentliche Verwendung bei geringfügigen Actionen gleichsam einer Vorprüfung unterwerfen und nach Ablauf einiger Monate seinem Vorgesetzten Bericht abstatten. Bis dahin erhielt Emmanuele aus besonderer Vergünstigung fünf römische Paoli wöchentlich – selbst für die damalige Zeit eine lächerlich kleine Summe, die nicht ausreichte, um Salz und Brod zu bestreiten.

Marsucci, der nach kurzer Frist schon bemerkte, daß Nacosta für den neuen Beruf ein ganz eminentes Talent besaß, ward beklommen bei dieser Wahrnehmung, zumal er sich selbst wegen mehrfacher Unpünktlichkeiten eine energische Rüge geholt und einen Collegen, der beim Polizeigeneral des Viertels nicht ganz ohne Einfluß war, persönlich beleidigt hatte. Er witterte in Emmanuele Nacosta den gefährlichen Nebenbuhler, der demnächst ihn ersetzen würde, und so bot er die ganze Kunst der Intrigue auf, den vermeintlichen Rivalen durch hohle Versprechungen hinzuhalten und ihm glaubhaft zu machen, es liege in seinem, Nacosta’s, wohlverstandnen Interesse, die Sache ja nicht zu übereilen, sondern jedenfalls die Herbstsaison abzuwarten, wo die Gelegenheiten, sich auszuzeichnen, häufiger würden.

Emmanuele durchschaute zwar schließlich das verlogene Spiel des Menschen, aber er sah kein Mittel, seine Bestrebungen mit Umgehung Marsucci’s zu fördern. Wenn er es etwa versuchte, im Secretariate des Cardinals sich direct zu beschweren, so konnte Marsucci den rebellischen Neuling ohne Schwierigkeit aus dem Sattel heben. Emmanuele beschloß daher, sich wohl oder übel durchzuschlagen, da Marsucci den bisherigen Zustand zwar noch eine Weile hinausziehen, aber nicht dauernd aufrecht erhalten konnte.

Inzwischen gerieth er mit jedem Tage tiefer in’s Elend. Von den Habseligkeiten, die er mitgebracht hatte, wanderte ein Stück nach dem andern zum Pfandverleiher oder zum Trödler. Zuletzt erübrigte ihm – außer dem Anzuge, der ihm natürlich nicht feil war – nur noch ein goldenes Kreuz mit Amethysten und Perlen, das Crispina von ihrem Pathen zur Firmelung empfangen, und das sie Tag und Nacht wie ein Amulett auf der Brust trug.

Nachgerade waren ihm auch Zweifel erwacht, ob die Carrière des Geheimpolizisten wirklich so lohnend sei, wie er sich vorgestellt. Marsucci – darüber war er sich klar – lebte trotz seiner festen Stellung in sehr beschränkten Verhältnissen, und das Avancement schien gleich Null, denn während der sechsthalb Monate, die er jetzt in Neapel verlebt hatte, war nicht ein Einziger von den Amtsgenossen Marsuccsi’s aufgerückt.

Nicht Marsucci selber hatte ihm dies gesagt – Emmanuele hätte alsdann das Gegentheil für die Wahrheit gehalten – er entnahm es vielmehr den Reden eines ehemaligen Carabiniere, den die Geheimpolizei des Monsignore De Fabris gleichfalls eingereiht hatte.

Es war Princip – so erörterte ihm der Carabiniere – die Subalternpolizisten nur dann avanciren zu lassen, wenn sie entweder eine bestimmte, sehr erkleckliche Anzahl von Jahren gedient, oder durch eine ganz eminente Leistung sich hervorgethan hätten. Zu solchen Leistungen aber bot sich wenig Gelegenheit, zumal das Secretariat des Cardinals einen verzweifelt peinlichen Maßstab anlegte. Die Liberalen, auf die das Ganze gemünzt war, hielten sich während der letzten Monate auffallend ruhig. Seit Anfang Juli hatte man nur zwei- oder dreimal „Entdeckungen“ zu verzeichnen, die halbwegs der Mühe lohnten. Uebrigens meinte der Carabiniere, es sei überraschend, wie consequent in solchen Fällen stets nur der betreffende Polizeigeneral, niemals der Unterbeamte in der „Gazetta del Regno“ namhaft gemacht werde. Er selber wisse davon ein Lied zu pfeifen, denn jüngsthin, bei der letzten Affaire im Ostviertel, sei er selber die Seele der gesammten Operation gewesen. Aber das erfahre man weder im Publicum, noch droben im Secretariate des Cardinals.

So entwickelte sich nach und nach bei Emmanuele Nacosta eine fixe Idee: Wenn er als Geheimpolizist prosperiren sollte, so mußte er die Gelegenheit, sich öffentlich auszuzeichnen, selbst schaffen.

Er theilte seine Gedanken erst schüchtern, dann freier und eingehender seiner Crispina mit, und diese, längst auf dem Standpunkte, jedes Aeußerste blindlings zu wagen, bestärkte sein verwerfliches Vorhaben.

Je mehr die Noth wuchs, um so rücksichtsloser entspann sich das verbrecherische Project; von Tag zu Tag gewann es klarere Umrisse – und als Emmanuele sein letztes Werthstück. das Kreuz Crispina’s, zum Juwelier trug, da geschah es in der deutlich bewußten Absicht, den Erlös in erster Linie für diesen Zweck zu verwenden.

Es galt, einen Menschen zu finden, der geeignet schien, bei der frevelhaften Komödie die Rolle des Opfers zu spielen, und lauernd, wie ein Habicht, der seine Beute erspäht, trieb sich Emmanuele von diesem Tage an überall da herum, wo er unerfahrene, leichtgläubige und phantastische Menschen vermuthete – also vornehmlich an den Verkehrsstätten des niederen Volkes, zumal der Fremdlinge, die aus den Kleinstädten der benachbarten Inseln und der calabrischen Küste herüberkamen.

Schon war die Hälfte jenes Erlöses bei zahlreichen verunglückten Anläufsen in die Tasche der Osterienbesitzer und Austernverkäufer geflossen, als er, fast schon an der Ausführbarkeit seines Planes verzweifelnd, mit Salvatore Padovanino, dem Verlobten der schönen Maria, zusammentraf, und alsbald in dem jungen Manne eine Persönlichkeit witterte, deren extravagante Veranlagung die Möglichkeit eines Erfolges bot.

Emmanuele entdeckte, daß Salvatore fast mit der gleichen Gier, wie er selbst, nach einer Aufbesserung seiner bedrückten Lage, nach einem Schauplatze rang, auf dem er seine Talente bethätigen, seinen unermeßlichen Lebensdurst befriedigen könne. Emmanuele gewahrte ferner, daß er es mit einem glühenden Verehrer des Cardinals, mit einem leidenschaftlichen Gegner der Freiheitsfreunde zu thun hatte, der geneigt schien, alle Mißerfolge, die ihm zu Theil geworden, auf Rechnung dieser Partei zu setzen – völlig im Einklange mit den Erörterungen der amtlichen Journalistik, die gleichfalls jede staatliche und städtische Calamität, jede Stockung des Handels, jede auswärtige Verwickelung der Oppositionspartei in die Schuhe schob.

Ehe noch Emmanuele wußte, wie ihm geschah, war er mit dem leidenschaftlichen Salvatore einig. Bei der letzten Begegnung vor der Abreise des Apuliers nach Capri packte den gewissenlosen Verräther für Augenblicke die Reue; die kindliche Naivetät des verblendeten jungen Mannes, gepaart mit so starrer Entschlossenheit, mit so glühendem Fanatismus, hatte in der That etwas Rührendes. Da bemerkte Emmanuele, als der Apulier aus der Dämmerung der Osteria in’s Freie trat und noch einmal den Blick nach dem Zurückbleibenden wandte, daß die Erscheinung des Jünglings eine gewisse Aehnlichkeit mit der des tödtlich gehaßten Marseillers hatte – und die flüchtige Regung des Mitleids ging unter in der Brandung einer wilden Erbitterung. Er, Emmanuele, war auch unschuldig gewesen, als zu Livorno ihn das Verhängniß ereilte; er hatte ehrlich gearbeitet und war dennoch mit Füßen getreten worden, wie ein räudiger Hund. Mochte es die bürgerliche Gesellschaft nun verantworten, wenn er, dem das Wasser schon bis an die Kehle ging, einen Leidensgefährten von dem rettenden Brette, auf dem nur für Einen Platz war, hinab in die Tiefe stieß.

Zehn Tage später saß Emmanuele, zitternd vor Aufregung, in der Dachstube der traurigen Miethscaserne und besprach in jenem bänglichen Flüstertone, den das Ehepaar sich während der letzten Wochen angewöhnt hatte, die Situation. Das Kind schlief. Crispina hatte auf dem rohen Holztisch am Fenster ein kärgliches Mahl bereitet, das Emmanuele trotz des Hungers, den er empfand, nicht anrührte. Auch sie genoß nur ab und zu einen Bissen; ihr blitzendes Auge heftete sich mit dämonischem Ausdruck auf das hagere Gesicht, das, wie es sich so im gedämpften Gespräche zu ihr hinneigte, von allen Leidenschaften durchwühlt schien. Salvatore hatte nicht Wort gehalten. An dem Platze des Stelldichein, wo Emmanuele ihn gestern in später Abendstunde erwartet hatte, war er nicht eingetroffen: dafür lag jetzt in verstellter Handschrift ein Billet auf dem Tisch, das Emmanuele vor einer Stunde bei dem Besitzer der Weinschenke am Strande von Santa Lucia in Empfang genommen. Das Schreiben lautete:

„Ich bin bereit – sobald der Cardinal mir in persönlicher Begegnung erklärt, daß der Plan seinem Willen entspricht. Glaubt Ihr dies erreichen zu können, so kommt heute um die nämliche Stunde, die wir für gestern vereinbart, an die nämliche Stelle.“

[279] Emmanuele schlug mit der knochigen Faust wie rasend auf das entfaltete Blatt.

„Also auch Das ist über den Haufen gestürzt!“ raunte er keuchend. „Der Bube ist schlauer, als wir ihm zugetraut! Eine Audienz bei dem Cardinal! Was heißt das nun? Hat irgend ein Schuft ihn aufgeklärt, oder verlangt er’s nur der größeren Sicherheit halber? Nun, für uns bleibt die Sache sich gleich. Das Spiel ist verloren, und die schöne Crispina wird sich jetzt anschicken müssen, auf der Gasse zu liegen und Kupfermünzen zu sammeln, wie die Vetteln der Molostraße.“

„Freilich,“ versetzte die Frall nlit einem häßlichen Lachen, „wenn sie so kindisch wäre, wie Du. Bei Gott, ihr Männer seid doch kläglich mit eurer Verzagtheit! Und so kurzsichtig! Wie kannst Du nur zweifeln, was der Brief da bedeutet? Hätte er Lunte gemerkt, so wär’s ihm nicht eingefallen, Dir überhaupt noch zu schreiben. Nein, er hält an der Sache fest – nach wie vor –, und nur, um sich künftig den Lohn zu sichern und ganz gewiß zu sein, daß man ihn nicht übersieht, will er gleich an die rechte Schmiede gehen. Du weißt ja, was Du von dem verwünschten Marsucci zu leiden hast. Der Apulier wittert vielleicht von Deiner Seite ein Gleiches; denn so dumm diese Menschen sind im Großen und Ernsten, so pfiffig spüren sie’s aus, wo ein persönlicher Vortheil in Frage steht. Also geh’ nur getrost hin und sage ihm, das wäre wohl durchzusetzen. Eben Der ist der Rechte – der führt die Sache Dir aus, wie ein Stier, geradezu, ohne nach rechts oder links zu blicken.“

„Aber begreifst Du denn nicht?“ fuhr Emmanuele heraus. „Er verlangt ja doch –“

„Ganz recht. Er verlangt eine Begegnung mit Monsignore De Fabris. Die wirst Du ihm schaffen. Wie die Dinge jetzt liegen, bleibt für uns keine Wahl. Die Zeit ist zu kurz, um auf Neues zu sinnen. Ein Mensch, der für Geld und gute Worte die Rolle des Cardinals übernimmt, wird unschwer zu finden sein.“

„Wie? Du meinst …?“

„Ja, Emmanuele. Ich bin jetzt auf Alles gefaßt, auch auf die Mitwissenschaft eines Dritten. Zudem: was verschlägt’s? Das Wagniß erscheint mir nur mäßig; denn daß der Dritte den Mund hält, das liegt doch ebenso sehr in seinem Interesse, als in dem unsern.“

„In der That – Aber das Geld . . .! Wer schafft uns die Mittel, den Mann zu erkaufen?“

„Das wäre hier noch das Wenigste. Du glaubst nicht, für welche Kleinigkeit dies napoletanische Lumpengesindel den Kopf riskirt! Eine Handvoll Silbergeld wirbt Dir ein Dutzend Banditen, die wochenlang auf ihr Opfer lauern, bis es bei guter Gelegenheit sich dem Stoße darbietet. Aus diesen Puppen suche Dir eine passende für die Figur des Monsignore heraus, und gieb, was Du hast. Es wird allemal genug sein. Weit schwerer als der freundliche Wille findet sich das richtige Können, und theurer als die Leistung des Komödianten wird sein Costüm sein. Ueber alles Dies zerbrich Dir jetzt nicht weiter den Kopf. Diesmal bin ich entschlossen. Ich beschaffe das Geld, das Du brauchst – so oder so –, und wenn ich von Haus zu Haus betteln gehe.“

Emmanuele hatte ihr stauneud zugehört. Von Neuem brachte er Einwände vor. Er hielt die Komödie für unausführbar, weil das lebensgroße Bildniß des Cardinals erst kürzlich im Schaufenster einer der großen Gemäldehandlungen der Via Toledo ausgestellt worden und dem Apulier jedenfalls erinnerlich sei. Crispina widerlegte ihn schlagend. Zwei Tage nur habe das Bildniß zur Schau gestanden; es sei mehr als fraglich, ob der vielbeschäftigte Salvatore dasselbe gesehen habe. Ueberhaupt biete das Antlitz Seiner Eminenz nichts Frappirendes, gleiche vielmehr der Durchschnittsphysiognomie der kleinen wohlgenährten Abbaten, denen man zu Rom wie zu Neapel auf allen Straßen begegne. Da nun Monsignore De Fabris zudem die Gepflogenheit habe, stets nur in geschlossenem Wagen und umringt von einer stattlichen Dragoner-Escorte auszufahren, so sei auch die Annahme von der Hand zu weisen, daß der Apulier ihn jemals in Person zu Gesicht bekommen.

„Verlaß Dich darauf,“ sagte sie schließlich, „er geht Dir kunstgerecht in die Falle. Nur klug und verwegen – das Uebrige findet sich! Inzwischen hallt’ ihn nur warm und geberde Dich, als fändest Du seine Förderung berechtigt!“

Emmanuele Nacosta erhob sich, entzündete eine Kerze und verbrannte den Brief, nachdem er ihn nochmals, Silbe für Silbe, gelesen hatte. Dann warf er sich, so lang wie er war, auf die Bettstatt, schloß die Augen und überließ sich willenlos dem Spiele seiner Gedanken.




4.

Gegen halb neun Uhr Abends verließ Emmanuele das Haus. Er schlug die Richtung nach dem Toledo ein und wandte sich, in dieser Hauptschlagader des großstädtischen Verkehrs angelangt, südwärts nach dem Palazzo Reale.

Die Nacht war sternenklar und von frühlingsähnlicher Milde. Vor allen Kaffee-Häusern saßen die Eis-Esser bis weit in die Straße hinein; Musik erscholl aus den weit geöffneten Fenstern; selbst die Fahrdämme waren von lustwandelnden und plaudernden Menschen erfüllt, sodaß die vereinzelten Fuhrwerke Mühe hatten, sich durchzudrängen.

In die Strada del Gigante einbiegend, gewahrte Emmanuele eine mittelgroße Gestalt, die aus einem der links belegenen Weinhäuser kam und gleich ihm den Weg nach Santa Lucia einschlug.

Es war Marsucci.

Emmanuele wollte den Mann voranschreiten lassen, da er jetzt keine Lust verspürte, von Neuem an all die Enttäuschungen der letzten Monate erinnert zu werden. Der Geheim-Polizist jedoch hatte ihn schon bemerkt. Mit einem seltsamen Lächeln machte er Halt, bis Emmanuele herankam. Von Weitem rief er ihm ein behäbiges: „Felice sera!“ zu, dessen Klangfarbe mit dem, was Emmanuele von dem Menschen gewöhnt war, auffällig contrastirte.

„Wohin?“ fragte er, als ihn Emmanuele erreicht hatte. „Irgend etwas in Arbeit? Wie?“

„Nicht daß ich wüßte,“ versetzte der Andere, ein wenig gepraßt. „Und hätt’ ich’s“ – fügte er nach einer Pause hinzu –, „so weiß ich, daß es Keinen minder erfreuen würde, als Euch.“

„Meint Ihr?“ lachte Marsucci, das rechte Auge zusammenkneifend. „Nun, ich merke, Eins ist Euch klar geworden, daß für Unsereinen wenig zu holen ist. Vielleicht besinnt Ihr Euch noch, und gebt die Carrière auf. Ja, was heißt denn das? Wollt Ihr nicht nach Santa Lucia?“

Emmanuele war, da Marsucci ihm zur Seite geblieben, instinctiv abgebogen und wandte sich jetzt, halb zögerud, in der Richtung eines der dunklen, wenig betretenen Seitengäßchen.

„Ihr habt doch etwas auf dem Korn!“ sagte Marsucci.

„Ueberzeugt Euch vom Gegentheil,“ versetzte Nacosta. „Ich flüchte nur aus dem ewigen Straßenlärm . . .“

„So? Seit wann sind Leute unsres Schlags so nervös? Nun, ich gönn’s Euch, Nacosta! Schade, daß wir während der letzten Wochen etwas gespannt waren. Ich hätte Euch sonst für meinen Posten empfohlen.“

„Für welchen Posten?“

„Für den meinigen, den ich quittirt habe.“

„Ihr? Seit wann?“

„Seit vorgestern.“

„Wie kommt Ihr dazu?“

„O, ich war der Sache schon überdrüssig, bevor ich Euch kennen lernte. Es ist ein Jammer, Nacosta. Tag und Nacht keine Ruhe; immer die Vorgesetzten breit auf dem Halse, und dazu der lumpige Sold – ich danke für das Vergnügen! Zu Anfang – da war ich wie Ihr: ich glaubte, ich stünde jetzt auf der ersten Staffel zum Polizei-General: zwei, drei Entdeckungen, die mir natürlich höchst bequem in den Schooß fallen würden – und die Sache war abgemacht. Jawohl! Wir sind die Füchse, die für Andere die Hühner stehlen, – und wenn’s hoch kommt, läßt man uns den Balg und die Knochen. Ich hab’s satt gekriegt, Signore Nacosta.“

„Ja, und was treibt Ihr denn? Habt Ihr geerbt?“

„Das nicht – aber –“

„Nun? Ihr thut ja geheimnißvoll.“

„O, es ist durchaus kein Geheimniß. Freilich, es wird Euch wohl überraschen; – schließlich indeß – der Mensch will leben – und sonderlich ästimirt sind wir auch so nicht: man heißt uns Spione, wenn man außerordentlich höflich ist.“

„Ihr macht mich neugierig,“ sagte Nacosta spöttisch.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 18, S. 293–296

[293] Jch bin Staatsdiener, wie bisher,“ sprach Marsucci, während ihn Nacosta mit halb neugierigen, halb spöttischen Blicken prüfte, – „nur ganz erheblich besser gestellt, – ich meine im Punkt des Gehalts; – und was die Leistung betrifft, nun, ich kenne kein Vorurtheil, und keinenfalls werde ich sagen können, daß ich mich überarbeite. Ich besitze sogar einen Titel, der ganz pathetisch klingt und manche Leute in größere Erregung versetzt, als wenn Ihr sämmtliche Würden und Titulaturen Seiner Eminenz des Cardinals herzählt. Was meint Ihr, Nacosta, wie sich das anhört: ‚Zweiter Gehülfe des wohllöblichen Nachrichters Seiner großmächtigen Majestät des Königs von Neapel und Sicilien‘ –?“

„Ihr scherzt!“ rief Nacosta zurücktretend. Der tief eingewurzelte Abscheu des Italieners gegen Alles, was nur von ferne mit dem entsetzlichen Amte des Henkers in Beziehungen steht, hielt auch diesen Menschen gebannt, der doch so starknervig war im Planen seines Verbrechens.

„Seid nicht kindisch, Nacosta!“ sagte Marsucci. „Das Geschäft nährt seinen Mann; aller Sorgen bin ich nun ledig; – und was die Redereien der Menschen betrifft, – pah, wer von all diesen Laffen, die sich bekreuzigen, wenn der ‚Verfluchte‘ vorübergeht, schenkt mir auch nur einen schimmligen Blech-Bajocco, wenn ich die Gelegenheit ausschlage und ehrbar weiter hungere? Verkehr mit dieser Sorte hatte ich so wie so nicht, und schließlich, wenn ich am Sonntag nach Piedigrotta hinüberlaufe und der Reihe nach so die Weinschenken abzeche, da sieht doch keine von den hübschen Dirnen mir an, was für ein Gewerbe ich treibe. Die paar Jahre, die man noch jung ist, will man genießen, und geht’s nicht auf geradem Wege, nun so wählt man den krummen. Denkt Euch nur: vierzig Goldgulden als Handgeld hat mir das Schatzmeister-Amt schon gestern bezahlt, während ich, streng genommen, erst von künftigem Monat ab im Dienst der Regierung stehe. Wo in aller Welt findet Ihr eine gleiche Coulanz? Nun, ich hab’s denn auch redlich vor! Nicht umsonst will ich der Popanz sein für sämmtliche alten Weiber Neapels! Die jungen, denk’ ich, sollen mich schadlos halten, und der famose Vesuv-Wein. Ihr werdet Augen machen! Und wißt Ihr, da ich aus Rom bin, und meine Sprache für die Leute hier fremd klingt, so spiel’ ich ab und zu ’mal den vornehmen Herrn – so bei den Engländerinnen, die sich nur ein paar Wochen lang hier herumtreiben und nicht viel in Berührung kommen mit der einheimischen Bevölkerung. Ich hab’ mir das Alles schon ausgemalt. Wir Römer sind so wie so die geborenen Cavaliere im Vergleich mit hier dem Lumpengesindel; ein römischer Bettler nimmt’s mit manchem dieser Principi auf, wenn er in die richtige Jacke gesteckt wird.“

Nacosta merkte wohl, daß Marsucci ein wenig bezecht war; dennoch tauchte ihm alsbald der Gedanke auf, ob er nicht hier schon in dem ehemaligen Geheim-Polizisten den Mann entdeckt habe, den er für sein Project mit Salvatore benöthigte.

Es schlug neun. Er mußte jetzt unbedingt nach dem Orte des Stell-dich-ein. Die Begegnung mit dem Apulier würde nur kurze Zeit beanspruchen; gegen dreiviertel auf Zehn konnte Emmanuele wieder zurück sein, – und bis dahin hatte die Nachtluft den erhitzten Kopf Marsucci’s vielleicht hinlänglich klar gemacht, um ein vorsichtiges Anlegen der ersten Sonde, wenn nicht mehr, zu ermöglichen. Der Haß, den er während der letzten Zeit auf Marsucci geworfen, ging plötzlich unter im Gefühl der Genugthuung über dies unverhoffte Zusammentreffen.

„Ihr habt Recht, Marsucci,“ sagte er lebhaft. „Die Vorurtheile der Narren, die sich uns in den Weg stellen, sind nicht werth, daß man um ihretwillen einen einzigen Paolo unverdient läßt. Ihr müßt mir noch mehr von der Geschichte erzählen, – wie Ihr’s fertig gebracht, und wo Ihr die – Studien gemacht habt, die doch erforderlich sind. Setzt Euch hier an den Ecktisch und nehmt ein Glas Limonade, aber wenn’s Euch recht ist, nichts von Wein oder so. Im Vertrauen: auch ich hab’ Euch Mancherlei zu erzählen, und ich bedarf Eures Rathes. Jetzt, da Ihr nicht mehr eifersüchtig seid auf den schlauen Emmanuele – ja, ja, Ihr seid es gewesen; redet mir, was Ihr wollt! – jetzt können wir Freunde sein, wirkliche Freunde. Eh’ eine Stunde vergeht, bin ich zurück. Ich will’s Euch bekennen: ich hab’ einen wichtigen Gang vor, und er hängt mit der Sache zusammen, die ich Euch mittheilen möchte. Es ist ein ernstes Geschäft, Marsucci, und Geld läßt sich dabei verdienen wie Heu.“

Während Marsucci vor dem nächsten Kaffee-Haus Platz nahm, wandte sich Nacosta mit eiligen Schritten nach dem Gestade von Santa Lucia.

Am südlichen Ende des quadergefügten Uferdammes, der hier in stumpfem Winkel einen kurzen Ausläufer in den Golf hinausschickt, lehnte eine hohe, dunkle Gestalt wider die Brüstung, – regungslos, wie aus Bronze gegossen. Trotz der Spärlichkeit der Beleuchtung – man war außerordentlich sparsam mit den städtischen Oellampen – erkannte Emmanuele sofort den Apulier; so hoch gewachsen war Keiner unter den Schiffsleuten, die sich sonst [294] wohl – etwa in Liebesabenteuern – an dieser einsamen Stelle herumtrieben.

„Endlich!“ murmelte Salvatore, aus seiner Regungslosigkeit auffahrend.

Man merkte jetzt an dem eigenthümlich vibrirenden Klang seiner Stimme, daß er sich zur geduldigen Rast an der Brüstung gewaltsam gezwungen hatte. Emmanuele entnahm ferner die Gewißheit daraus, daß die Begierde des jungen Mannes sich nicht abgekühlt hatte; daß Crispina im Rechte war, wenn sie hinter dem Wunsch des Apuliers, vom Cardinale gleichsam persönlich autorisirt zu werden, keinerlei Falsch gewahrte, – weder ein maskirtes Verlangen, von der Sache zurückzutreten, noch ein bedenken-erregendes Mißtrauen, sondern lediglich jene Vorsicht, die jeden Zoll des Terrains prüft, um nachher den Sprung über den Abgrund mit um so kühnerer Entschlossenheit zu bewerkstelligen.

„Ich konnte nicht früher,“ sagte der Polizei-Aspirant, dem Apulier die Hand reichend. „Gute Freunde hielten mich auf, und allzu große Eiligkeit hätte Verdacht erregt. Uebrigens – da wir jetzt mitten im Gewebe unserer Verschwörung stecken: Vorsicht ist die Mutter der Weisheit! Der Teufel könnte doch einen luchsäugigen Burschen des Wegs daher führen, der uns beisammen sähe und den malerischen Contrast zwischen Euch und mir seinem Gedächtniß einprägte. Ihr seid ein auffallend schöner Mann, Salvatore, und ich, in meiner knochigen Hagerkeit, bin auffallend häßlich. – Ja, Ihr glaubt nicht, was manche Menschen elnpfänglich sind für die Aufbewahrung solcher effectvollen Eindrücke. Ich könnt’ Euch ein Beispiel erzählen – wie ein Schurke mich wiedererkannt hat, der mich ein einziges Mal – aus nächster Nähe freilich – Sprechen wir nicht davon! Durch solche Erfahrungen wird man gewitzigt.“

Er hatte einen künstlichen Bart aus der Tasche gezogen, den er jetzt mit zwei geschickten Griffen befestigte.

„So! Nun dürfte mir mein eigner Vater begegnen ... Kommt, wir können getrost in der Richtung der Chiaja ein wenig auf- und niederspazieren. Das Ufer von Chiatamone ist wenig belebt, und so zwischen den beiden schroff gethürmten Castellen wandeln wir gleichsam auf symbolischen Wegen. Die Stimmung, guter Freund, die Stimmung thut außerordentlich viel! Ihr müßt Euch frühzeitig mit dem Gedanken vertraut machen, daß Ihr demnächst hinter den Mauern von Pizzo Falcone Quartier nehmen werdet – als Staatsverbrecher – und wenn die Sache auch nur drei oder vier Monate währt, und Monsignore De Fabris Euch jede Erleichterung verschafft, die mit dem Aufenthalte im Staatsgefängniß vereinbar ist – ungemütlich wird Euch die Quarantäne schon werden. Ueberhaupt – wenn Ihr auch nur entfernt an Eurer Fähigkeit zweifelt, die Rolle so durchzuführen wie sie gespielt werden muß, dann besinnt Euch, Signore! Seiner Eminenz ist natürlich mit einer Komödie, die schließlich durch die Schwäche des Haupt-Acteurs in die Brüche geht, nicht gedient.“

„Was ich auf mich nehme, will ich schon durchführen,“ murmelte Salvatore. „Zuvor aber – meinen Brief habt Ihr gelesen – Ihr wißt also –?“

„Vollkommen,“ unterbrach ihn der Andre. „Ich weiß, daß Ihr die Aengstlichkeit in Person, daß Ihr ein Mensch seid, der es Schwarz auf Weiß haben will, daß er geboren ist! Gleichviel! Ich habe zwar, wie Ihr begreifen werdet, in der kurzen Zeit keine Gelegenheit gehabt, den Monsignore von Eurem Verlangen in Kenntniß zu setzen; Seine Eminenz jedoch ist ein so leutseliger Herr ... Ich zweifle keine Secunde, daß er Eurem Wunsche entsprechen wird.“

Salvatore athmete heftiger, – nicht nur im Ueberschwang der Freude über die nunmehr erlangte Gewißheit, daß Alles in Ordnung sei, sondern auch im Hochgefühl über die Aussicht, dem ersten Beamten des Königreichs gegenüber zu treten, seine Stimme zu hören, ja, in Gemeinschaft mit ihm eine That zu erörtern, die er jetzt mehr als je für die preiswürdige Handlung eines wahrhaften Patrioten hielt.

„Ihr glaubt im Ernste, Signore?“ fragte er zaghaft.

„Ich möchte meinen Kopf dafür einsetzen. Natürlich, ob Monsignore in den nächsten Tagen schon Zeit finden wird, das kann ich bei der Unmasse von Geschäften, die ihn fortwährend in Anspruch nehmen, unmöglich voraussagen. Morgen in aller Frühe wende ich mich an’s Secretariat mit der Bitte um eine Audienz. O, ich gelte etwas bei dem General-Secretär, – und dann: Seine Eminenz weiß ja, um was es sich handelt! Das ist nicht so, als petitionirte der Erste, Beste um Vorlassung, – obgleich Seine Eminenz, wie gesagt, auch gegen Unbekannte voll Gnade und Huld ist.“

„Ja, ja, ich weiß,“ murmelte der Apulier. „Man rühmt seine Güte, seine Herablassung. Jüngst noch sah ich mit eigenen Augen ...“

Emmanuele blieb stehen.

„Was saht Ihr?“ fragte er lauernd.

„Seine Eminenz – oder richtiger: die Gefolgschaft Seiner Eminenz, denn der Cardinal selber saß im geschlossenen Wagen –; die beiden Lakaien aber, die hinten auf dem Sprungbrett der Equipage standen, streuten die ganze Chiaja entlang Geld unter das Volk, sodaß die Lazzaroni sich in unentwirrbarem Knäuel rechts und links über einander balgten und bei all’ dem Stoßen und Ringen unaufhörllch: ‚Es lebe seine Eminenz!‘ schrieen.“

„Ja, ja, ich kenne das,“ versetzte Nacosta; „und Seine Eminenz ließ bei diesem Jubelgeschrei die Glasscheibe hernieder und dankte dem Volk und hob die Rechte zum Segnen? Ihr habt dies milde, freundliche Antlitz bewundert, die dunklen Augen mit den buschigen Brauen, die dem Ganzen trotz der freundlichen Milde etwas Kräftiges, ich möchte sagen: Martialisches leihen ...?“

Salvatore verneinte.

„Dicht genug drängte ich mich heran,“ fuhr er nach einer Pause fort, „aber Monsignore blieb unsichtbar, und ein Muschelhändler, der mir zur Seite stand, erklärte, das sei die Regel.“

Emmanuele hatte diese Antwort vorausgesehn und deshalb in die begeisterte Schilderung, die er entwarf, mehr von der Physiognomie Marsucci's als von der Seiner Eminenz gewoben. Wie er so im Gedächtniß die beiden Köpfe verglich, meinte er, es könne nicht schwer halten, mit einiger Kunst sogar thatsächlich eine gewisse Aehnlichkeit herzustellen. Das runde, volle Gesicht Marsucci’s hatte, wenn er bei Laune war, etwas Behäbiges, Wohlwollendes; auf den martialischen Ausdruck der Stirn und der Augen hatte Nacosta den Apulier jetzt vorbereitet, und auch hier ließ ein Zuviel sich beseitigen. Proben seiner Verstellungskunst hatte Marsucci zum Leidwesen Emmanuele’s während der letzten Monate ausreichend abgelegt: wenn der Mensch also einwilligte, so lag kein Hinderniß vor.

Die beiden Männer betraten die Villa Reale und wandten sich, durch die nächste Oeffnung der Brustwehr schreitend, an’s Meeresufer, da die Spaziergänger unter den Bäumen der Villa wieder zahlreicher wurden.

„Ich bin gekommen,“ sagte Nacosta, „nicht allein um Euch mitzutheilen, daß Eurem Wunsch Nichts im Wege steht – sondern auch, um noch einmal Euch klar zu machen, wie schwer die Aufgabe ist, die Ihr Euch vorgesetzt. Es ist ja richtig, die Summe, die Monsignore uns zusichert, ist kolossal, und das Bewußtsein, dem Valerlande einen rühmlichen Dienst zu leisten, lockt Euch vielleicht noch entschiedener. Aber, aber, Signore, ich wiederhol’ es Euch: es ist ein hartes Stück Arbeit! Ich will jetzt die Entbehrungen, die Ihr Euch auferlegt, die lange Hast hinter den Mauern von Pizzo Falcone, die üble Meinung der Patrioten, die Euch bedrücken und kränken muß, nicht weiter erörtern; Eins aber macht mich noch in zwölfter Stunde bedenklich! Werdet Ihr die Kraft und die Ruhe besitzen, all die Phasen Eures Processes zu überstehen, die hundertfachen Verhöre, bei denen Ihr Nichts aussagen dürft, als was wir demnächst vereinbaren werden, die Verurtheilung, die natürlich seitens der Richter vollkommen ernst gemeint ist, und schließlich die Hinausführung nach dem Platze der Erecution, bis zu dem letzten Augenblicke, in welchem die Begnadigung eintrifft . . . ? Habt Ihr Euch das Alles kaltblütig überlegt?“

Der Apulier blickte gedankenvoll in die verschäumende Brandung. Der heuchlerische Nacosta hatte ihn vortrefflich berechnet. Bei der Veranlagung Salvatore’s gab es kein sichreres Mittel, ihn im Geleise zu halten und seine Absichten zu befestigen, als wenn man Bedenken äußerte und ihn scheinbar zurückdrängen wollte.

„Signore,“ sagte der junge Mann, „sobald ich die unzweifelhafte Gewißheit erlangt habe, daß der Cardinal unsere Pläne genehmigt, sobald bin ich zum Aeußersten fähig – darauf könnt Ihr die Hostie nehmen! Die Komödie freilich mit dem [295] Hinausführen nach dem Executionsplatze, die möchte ich mir, so gern ich auch die unerträglichsten Opfer bringe, erspart wissen! Dergleichen läßt sich kaum wieder auslöschen, – selbst durch die Gnade nicht und die spätre Enthüllung.“

„Nun, davon reden wir noch! Wenn ich nicht irre, so war Seine Eminenz der Ansicht, gerade die Scene auf dem Schaffot werde von entscheidendem Eindruck auf die Bevölkerung sein! Bedenkt, Signore: die Begnadigung im letzten Moment! Man wird sagen: der König hat sich geweigert, aber der Cardinal hat nicht abgelassen, um Nachsicht zu flehn, – um Nachsicht für seinen Todfeind; – der König schien unerbittlich: der Cardinal jedoch, in der Milde seines väterlichen Herzens, hat über die Strenge des Monarchen gesiegt, da schon die Göttin der Gerechtigkeit ihr dräuendes Schwert zückte! – In Wahrheit natürlich trägt Monsignore De Fabris das Begnadigungsdecret bereits in der Tasche, ehe noch der Tag der Execution festgesetzt wird.“

Salvatore schien heftig zu kämpfen. Endlich sprach er mit schweren Seufzer:

„Ich werde den Cardinal bitten, mir’s zu erlassen. Hält jedoch Monsignore De Fabris die Sache für unumgänglich – wohlan ...“

„Bravo!“ fiel ihm Nacosta stürmisch in’s Wort. „Aber ich wußt’ es, daß Ihr ein Held seid!“

Eine teuflische Genugthuung blitzte dem Verräther aus den stechenden Augen; – und doch, wie jetzt der bleiche Glanz des aufgehenden Mondes auf sein Gesicht fiel, da lag ein starrer, geisterhafter Ausdruck über den hageren Zügen, – etwas wie das Entsetzen vor sich selber und dem eignen grausenhaften Erfolge. ...

Salvatore hätte die sonderbare Verzerrtheit dieses blutlosen Mundes, das Spiel der Wimpern, das nervöse Vibriren des Kinns bemerken müssen, wäre er nicht völlig beherrscht gewesen von den Wallungen seiner ungeheuren Erregung.

Mit der Gluth eines Delirirenden malte er sich die Schrecknisse wie die Wonnen der Zukunft.

Die schlüsselklirrenden Kerkermeister von Pizzo Falcone, die bajonettblitzenden Schildwachen, die scharlachrot gekleideten Henkersknechte zogen, von leuchtendem Dunste umwirbelt, wie ein Heer von Gespenstern an seinem Auge vorüber, – und nickten ihm zu und drehten sich in satanischem Taumel.

Dann folgte im Prunk eines Märchenkönigs der allmächtige Cardinal, umringt von gold- und purpurstrotzenden Herolden, die unermeßliche Schätze trugen und Lorbeerkränze für Salvatore Padovanino, den Retter des Vaterlandes.

Zuletzt, in einer Wolke von Engeln, schwebte das holde Mädchen von Capri durch den Azur, die schöne Maria; – von himmlischer Glorie umfluthet, stieg sie zu ihm hernieder; ihre blühenden Arme schlangen sich zärtlich um seinen Nacken; sie küßte ihn und hauchte voll Seligkeit: „Dir dank’ ich’s, wenn sich die Engel Gottes dienend an meine Füße schmiegen!“

Salvatore träumte. Die fessellose Einbildungskraft, die seinen Geist so fortriß in ihrem rauschenden Flug, hatte ihm alle Sinne verwirrt. Vor seinen Augen schwamm es, wie ein Chaos von Licht und Glanz; in seinen Ohren ertönten wilde, lockende Melodien; er rang nach Athem. Hätte ihn Emmanuele nicht bei der Schulter gepackt, er wäre vielleicht kopfüber in die brandende Fluth gestürzt.

„Bei Sant’ Onofrio, Signore Padovanino, was habt Ihr?“ raunte der Polizei-Aspirant erschreckt. „Kommt Ihr vom Zechgelage, oder ist’s die Angst, die Euch schüttelt?“

„Nicht doch!“ wehrte der Andere. „Es überkam mich – laßt nur! – Ihr seht ja, es ist vorüber!“

„Ich will hoffen,“ sagte Emmanuele, „daß Ihr Euch besser in der Gewalt habt, wenn die Sache nun Ernst wird.“

„Seid unbesorgt! Bin ich erst richtig am Werk, so wahr’ ich mein kaltes Blut“

„Das thut uns Beiden auch Noth. Sonst wär’s Euer Verderben und meins. – Da schlägt die Glocke! ... Schon dreiviertel auf Zehn. Ich muß jetzt fort, Kamerad. Hört nun, was ich Euch vorschlage! Euch aufzusuchen in Eurer Wohnung – das halte ich für zu gewagt; Briefe aber, die mehr enthalten, als ein unverständliches Wort, sind in solchen Dingen erst recht bedenklich. Ich schreibe Euch also nur drei, vier Worte – meinetwegen mit Giovanna oder Margherita unterzeichnet – sagen wir: Margherita – und dann wißt Ihr, daß Ihr am Abend des Tages, an welchem Ihr diese Zeilen erhaltet, jenseits des großen Tunnels bei den ersten Häusern von Fuorigrotta auf mich warten sollt, Punkt neun Uhr wie heute. – Ich schreibe natürlich erst dann, wenn ich bestimmte Nachricht vom Cardinal habe. Laßt Euch nicht irre machen, wenn Ihr da zu lesen bekommt: ‚Tausend Grüße und Küsse. Margherita‘ – oder sonst eine Albernheit. Ich treibe die Vorsicht jetzt bis auf’s Aeußerste; man soll dem Zettel, falls er in unrechte Hände kommt, nicht ’mal ansehen, daß Ihr bestellt seid. Und Ihr – das bitt’ ich Euch noch –, wenn Ihr mir etwas zu melden habt, bedient Euch des gleichen Mittels. Meine Adresse könnt Ihr nun wissen: Vico Balbi, Numero siebzehn, im siebenten Stockwerk. Nur zwei Silben! Ich leiste dann gleichfalls noch am nämlichen Abend Folge! Die Osteria aber, wo wir uns kennen gelernt, müßt Ihr vermeiden. Der Wirth, der uns beisammen gesehen hat – und wenn’s auch nur in der Dämmerung seiner Spelunke war – darf sich Eure Physiognomie nicht einprägen. Man kann nicht wissen, wo und wie ’mal der Satan solch einen unbequemen Zeugen beim Schopfe nimmt. Also: die Sache ist abgemacht – und auf baldiges Wiedersehen!“

Mit erkünstelter Biederkeit schüttelte er dem Apulier die Rechte und wandte sich dann zurück nach dem Ufer von Chiatamone, während sich Salvatore noch fast eine Stunde lang in traumähnlicher Versunkenheit unter den Steineichen der Villa Reale umhertrieb.

Emmanuele traf, bei dem Kaffeehaus anlangend, den ehemaligen Geheimpolizisten Marsucci in die Lectüre der amtlichen Zeitung vertieft. Das Blatt enthielt, unter andern Merkwürdigkeiten, auf der zweiten Seite einen längeren Aufsatz über die ‚Freiheitsfreunde‘ – ganz im Stile jenes Artikels des „Giornale d’Emilia“, der Nacosta’s Uebersiedelung nach Neapel veranlaßt hatte.

„Nun?“ fragte Nacosta, neben dem ‚zweiten Gehülfen des wohllöblichen Nachrichters‘ Platz nehmend. „Ihr setzt ja eine heillos spöttische Miene auf. Was habt Ihr da Interessantes?“

„Eine Litanei über die Großthaten unsrer Polizeigenerale. Man muß dem Publicum von Zeit zu Zeit solche Brosamen hinwerfen, sonst verliert’s die Geduld und das fromme Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Sicherheitsbehörde, – zumal ihrer geheimen Abtheilungen. Man weiß genau, daß die Geheimpolizei trotz der schlechten Bezahlung ihrer unteren Organe ein riesiges Geld verschlingt, – und für die weggeworfnen Millionen will der getreue Unterthan doch hier und da die Spur eines Resultates gewahren. Uebrigens – was die Zeitungsschreiber, wenn’s Noth thut, Alles herauskriegen, das ist wirklich bewundernswerth. Da, les’t selber, Nacosta. Die Reise des Advocaten Cesari nach Capri wird hier bereits zum revolutionären Ereigniß gestempelt. Er soll – hier steht’s wörtlich – mit den Agenten einer ausländischen Regierung allerlei räthselhafte Zusammenkünfte gehabt haben, und – ‚was diese Beziehungen zwischen der Oppositionspartei und dem Auslande zu bedeuten haben, das brauchen wir der Feinfühligkeit unsrer Leser nicht klarzulegem. Signore Cesari, eines der schlauesten und vorsichtigsten, aber deshalb vielleicht gefährlichsten Mitglieder der sogenannten ‚Amici della libertà‘, hat allerdings bis zur Stunde dem Gesetz keinerlei Handhabe geboten; wenn sich indeß bewahrheitet, was wir an dieser Stelle nur andeuten können, so dürfte sich das Secretariat Seiner Eminenz in Kürze mit der Frage befassen müssen, in wie weit die politischen Umtriebe des Signore Cesari mit den Forderungen der öffentlichen Ruhe und Sicherheit und mit der Wohlfahrt des Staates in Einklang zu bringen sind.‘ – Schön gesagt! Das klingt so, als wäre etwas – doch hütet der Mann sich wohl, etwas Greifbares zu behaupten, was dann späterhin widerlegt werden könnte. Da – und hier weiter unten – da wird nun im Allgemeinen über die Pläne der Umsturzpartei verhandelt, sodaß Jeder die Sache auf Cesari beziehen muß – und doch stellt’s die ‚Gazzetta‘ so pfiffig an ... Wahrhaftig, dieser Cesari beginnt mich zu interessiren! Das muß ein ganz verteufelter Bursche sein, daß die Leute so viel Aufhebens von ihm machen!“

„Möglich,“ sagte Nacosta zerstreut. „Sprecht, Marsucci, seid Ihr wieder vollständig klar im Kopfe? Ich meine, habt Ihr Lust und Stimmung dazu, etwas Ernstliches zu bereden? Vorhin wart Ihr so eigenthümlich vergnügt.“

[296] „Mein Gott, die zwei Foglietten, die ich geleert habe! Das war so für Augenblicke! Jetzt bin ich ganz und gar Euer Mann. Merkt Ihr denn nicht, daß ich’s heraus habe, was Ihr im Schilde führt? Ich meine, die Serie: die Nummer natürlich muß ich von Euch erfahren. Ein gewagter und niederträchtiger Streich ist’s – und Ihr wollt meine Mithülfe. Nicht wahr, das hab’ ich getroffen? Und glaubt Ihr denn, ich würde so frei von der Leber reden – ich als königlicher Beamter – wenn ich nicht wüßte, daß Ihr mich nöthig habt? Ich will Euch nur Muth machen, Signore Nacosta, – und nun schießt los, denn wir sitzen hier so schön abseits, und der alte Esel da drüben bei seinem Sorbetto ist stocktaub und dazu ein Grieche, der kann Italienisch kaum.“

Emmanuele war über den Scharfblick, den Marsucci bekundete, nicht wenig verblüfft.

„Die reine Wahrsagerei!“ lachte er, den Kellnerburschen heranwinkend.

Er bestellte sich einen Granita und wollte eben im verstohlensten Flüsterton anheben, als Marsucci ihm die Rede vom Munde nahm.

„Vor Allem Eins: wirft die Affaire ein gehöriges Stück Geld ab? Ich bin jetzt gut situirt: unter zweitausend Paoli riskire ich Nichts! Habe ich doch, solang’ ich Geheimpolizist war, all die kleinen Profite, die sich mir darboten, grundsätzlich von der Hand gewiesen! Denn – sagte ich mir – kommt’s heraus, so bricht Dir das Kleine ebenso sicher den Hals, wie das Große; das Kleine lohnt sich nur dann, wenn man’s in Masse betreibt: mit jedem einzelnen Fall aber wächst die Gefahr. – Nun, ich seh’ es Euch an: es ist ein Hauptcoup, der Euch das dürre Gesicht so in’s Breite zieht! Ihr müßt Euch besser beherrschen, Nacosta, sonst glückt’s nicht. Ja, ja, ich weiß, was Ihr sagen wollt: nur mir gegenüber seid Ihr so offenherherzig! Schön! Jetzt erzählt!“

Und Emmanuele erzählte, – schüchtern erst und in halben Andeutungen, dann aber mit cynischer Breite. Rückhaltslos entrollte er den teuflischen Plan, der den unglücklichen Salvatore Padovanino auf das Blutgerüst liefern sollte. –

Marsucci hatte anfangs den Sprecher hier und da unterbrochen. Allgemach ward er stiller. Als Nacosta geendet hatte, ergriff er die Tasse, leerte sie feierlich bis auf den letzten Tropfen, stellte sie auf die Schale zurück und murmelte, sich den Bart wischend:

„Gut! Aber nun weiter! Wir hätten also den armen Gimpel glücklich auf dem Schaffot ...“

„Ich verstehe Euch nicht,“ sagte Nacosta.

„Ja, zum Teufel, wie wollt Ihr’s nun anfangen, daß im letzten Moment ...“

„Ja, was meint Ihr denn? Der letzte Moment ist doch kolossal einfach!“

Er machte mit der flachen Hand eine bezeichnende Geberde.

„Donnerwetter! Daran dachte ich nicht! Bis hierher war die Sache ja gut geplant – spaßhaft sogar – aber nun –“

„Bedenkt, wir machen Halbpart! Zweifelt Ihr an der Freigebigkeit des Monsignore De Fabris? Wer Seiner Eminenz das Leben rettet, der hat doch gewiß den nämlichen Anspruch auf Dank, wie damals der Fischer von Ischia, der ihm den Einen lumpigen Brief zustellte! Ich weiß nicht genau mehr die Ziffer, aber es waren viele Tausende, die er auszahlen ließ – und damals handelte es sich um Angelegenheiten des Staates! Wenn’s aber die eigene werthe Person betrifft, dann schlägt das Herz doch wohl um einige Grade erregter, und der Dankende beugt sich tiefer über die Geldsäcke.“

„Das ist wahr, aber trotzdem – die Sache geht mir wider den Strich.“

„Seid nicht kindisch, Marsucci!“ raunte Nacosta. „Sterben müssen wir Alle, und wenn’s denn doch einmal sein muß, so wüßte ich mir, bei meiner Ehre, nichts Besseres, als so unversehens hinweg geblasen zu werden, noch bis zuletzt von der schönsten Hoffnung erfüllt, eine Zukunft des Liebesglücks, des Reichthums und des Ruhms vor den Augen ... Ihr glaubt gar nicht, was dieser Mensch für eine geistige Kraft besitzt, am Unmöglichsten festzuhalten und sich den schwärzesten Himmel mit Gestirnen zu schmücken. Der geht dahin, wie Einer, der im schwersten Rausch über Bord stürzt: eh’ er noch weiß, daß ihm die Wellen über den Kopf schlagen, ist Alles vorüber. Wahrhaftig, Euer Mitleid könnt Ihr da sparen.“

„Das stimmt,“ sagte Marsucci. „Nun, ich sage nicht Nein. Für jetzt kommt mir die Sache, weiß Gott der Allmächtige, ein wenig zu plötzlich. Ich muß das Alles erst rund kriegen. Wann sehn wir uns wieder?“

„Je eher, je besser.“

„Gut. Sagen wir: morgen. Aber nicht hier, wo doch möglicher Weise ’mal ein Gast in der Nähe sitzt, der nicht taub ist und nicht von Geburt ein Grieche. Ich dächte, um sechs Uhr, auf dem Weg nach dem Cimeterio, rechts bei dem Brunnen der vierzehn Oelbäume.“

„Ich werde zur Stelle sein. Ueberlegt Euch indeß nicht nur, ob Ihr’s versuchen wollt, sondern auch ein bischen das Wie, – den Ort, die Zeit und all die sonstigen Einzelheiten! Die Sache ist einfach, aber sie erfordert Umsicht im Vorbereiten. Für gar zu kindisch dürfen wir den Apulier nicht nehmen.“

Die Beiden erhoben sich und trennten sich dann. Marsucci begab sich nach kurzer Wanderung über die benachbarten Quais nach einem glänzend erleuchteten Tanzlocal, wo er einige von den empfangenen Goldstücken toll verjubelte, während Emmanuele Nacosta die Stiegen zu seiner armseligen Wohnung erklomm und seine Crispina von der günstigen Wendung der Angelegenheit in Kenntniß setzte.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 19, S. 309–312
[309]
5.

Das Marktschiff hatte um zwei Uhr Nachmittags die Marina von Capri verlassen und steuerte jetzt mitten im Golfe, – die Kielspitze auf die ferne schimmernden Uferlinien gerichtet, die sich vom Leuchtthurme des Molo in der Richtung von Portici hinziehn. Klar und sonnig lag das unvergleichliche Panorama Neapels vor den Augen der Meerfahrer; ein leichter Wind belebte die azurblaue Fluth und drängte die glänzende Rauchwolke des Vesuv seitwärts, sodaß sie aussah wie eine sturmgebeugte phantastische Pinie.

Zuvorderst auf Deck saßen zwei junge Mädchen, beide in Gedanken versunken und dennoch völlig verschieden im Ausdruck ihrer traumverlornen Gesichter. Die Eine war Maria, die allbewunderte Zingarella; die Andere Giulietta, bei deren Mutter Signore Cesari, der napoletanische Rechtsgelehrte, Wohnung genommen.

Maria schwankte im Ausdruck ihres schönen Gesichtes zwischen freudiger Unruhe und banger Niedergeschlagenheit. Von Zeit zu Zeit grub sich ihr zwischen den Brauen die charakteristische Falte ein, die auf ernstes, alle sonstigen Gedanken verschlingendes Grübeln hinwies. Für die Herrlichkeiten der Gegenwart, für die leuchtende Scenerie des unvergleichlichen Golfes hatte sie kaum einen Blick.

Giulietta inzwischen, sonst die Fröhlichkeit selbst, schien weich und wehmüthig; ihre Augen schimmerten feucht, – und wie sie jetzt nach Capri zurückschaute, stahl sich ihr unter den Wimpern eine rollende Thräne hervor. Trotz dieser Wehmuth machte das Mädchen den Eindruck ruhiger Klarheit und Harmonie; man sah ihr an: was ihr diese Thränen entlockte, war kein herzbewegender Sturm, sondern das mildere Gefühl einer Trauer, die sich verwinden läßt, sobald die Seele sich ernstlich zum Entschlusse ermannt. Ihr hübsches Gesichtchen, sonst unbedeutend, ward durch diese Empfindungen gleichsam geadelt. Und wer nun das Lächeln gewahrte, das ihr nach jenem flüchtigen Aufwallen des Gemüths um den kleinen, rosigen Mund spielte, der mußte sich sagen: Diese Giulietta weiß, was sie will; und mehr noch: was sie will, das ist gut. –

Eine Stunde war vorüber gegangen, ohne daß die Mädchen von einander Notiz genommen. Maria, die später als Giulietta an Bord kam, hatte die ehemalige Gespielin mit jener Zerstreutheit gegrüßt, die Giulietta bereits an ihr kannte, und dann, ihr schräg gegenüber, auf einer roh gezimmerten Holzkiste Platz genommen. Wäre Giulietta auch weniger mit sich selbst beschäftigt gewesen, – schon Maria’s Verschlossenheit würde sie vom Versuch einer Unterhaltung abgeschreckt haben.

Gleichwohl gab sie der Zingarella freundlich Bescheid, als diese nun aufstand und vor sie hintrat mit der plötzlichen Frage:

„Hast Du Geschäfte in Napoli?“

Unvermittelt, hastig und schroff klangen die Worte; sie schienen der Ausfluß des ungestümen Verlangens, so rasch als möglich aus dem Banne der eigenen Gedanken hinauszuflüchten, aus dem Taumel der Träumereien, die ihr Herz pochen und ihr Gehirn schwindeln machten.

„Wenn Du willst, ja,“ versetzte Giulietta. „Du weißt doch, daß mein Bruder jetzt in Salerno zur Schule kommt. Das heißt: nicht, was man so alltäglich unter ‚Schule‘ versteht, wo sie das Alphabet lernen und die Zahlen; das kann er ja längst; sondern allerlei Wissenschaft und die Sprache der Kirche ...“

„Ja wohl, das weiß ich. Ganz Capri hat darüber gestaunt. Was mich betrifft, so freut’s mich von Herzen, daß Euch der Alessandro so einschlägt. Als er damals den Arm brach und schlecht geheilt wurde, da meinten Alle, es sei nun aus mit dem rechten Erwerb; aber ich dachte mir gleich: der Herr Pfarrer versteht sich besser darauf, wenn er sagt, der Junge sei klugen Kopfes, und nicht jeder Sohn eines Fischers brauche Fischer zu werden.“

„Nicht wahr?“

„Aber was soll’s nun mit Deiner Fahrt nach Neapel? Der Weg nach Salerno führt doch über Sorrent.“

„Nach Salerno geh’ ich auch nicht, obwohl’s der Mutter und mir eine rechte Beruhigung gewesen wäre, wenn ich gerade dort was gefunden hätte.“

„Gefunden! Wie so?“

„Ja, verstehst Du denn nicht ...? Die Schule, wo Latein gelehrt wird, kostet ein furchtbares Geld, und da meinte die Mutter, sie könne das Haus mit den Fremden allein besorgen. Ich muß verdienen, Maria, sonst reicht’s nicht aus, – und schon seit Juli haben wir Umschau gehalten. Zuerst in Salerno. Da war Alles besetzt, oder was sich darbot, war so kläglich bezahlt, daß der Ertrag für mich selber nicht zugelangt hätte. Dann in der Hauptstadt. Da hat’s auch Mühe gekostet. Jetzt endlich hat der Agent uns Nachricht gegeben, – ganz plötzlich und da die Stelle mir paßt ...“

„Also ein Dienst ...?“ fragte Maria.

„Im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘, – Strada del Molo,“ gab Giulietta zurück. „Als Cameriera hab’ ich vom Padrone [310] soviel, wie ich brauche; dazu kommen die Extragelder ... Ja, Zingarella, zum Vergnügen thät’ ich das auch nicht, denn ich liebe die Freiheit wie Du: – aber der liebe Junge geht vor, das ist nun nicht anders, – und wenn die Schwester nicht mal soviel drangeben will für den Bruder, dann wär’s ja mit der Menschheit ein Jammer!“

„Du treue Seele!“ sagte Maria gerührt. „Freilich, wenn der Junge den Arm nicht gebrauchen kann, so ist’s ja wohl Eure Schuldigkeit, daß Ihr seht, wie er weiter kommt.“

„Natürlich! Davon redet man gar nicht! Zudem, Du hast keine Ahnung, wie freudig man sich ius Unleidlichste findet, wenn man sich sagen darf: Es ist zum Besten Derer, die man im Herzen trägt. Siehst Du, anfangs, wenn ich mir vorstellte: so im Gasthaus – jedem Hansnarren, der die Klingel zieht, Rede stehn, und dann für die kleine Münze, die abfällt, schönen Dank sagen, wie die Bettelkinder am Hafen – das war mir schrecklich! Nun aber bin ich schon dran gewöhnt, noch eh’ ich Einzug gehalten, – und ich sage mir: das ist ehrliche Arbeit, so gut wie daheim! Aber nun laß doch hören, Maria – da wir doch mal in’s Plaudern gerathen – was führt denn Dich über den Golf? Du siehst recht darnach ais, als wär’s etwas Großes – so ernst und gedankenvoll! Freilich, Du triffst den Apulier, und das reicht ja schon aus, um Dir den Athem zu nehmen!“

Die Falte zwischen den Brauen Maria’s vertiefte sich. Ein wenig unsicher gab sie der Gespielin Antwort auf ihre Frage.

„Mein Verlobter,“ sagte sie, „hat mir letzthin geschrieben, es sei wahrscheinlich, daß er zu Ende des Monats einen Posten in Frosinone erhielte. Eh’ es dann soweit ist, daß wir heirathen, vergeht wohl der Winter, und da verlangt’s ihn, mich noch einmal zu sehn vor der Abreise.“

„Weßhalb kommt er denn nicht nach Capri?“

„Er war ja vor Kurzem erst da – und jetzt hat er Allerlei vor ... Uebrigens, ob das mit Frosinone was wird, das liegt noch sehr in der Schwebe. Du brauchst’s nicht aller Welt zu erzählen! Hörst Du, Giulietta?“

„Wie werd’ ich denn! Im ‚Goldnen Kreuz‘ bekomm ich so wie so nur Fremde zu sehn! Und wo steigst Du denn ab?“

„Im ‚Leon Bianco‘ an der Via de’ Preti.“

„Wo ist das?“

„An der Grenze des Ostviertels. Ein bescheidnes Albergo, – aber das ‚Goldne Kreuz‘ übersteigt noch vorläufig unsere Verhältnisse.“

Die königliche Stadt mit ihren fünf Castellen rückte näher und näher. Ischia und Procida verschwanden hinter der Spitze des Posilippo. Noch zehn Minuten, und die Anker rasselten über Bord.

Die Zingarella hatte jetzt für Giulietta nur einen letzten flüchtigen Gruß. Am Uferdamme gewahrte sie die hohe Gestalt des Apuliers, schön und gebietend wie je, bleich, aber deshalb nur um so hinreißender. Er winkte ihr zu; er sprang voll Ungeduld in die Barke, die jetzt gerade vom Strand stieß, – unbekümmert um den Widerspruch der beiden zerlumpten Schiffer, die sich auf die Hafenordnung beriefen. Beim Herabsteigen half er seiner Verlobten mit der Ritterlichkeit eines vornehmen Cavaliers, küßte ihr schweigend die Hand und führte sie, als die Barke gelandet war, zu dem Einspänner, den er gemiethet hatte.

Beide kümmerten sich keine Secunde lang um Giulietta, die als eine der Letzten in das menschenüberfüllte Ruderboot sprang, leicht und geschmeidig, wie eine Gazelle, und dann am Ufer zehn Minuten lang mit dem Facchino feilschte, der ihr Gepäck nach dem ‚Goldnen Kreuz‘ bringen sollte.

Das Corricolo setzte sich in Bewegung. Die Zingarella, die seit mehreren Jahren den Strand ihrer heimathlichen Insel nicht verlassen hatte, starrte sprachlos in das bunte Gewühl der prächtigen Uferstraße, in dieses Chaos von rollenden Fuhrwerken und hastenden Menschen. Wie von Dank erfüllt, drückte sie ihrem Salvatore die Hand; es war ihr, als bedeute das ungewohnte Corricolo den Siegeswagen, auf dem der Geliebte sie hinausführen würde an das glorreiche Ziel seiner Pläne. Von sich selbst aus begehrte sie eigentlich Nichts, als die Gemeinschaft mit ihm: so groß jedoch war die Macht, die Salvatore über ihr ganzes Fühlen und Wollen ausübte, daß sie nachgerade mit seinen Augen ins Leben sah und sich für die ungestüme Rastlosigkeit eines Strebens begeisterte, dessen Beweggründe ihr unverständlich und fremd blieben.

Nach einer Weile bog das Corricolo ab. Man durchkreuzte einige Gassen und Gäßchen, und dann den unregelmäßigen freien Platz vor einem altersgrauen Palast, an dessen gothischem Thorweg eine glänzende Equipage hielt.

„Der Palazzo Seiner Eminenz,“ flüsterte Salvatore. „In den Polstern dieser Kalesche ruht sich’s noch etwas bequemer als auf den harten Kissen unseres Corricolo. Kommt Zeit, kommt Rath! Bis dahin aber wollt’ ich meiner Herzallerliebsten doch einen Vorschmack geben von den Genüssen der Gransignori. Traurig genug, daß die Braut Salvatore Padovanino’s in der verstaubten Höhle des ‚Leon Bianco‘ Logis nimmt, anstatt in einem der großen Gasthäuser von Santa Lucia; da hab’ ich’s denn zum wenigsten eingerichtet, daß die wonnige Zingarella nicht zu Fuß gehen mußte!“

Und behaglich aufathmend legte er sich zurück wider die Lehne. Wie allen Südländern, galt ihm das Fahren als der Inbegriff einer wahrhaft lucullischen Lebensführung.

Im „Weißen Löwen“ fand Maria ein besseres Unterkommen, als sie gehofft hatte. Die Padrona zollte der auffälligen Schönheit des jungen Paares unwillkürlich ihren Tribut. Das kleine Zimmer war freilich kahl, die zerbröckelnden Fliesen des Fußbodens hauchten eine kellerartige Dumpfheit aus, und der Kalk an den Wänden splitterte: aber das Ganze war für napoletanische Verhältnisse doch reinlich und ordentlich, und der Imbiß, den die Beiden im Wirthszimmer einnahmen, stand dem nicht nach, was Maria in der Heimath gewöhnt war.

Während sie aßen, ward nur von gleichgültigen Dingen geredet. Salvatore, dem der Verräther Nacosta immer und immer wieder die peinlichste Vorsicht empfohlen, hatte sich das Gelübde geleistet, von Dem, was er mit Maria zu reden hatte, nicht eher anzufangen, bis er sie hinausgeführt hätte auf die einsame Landstraße zwischen Fuorigrotta und Bauli. Hier in Neapel, wo jede Wand ein Spion war, fühlte er sich gedrückt und beängstigt.

Die Villen des Posilipp glänzten im Abendlicht, als die beiden Verliebten über die Chiaja schritten. Arm in Arm betraten sie den schwärzlichen Tunnel – für Maria ein Gegenstand unbehaglich-öder Empfindungen. Das klappernde Geräusch der Wagen und Fußgänger, das in betäubender Dumpfheit an den Felswölbungen widerhallte, wirkte beklemmend; sie schmiegte sich fester an Salvatore, der sich gleichfalls eines sonderbaren Gefühls nicht zu erwehren vermochte. Immer gruft-ähnlicher ward die finstere Umgebung; die vereinzelten Oellampen blendeten, aber erhellten nicht; die vorüberkommenden Menschen sahen aus wie die Schatten von Abgeschiedenen. Da Maria nach einer Weile sich umkehrte, lag der Eingang ebenso wie der Ausgang als ein weißlich blitzender Punkt in unabsehbarer Ferne.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

„Wenn die schmale Oeffnung sich schlösse!“ flüsterte sie. „Wenn der Berg über uns zusammenstürzte!“

Und wie sie das sprach und ihr schönes Haupt zärtlich an die Schulter ihres Geliebten schmiegte, da blieb es unentschieden, ob sie mehr an die Felsmassen des Posilipp oder mehr an den Plan dachte, dessen finstere Irrwege sie mit Salvatore durchwandern sollte. Eine unsägliche Bangigkeit überkam sie, ein heimliches Schaudern, das nicht eher wieder nachließ, bis sie im wachsenden Felsspalt die Häuser von Fuorigrotta erblickte.

Die weite Ebene jenseits des Bergrückens lag bereits im Schatten der ersten Dämmerung, als das Paar die Landstraße nach Bauli betrat. Rechts und links in den Weizen- und Maisfeldern, wo sich die Reben nach alt-römischer Weise von Baum zu Baum rankten, herrschte das tiefste Schweigen. Die ganze langgestreckte Chaussee hinab gewahrte man kein lebendes Wesen. So machten sie nach einigen hundert Schritten Rast auf der Böschung, dicht am Stamm eines der mächtigen Ahornbäume, die hier eine Stunde weit die schönste Allee der campanischen Landschaft bilden, und begannen ihre Besprechung, aller sonstigen Gewohnheit zum Trotz, mit schmerzlichen Seufzern.

Salvatore, von der Stimmung der Zingarella beeinflußt, hatte in dem dumpfigen Tunnel gleichsam einen Vorgeschmack jener Tage und Wochen bekommen, die er auf Pizzo Falcone verbringen würde, und als er sich sagen mußte, daß im Verließ dieser Veste ihm kein so reizendes Haupt an der Schulter lehnen und keine zärtliche [311] Hand die seine ergreifen würde, da verlor er auf Augenblicke die Lust und den Muth, – und die Schattenseiten der so leuchtend gemalten Idee traten zum ersten Mal deutlich in sein Bewußtsein. Auch Maria hatte sich noch nicht völlig erholt. Der Gedanke der Trennung, die Aussicht auf die bevorstehenden Kämpfe und ein leiser Zweifel an dem Gelingen – das Alles kam jetzt zusammen.

Sie bezwang ihre Anwandelungen zuerst. Mit beiden Armen den Geliebten umschlingend, bat sie ihn um genaue Mittheilung alles Dessen, was der Polizei-Aspirant mit ihm geplant hatte.

Salvatore erzählte es ihr der Wahrheit gemäß. Nur den Namen des Mitverschwornen enthielt er ihr vor: er nannte ihn Carlo Grisi. Der Polizei-Aspirant hatte dem leichtbethörten Apulier die dauernde Nothwendigkeit dieser Täuschung glaubhaft gemacht. Gesetzt, man verhöre Maria, so sei es unter allen Umständen besser, wenn der Name Nacosta, der natürlich sofort bei den Verhandlungen genannt werden würde, ihr thatsächlich unbekannt sei. Das erleichtere ihr die Rolle der Unbefangnen.

Maria lauschte mit verhaltenem Athem. Daß Monsignore De Fabris in die verlangte Audienz gewilligt und sich bereit erklärt hatte, das verwegne Project mit Salvatore und dem Polizei-Aspiranten bis in’s Einzelne durchzusprechen – das gab für die Zingarella den Ausschlag. Nun war es ja zweifellos, daß ihr Geliebter nicht nur klug, sondern auch ehrlich und als wackrer Patriot, als gut katholischer Christ handelte! Seine Eminenz selber gab ihm so zu sagen die Weihe – und den Segen, der den Erfolg verbürgte!

„Nun aber noch Eins,“ flüsterte Salvatore, nachdem er seine Erzählung beendet hatte. „Was ich jetzt noch zu sagen habe, das ist – neben der Sehnsucht, Dich noch einmal in die Arme zu schließen – der Hauptgrund, weshalb ich Dein Kommen wünschte. Schreiben konnte und mochte ich’s nicht, weil das Gefahr bringt. Höre also, und versprich mir, daß Du gehorchen willst! Es ist unumgänglich, Maria, daß Du sofort nach Bekanntwerden meines Angriffs auf Monsignore De Fabris die größte Entrüstung zur Schau trägst; denn die Aussichten des Erfolgs – so sagte mir der Polizei-Aspirant – müssen gehäuft werden, und nicht eifrig genug können wir Sorge tragen, daß man das Attentat wirklich für das hält, für was wir es ausgeben. Die Partei der ‚Freiheitsfreunde‘ ist so wie so gleich mit Verdächtigungen zur Hand. Früher schon, vor neun oder zehn Jahren, als ein ähnlicher Fall sich ereignete – das heißt: ein echter, nicht ein gemachter – haben sie ohne Weitres behauptet, die Regierung habe das Attentat sich bestellt. So wird man auch diesmal jede leiseste Möglichkeit aufgreifen, um das Nämliche in Umlauf zu setzen, und deshalb, Maria, muß Alles geleistet werden, was die Echtheit unsrer Komödie wahrscheinlich macht. Da meine ich denn – so hart mir’s ankömmt – es gäbe kaum ein glaubhafteres Mittel, als wenn Du sofort nach empfangner Kunde scheinbar unsere Beziehungen lösest!“

Angstvoll blickte sie zu ihm auf.

„Ich ...?“ stammelte sie mit bebender Lippe. „Ich soll ...?“

„Ja, Maria! Auch mir widerstrebt es, – aber bedenke doch! Hältst Du der Welt gegenüber nach wie vor an mir fest, so kömmst Du, ohne es zu wollen, zuletzt auf den Standpunkt, das Attentat entschuldigen oder gar billigen zu müssen. Von diesem nachträglichen Gutheißen bis zur Mitwissenschaft ist in den pfiffigen Köpfen der Untersuchungsrichter kein weiter Schritt. Auch wär’s doch natürlich, wenn ich im Ernst ein solches Verbrechen beginge, daß Du Dich lossagtest ...“

„Niemals!“ rief Maria voll Leidenschaft. „Was auch geschähe, ich würde Dich lieben – lieben bis in den Tod.“

Sie warf sich an seine Brust.

„Diese Liebe wird Dir die Kraft geben,“ hub er nach einer Pause wiederum an, „das durchzuführen, was ich verlange. Zingarella, Du Holde, Du Einzige – was kümmert Dich das jammervolle Gerede der Welt? Selbst während Du Dich scheinbar von mir gelöst hast, werden unsere Herzen stündlich Zwiesprache halten; Du umschwebst mich im Traum; Du bist mein, wie ich Dein bin! – Aber Du mußt Dich fügen. Sieh’, Maria: und wenn Du nur das Eine erreichst: daß die Polizei Dich mit Fragen verschont! – Du glaubst nicht, wie’s die Leute verstehn, ihren Opfern die Seele aus der Tiefe der Brust zu holen! Ich werde nicht ruhig sein im Kerker von Pizzo Falcone, wenn Du nicht schwörst –“

„Was Du willst!“ sagte sie seufzend.

Nun entwarf er ihr, den Weisungen Emmanuele Nacosta’s folgend, einen Verhaltungsplan.

Sie versprach, ihn gewissenhaft durchzuführen; sie sagte zu Allem Ja; mehr als je befand sie sich unter dem Bann dieses räthselhaften, unwiderstehlich-machtvollen Menschen.

Plötzlich erhob er sich.

„Komm, es ist dunkel geworden!“ sprach er und bot ihr die Hand, um sie emporzurichten. „Bist Du müde?“

„Müde? Bei Dir?“

„So nehmen wir den Weg am Gestade entlang. Der Durchbruch unter dem Bergrücken ist mir zuwider. Jede Stunde der Freiheit muß ich jetzt auskosten! Vielleicht noch in dieser Woche ...“

„Laß doch!“ wehrte sie zärtlich. „Die Sache ist durchgesprochen – nun vergiß, was leider Gottes unabänderlich ist! Fort mit all’ den trüben Gedanken! Plaudern wir lieber von dem, was darnach kömmt! Wenn wir nun Alles erlangt haben, was Du Dir vorgesetzt – wohin wirst Du mich führen? Capri – so lieb ich’s habe – ist ein Gefängniß für Dich: der Adler kann nicht unter den Sperlingen horsten. Neapel – das fühl’ ich im Voraus – wird mir verhaßt sein, tödtlich verhaßt. Ich weiß nicht, warum; aber es ist so. Wohin also?“

Nun erging sich Salvatore Padovanino in den wildesten Phantasmen; sein beweglicher Geist erbaute die unerhörtesten Luftschlösser; Ein goldener Traum entspann sich lebensvoll aus dem andern. Die unmöglichste Welt rollte sich vor den begeisterten Blicken der Lauscherin aus: sie schweiften durch die Märchengelände Utopiens ...

Endlich, da schon die Lichter der Chiaja über den Golf blinkten, machten sie Halt. Das ferne Geräusch der unermeßlichen Stadt schleuderte sie aus den Himmeln ihrer Verzückung.

„Maria,“ rief der Apulier, „wenn wir so hätten fortwandern dürfen! Wie eine stürzende Bergwand scheint sich die Zukunft über mich herzuwälzen! Morgen schon muß ich Dich lassen – und Tags darauf diese Begegnung!“

„Sei nicht thöricht!“ bat sie mit erkünstelter Leichtblütigkeit. „Fürchtet sich mein Salvatore vor dem Antlitz des Cardinals, – vor den Goldgemächern seines Palastes? Und wär’s der König, Du dürftest ihm aufrecht entgegentreten: denn Du bist hoheitsvoll und herrlich wie er!“

„Für Dich, Du Süße! – Uebrigens – was die Goldgemächer betrifft – ich vergaß, Dir’s zu sagen, aber mich wundert’s, daß Du nicht von selber auf die Idee kommst! Sieh’ mal, – wie kann ich den Monsignore in seinem Palast besuchen, wo Dutzende von Bedienten, Kammerherren und Wachen mein Erscheinen bemerken würden? Carlo Grisi hat dies besser erwogen! Seine Eminenz giebt mir an drittem Orte ein Stell-dich-ein, – drunten auf Santa Lucia im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘.“

„Im ‚Goldnen Kreuz‘?“ wiederholte Maria. Dann ward sie schweigsam. Ein plötzlich erwachter Gedanke schien sie lebhaft in Anspruch zu nehmen.

„Was hast Du?^ frug der Apulier.

„Ich erwog, ob es nicht dennoch möglich gewesen wäre, Dich im Palast zu empfangen. Indeß, Du magst Recht haben. Jetzt aber – nicht wahr, Geliebter? – kein Wort mehr! Hier links auf der Steile kommen die ersten Landhäuser.“

Rascher als zuvor schritten die Zwei nun bergab.

In den Anlagen der Villa Reale spielte die Militärmusik. Eine bunte, lebensfrohe Gesellschaft wimmelte unter den Lorbeerbäumen und Steineichen.

Bis gegen elf Uhr führte Salvatore sein Mädchen auf und nieder an der Brüstung des Strandes; dann bestiegen sie, von plötzlicher Uebermüdung ergriffen, ein Fuhrwerk und erreichten den ‚Leon Bianco‘, als der Pförtner eben das Thor schloß. Ein letzter Kuß – und Maria stieg die Treppe hinan, während sich Salvatore vor das nächste Kaffeehaus setzte und noch bis Mitternacht dem Ungestüm seiner Gedanken nachgab.

Der folgende Tag war für das liebende Paar zauberisch.

Sie speisten zusammen auf der Veranda eines vornehmen Restaurants; das letzte Goldstück mochte vergeudet werden: es kam ja nun die Zeit der Entbehrung! – Und wie plauderten sie von [312] Diesem und Dem, von der ersten Zeit ihrer Liebe, von den Zweifeln der Hoffnung und der Seligkeit des Erringens. Salvatore, gestern beinahe ein Dämon, schien heute ein Kind, – harmlos, an jedem Sonnenstrahle sich freuend, ganz erfüllt von dem Zauber der Gegenwart.

Eine Fahrt im Golfe beschloß den Rausch dieses Nachmittags.

Gegen fünf Uhr ging das Marktschiff nach Capri. Die Zingarella jedoch hatte ihrem Verlobten erklärt, sie werde zu Wagen über Sorrent reisen, dort bei einer Verwandten zu Nacht bleiben und am folgenden Morgen in der Barke nach Capri fahren. –

Salvatore war überrascht, daß Maria in Sorrent eine Verwandte besaß; er hatte niemals davon gehört. Da er indeß keinen Grund hatte, die Wahrheit ihrer Angabe zu bezweifeln, so freute er sich, daß er noch eine Stunde länger ihre Gesellschaft genießen konnte; denn der Messageriewagen nach Sorrent ging erst um sechs.

Im Bureau der Messagerie angelangt, wollte er für seine Braut das Billet nehmen; sie aber kam ihm zuvor, bat ihn, ihr beim Händler jenseits der Straße einige Früchte zu kaufen, und erstand ihre Fahrkarte, ehe noch Salvatore zurückkam. Sie verbarg das Billet in der Tasche: die Aufschrift lautete nicht ‚Neapel–Sorrent‘, sondern ‚Neapel–Resina‘; Resina aber war die nächste Station.

Maria stieg ein; der Messageriewagen setzte sich in Bewegung.

Als der Apulier sich gegen halb neun Uhr nach Fuorigrotta begab, wo Emmanuele Nacosta ihn zu einer letzten Besprechung erwartete, da ahnte er nicht, daß seine Braut, um bei den Reisegenossen keinen Verdacht zu erregen, allerdings mit bis Resina gefahren war, jetzt aber sich bereits wieder auf dem Rückwege nach Neapel befand. …

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 20, S. 325–330
[325]
6.

Die Zingarella begab sich sofort nach dem „Leon Bianco“. Der überraschten Padrona trug sie ein Märchen vor; übrigens waren der feisten, schläfrigen Dame die Beweggründe Maria’s ja ziemlich gleichgültig. Das Mädchen wußte sich den eigenthümlichen Drang ihres Herzens vielleicht selber nicht zu erklären. War es ein Rest von Mißtrauen in die Person jenes geheimnißvollen Polizei-Aspiranten? Setzte sie Zweifel in die redliche Absicht des Cardinals? Oder machte sich überhaupt eine unerwartete Klarheit geltend, ein lichter Moment gleichsam in dem wahnwitzigen Rausch ihrer Verblendung? Das war schwer zu entscheiden. Vielleicht sogar entsprang ihre Absicht nur einer heftigen Neugier.

Am folgenden Tag, als es noch dämmerte, machte die Zingarella sich auf den Weg nach dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“. Um diese Zeit schlief noch Alles, mit Ausnahme des niederen Dienstpersonals; es war also Aussicht vorhanden, die kleine Giulietta ungestört sprechen zu können.

Im Thorweg traf Maria einen Facchino, der mit dem Besen aus Spartgras die großen Basaltplatten kehrte. Sie fragte nach Giulietta Barrili, die vor Kurzem hier in Dienste getreten.

„Ach, die …?“ versetzte der Knecht. „Die hat das dritte Geschoß. Soll ich was ausrichten?“

„Wenn’s angeht, möchte ich selbst mit ihr reden. Wollt Ihr sie rufen, oder soll ich hinaufgehn?“

„Wie’s Euch genehm ist. Ihr trefft sie um diese Zeit in der Weißzeug-Kammer, – rechts am Ende des langen Corridors; da sortirt sie und flickt sie. Besser ist’s schon, Ihr bemüht Euch hinauf, denn die Haushälterin kann jeden Augenblick vom Frühstück herauskommen, und Die ist streng, Signorina, streng wie ein Satan!“

Maria dankte ihm und begab sich leisen Schrittes, als wünsche sie nicht bemerkt zu werden, in’s dritte Stockwerk. Die Thür der Weißzeug-Kammer stand offen und ließ einen Streifen röthlichen Morgenlichts auf den dunklen Corridor fallen. Unschlüssig trat Maria näher. Sie war ernstlich im Zweifel, wie sie ihr Anliegen bei Giulietta vorbringen könne, ohne Verdacht zu erregen.

„Grüß Dich Gott, Zingarella!“ klang es von den Lippen Giulietta’s. „Das nenn’ ich doch eine reizende Ueberraschung! Ich dachte schon, wie Du vorgestern so kalt und fremd Deiner Wege gingst, Du seiest zu stolz und wollest mit der Cameriera nichts mehr zu thun haben, – Deines Apuliers wegen! Schade, daß ich bis über den Kopf in der Arbeit stecke! Grade so Morgens …! Nun, ein Viertelstündchen wird sich erübrigen lassen: ich bring’s nachher wieder ein.“

„Ich komme mit Absicht so früh,“ sagte Maria. „Etwas sehr Wichtiges hab’ ich mit Dir zu besprechen, – und die Sache ist eilig. Sind wir ganz ungestört?“

„Ganz ungestört. Hier zur Linken befindet sich eine Trödelbude – weißt Du, ein Raum, wo altes Gerümpel, halb zerbrochene Möbel und sonstiger Kram verwahrt ist; – hier aber, rechter Hand, das Zimmer steht leer; – beiläufig gesagt: das einzige unbesetzte im ganzen Haus; denn es ist geradezu schrecklich, was jetzt an Fremden so nach Neapel strömt.“

Das Antlitz Maria’s bedeckte sich mit einer flammenden Röthe. Zum ersten Male in ihrem Leben sollte sie ernstlich Komödie spielen. Es widerstrebte ihr ganz unbeschreiblich, zumal dem einfachen, ehrlichen Geschöpf gegenüber, das, noch eh’ sie zu sprechen begann, mit gläubiger Neugier zu ihr emporschaute. – Aber das half nur Nichts. Hatte sie’s einmal sich vorgesetzt, so mußte sie ihre Rolle auch durchführen, – möglichst naturwahr und mit allen erforderlichen Nüancen.

Sie preßte also die Hand wider die Augen, halb aus jenem schauspielerischen Instincte heraus, der von Urzeiten ein Erbstück des Weibes ist, halb um ihre Scham und ihre Verwirrung zu bergen.

„Ach, Giulietta,“ seufzte sie, „wenn Du ahntest, was die unglückliche Zingarella zu leiden hat!“

Die gute Giulietta legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Du?“ rief sie erstaunt. „Die Braut Salvatore’s? Aber wahrhaftig, Du siehst ganz sonderbar aus, – wie verstört – und Deine Wangen glühen so fieberisch! Sprich doch, Maria, was ist geschehn?“

„Wenn Du’s geheim halten willst –“

„Das versteht sich von selbst.“

„Niemals ein Wort davon reden –“

„Mit keinem sterblichen Menschen!“

Maria athmete schwer. Dann sagte sie halblaut: „Ich fürchte, mein Salvatore verräth mich.“

„Unmöglich!“

„Ich habe die bestimmtesten Anzeichen. Neulich schon, als er nach Capri kam, war er nicht völlig wie sonst.“

„Ja, ja, mir selber ist’s aufgefallen,“ meinte Giulietta. „Er schien so ernst, so gedankenvoll, wie er an’s Ufer stieg …“

[326] „Das war das böse Gewissen. Er liebt eine Andre – oder zum wenigsten ...“

„Sei vernünftig, Maria. Der Schein trügt; und wenn’s schon wahr ist, daß Dein Verlobter allenthalben, wo er sich zeigt, die Mädchenherzen erobert, und wenn’s ihm vielleicht auch schmeichelt, so braucht er deshalb noch nicht selber entflammt zu sein. Im Grunde, wie wär’ es auch denkbar? Du, Maria, bist von Allen die Schönste, und Niemand wirft den Goldgulden weg, um sich nach der Kupfermünze zu bücken. Laß mich nur wissen, was vorgefallen: am Ende löst sich’s klar und natürlich, und es war nur die blinde Eifersucht, was Dich so in Aufruhr versetzt hat.“

Maria schüttelte heftig den Kopf. Die Nothwendigkeit, ihr Märchen jetzt weiter ausspinnen zu müssen, erfüllte sie mit einer Erbitterung, die sich auf Rechnung der erfundenen Treulosigkeit ihres Verlobten Luft schaffen durfte.

„Ich weiß, was ich weiß,“ rief sie stirnrunzelnd. „Salvatore bewirbt sich um die Tochter eines begüterten napoletanischen Bürgers. Ein Brief, den ich aufgefangen – du lieber Himmel, was soll ich das Alles noch weitläufig aus einander setzen! Ich bin arm, Giulietta, und heutzutage geht die Jagd der Menschheit nach Gold ... Selbst die Besten und Edelsten schlagen ihr Herz in die Schanze, wenn es den Mammon gilt. Mich liebt er – das mag schon sein: aber die Andere wird er zum Weibe nehmen!“

Sie erörterte nun mit wachsender Sicherheit, was sie vorhabe. Sie wisse, daß ihr Verlobter heut’ im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ mit einem Verwandten des Mädchens eine Zusammenkunft habe. Sie, Maria, wünsche nun in Erfahrung zu bringen, wer diese abscheuliche Napoletanerin sei, und wie weit sich die Sache entwickelt habe.

„Vielleicht,“ so schloß sie, „läßt sich von der Verhandlung der beiden Männer Etwas erlauschen. Es käme nur darauf an, daß Du willst! Sprich, Giulietta: kann ich auf Deine Hülfe rechnen?“

Die Cameriera war alsbald Feuer und Flamme. In Herzenssachen fühlen die Frauen stets solidarisch. Die Entrüstung über den angeblichen Verrath des Apuliers wog alle Bedenken auf.

„Da fällt mir bei,“ sagte sie plötzlich, – „auf heute Nachmittag hat sich ein Signore anmelden lassen – drunten aus dem Calabrischen, wenn ich nicht irre – der könnte es möglicher Weise sein ...! Der das Zimmer für ihn bestellte – so ein Mann um die Dreißig herum – der sagte, bis morgen wolle der Signore hier in Neapel Station machen.“

„So? Und wie sah er aus, der’s bestellte? Schlank? Hager?“

„Schlank und hager, wie ich kaum einen Zweiten gesehn habe! Er ging in Schwarz und trug eine silberne Brille.“

Die Zingarella erkannte unschwer die Persönlichkeit des Polizei-Aspiranten, den Salvatore ihr drei- oder viermal hatte beschreiben müssen. Das Blut stieg ihr heiß in’s Gesicht. Sie meinte im ersten Augenblick, vor einer folgenschweren Entdeckung zu stehn. Dann aber sagte sie sich, der Signore aus dem Calabrischen müsse Seine Eminenz der Cardinal sein, – und diese Maske sei ganz begreiflich. Der Monsignore konnte unmöglich in seiner officiellen Carrosse vorfahren; er mußte incognito eintreffen; sonst würde sein Besuch im Albergo noch ungleich größeres Aufsehn erregt haben, als der Besuch des Apuliers im Palast Seiner Eminenz. – Maria legte sich das Alles zurecht; sie verstand jetzt auch, weshalb der Polizei-Aspirant gesagt hatte: der Signore aus dem Calabrischen werde im Gasthause übernachten. Das war unverfänglicher, als ein Absteigen auf wenige Stunden; – nach stattgehabter Besprechung konnten ja „unvorhergesehne Ereignisse“ eintreten, die eine sofortige Weiterreise nothwendig machten.

Noch höchlich erregt, stammelte sie allerlei widerspruchsvolle Redensarten.

Der auffällig hagere Mensch sei offenbar einer von den großstädtischen Heirathsvermittlern, die jetzt allenthalben ihr Wesen trieben; Salvatore selber habe ihr zugegeben – das heißt, er ahne ja Nichts – aber ein solcher Seelenverkäufer habe ihn neulich besucht; so glaube sie wenigstes, und nach Allem zu schließen ...

Sie unterbrach sich und schaute ängstlich in das sinnende Antlitz Giulietta’s. Diese jedoch war viel zu sehr von der Hauptsache in Anspruch genommen, als daß sie auf die Einzelnheiten im Verhalten Maria’s geachtet hätte.

„Zingarella,“ sagte sie plötzlich, „weißt Du, daß wir gewonnenes Spiel haben? Hör’ mal zu! Ich sprach vorhin den Facchino: der ist die lebendige Chronik hier im Albergo. Rein zufällig kam die Rede darauf: aber nun seh’ ich, es war eine Fügung des Himmels. Heute bis gegen Abend wird nur das Eckzimmer links in der ersten Etage frei; das aber ist schon wieder von Rom aus bestellt. Kommt also der Signore aus dem Calabrischen, so giebt’s im ganzen Hause kein anderes Zimmer, das er beziehen kann, als die Stube hier dicht neben an. Die Weißzeug-Kammer ist den ganzen Tag über abgeschlossen. Ich lasse Dich also ruhig hier. Wenn Du das Ohr an die Thür legst, wirst Du das Meiste von dem, was im Nebenzimmer gesprochen wird, deutlich verstehen können. Uebrigens halt! Sieh’ mal! Das hab’ ich noch gar nicht bemerkt!“

Sie wies mit dem Finger auf ein schmales, längliches Fenster, das rechts von der Seitenthür über einem der mächtigen Schränke die Wand durchbrach.

Ohne ein Wort zu sprechen, rückte Maria den Tisch herzu, schwang sich darauf, und beugte sich weithin über das verschnörkelte Schrankdach.

„Man überblickt so das halbe Zimmer,“ sagte sie leise. „Aber man wird auch von dort gesehen.“

„Dem läßt sich ja abhelfen,“ sagte Giulietta. „Da, versuch’ mal, ob Du das feststecken kannst.“

Sie nahm von den Stößen der frische Wäsche, die rechts und links auf den beiden Tischen geschichtet lag, einen kattunenen Küchenvorhang; Stecknadeln trug sie in der Tasche des Hausschürzchens.

Mit unsicherer Hand arbeitete Maria an dem Holzrahmen des Fensters herum. Endlich kam sie mit der Befestigung zu Stande.

„So! Hier an der Seite, oben, bleibt gerade ein Spalt frei, groß genug für das Auge. Das war ein kluger Einfall, Giulietta! Den vergeß’ ich Dir nicht. Und nun: strengste Verschwiegenheit!“

„Natürlich! Allein schon um meinetwillen! Wenn man’s erführe, dann könnt’ ich heut’ noch mein Bündel schnüren.“

Einige Zeit noch war Giulietta in der Kammer beschäftigt, während Maria, die Hände im Schooß gefaltet, auf dem Schemel saß und ihr gedankenvoll zuschaute.

Dann sagte die Cameriera:

„Gehab’ Dich wohl! Bis gegen Mittag kann’s dauern, eh’ der Signore hier eintrifft! Laß Dir inzwischen die Zeit nicht lang werden! Bin ich gerade im Treppenbau, wenn er kömmt, so geb’ ich Dir rasch ein Zeichen ...“

„Nein!“ wehrte die Zingarella. „Ich werde schon aufmerken. Halte Dich, soviel Du kannst, in den Zimmern! Ich möchte nicht, daß Dir Salvatore begegnet. Er hat Dich zwar nur ein paarmal gesehn, und vermuthet Dich allenthalben eher, als hier im Albergo: aber er hat ein scharfes Gedächtniß. Er könnte Dich ansprechen, und so das ganze Geheimniß aus Dir herausfragen ...“

„Was Du Dir vorstellst! Aber gut: wie Du willst! Also auf Wiedersehen!“

Sie drehte den Schlüssel um, und steckte ihn zu sich. Dann ging sie an ihre Stubenarbeit.

Kurz nach zehn hatte Giulietta für die zwei Damen auf Numero sechszig eine Bestellung beim Concierge. Mit gewohnter Leichtfüßigkeit rannte sie die breiten Steintreppen hinab. Im Erdgeschoß prallte sie so wider die starke, mantelumhüllte Gestalt eines glattrasirten Signore, den der Zimmerkellner eben nach oben geleitete.

„Corpo di Dio!“ fluchte der Fremdling mit unverkünstelter Vehemenz; denn der Ellbogen Giulietta’s, die ihm ausweichen wollte, war ihm unsanft wider den Magen gefahren.

„Ich bitte die Eccellenza tausendmal um Verzeihung,“ stammelte Giulietta purpurroth vor Verlegenheit. Die Eccellenza jedoch, überwältigt von dem bohrenden Gefühl ihres Schmerzes, krümmte sich, und fluchte dann abermals, und zwar so ganz und gar nicht salonfähig, daß selbst Giulietta, deren Ohr doch an die Kraftausdrücke der Schiffsleute und Fischer gewöhnt war, über die Derbheit des Unbekannten erstaunte.

[327] Gleich darauf indeß schien der Signore das Bedürfniß zu fühlen, diesen Ausbruch seiner wahren Natur vor sich selbst gut zu machen.

Giulietta, nachdem sie ihre Bestellung beendigt hatte, kam auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage wieder an ihm vorüber.

„Mein Kind,“ sagte er jetzt mit eigenthümlicher Salbung, „Ihr dürft mir nicht übel nehmen, daß ich vorhin im ersten Schreck eine Wendung gebraucht habe, die ich sonst aus Grundsatz verschmähen würde. Indeß, – ich versichere Euch, Euer Ellbogen ist ganz verteufelt – ich will sagen: ganz außerordentlich spitz, und Ihr flogt die Stufen herab, wie ein Stein aus der Schleuder.“

Giulietta war über diesen Wechsel der Tonart sichtlich erfreut, denn der strafende Blick des Zimmerkellners hatte ihr nichts Gutes geweissagt. Sie schaute dem Fremdling voll ins Gesicht, als ob sie sich überzeugen wollte, ob dort noch Spuren jener ersten Erbitterung zu finden seien. Die breiten, etwas gerötheten Züge athmeten jedoch ein überraschendes Wohlwollen; insbesondere mühten sich die grauen, blitzenden Augen, recht freundlich zu scheinen. Das Gesicht bekam dadurch einen frappirenden Ausdruck von Schalkhaftigkeit, da sich der rechte Augendeckel ein wenig mehr schloß als der linke.

Die Cameriera entschuldigte sich nochmals wegen der Ungeschicklichkeit, die ihr zur Last fiel, und schlüpfte dann mit dem Ausdruck höchster Befriedignng nach Numero sechszig.

„Das ist er,“ sagte sie zu sich selbst. „Der garstige Mensch, der die schöne Zingarella unglücklich machen will! Freut mich nur, daß ich ihn so angerannt habe! Das sei ihm ein Vorzeichen!“

Maria befand sich bereits auf dem Posten. Mit fiebernder Neugier lugte sie durch den Vorhang.

Marsucci, der „Signore aus dem Calabrischen“, trat bedächtig über die Schwelle; der Cameriere folgte ihm.

„Sagt an, guter Freund,“ wandte sich Marsucci zum Kellner, „man ist doch vollständig ungestört in der Stube hier? Mein Verwandter, der das Zimmer bestellte, hat dem Wirth bereits angedeutet, daß es ernste Geschäfte gilt – Familiengeheimnisse, die man gerne für sich behält.“ ...

Er machte bei diesen Worten eine Geberde in der Richtung der Seitenthür, die zum Weißzeuggelaß führte.

„O,“ versetzte der junge Mensch, „was das betrifft, da kann der Signore durchaus unbesorgt sein. Die Kammer daneben ist unbewohnt und den ganzen Tag über verschlossen. Nur in der Frühe kommt die Cameriera hinein. Na, und da drüben links da liegt ja die Vollwand, die läßt keinen Schall hindurch; auch ist die Signora, die dort logirt, vor einer Stunde schon ausgegangen, und erst zu Abend kommt sie nach Hause.“

„Gut, gut,“ sagte Marsucci. „Man orientirt sich doch gern. So, nun geht! Wenn ich etwas bedarf, werde ich die Klingel ziehen.“

Der Kellner entfernte sich. Marsucci aber schritt nach dem purpurgeblümten Sopha, das, die Seitenthür verstellend, gerade unter dem Wandfenster stand, setzte sich und wartete auf sein Opfer.

Maria preßte ihr Antlitz wider die Glasscheibe, aber ihr Blick vermochte den vermeintlichen Cardinal, der sich hier als „Signore aus dem Calabrischen“ einführte, trotz aller Anstrengung nicht zu erreichen.

Von Zeit zu Zeit holte Marsucci tief und geräuschvoll Athem, wie ein Mensch, der eine lästige Obliegenheit vor sich hat. Nach einer Weile rauschte etwas zu Boden: der Mantel, den er über die Lehne des Sophas gelegt, war herabgeglitten. Maria hätte ihn also jetzt ganz und voll überschauen können, den „Monsignore“, und noch dazu in der Zwanglosigkeit des Heroen, der sich unbeobachtet glaubt! Welche Tücke des Zufalls, daß er just hier den Platz unter dem Fenster gewählt, während doch drüben, wo eine lange, schmale Thür nach dem kleinen Altane ging, ein mächtiger Sessel stand, der wie geschaffen schien für eine Persönlichkeit von dem gebietenden Rang Seiner Eminenz!

Ihr Verdruß währte nur kurze Zeit. Nach fünf Minuten schon klopfte es. Marsucci erhob sich. Mit ehrfurchtsvollem Beben gewahrte sie, daß er in der That die glänzende Gewandung des hohen kirchlichen Amtes trug, vor welchem, nach ihrer Meinung, alle Insignien weltlicher Hoheit in’s Bedeutungslose zusammenschrumpften. Pochenden Herzens schlug sie ein Kreuz ...

Marsucci öffnete. Emmanuele Nacosta und Salvatore Padovanino traten langsam über die Schwelle.

Das Gemach, nur durch die gardinenverhangne Altanthür erhellt, war düster genug, um der schändlichen Maskerade ausreichende Chance zu bieten. Des Abends bei Kerzenbeleuchtung hätte der fragwürdige Cardinal ein ungleich schwereres Spiel gehabt.

Uebrigens war nicht zu leugnen, daß Beide, Marsucci sowohl wie Nacosta, ihre Rollen mit einer Gewandtheit durchführten, wie sie nur dem beweglichen und phantasiereichen Südländer eigen ist.

Schier zu Boden gedrückt durch die Last einer theatralischen Devotion, verneigte sich der Polizei-Aspirant vor seinem Spießgesellen, als erblicke er am Hochaltare das Venerabile. Marsucci seinerseits copirte die wohlwollende Herablassung, die segenspendende Milde des Kirchenfürsten ein wenig plump, aber doch bis in’s Einzelne glaubhaft – dergestalt, daß der Apulier, der so wie so vor Erregung kaum athmen konnte, ganz von jenen heiligen Schauern erfüllt ward, die Nacosta vorausgesetzt hatte.

Auch Maria ward mit jeder Secunde mehr in Fesseln geschlagen.

Die Art und Weise, wie der Gaukler das farbenprächtige Kleid rauschen und wallen ließ; das Weihevolle seiner Bewegungen, und dann der gewaltige Eindruck, den er auf Salvatore hervorbrachte – dies Alles wirkte auf das junge Mädchen berauschend. Und jetzt nahm er wirklich auf jenem alterthümlichen Sessel Platz, sodaß es nicht anders aussah, als erblicke man den Statthalter Gottes auf dem geweihten Sitz des Apostels ...!

„Mein Sohn,“ begann Marsucci, die Stimme dämpfend, „es ist ein großes, ein gewaltiges Werk, dessen Durchführung wir beschlossen haben, und dankerfüllten Herzens erkenne ich den opferwilligen Muth an, der Deine Seele erfüllt! Nur weil ich in väterlichem Wohlgefallen auf Dich herabschaue, weil Du mir lieb und theuer bist, nur deshalb, mein Sohn, habe ich den Bitten unsres gemeinsamen Freundes hier nachgegeben und Dir eine Begegunng gewährt, die eigentlich überflüssig erscheint. Ungläubiger Thomas, wähnst Du, der Zweifel erhöhe die Verdienstlichkeit Deines Vorhabens? Wahrlich, Salvatore, ich sage Dir: Wer da nicht siehet und doch glaubet, der wird die Krone des Lebens erwerben!“

Diese pomphafte Ansprache klang in ihrer Art so natürlich, daß der Apulier sich bereits schämte, einem so wohlwollenden Herrn gegenüber Zweifel gehegt und Bedingungen gestellt zu haben. In der Exaltation seines Herzens bedachte er nicht, daß es ja Nacosta gewesen, dem er auf Anrathen der Zingarella mißtraut hatte.

Der falsche Monsignore De Fabris begann jetzt eine Erörterung über den altehrwürdigen Begriff des frommen Betruges, über die sittliche Berechtigung derjenigen Täuschungen, die für Einzelne oder für die Gesammtheit von Nutzen seien , ohne die Interessen Andrer zu verletzen. Der pfiffige Komödiant bethätigte dabei eine so schlagende Casuistik und einen so schlau erkünstelten Schein orthodoxer Gelehrsamkeit, daß Leute von größrer Erfahrung sich hätten bethören lassen.

Auf eine schüchterne Anfrage Emmanuele Nacosta’s entwickelte nun Marsucci – immer mit der gleichen halb geistlichen, halb diplomatischen Vornehmheit – die Einzelheiten des Planes, wie er sie sich vorgestellt habe. Auch was dann später erfolgen solle, wenn die erhoffte Wirkung auf die politische Situation der Stadt und des Landes erreicht sei, legte er fast mit den nämlichen Worten dar, die seiner Zeit Emmanuele Nacosta gebrancht hatte.

Nur den Tag und die Stunde der Ausführung konnte er nicht mit Genauigkeit festsetzen, obgleich der Apulier gerade in dieser Hinsicht eine bestimmte Auskunft erwartet hatte; denn lediglich von dem Willen des Cardinals hing es doch ab, um welche Zeit er eine bestimmte Stelle Neapels passiren wollte.

Hätte sich Salvatore nicht in einem völlig abnormen Zustande des Gemüths befunden, – dieser Mangel in der Rolle Marsucci’s wäre ihm aufgefallen.

So aber nahm er ebenso wenig Anstoß daran, wie Maria, deren Begeistrung noch immer zu wachsen schien. – Welch ein Mann, dieser Monsignore De Fabris! Wie hehr und wie heilig! Dazu dies milde, freundliche Antlitz und die sympathische Art, wie er beim Sprechen das rechte Auge ein wenig zusammendrückte, [328] als wolle er den Sterblichen, die sich ihm nahten, Muth in das zaghafte Herz flößen! Wie gern hätte sie jetzt ihren Lauscherposten hinter dem Vorhang verlassen, um hinüberzueilen und voll dankbarer Inbrunst die ringgeschmückte Hand Seiner Eminenz an die Lippen zu pressen! Wie gern hätte sie dem Erlauchten zu wissen gethan, daß auch sie eingeweiht war in den großen patriotischen Plan, daß sie die That ihres Geliebten billige, daß sie ihn selig preise, Unannehmlichkeiten und Kümmernisse ertragen zu dürfen im Dienste des hochwürdigen Cardinals Monsignore De Fabris!

Jetzt erwähnte Marsucci auch den Betrag der Belohnung, die er dem Retter des gefährdeten Vaterlandes in Aussicht stelle. Die gewaltige Ziffer, so klar und so ohne Rückhalt versprochen, wirkte auf den Apulier vollends betäubend. Das wog ja hundertfältig die Entsagungen auf, die ihm oblagen, die Kämpfe und Prüfungen! Was eine solche Ernte verhieß, war kein Opfer zu nennen! Er schwur sich heilig und theuer, die Rolle, die der Monsignore ihm zuertheilt hatte, mit eiserner Consequenz durchzuführen, und so zu verdienen. was ihm halb wie geschenkt vorkam ...

Die Unterredung währte an die zwanzig Minuten. Dann verließ der Apulier mit Emmanuele das Zimmer. Marsucci blickte hinter dem Ueberlisteten mit einem boshaft-spöttischen Grinsen her, das von Maria zum Glück nicht bemerkt wurde, denn jetzt hatte sie nur noch Augen für die hoheitsvolle, edle Gestalt ihres Geliebten.

Als die Thür sich geschlossen hatte, erhob sich der Pseudo-Cardinal aus dem Sessel, durchmaß ein paarmal, die Hände reibend, die Stube und machte dann unter dem Wandfenster Halt. Sorglich, um ja kein Geräusch zu machen, stieg Maria von ihrer Höhe herab und setzte sich auf den Schemel. Sie schloß die Augen. Ein leuchtendes Zukunftsbild zog an ihrer Seele vorüber. Glückselig lächelnd sank ihr Haupt nach rückwärts wider den Eichenschrank. So entschlummerte sie.

Nach geraumer Zeit drehte sich in der Kammerthür der Schlüssel. Es war Giulietta, die ihre Gespielin in Freiheit zu setzen kam. –

Halb noch schlaftrunken fuhr Maria empor.

„Santa Madonna!“ rief sie. „Du hast mich erschreckt, daß ich zittere.“

Dann, mit gedämpfter Stimme:

„Ist er fort? Der ... der Signore aus dem Calabrischen?“

„Noch nicht,“ flüsterte Giulietta. „Aber er sitzt bereits mit Dem, der ihn angemeldet, draußen vor der Loge des Pförtners und wartet auf ein Cabriolet. Briefe sind eingetroffen, ich glaub’ aus Florenz, daß er heute noch reisen muß.“

Die Zingarella nickte still vor sich hin.

„Sag’, Giulietta,“ hub sie nach einer Weile an, „Ihr kennt ihn nicht, den Herrn aus Calabrien? Der Wirth zum Beispiel – der kennt doch die halbe Welt –“

„Nein,“ fiel ihr Giulietta in’s Wort; „er hat zwar seinen Namen genannt, der Padrone aber entsinnt sich nicht ...“

Maria athmete auf. Die Sache war also Geheimniß geblieben. Inmitten ihrer sonnigen Träume nämlich hatte sie plötzlich eine bange Vision gehabt. Sie sah ihren Salvatore mit Ketten beladen in der Gerichtshalle, – und der Wirth vom Albergo zum „Goldnen Kreuz“ trat vor und sagte aus, er habe damals in dem mantelumwallten Fremdling, der sich für einen Kaufherrn aus Calabrien ausgegeben, den Monsignore De Fabris erkannt; er habe die Unterredung Seiner Eminenz mit Salvatore belauscht; das Alles sei abgekartet – zum großen Schaden des Allgemeinwohls, zum Verderben des Staates. Und nun sprach der Gerichtshof ein mitleidsloses Verdict aus, – nicht allein über Salvatore, sondern auch über den hochmögenden Cardinal ...

„Bist Du meinem Apulier begegnet?“ fragte Maria nach einer Weile.

„Nein,“ sagte Giulietta. „Du hattest ja auf’s Strengste befohlen ... Uebrigens, die Wahrheit zu reden. es hat mir an Zeit gefehlt, sonst hätt’ ich’s doch wohl drauf angelegt. Männer wie Salvatore sieht man nicht alle Tage. Du brauchst nicht eifersüchtig zu werden,“ fügte sie lachend hinzu. „Mein Herz ist unbetheiligt; jch liebe ihn nur mit den Augen! Das kommt von den Malern her, die wir auf Capri beherbergt haben! Die stellen sich oft wie närrisch, und vergehn vor Bewundrung, und wenn man sich einbildet, sie erobert zu haben, dann war es nur künstlerisch ... Na, jetzt aber ernsthaft: was hast Du erlauscht? Ist’s Wahrheit – oder hast Du Dir’s eingeredet?“

Maria erwog, daß die Fortsetzung ihrer Erfindung nicht mehr zweckmäßig sei. Im Gegentheil: der Eindruck, den ihre spätere Lossagung von Salvatore herbeiführen würde, war um so lebhafter, je unauflöslicher sie bis dahin mit ihm verknüpft schien.

So erklärte sie denn, ihre Vermuthung sei ein Irrthum gewesen; Salvatore sei treu und ehrlich wie je; nicht um eine Heirath habe es sich gehandelt, sondern um rein geschäftliche Dinge, um eine glänzende Stellung, die man ihrem Bräutigam angeboten – und was ihr sonst in den Sinn kam.

„Siehst Du,“ triumphirte Giulietta, „es ist doch ein wahres Sprüchwort, daß die Eisersucht eine doppelte Binde über den Augen trägt! Ich wußte es ja! Wie wäre es auch nur möglich, eine Perle wie Dich zu verlassen, um verächtliches Gold zu heirathen!“

So plauderte sie noch fünf Minuten lang, während Maria, von dem unbestimmten Gefühl beherrscht, daß sie gut thäte, sobald als möglich das Haus zu verlassen, eine lebhafte Zerstreutheit bekundete.

„Geh’ nur ganz gelassen und gleichgültig die Treppe hinab,“ sagte Giulietta, als sie endlich auf den Corridor traten. „Kein Mensch wird sich um Dich bekümmern, und schließlich wär’ es doch auch kein Unglück, wenn man erführe, Du habest hier eine Jugendgespielin aufgesucht!“

„Ich möcht’ es vermeiden. – Und nochmals, Giulietta: nicht wahr: Du schweigst, wie das Grab?“

„Ich schwör’ es Dir zu, Maria! Leb’ wohl, – und glückliche Fahrt! Grüß’ mir das trauliche Capri! Ach, Du glaubst nicht, wie ich manchmal vor Sehnsucht vergehe! Aber es hilft Nichts.“

Die Mädchen küßten sich. Langsam stieg Maria die Stufen hinab.

Da sie kein Geld mehr besaß, trat sie zunächst unweit der Chiaja in den Laden eines Juweliers und verkaufte die goldene Nadel, die sie im Haare trug. Dann begab sie sich zu Fuß nach Resina, wo sie durch Zufall eine günstige Fahrgelegenheit nach Sorrent fand. Ein befreundeter Schiffer ruderte sie von dort nach der Insel hinüber.




7.

Drei Tage später ereignete sich unweit des Teatro San Carlo jener denkwürdige Auftritt, der ganz Neapel auf Wochen hinaus in die größte Erregung stürzte.

Seine Eminenz der Cardinal Monsignore De Fabris hatte, von seinem Privatsecretär begleitet, in der bekannten vierspännigen Kalesche seine Wohnung verlassen, um dem Gesandten einer befreundeten Großmacht einen Besuch abzustatten. Wie stets, wenn die Equipage des Cardinals sich zeigte, war die Straßen entlang, durch die ihn der Weg führte, ein lebhaftes Gedränge entstanden. Das niedere Volk, das den Monsignore vergötterte, streckte von allen Seiten grüßend die Hände aus und erfüllte die Luft mit donnernden Jubel- und Hochrufen, die Seine Eminenz mit einem freundlichen Winken der rechten Hand erwiderte, ohne sich aus den behaglichen Kissen des Wagens vorzubeugen.

In der Nähe des Carlo-Theaters staute sich die immer wachsende Menschenmenge so stark, daß weder die beiden Vorreiter, noch die vier Dragoner zur Rechten und Linken der Equipage im Stande waren, ihrem Gebieter freie Bahn zu verschaffen. Im langsamsten Schritt ging es durch die schmale Mündung einer der Straßen, welche von Nordosten her auf die Piazza einlaufen.

Da, unmittelbar an der Ecke des menschenerfüllten Platzes, erkrachte ein Schuß. Eh’ noch die Menge wußte, was dieser Schuß zu bedeuten hatte, sah man bereits die hagere Gestalt des Polizei-Aspiranten Emmanuele Nacosta mit einem hochgewachsenen, blassen, auffallend schönen Jüngling verzweiflungsvoll ringen. Der Jüngling, kein Anderer als Salvatore Padovanino, hielt noch die rauchende Reiterpistole in der krampfhaft geschlossenen Faust, augenscheinlich bemüht, den zweiten Schuß wider die Brust seines wüthenden Angreifers zu entladen.

„Hülfe!“ schrie der Polizei-Aspirant. „Hülfe! Man ermordet den Cardinal!“

Jetzt, da die Mündung der Reiterpistole sich beinahe senkrecht nach oben gekehrt hatte, krachte ein zweiter Schuß, glücklicher Weise ohne Jemanden zu verletzen.

[330] „Es lebe De Fabris!“ rief die erschreckte und erbitterte Menge. Im Handumdrehen war Salvatore zu Boden gerissen. Die Lazzaroni, die sich von jeher durch einen unwiderstehlichen Hang zur Bestialität ausgezeichnet, würden ihm übel mitgespielt haben, wenn Emmanuele Nacosta nicht im Namen des Polizei-Präsidenten ihren Angriffen Einhalt gethan und den Niedergeworfenen als seinen Gefangenen in Anspruch genommen hätte.

Die Equipage des Cardinals war inzwischen weiter gefahren, und zwar mit immer wachsender Schnelligkeit; denn auf Befehl Seiner Eminenz hatten die Kriegsleute blank gezogen und, als der Anblick der entblößten Säbel nichts fruchtete, einige der hartnäckigsten Bewundrer des großen Staatsmannes unsanft mit der flachen Klinge bearbeitet, so daß die Stauung bald überwunden war. Der Monsignore De Fabris, so schneidig er sich in seinen politischen Maßnahmen auch geberdete, war im Grunde ein ängstlicher und für seine persönliche Sicherheit äußerst besorgter Herr. Sobald die Kunde von dem Vorgefallnen sein Ohr erreicht hatte, war ihm das ganze enthusiastische Getümmel des napoletanischen Pöbels als heuchlerische Komödie erschienen, bestimmt, seine Aengstlichkeit einzulullen und so den Kugeln der Mordgesellen den Weg nach seinem Herzen zu bahnen.

Auf ein Signal des Polizei-Aspiranten traten zwei oder drei seiner Amtsgenossen, sämmtlich in der gewöhnlichen Tracht der Bürger, zu der Stelle heran, wo man den wilderregten Apulier nur mit Mühe am Boden hielt. Man verschnürte ihm die Hände mit Baststricken. Dann ward er auf die Füße gestellt. Emmanuele fragte ihn barsch, wie er heiße.

Salvatore gab keine Auskunft.

Jetzt kam einer von den Dragonern, die den Wagen des Cardinals escortirt hatten, mit hochgeschwungenem Säbel zurückgesprengt, – Alles gewaltsam zur Seite treibend. Bei der Gruppe der Polizisten angelangt, machte er Halt.

„Wer von Euch hat den Meuchelmörder gefaßt?“ rief er, zu Emmanuele Nacosta gewendet.

„Ich,“ gab dieser zurück.

„Gut. Seine Eminenz der Cardinal wünscht, daß Ihr ihm heute noch über den Vorfall Bericht erstattet.“

„Seine Eminenz ist allzu gütig,“ versetzte Nacosta. Ein helles Roth stieg ihm in das hagre Gesicht: diese glückliche Wendung, die ihn sofort mit dem Cardinal in persönliche Beziehungen brachte, überraschte ihn trotz der Tollkühnheit seiner Hoffnungen.

Der Dragoner entfernte sich. Salvatore Padovanino aber ward unter den maßlosesten Schimpf- und Wuthreden der Bevölkerung abgeführt nach dem Staatsgefängniß von Pizzo Falcone.

Die Stöße und Faustschläge der entrüsteten Lazzaroni hatte er mit höhnischem Gleichmuth ertragen; sie bewiesen ihm ja, wie vollkommen Alles geglückt war, wie augenscheinlich er Dem glich, was er vorstellen wollte: einem fanatischen Missethäter. Jetzt aber, als die schwere, eisenbeschlagene Thür hinter ihm in das Schloß fiel, als der Kerkermeister die wuchtigen Riegel vorstieß und dann fluchend davontappte – jetzt befiel den Apulier doch ein heimliches Mißbehagen, das Nichts zu thun hatte mit der äußeren Unwirthlichkeit seines Aufenthalts.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 21, S. 341–346

[341] Es war das Gefühl der vollkommensten Hülflosigkeit, was Salvatore in dem düstern Kerker bewältigte, und sofort war seine Einbildungskraft am Werk, sich Möglichkeiten zu malen, die ihm bis jetzt kaum in den Sinn gekommen.

„Wie,“ sagte er zu sich selbst, „wenn Monsignore De Fabris, der doch allein außer Nacosta um die Verabredung weiß, eines plötzlichen Todes stürbe? Der hohe Herr ist keiner mehr von den Jüngsten; er liebt den Luxus, das Wohlleben, die schweren sicilianischen Weine ...! Stand nicht kürzlich in der ‚Gazetta‘, daß zu Palermo ein Richter inmitten der Proceßverhandlung zusammengebrochen sei – das Opfer eines Gehirnschlages! Wenn Seine Eminenz den Cardinal De Fabris ein ähnliches Schicksal ereilte, dann war er, Salvatore, unrettbar verloren, mochte Emmanuele Nacosta noch so ernstliche Anstrengungen zu seiner Befreiung machen. Wer würde dem Polizei-Aspiranten glauben, daß Alles nur Komödie gewesen? Wer bezeugte eine so unwahrscheinliche Aussage? So unwahrscheinlich, daß Emmanuele sie voraussichtlich gar nicht versuchen würde, denn wenn er sie vorbrachte, lief er Gefahr, daß man die Sache zur Hälfte glaubte und eine Verabredung lediglich zwischen Nacosta und Salvatore annahm – zu leicht ersichtlichem Zwecke ...“

Es ward ihm siedend heiß bei diesen Erwägungen. In einer Anwandlung von Trostlosigkeit blickte er zu dem dreifachen Gitter auf, das etwa zehn Fuß hoch über dem Boden die kleine viereckige Maueröffnung verkreuzte, die einzige Lucke, durch welche das unheimliche Gelaß die Tageshelle empfing.

In der That, die Kerker von Pizzo Falcone waren ganz darnach angethan, die Schwarzsichtigkeit zur üppigsten Entfaltung zu bringen. Diese Quadern, dem Gemäuer der Hafendämme vergleichbar, wuchtig, unerbittlich und stets mit einer Feuchtigkeit überkleidet, deren Ausdünstung an den Salzgeruch faulender Meergewächse erinnerte; – dieser gestampfte Lehmboden mit den mannigfachen Unebenheiten und den eigenthümlichen Fußspuren in der Nähe des Wandrings, wo man die besonders gefährlichen Sträflinge an kurzen Stahlketten festschloß, dergestalt, daß sie nur einen begrenzten Halbkreis beschreiben konnten; – die halbzerschlissene Matte aus geflochtenem Spartgras mit der löcherigen Wolldecke; – die elende Holzbank; – und als Rest der dürftigen Ausstattung ein bauchiger Krug mit zwei Henkeln: – das war ein Gesammtbild von geradezu niederschmetternder Trübseligkeit.

Salvatore gedachte der Nachmittagsstunde, da er von der kleinen Marine zu Capri aus mit seiner liebeglühenden Zingarella in die leuchtende See gerudert.

In der Ekstase seines leidenschaftlichen Herzens schien ihm damals die unermeßliche Fluth und der endlos blauende Himmel zu eng für das gewaltige Begehren, das ihn erfüllte, für die stürmische Sehnsucht seines Gemüths nach Glück und Glanz und lebensvollem Genuß.

Jetzt sah er von diesem Himmel nur einen schmalen, flimmernden Streifen, umrahmt von dem festungsähnlichen Mauerwerk des schrecklichsten und verrufensten aller Verließe, und statt der Arme seiner Maria umschlang ihn der Bast der Stricke, deren Lösung der Kerkermeister ihm schnöde verweigert hatte.

Salvatore setzte sich auf die Holzbank. Die verschnürten Hände begannen zu schmerzen. Seine Stimmung sank tiefer und tiefer. Dann aber fand er das Gegengift wider all diese Eindrücke in der ewigen unerschöpflichen Quelle seines phantastischen Optimismus.

Anfänglich nur einem zweckmäßigen Entschluß seines Verstandes folgend, zwang er sich, die Zukunft, wie sie Nacosta ihm vorgespiegelt, wie er selbst sie mit Maria geträumt hatte, nach allen Richtungen durchzudenken, – und im Handumdrehen ward die Kunst zur Natur. Die sausende Einbildungskraft riß ihn fort; die Gegenwart mit ihren qualmenden Dämmerungen sank hinab in das Nichts; die Quadermauern öffneten sich; alle Blumen des Frühlings rankten herein; alle Wonnen des Paradieses durchströmten ihm die pochenden Adern.

Mit diesem ersten Triumphzug seiner gewaltigen Phantasie hatte er ein für allemal über die Schrecknisse des Kerkers gesiegt. Als nach Verlauf einer Stunde, vom Gefängnißwärter begleitet, ein höherer Beamter die Zelle betrat, um zunächst die Stricke durch regelrechte Handschellen ersetzen zu lassen und dann mit dem Verhafteten ein kurzes Verhör vorzunehmen, da empfing Salvatore die beiden Männer mit dem Ausdruck einer fast bedenklichen Zuversicht – bedenklich, weil es durchaus nicht seiner Rolle entsprach, wenn er zu gleichmüthig schien. Er sagte das auch sich selbst, und bemühte sich demgemäß, eine gewisse Beklommenheit zu erkünsteln.

Uebrigens that der Beamte redlich das Seine, um den Bestrebungen Salvatore’s in diesem Sinne gebührend nachzuhelfen; denn die inquisitorische Herbheit, die der Frager gleich zu Anfang [342] bekundete, legte sich wie ein giftiger Dunst über das ganze Verhör, und als der finster blickende Herr von dem Resultat seiner Bemühungen nicht völlig befriedigt schien, machte er Andeutungen, die auf die weitere Haltung des jungen Mannes nicht ohne Einfluß blieben.

Er stellte nämlich dem Verhafteten die Anwendung einer gelinden Folter in Aussicht, falls derselbe nicht rückhaltslos die volle Wahrheit bekenne.

Salvatore zuckte bei dieser Eröffnung zusammen. Doch beruhigte er sich im Gedanken, daß die Bekenntnisse, die er nach und nach sich würde abringen lassen, dem Beamten und den künftigen Richtern ja ganz unzweifelhaft als Wahrheit erscheinen würden; denn Emmanuele Nacosta – das mußte man dem Polizei- Aspiranten einräumen – war ein Meister in der Kunst, selbst das Unwahrscheinliche glaubhaft zu machen, und die Vorgeschichte des Scheinattentats, die Salvatore in Gemeinschaft mit Emmanuele ersonnen hatte, überschritt durchaus nicht die Grenzen des Denkbaren.

Nach zahllosen Kreuz- und Querfragen zog sich der Beamte zurück.

Nochmals die Einzelheiten dieses Verhörs überdenkend, schritt der Apulier wohl eine Stunde lang hin und her. Allmählich ergriff ihn die Müdigkeit. Seinen Widerwillen bekämpfend, streckte er sich auf das verwahrloste Lager und schloß die Augen. Nach kurzer Frist war er eingeschlafen, und die Zügellosigkeit der Traumphantasie spann die Bilder nun weiter, die er vorhin im Rausch seiner wachen Ekstase begonnen hatte.

Am dritten Tage ward Salvatore in Begleitung zweier Carabinieri vor den Untersuchungsrichter geführt, der in einem der oberen Räume des alten Castells mit seinen Schreibern und Gerichtsdienern Sitzung hielt.

Nachdem der Richter den Verhafteten um Namen, Herkunft, Alter, Beruf etc. gefragt hatte, fuhr er mit langsamer, geschäftsmäßiger Stimme fort:

„Salvatore Padovanino, Ihr seid eines Verbrechens beschuldigt, das die Gesetze des Königreichs mit dem Tod durch die Hand des Henkers bedrohen. Den Aussagen glaubwürdiger Zeugen zufolge, in deren Zahl der Polizei-Aspirant Emmanuele Nacosta obenan steht, habt Ihr am sechsundzwanzigsten dieses Monats in der vierten Nachmittagsstunde am Eingang der Piazza des Carlo-Theaters auf Seine Eminenz den Cardinal Monsignore De Fabris, den ersten Minister Seiner Majestät des Königs, einen Schuß abgefeuert in der nicht weiter zu erhärtenden Absicht, Seine Eminenz zu tödten. Ihr seid mit der Waffe in der Hand von dem Polizei-Aspiranten Emmanuele Nacosta ergriffen und mit Hülfe einiger wackeren Männer glücklich bewältigt worden, ehe Ihr im Stande waret, Euren verbrecherischen Angriff gegen die erhabne Person des Monsignore zu wiederholen. Die Waffe, eine Reiter-Pistole schwersten Calibers, ist bei der königlichen Gerichtsstätte durch den Zeugen Emmanuele Nacosta deponirt worden. Ihr erblickt sie hier auf dem Seitentisch. Salvatore Padovanino, ich frage Euch nun: bekennt Ihr Euch des Mordversuchs auf Seine Eminenz schuldig, und räumt Ihr ein, daß dieser Mordversuch vermittelst der hier vorliegenden Waffe begangen wurde?“

Der Apulier athmete schwer und bänglich. Das verhängnißvolle Ja wollte ihm nicht über die Lippen. Freilich, aus den Worten des Untersuchungsrichters ging ja hervor, wie glücklich und glaubhaft Emmanuele Nacosta sich als Zeuge geberdete. Das flößte dem Beschuldigten ein Gefühl der Sicherheit ein. Der Instinct aber war mächtiger als die Erwägung. Der Untersuchungsrichter mußte die Fragen unter Beifügung einer sehr nachdrücklichen Ermahnung wiederholen, ehe sich Salvatore zu einer bejahenden Antwort entschloß.

„Gut,“ versetzte der Untersuchungsrichter; „ich muß Euch bemerken, daß die Verstocktheit, mit der Ihr Euch weigern zu wollen schient, eine Thatsache einzuräumen, die durch so und so viele Augenzeugen beglaubigt ist, eine große Kurzsichtigkeit verräth. Nur ein rückhaltsloses Geständniß bietet möglicher Weise dem königlichen Tribunal Veranlassung, Euch als verirrt und verblendet der allerhöchsten Gnade Seiner Majestät zu empfehlen. Leugnet Ihr aber, laßt Ihr uns über die Beweggründe Eurer That im Unklaren, so ist Euer Schicksal besiegelt. – Das vergeßt nicht, wenn ich Euch jetzt um die Einzelheiten befrage! Verstanden?“

„Ja, Herr,“ sprach der Apulier.

„Also nochmals: Ihr hattet die Absicht, den Monsignore De Fabris zu tödten. Was bewog Euch zu dieser Missethat?“

„Der Wunsch, meinem Vaterlande zu nützen.“

„Wieso? Nützt man dem Vaterlande, wenn man seine Gesetze mit Füßen tritt? wenn man den Wohlthäter des Vaterlandes meuchlings ermordet?“

Dem Geist seiner Rolle entsprechend, nahm Salvatore jetzt eine etwas theatralische Haltung an.

„Herr,“ sagte er augenrollend, „Ihr redet von Eurem Standpunkte aus; ich aber handelte von dem meinen. Monsignore De Fabris hat keinerlei Anspruch auf den Ruhm eines Wohlthäters der Nation; er ist ihr Feind, ihr Tyrann – und diesen Tyrannen aus dem Wege zu räumen, das hielt ich für eine verdienstliche That der Vaterlandsliebe. Wäre geglückt, was ich plante, so würde Neapel heute mir zujauchzen, und Ihr selber, Signore, mühtet Euch vielleicht um die Freundschaft des Mannes, der jetzt gefesselt vor Euren Schranken steht.“

Der Untersuchungsrichter nagte die Lippen.

„So! So!“ nickte er vor sich hin. „Dacht’ ich’s doch! Also wiederum ein Opfer jener unheilvollen staatsfeindlichen Propaganda! Bei Gott, es wäre nun Zeit, daß endlich einmal aufgeräumt würde mit den Männern der Revolution!“

Er sagte dies mehr zu sich selbst als zu dem Angeklagten. Dann fuhr er fort:

„Habt Ihr Mitschuldige?“

„Gesinnungsgenossen, ja,“ gab der Apulier trotzig zur Antwort; „unzählige; aber Mitschuldige, in Eurem Sinn – nein! Ich gedachte den Lorbeer, nach dem ich strebte, für mich allein zu erwerben.“

Der Untersuchungsrichter ließ sich durch die herausfordernde Haltung des jungen Mannes nicht aus seiner geschäftsmäßigen Kaltblütigkeit herausdrängen.

„Die That also habt Ihr allein geplant. Wohl! Die Einzelheiten erörtern wir noch. Aber die Gesinnung, aus der sie hervorgegangen, theilt Ihr mit Andern. Ihr habt dieserhalb Eure Gedanken ausgetauscht, und so im Verkehr mit Leuten von gleicher Pietätslosigkeit den traurigen Muth geschöpft zu dem Verbrechen, für das Ihr Euch jetzt verantworten sollt. Ist dem so?“

„Nicht ganz, Herr. Ich habe hier in Neapel so gut wie keine Verbindung; mein Verkehr beschränkte sich auf zwei Hülfsarbeiter des Rechtsanwalts, bei dem ich beschäftigt war; und diese Beiden – davon werdet Ihr Euch leicht überzeugen – gehören nicht zur Partei der Freiheitsfreunde . . .“

„Ihr aber seid ein eifriges Mitglied dieser Partei, besucht ihre geheimen Versammlungen, betheiligt Euch an der ganzen wüsten Agitation?“

„Auch das nicht,“ sprach Salvatore mit fester Stimme. „Ich sagte ja schon, daß ich ohne alle Beziehungen bin. Gleichwohl hat die Partei der Freiheitsfreunde mich erheblich beeinflußt. Ihr wißt, daß die Grundsätze dieser wirklichen Patrioten in Flugblättern aller Art auseinander gesetzt und vertheidigt werden, – in Schriften, die man aus dem Sardinischen oder von Frankreich her einschmuggelt. Diese Flugblätter hab’ ich mit Eifer gelesen, und schon nach kurzer Frist die Ueberzeugung gewonnen, daß Wahrheit und Recht auf Seiten der Oppositionspartei kämpfen, und daß kein Heil zu erwarten ist, so lange der Monsignore am Ruder bleibt.“

„Wo verschafftet Ihr Euch diese Flugblätter?“

Salvatore lächelte.

„Die Hausirer vertreiben sie unter den Augen der Polizei, vor dem Palaste des Cardinals, an den Thoren des königlichen Schlosses.“

„Unerhört!“ sagte der Inquirent mit einem Blick auf die Secretäre, die seines Dictats gewärtig an dem Nebentisch saßen. „Hattet Ihr eine Ahnung von diesem Unfug, Signor Breda?“

„Leider, Siguor Cavaliere,“ gab der Secretär mit einem flüchtigen Achselzucken zur Antwort. „Freunde von mir sind an verschiedenen Stellen der Via Toledo von den Verbreitern solcher Pamphlete geradezu molestirt worden, obgleich sie kaltblütig ablehnten, ja mit sofortiger Anzeige drohten. Daheim angelangt, fanden sie dann die Zettel mit den revolutionären Attaken in ihren Rocktaschen.“

[343] „Das sind ja erbauliche Zustände!“ sagte der Untersuchungsrichter. „Nun, so Gott will, nimmt das Governo aus diesem jüngsten Frevel der Revolutionspartei endlich Veranlassung, die bisherige Milde in rückhaltlose Strenge zu verwandeln!“

Er legte nun dem Beschuldigten einige weitere Fragen vor, die Salvatore mit großer Glaubwürdigkeit beantwortete. Sie bezogen sich sämmtlich auf die Beweggründe, auf das allmähliche Ausreifen des verbrecherischen Projects und auf Salvatore’s gegenwärtige Stimmung.

Der Apulier gab sich so ungezwungen und entwickelte bei aller Ruhe des Auftretens so viele Spuren eines heimlichen Fanatismus, einer verborgenen dämonischen Gluth, daß der Richter mit der psychologischen Situation sehr bald in’s Reine gelangte. Widersprüche in den Aussagen des Apuliers waren nicht nachzuweisen; andere Beweggründe als die zugestandenen schienen nicht denkbar. So schloß denn der Untersuchungsrichter diesen ersten Theil des Verhörs in der klaren Gewißheit, daß der Mordversuch auf Monsignore De Fabris die That eines wüthenden Revolutionärs, eines wahnwitzigen Schwärmers sei, der, bethört von den frevelhaften Ideen des Liberalismus und dem Fieber einer krankhaften Ehrsucht, blindlings zur Waffe gegriffen.

Nachdem sich diese Ueberzeugung einmal bei dem Richter festgesetzt hatte, erleichterte er, ohne es zu wollen, durch die ganze Art seines Inquirirens dem Beschuldigten außerordentlich die folgerichtige Beibehaltung der Maske. Eine Reihe von Punkten, vor denen Salvatore ernstlich gebangt hatte, wurde gar nicht berührt; ja, in einzelnen Fällen, wo der Beschuldigte zweifelhaft war, wie er sich zu verhalten habe, gab ihm der Inquirent durch die Form seiner Fragestellung das Erforderliche klar an die Hand.

Die Erwerbung der Reiter-Pistole erzählte Salvatore der Wahrheit gemäß; er hatte sie einige Tage zuvor bei einem Waffenhändler der Strada Medina nebst den dazu gehörigen Patronen gekauft, angeblich, weil er eine Reise nach Eboli vorhatte.

Das Unbehaglichste für Salvatore war die Confrontation mit Emmanuele Nacosta. Die virtuose Schauspielerkunst jedoch, mit der der Polizei-Aspirant seine Aufgabe angriff, gab dem Apulier nach wenigen Augenblicken des Schwankens die volle Sicherheit wieder. Als der Richter den Polizei-Aspiranten ganz wie beiläufig fragte: „Ihr entsinnt Euch nicht, den Beschuldigten früher jemals gesehen zu haben?“ – da ertheilte Nacosta die verneinende Antwort mit so vollkommener Gleichgültigkeit, als wäre es rein unmöglich, der Frage des Inquirenten eine gewisse Bedeutsamkeit zuzuschreiben. Er sagte Nein, als hätte er ebenso gut Ja sagen, als hätte er antworten können: „Ich hab’ ihn gelegentlich in einer der Osterien von Santa Lucia beobachtet.“ Dabei war Nacosta dem Apulier einen so neugierig-fremden Blick zu, daß Salvatore beinahe erschrak: der Polizei-Aspirant schien die Rolle, die er hier durchführte, nicht zu spielen, sondern zu leben; er schien selber an ihre Wahrheit zu glauben.

Nun, so sehr auch der Apulier über die unheimliche Meisterschaft seines Mitverschwornen erstaunte, so unsympathisch sie ihn berührte: er jauchzte doch, als er wahrnahm, wie das Alles glatt und geräuschlos von Statten ging. Wenn die Angelegenheit schon in den ersten Stadien so über alle Erwartung glückte, so durfte das als günstiges Vorzeichen für den ferneren Verlauf gelten. Nach Verlesung des langstieligen Protokolls ward Salvatore Padovanino wiederum abgeführt.

Trotz der muthvollen Stimmung, in die das Verhör ihn versetzt hatte, seufzte er, als er sich wieder allein sah in der dumpfen, lichtlosen Zelle, während Nacosta jetzt hinausschweifen würde an das Meer oder nach der Via Toledo. Kein Zweifel: der Polizei-Aspirant hatte den leichteren Theil der Aufgabe übernommen, und wenn der Gewinn nach dem Maßstabe der Leistung vertheilt wurde, dann mußte Seine Eminenz ihn, den Apulier, ungleich höher belohnen als den schlauen Emmanuele.




8.

Vier Tage verstrichen dem Verhafteten in erdrückendem Einerlei. Nur der Kerkermeister trat zweimal zu bestimmten Stunden in das Verließ, um die reichliche, aber unschmackhafte Nahrung zu bringen und den thönernen Krug zu füllen.

Von Erleichterungen oder Vergünstigungen, wie sie der Pseudo-Cardinal bei jener Audienz im Albergo zum „Goldenen Kreuz“ in Aussicht gestellt, war Nichts zu verspüren.

Einmal wandte sich Salvatore geradezu an den Kerkermeister: ob es nicht möglich sei, das abscheuliche Spartgrasgeflechte mit der schmutzigen Wolldecke durch ein halbwegs erträgliches Bett zu ersetzen.

Der Gefängnißwärter lachte ihm brutal in’s Gesicht.

„Werdet wohl noch eine Unterlage genießen, die Euch härter bedünkt,“ sagte er höhnisch. Dabei machte er eine Geberde, die nicht zu mißdeuten war; er meinte das Delinquentenbrett unter dem Fallbeil.

Auch die Handschellen wurden dem beklagenswerthen Apulier nicht abgenommen.

„Ihr könntet sonst auf den Einfall kommen,“ meinte der Kerkermeister, „dem Signore di Napoli und seinen Gehülfen die Arbeit vorweg zu nehmen!“

„Signore di Napoli“ – so nannte man damals mit artigem Euphemismus den Scharfrichter.

Ein Andrer hätte bei so unangenehmen Erfahrungen zweifellos dem Andrange trübseliger Empfindungen nachgegeben, Seiner Eminenz im Stillen den Vorwurf allzu scheuer Zurückhaltung, wenn nicht gar der Vergeßlichkeit und Herzlosigkeit gemacht; er hätte von dieser Einen Enttäuschung auf die Möglichkeit weiterer Mißverständnisse und Fatalitäten geschlossen; er wäre skeptisch und muthlos geworden. Salvatore jedoch besaß – wir wissen es – das ewig neue, unfehlbare Auskunftsmittel, das ihn siegreich über das Jetzt hinaushob, die Kunst des Träumens, und niemals schien seine Fähigkeit, sich in den Aether zu schwingen, so voll entwickelt, als jetzt. Er bezwang sein Mißbehagen, eh’ es noch recht zur Entfaltung kam. In der That: mit absoluter Gewißheit war ihm ja von Seiten des vermeintlichen Monsignore Nichts zugesagt worden.

Zu Anfang der folgenden Woche trat ein unverhofftes Ereigniß in die äußere Monotonie dieses Kerkerlebens. Der Schließer führte einen ernst und vornehm dreinschauenden Herrn in die Zelle, sagte sehr höflich: „Sobald der Signore fertig ist, beliebe er dreimal wider die Thür zu pochen“ – und entfernte sich dann, den Riegel mit ungewohnter Geräuschlosigkeit in die Kramme schiebend.

Salvatore hatte gesenkten Hauptes auf der Holzbank gesessen. Jetzt erhob er sich langsam. Der Fremde kam auf ihn zu, musterte ihn mit einem ruhigen, durchdringenden Blick und sagte dann halblaut:

„Ich bin Antonio Cesari, Advocat am königlichen Gerichtshof. Dem herrschenden Brauch zufolge hat mich das Loos zu Eurem Vertheidiger bestimmt, da Ihr als Unansässiger nicht das Recht freier Wahl habt. Salvatore Padovanino, ich hoffe, der Zufall, der gerade für mich entschieden, soll Euch nicht zum Unheil gereichen; denn was ich bis jetzt aus den Protokollen des Untersuchungsrichters entnahm, das scheint darauf hinzudeuten, daß Ihr mehr ein irregeführter Thor seid, als ein wirklicher Missethäter, – und für Bethörte und Verblendete Alles aufzubieten, was ich vermag, weit über die Grenzen meines advocatorischen Berufes hinaus – das halte ich für die Aufgabe meines Lebens!“

Der Apulier fühlte sich bei dieser warmblütigen Ansprache aus mehr als Einem Grunde verwirrt.

Zunächst berührte es ihn eigenthümlich, daß gerade eines der hervorragendsten Mitglieder der Oppositionspartei seine Vertheidigung führen sollte.

Oft genug hatte er den Namen Antonio Cesari’s im Zusammenhang mit den Bestrebungen der „Freiheitsfreunde“ vernommen, um sich sofort klar darüber zu sein, daß dieser seltsame Zufall dem ganzen Gewebe der mit Emmanuele geplanten Erfindungen gleichsam den letzte Stempel der Wahrhaftigkeit aufprägte. Für gewisse Kreise des Publicums stand Salvatore nunmehr zweifellos als das unmittelbare Werkzeug des Liberalismus da, als der Beauftragte, der von den Auftraggebern geschützt und geschirmt wurde.

Wenn ihn diese Erwägung nun auch befriedigte, – denn ein solcher Irrthum des Publicums verwirklichte ja, wie er glaubte, die Absicht des Cardinals – so regte sich doch, neben der rein verstandesmäßigen Genugthuung, eine instinctive Beklommenheit. [344] Er mochte sich sagen, daß eine gewisse Grenzlinie der Glaubwürdigkeit nicht erreicht werden durfte, wenn es gelingen sollte, ihn später in der Meinung Neapels vollständig rein zu waschen. Der Bühnenkünstler, wenn er den sterbenden Fechter spielt, muß sich hüten, die Naturwahrheit bis zur Durchstoßung der eignen Brust zu treiben.

Gleich darnach überkam ihn eine Besorgniß völlig entgegengesetzter Art.

Salvatore empfand vor den Künsten der advocatorischen Beredsamkeit einen kindlich-naiven Respect.

Die hyperbolischen Wendungen, wie sie im Volksmund gäng und gebe sind: daß ein Rechtsgelehrter aus Schwarz Weiß machen, daß er durch seine Geriebenheit die größten Missethäter als schuldlos darstellen und sie von aller Strafe befreien könne, spukte auch im Gehirn des Apuliers. Einige mißverstandene Fälle aus der Praxis des Rechtsgelehrten, bei welchem er arbeitete, unterstützten dies Vorurtheil. –

Nun hatte Antonio Cesari die günstige Meinung, die er von Salvatore hegte, und namentlich das Bethört- und Verblendetsein, im Gegensatze zur wirklichen Missethat, so energisch betont, daß der Apulier die Möglichkeit eines Erfolges voraussah, welcher dem Endziel des ganzen Planes schnurstracks zuwiderlief.

Wenn Cesari erreichte, daß man dem Beschuldigten die Zurechnungsfähigkeit aberkannte, – wenn man ihn freisprach: dann war der Eindruck des Attentats auf die Nation von Grund aus zerstört, und nichts von Alledem ward geerntet, was der Apulier zum Heil der Regierung unter so großen Opfern gesäet hatte. Wer aber konnte wissen, ob alsdann nicht auch Monsignore De Fabris den Pact für gelöst hielt und sich weigerte, die verfehlte Leistung so zu belohnen, wie er’s vereinbart hatte?

So schwankte Salvatore Padovanino, ein Spielball seiner unermüdlichen Einbildungskraft, von Extrem zu Extrem, hier wie dort hoffend und fürchtend, ein Mensch, der kaum noch selbst wußte, wie ihm zu Sinne war.

All’ diese Befürchtungen aber schienen gering im Vergleich mit der Einen, welche ihn jetzt plötzlich ergriff, wie mit Geierkrallen.

Antonio Cesari hatte sich ein wenig zur Seite gewandt, so daß die Lucke, durch die das Licht fiel, sein Antlitz und die tief nachdenklichen Augen voll bestrahlte. Der Blick dieser Augen schien bei aller Gelassenheit so durchdringend, und das Verlangen, die Wahrheit zu finden, malte sich so unverkennbar auf den energisch gemodelten Lippen, daß Salvatore von dem Gedanken durchzuckt ward: „Wie? Wenn dieser Cesari Alles durchschaute? Wenn er entdeckte, daß deine That nur Komödie gewesen?“

Der Untersuchungsrichter war glücklich getäuscht worden; das Tribunal würde der Angelegenheit mit vorgefaßter Meinung entgegentreten und stark unter dem Einflusse dessen stehen, was der Untersuchungsrichter protokollirt hatte. Antonio Cesari jedoch machte den Eindruck der vollkommensten Selbstständigkeit, und wenn er nun das Gewebe Faden um Faden auflöste, wenn er seinen Clienten durch Kreuz- und Querfragen in die Enge trieb und den Zusammenhang so enträthselte: war dann vorauszusehen, daß er schweigen würde?

Schwerlich!

In erster Linie zwang ihn ja seine Pflicht als Vertheidiger zur Enthüllung, – denn dem Tribunal gegenüber verbesserte er ganz augenscheinlich die Situation des Beschuldigten. Mochte man das Schein-Attentat noch so bedenklich finden: es fiel doch nicht annähernd so schwer in die Wagschale, als der Mordversuch.

Dann aber hatte Antonio Cesari, als glühender Anhänger seiner Partei, ein Interesse daran, das unheilvolle Verbrechen, das man jetzt den Principien der „Freheitsfreunde“ aufbürdete, in das schlau geplante Manöver der königlichen Regierung aufzulösen.

Salvatore, so leicht er sich durch die schamlosen Gaukeleien Marsucci’s hatte bethören lassen, besaß doch Urtheil genug, um zu begreifen, daß eine solche Entlarvung – die seiner Meinung nach ja den wirklichen Cardinal compromittirte – ein wahrer Triumph sein mußte für Alles, was zur Opposition zählte. Es schien ihm daher nicht zweifelhaft, daß Antonio Cesari, wenn er Verdacht schöpfte, Alles aufbieten würde, dem wahren Sachverhalt auf die Spur zu kommen. In diesem Falle jedoch war das Resultat des mühsam geplanten Werkes nicht nur abermals in Frage gestellt, sondern für Salvatore ergab sich, seiner Meinung nach, eine ernste Gefahr: die Ungnade des Monsignore De Fabris. Was die zu bedeuten hatte, – davon machte sich der erregte Apulier die ausschweifendsten Vorstellungen . . .

Sofort entschloß er sich, über jedes Wort seiner Zunge mit der äußersten Sorgfalt zu wachen, und, wenn ihm nichts Anderes übrig bleibe, lieber den wahnsinnigsten Fanatismus zur Schau zu tragen, als Raum zu lassen für die Ermittelung jenes abgekarteten Spiels. Er schalt sich im Stillen feige, daß er sich von dem Anblick dieser ernsten, männlichen Züge so hatte verblüffen lassen, – und absichtlich verlängerte er das Schweigen, das ursprünglich die Folge seiner Unsicherheit und Erregtheit gewesen. Er hoffte so bei Cesari den Eindruck düstrer Verstörtheit und theilnahmloser Erbitterung hervorzurufen.

„Salvatore Padovanino,“ hub der Rechtsbeistand nach einer langen Pause des Nachdenkeus an, „Eure That hat mich nicht überrascht.“

Bei diesen Worten fuhr der Apulier aus seiner erkünstelten Starrheit unwillkürlich empor.

„Wie?“ fragte er staunend. „Also Ihr kanntet mich?“

„Ich sah Euch in Capri, wo ich die Ferien verbrachte; Ihr stiegt aus dem nämlichen Marktschiff, das auch mich über den Golf trug. Unter der Fahrt hatte ich nicht auf Euch Acht: als ich aber hinaufschritt in der Richtung der Stadt, da machte ein Freund mich aufmerksam auf Eure Erscheinung, die – das wißt Ihr wohl selbst – nicht der ersten und besten gleicht.“

„Und da gewahrtet Ihr . . .?“ stammelte Salvatore, fassungslos über die Sicherheit dieses Auftretens.

„Da gewahrte ich, daß Ihr ein Mensch seid, fähig zum Ungewöhnlichen, verzehrt von einer inneren Rastlosigkeit, die planlos nach hundert Zielen schweift und ihre tollsten Träume in Handlung umsetzt, sobald der Zufall ihr die Gelegenheit bietet. Ich las es Euch an der Stirn, daß Ihr die Keime des Großen und Rühmlichen, wie die des Verwerflichen in Euch trugt, – und ich bangte für Euch, denn die Leidenschaftlichkeit Eures Blickes ließ mich befürchten, daß Euer Urtheil unschwer zu trüben sei. Später sah’ ich Euch nochmals, – an der Seite Eurer Verlobten – und da nerkte ich, daß mein Auge sich nicht getäuscht hatte! So dämonisch ist Eure Eigenart, daß Ihr mit Euren Phantasmen sogar die starke, klare Seele des Mädchens völlig zur Sclavin macht.“

Salvatore tastete mit der Hand nach der Mauer. Er fühlte, wie die Kniee ihm wankten.

War dieser Avvocato allwissend?

Bei San Gennaro, es sah so aus! Sprach er nicht jetzt schon, da Salvatore kaum ein Wort über die Lippen gebracht, beinahe unumwunden die Meinung aus, Maria sei Mitwisserin? Oder war Salvatore nur so eigenthümlich erregt, daß er die Worte Cesari’s so weitgehend auslegte?

Der Apulier pries sich in diesem Momente glücklich, dem Verlangen Emmanuele’s nachgegeben und Maria bestimmt zu haben, daß sie beim Bekanntwerden des Attentates zum Scheine sich von ihm lossage. Es war ihm schwer gefallen, unsäglich schwer – aber nun zeigte es sich, daß Emmanuele ein schlauer Kopf war, der Alles klug in Erwägung zog! – Jetzt in dem Augenblicke, da Antonio Cesari sprach, hatte Maria unzweifelhaft ihr Spiel schon in Scene gesetzt. Wenn das der Avvocato erfuhr, so mußte es dem Verdacht des Einverständnisses zwischen Maria und Salvatore wohl den Todesstoß geben. Daß ihm jedoch die Kunde zu Ohren kam – dafür sollte unverzüglich gesorgt werden.

So griff denn Salvatore die Worte des Avvocato über Maria auf. Befähigt, sich in jede Stimmung hineinzureden, sodaß er beinahe selbst an sie glaubte, lieh er der Schilderung seiner inneren Kämpfe ein Colorit von überraschendster Wahrheit. Er berichtete, wie er geschwankt habe zwischen den beiden Wegen, an deren Kreuzung er stand: der eine habe ihm als mühelos zu erreichendes Ziel das Glück der Liebe gezeigt, der andere jenseits einer langen Reihe von Opfern die Errettung des Vaterlandes und das stolze Bewußtsein, der Angebeteten, wenn Alles geglückt wäre, den unsterblichen Ruhmeskranz zu Füßen zu legen. – Nach langem Zögern habe er sich endlich für die gefahrvolle That entschieden. Nun sei Alles zu Ende. – Er kenne sein Schicksal – und mit Standhaftigkeit würde er auch das Schwerste ertragen, wenn der Gedanke an die Geliebte nicht wäre ...

[346] Nun kam die Bitte: Cesari, wenn er wirklich Erbarmen fühle mit dem Beschuldigten, möge der Muhme der Zingarella ausführlich schreiben, und in Erfahrung zu bringen suchen, wie Maria über die That Salvatore’s denke, ob ihre Liebe noch die alte geblieben, oder ob sie mit einstimme in die Rufe des Hasses, die rings im bethörten Volke jetzt laut würden.

Cesari hatte ihn ruhig ausreden lassen. Er versprach ihm, den Wunsch betreffs des Briefes heute noch zu erfüllen. Dann stellte er eine Reihe von Fragen, und schloß dann seufzend die halbstündige Conferenz.

„Es ist, wie ich dachte!“ sprach er mit einer Stimme, die etwas müde und traurig klang. „Ihr seid unauflöslich verstrickt in die Truggebilde eines entsetzlichen Irrwahns. Wann und wo hätten die ‚Freiheitsfreunde‘ den abscheulichen Grundsatz gepredigt, daß zur Erreichung schätzbarer Zwecke jedes Mittel erlaubt sei? Wann und wo hätten sie die Berechtigung des politischen Mordes vertheidigt? Wehe dem Unglücklichen, der so die Pflichten der wahrhaften Vaterlandsliebe unter die Füße tritt! Genug für heute! Ihr macht mir die Sache leicht, denn Eure Motive sind durchsichtig, und jetzt schon erkenn’ ich, welche Richtung meine Thätigkeit hier einschlagen muß. Künftigen Sonnabend besuch’ ich Euch wieder. Laßt nicht völlig den Muth sinken, – und lernt Euren Irrthum bereuen! Gehabt Euch wohl!“

Salvatore athmete auf. Antonio Cesari pochte wider die Thür und verließ dann die Zelle. Dem Kerkermeister reichte er im Corridore ein Goldstück.

„So weit Euer Amt es gestattet, erleichtert ihm sein trauriges Schicksal!“ bat er im Weggehen. „Ich werde erkenntlich sein.“

Und ganz erfüllt von gramumflorten Erinnerungen – vom Bilde seines unsäglich geliebten Vaters, der monatelang schuldlos im Abgrund solcher Mauern geschmachtet hatte, bestieg er das Fuhrwerk, das ihn durch die lärmenden Straßen der Großstadt hinausführte in die Einsamkeit seiner stillen vornehmen und doch so freudlosen Wohnung.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 22, S. 357–359,362,363
[357]
9.

Es war Januar geworden. Im Erdgeschoß eines behaglichen Häuschens unweit von Capodimonte saß Emmanuele Nacosta am geöffneten Fenster und blickte hinaus in den Vorgarten, wo die grün-weißen Stämme halbwüchsiger Feigenbäume zwischen dem satten Grün der Citronen hervorschimmerten. Der Frühling schien diesmal vor der Zeit seinen Einzug zu halten; die Wahrheit zu reden, hatte er gar nicht aufgehört. Seit Menschengedenken war der napoletanische Winter nicht so mild, so sturmlos und sonnig gewesen, und jetzt blühten bereits die blauen Sternblumen und die feurigen Anemonen, wie sonst zu Ende des Februar.

Emmanuele Nacosta war für die glückliche Festnahme Salvatore’s glänzend belohnt worden. Nicht allein, daß man höheren Ortes plötzlich erkannte, welch ein Genie des Polizei-Dienstes in dem glattgebürsteten Rocke des ehemaligen römischen Steuerbeamten steckte – eine Erkenntniß, die ihm bei dem königlichen Polizei- General des Nordviertels einen wohlbesoldeten Posten eintrug –: auch die übliche Prämie für die Ergreifung gefährlicher Missethäter war ihm ausgezahlt worden, und überdies hatte sich Monsignore De Fabris persönlich dankbar erwiesen. Mit der väterlichen Vermahnung, auch künftighin über die Sicherheit des Staates zu wachen, hatte er seinem thatkräftigen Beschützer ein Geschenk von tausend Goldgulden baar übermitteln lassen.

Es war nun allerdings herb, daß Marsucci die volle Hälfte der Prämie, und von dem Privatgeschenke des Cardinals ein Drittel für sich begehrte: immerhin blieb noch mehr als genug, um die Familie Nacosta dauernd gegen alle Entbehrungen sicher zu stellen und ihr den Aufenthalt in einem so reizenden Heim zu gewährleisten, wie das Häuschen an der Höhe von Capodimonte.

Crispina hatte mit der ungestümen Beweglichkeit der römischen Kleinbürgerin sofort das nöthige Mobiliar angeschafft, und die drei Wohnräume mit den vier blinkenden Frontfenstern in dem grellen Geschmack von Trastevere decoriren lassen. Auf den Steinfliesen lagen sauber geflochtne Matten; im Hauptzimmer ein blau und purpurn gewirkter Teppich; die Fenster waren mit Mullgardinen und schweren Wollvorhängen verschattet; es fehlte weder die hohe Schreibcommode mit den übliche Bronzelampen, noch die Madonna von Carlo Dolci mit den Rosmarinzweigen und der ewigen Lampe. Das Töchterchen, bis vor Kurzem in Lumpen gehüllt, glich jetzt einer drolligen Jahrmarktspuppe, und laut krähend spielte es auf der Strohdecke mit einem halbjährigen Pudel, den Crispina, einer alten Vorliebe fröhnend, am Toledo gekauft hatte. Die Frau selbst bekundete eine geräuschvolle Lustigkeit. Mit ihrer durchdringenden Stimme sang und trällerte sie von früh bis spät; zuweilen tollte sie mit dem Kinde und dem Pudel Pomponio über die Matten, wie ein ausgelassener Schulknabe, und lachte, daß die Scheiben erklirrten.

Trotz dieser Neugestaltung seiner Verhältnisse ward Nacosta von Tag zu Tag trübseliger. Der Mann, der nach der Confrontation mit Salvatore förmlich berauscht gewesen von der Leichtigkeit des Gelingens, der so stürmisch gejubelt hatte, als er die goldne Ernte für seine ruchlose That einheimste – er fand jetzt im Vollbesitz des Erworbenen nicht mehr die Fähigkeit des Genusses, und je näher der letzte Moment heranrückte, der den Frevel besiegeln sollte, um so schwerer und dumpfer lag es ihm auf der Seele.

Heute, in den Nachmittagsstunden, fand die Sitzung des Tribunals statt, in welcher endgültig über das Schicksal des Apuliers Beschluß gefaßt werden sollte.

So wenig von den Verhandlungen des Processes in das Publicum drang, so vollkommen war Emmanuele des schließlichen Ausgangs gewiß.

Noch einmal war er vernommen worden – und schon die Art der Fragestellung belehrte ihn, daß Alles sich so entwickelte, wie er vorausgesetzt. Salvatore war voll unglaublicher Standhaftigkeit; er ließ sich durchaus nicht irre machen; er glaubte fest an die Ehrlichkeit seines Mitverschworenen und die Zusage des vermeintlichen Cardinals.

Zu allem Ueberfluß war Emmanuele auf ein Mittel verfallen, den Verhafteten noch einmal unter vier Augen sprechen zu können.

Das Beispiel der Henker anrufend, die den Verurtheilten um Verzeihung bitten, wußte er, auf die Fürsprache eines Priesters gestützt, Zutritt in’s Verließ zu erlangen, unter dem Vorwand, daß es ihn dränge, den Verbrecher vor der Hinrichtung, die ja zweifellos sei, zu versöhnen, damit Salvatore nicht etwa mit einem Fluche wider den Mann, der ihn festgenommen, in’s Jenseits hinübergehe.

In Wahrheit jedoch galt es dem schlauen Frevler, der Entschlossenheit des Apuliers, die doch in’s Wanken gerathen konnte, [358] wenn das Furchtbare nun immer näher an ihn heran trat, neue Nahrung zu geben, ihm zuzuraunen, daß er ja seine Rolle bis zum letzten Augenblick durchführe und sich durch Nichts, weder durch den feierllch-furchtbaren Eindruck des Verdicts, noch durch die Hinausführung auf die Richtstätte, verblüffen und abschrecken lasse.

Der Cardinal – so hatte Nacosta seine Predigt geendet – habe ihm heilig versprochen, das Begnadigungsdecret des Königs durch seinen zuverlässigsten Schreiber nach dem Richtplatze zu schicken; man werde dann allerdings den Verurtheilten noch im Gewahrsam halten, da, wie begreiflich, der Cardinal die Maske so bald noch nicht könne fallen lassen; ehe aber der Monat vergehe, solle für eine Gelegenheit des Entkommens gesorgt werden, bis dann späterhin eine nicht allzu ferne Zukunft die Sache aufklären und Alles in Wohlgefallen verwandeln würde.

Salvatore glaubte ihm um so lieber, als Nacosta schon die Thatsache seines Besuchs als einen Beweis für den Eifer ausgab, mit welchem der Cardinal über der ganzen Angelegenheit seine leitende Hand halte. Nur durch den directen Eingriff Seiner Eminenz sei dieser Besuch überhaupt möglich gewesen.

Dieser unausgesetzte Erfolg hatte den Polizisten anfangs mit einer teuflischen Freude erfüllt. – Dann aber, mit einem Male, und ohne sichtbare Ursache, war seine Stimmung herabgesunken, und jetzt fühlte er inmitten seiner behaglichen Häuslichkeit unablässig eine verborgene Pein, dumpfer bald, und bald erregender, wilder, brennender.

„Was stöhnst Du nur wieder?“ fragte Crispina, die, ihr Töchterchen auf dem Arme, näher kam. „Man sollte glauben, es thäte Dir leid, daß wir die grauenhafte Spelunke in der Via di Balbo verlassen haben und hier endlich wieder ein Dasein führen, wie Du mir’s ausgemalt, als Du mich nach Livorno schlepptest! Weißt Du“ – fügte sie leiser hinzu – „daß es Verdacht erregt, wenn Du so albern den Kopf hängst? Man beobachtet uns. Drüben das alte, garstige Weib in der Mansarde lauert den ganzen Tag hinter den Scheiben, und wenn sie grinst, so mein’ ich, sie brächte uns Unglück. Daß sie den bösen Blick hat, sagst Du ja selbst, und Leute von dieser Art sehn durch die Wände. Sei doch vernünftig, Emmanuele!“

Er gab keine Antwort.

Die junge Frau trat in das Zimmer zurück, setzte das Kind vorsichtig auf den Fußboden und kam dann wieder zu Emmanuele heran. Sie umarmte ihn zärtlich und legte ihren üppigen Mund ganz dicht an sein Ohr.

„Siehst Du,“ flüsterte sie, „ich kann Dir nicht sagen, wie ich aufathme, seit wir die Tage des Elends hinter uns haben! Willst Du mir’s nun wieder vergällen? Die Woche noch – dann ist Alles vorüber! – Der Hausnarr, der ja unschuldig ist, geht in die Freuden des Paradieses ein . . . Wie Du ihn schilderst, hätte er so wie so auf dieser Erde kein Glück gefunden! Nun, und dann ist ja die letzte Möglichkeit einer Entdeckung zu Grabe gegangen. Marsucci verräth uns nicht, und die verliebte Person da auf Capri wird auch schon begreifen, daß sie mit ihrem nachträglichen Lamento den Todten nicht wieder lebendig macht!“

„Das schon! Aber die Rache!“ murmelte Emmanuele. „Diese Capresen sind heißblütig, wie die Leute von Corsica. Wenn sie nun plötzlich aufträte . . .“

„Um als Mitwisserin Salvatore’s in den Kerker zu wandern? Sie wird sich hüten! Zudem – was weiß sie denn? Daß ihr Verlobter mit einem gewissen Carlo Grisi eine Geschichte geplant hat, die fehlschlug! Von Emmanuele Nacosta ist niemals die Rede gewesen! Ich bitte Dich, die Sache ist doch so einfach!“

„Aber das Frauenzimmer hat doch inzwischen erfahren, daß der Mann, der den Apulier ergriffen hat, nicht Carlo Grisi, sondern Emmanuele Nacosta heißt.“

„Was schadet das? Vorläufig glaubt sie also meinetwegen, der Carlo Grisi und der Emmanuele Nacosta seien eine und dieselbe Person; schließlich aber wird sie auf die Idee kommen, der Plan mit Carlo Grisi habe Schiffbruch gelitten, und Salvatore sei von Emmanuele Nacosta ertappt worden, ehe noch Carlo Grisi wie verabredet herzuspringen konnte. Dann hält sie das Ganze für ein Unglück, an dem Nichts zu ändern ist, weint ihrem Thoren von Bräutigam ein paar Thränen nach und heirathet ein Jahr darauf einen Andern.“

„Ja, ja,“ murmelte Emmanuele . . . „Dennoch – ich komm’ nicht darüber hinaus! Hätte ich mir’s von Anfang so vorgestellt . . .! Es ist und bleibt schauerlich!“

„Nun, so geh’ doch und klage Dich an!“ sagte Crispina. „Die Welt verliert Nichts dabei, und ich für mein Theil finde den Weg durch’s Leben auch ohne Dich.“

„O ja, das hast Du bewiesen!“ rief Emmanuele emporfahrend.

Die Erinnerung an seine Haft im Bagno zu Civitavecchia, an Crispina’s Treulosigkeit und die verhaßte Gestalt des Marseillers, die dem Apulier so ähnlich sah, durchzuckte ihn wie ein Blitz, und mit erneuter Wuth schüttelte ihn die halb überwundene Eifersucht. Crispina hatte gesiegt; der letzte menschlich-milde Gedanke Emmanuele’s ging unter im Getümmel der erwachenden Leidenschaft. Dieser Gedanke war der gewesen: Emmanuele wollte sich mit der Ernte begnügen, die er bereits in’s Trockne gebracht; er wollte Neapel und den Boden Italiens verlassen, und von auswärts, wo die königlichen Behörden ihm Nichts anhaben konnten, durch eine Zuschrift an Monsignore De Fabris das ganze Lügengewebe zerreißen, um so den Apulier vom Tode zu retten. Jetzt war das Alles dahin, wie zerflatterndes Rauchgewölke. Hatte er, Emmanuele, so Schweres erduldet, so verschmähte er auch das Mitleid mit Andern! Niemals war ihm Crispina so blühend, so begehrenswerth erschienen, als jetzt – und nie glaubte er sich vollkommener berechtigt, beim Aufwärtsschreiten nach dem Ziel, das ihm vorschwebte, den Apulier – und wen immer sonst – unter die Füße zu treten.

Trotz dieser Gemüthsverfassung überrieselte es ihn eiskalt, als gegen Abend, in den dichtesten Mantel gehüllt, Marsucci über die Schwelle trat.

„Nun?“ fragte Crispina, die eben ihr Töchterchen zur Ruhe gebracht hatte und jetzt funkelnden Auges zu Marsucci emporsah.

Der Gehülfe des Scharfrichters nickte, wie ein behäbiger Kaufherr, der ein gutes Geschäft gemacht hat.

„Alles in Ordnung,“ sagte er kaltblütig.

Emmanuele war starr. Er hatte sich bis zu dieser Minute für den vorurtheilslosesten und dreistesten Egoisten unter der Sonne gehalten: jetzt aber sah er ein, daß es Menschen gab, denen die Missethat so naturgemäß ist, wie das Leben und Athmen. Das anfängliche Zögern Marsucci’s, – damals vor dem Kaffeehause der Strada del Gigante, als Nacosta ihm zuerst von dem Projecte geredet – war also offenbar nur Vorsicht und Verstellung gewesen.

Auch Crispina klatschte mit einem bestialischen Lachen in die rundlichen Hände, erst dann ihre Ausbrüche mäßigend, als ihr Blick auf das verstörte Antlitz Emmanuele’s fiel.

Nun warf sie sich zärtlich an seine Brust, streichelte, küßte ihn und verscheuchte ihm so auf’s Neue die erwachende Qualempfindung.

Während der Viertelstunde, die Marsucci bei dem Ehepaare verbrachte, hielt sich Emmanuele schweigend und zuwartend. Crispina dagegen und der Gehülfe des Nachrichters tauschten unaufhörlich geflüsterte Reden aus, – so leise und hastig, daß Emmanuele sich vorbeugen mußte, um einigermaßen folgen zu können.

„Also verurtheilt?“ fragte Crispina. „Ohne Weiteres? Keinerlei Abmilderung?“

„Verurtheilt,“ wiederholte Marsucci, „so blank und voll, wie je ein Räuber des Monte Sant’ Angelo. Einen von den Carabinieri, die ihn bei der letzten Verhandlung vorgeführt haben, kenn’ ich von Rom aus. So fragt’ ich ihn beiläufig, ob wir Arbeit bekämen, wir –: nämlich mein Chef und ich und der Andre. ‚Leider!‘ – sagte der Mensch; denn er meinte, um einen so hübschen Kerl wie den Salvatore Padovanino sei’s schade; der hätte als Carabiniere eine Figur gemacht, wie kaum er selbst; – und das wolle doch viel sagen.“

„Und wie benahm er sich bei der Sache?“

„Wer? Der Apulier? Nun, der hielt sich wie all’ die Zeit über! Was sollt’ er auch machen? Hat er A gesagt, muß er auch B sagen! Uebrigens wißt Ihr ja von Eurem Gemahl, wie fest der Bursche davon durchdrungen ist, daß Monsignore De Fabris über ihm wacht und zur rechten Zeit in das Trauerspiel eingreifen wird.“

„Unglaublich!“ meinte Crispina.

„Der Mensch ist eigentlich glücklich,“ fuhr der Gehülfe des Scharfrichlers fort. „Bis zum letzten Moment lebt er in dem [359] rosigen Wahn, für sich und das Wohl der Regierung etwas Kolossales zu leisten – und zur Erkenntniß vom Gegentheil kommt er ja überhaupt nicht. Das Alles geht eins, zwei, drei, – und dann spricht der Pfaffe ein Paternoster.“

„Wenn ihm nur die frappante Aehnlichkeit zwischen dem vermeintlichen Cardinal und Herrn Marsucci nicht auffällt! Oder habt Ihr die Möglichkeit, Euch für diesmal den Obliegenheiten Eures Berufs zu entziehen?“

„Das nicht, Signora. Gleichwohl ist Nichts zu befürchten. Mein Bart ist inzwischen tüchtig gewachsen, und mein Costüm thut das Uebrige. Auch wird der Apulier trotz seiner Zuversicht ein bischen aufgeregt sein, – das begreift sich ja – und in solcher Verfassung hat man wenig Talent zum Beobachten.“

„Ich für mein Theil, ich würde Euch erkennen, Marsucci!“

„Ja, Ihr! Die Weiber sind wie die Schlangen! Der aber – der sieht wohl, daß eine Wolke, die droben im Aether segelt, wie ein Adler gestaltet ist oder wie ein Gesicht – aber das Nächste – was ihm dicht unter die Augen tritt – das existirt für ihn nicht! Nun, und wenn auch, so wird er höchstens auf den Gedanken kommen, für den Gehülfen des Scharfrichters sei es anßerordentlich schmeichelhaft, mit Seiner Eminenz das gleiche Profil zu haben. Wie gesagt, Ihr glaubt nicht, Signora, wie bornirt diese Virtuosen der Phantasie in Fragen des alltäglichen Lebens sind! Na, alltäglich ist die Sache ja eigentlich nicht – aber ich meine nur . . . Und wenn ich auch hierin mich täuschte, so ist Eines doch zweifellos: der Signore di Napoli wird ihm nicht lange Zeit lassen, sein Staunen in Worte zu kleiden.“

Es entstand eine Pause. Dann fragte Crispina zögernd:

„Und wann . . .?“

„Sobald das Urtheil rechtskräftig wird. Das dauert noch eine Weile – länger vielleicht als uns lieb ist.“

„Wie so?“

„Nun, der Cesari, der ihn vertheidigt hat, ist ein zäher Geselle, – doppelt zähe vielleicht, weil die Regierung aus Anlaß des Attentats die ‚Freiheitsfreunde‘ vielfach gemaßregelt hat. Ihr wißt doch –“

„Ja, ja, ich weiß! Aber was hat das mit dem Proceß zu thun?“

„Nichts, nichts! Ich meinte nur, ein Bär, den man reizt – Ihr kennt ja das alte Sprüchwort. Der Signore Cesari wird Alles aufbieten, um die Sache hinauszuziehn. Ich verstand nicht recht, was der Carabiniere mir vorschwatzte. Es scheint, daß es noch Rechtsmittel giebt. Helfen wird’s ihm freilich so wenig, wie alles Andre, was er bis jetzt in’s Feld geführt hat. Einiges davon stand ja in der Gazzetta. Er behauptet, Salvatore sei nicht klar bei Vernunft; seine Aussage enthalte eine Reihe von Widersprüchen – nun, Ihr habt es wohl gelesen. Dann aber soll auch bei den Verhandlungen irgend ein Fehler mit untergelaufen sein, der eine Handhabe bietet – natürlich nur zum Verschleppen, nicht etwa zur Aenderung des Urtheils. Ich betone das nur, damit Ihr nicht staunt, wenn’s vielleicht ein paar Wochen noch dauert. Uebrigens – merkwürdig, woher dieser Cesari den Muth nimmt, so mit den Herren vom Tribunale Fangball zu spielen, während er selbst doch scharf an der Kante steht – Ihr wißt, von wegen der königlichen Edicte! Vier oder fünf seiner Gesinnungsgenossen hat die Regierung dieser Tage erst über die Grenze geschickt! Es scheint jedoch, daß er Verbindungen hat bis hinauf ... Sonst wäre es rein unbegreiflich, wie es ihm gestattet wird, bei jedem Anlaß über die Schnur zu schlagen.“

„Der verwünschte Geselle!“ platzte Crispina heraus. „Was er nur will, der Laffe! Wenn der Apulier sich bei dem Urtheil zufrieden giebt – und das wird er doch wohl –“

„Gewiß! Der Apulier hat sofort Ja und Amen gesagt. Cesari jedoch, als Vertheidiger, legt Protest ein – und da er nicht von Salvatore gewählt, sondern durch das Loos ihm bestimmt wurde, so hat er ein Recht hierzu. Auch versichert er ja, der Apulier sei nicht zurechnungsfähig. Nun, er mag sehn, was er anstellt; ausrichten wird er nicht das Geringste, denn der Cardinal selber steckt, wie es heißt, hinter den Richtern, und trägt Kohle zum Feuer. Der heillose Schreck ist dem Monsignore dergestalt in die Glieder gefahren, daß er ein Exempel statuiren will, – und er scheint es eilig zu haben.“

Crispina erhob sich jetzt und trug aus dem Nebenzimmer eine Foglietta mit dunklem Asti herbei. Dann holte sie Gläser und schenkte ein.

„Euer Wohl, Herr Gevatter!“ wandte sie sich zu Marsucci. „Ich hoffe, Ihr tragt es mir nicht nach, wenn ich früher auf Euch gescholten, – und daß ich erschrocken bin, als ich hörte, welch’ verteufelt Geschäft Ihr jetzt treibt. Es liegt uns im Blut – von der Mutter her: aber ich hab’ mir’s nun abgewöhnt, und so find’ ich, daß der Titel ,Signore di Napoli‘ ganz respectabel klingt. Nun, Emmanuele, weshalb trinkst Du nicht mit?“

„Ich kann nicht,“ versetzte Nacosta. „Mir ist die Kehle wie zugeschnürt.“

„Narr! Versuch’s nur! Das klärt Dir das dumpfige Blut! Du lebst zu üppig, Emmanuele! Wahrhaftig, manchmal bedünkt’s mich, als setztest Du Fett an! Komm! Auf Einen Zug!“

So suchte sie ihn mit hereinzuziehn in die Stimmung, die den Gehülfen des Scharfrichters und sie selbst mit so naiver Schamlosigkeit beherrschte. Emmanuele trank. Sie füllte sein Glas von Neuem. Er leerte es abermals – dann aber schien ihm zu grauen vor dem teuflischen Gelächter, das Crispina beim Anblick seiner Fügsamkeit aufschlug. Die Schultern hoch ziehend lehnte er sich in den Sessel zurück und schloß mit einem tiefen, peinvollen Seufzer die Augen.

Als Marsucci mit der flotten Crispina die Foglietta geleert hatte, nahm er Abschied.

Emmanuele murmelte ein gepreßtes „Gott sei Dank!“, erhob sich und trat hinaus in den Garten. Crispina folgte ihm und hing sich, wie eine Verliebte, an seinen Arm. So durchwandelten sie, Schulter an Schulter gelehnt, die lauschigen Kieswege. Eine friedvolle Abendstille senkte sich mehr und mehr auf das reizende Fleckchen Erde, das Nichts gemein hatte mit der lauten Unrast Neapels.

Ruhiger und kühler floß Emmanueles erregtes Blut; er vergaß allmählich, was ihn zuletzt wieder bei dem geilen Gelächter des jungen Weibes bestürmt hatte; die beiden Verbrecher feierten eine Idylle inmitten der schauerlichsten Tragikomödie.

Da es zu dunkeln begann, eilte Crispina ins Haus, um das Mahl zu richten. Sie speisten mit vortrefflichem Appetit. Den Abend verbrachten sie im Teatro San Carlo.

Auf die nämliche Weise verstrichen zehn oder zwölf Tage. Emmanuele wechselte zwischen den Anwandlungen einer reuevollen Verzweiflung und der leidenschaftlichsten Hingabe an das Genießen der Gegenwart. Doch schien die Gewohnheit dieses Genießens, das Crispina bei ihrem Gatten geflissentlich nährte, eine wachsende Leichtherzigkeit zu erzeugen, und hiermit die Aussicht, daß die Bedenken und Kümmernisse immer seltner emportauchen würden. – War dies völlig erreicht – dann, ja dann war Emmanuele der Mann, wie Crispina ihn brauchte, der scrupellose Abenteurer aus der Via di Balbo, dem die glänzendste Zukunft bevorstand.

Eines Tages hatten sie wieder die Abendstunden im bunten Gewühl der Toledostraße, in den Kaffee-Häusern und den glanzerfüllten Bazaren verbracht und schritten in rosigster Laune ihrem Capodimonte zu, als Marsucci, wie aus dem Boden gewachsen, breit vor sie hin trat.

Erschreckt prallte Emmanuele zurück, denn in der Person seines Spießgesellen verkörperten sich ihm all’ die Beklommenheiten der letzte Woche.

„Was giebt’s?“ fragte Crispina.

„Geduld, Signors! Hier ist die Straße noch zu belebt.“

Nach drei Minuten erreichte man so den Vico, der nach der Wohnung Nacosta’s führte.

Crispina machte nun Halt und frug, ob Marsucci mitkommen wolle.

„Ich danke Eüch,“ sagte Marsucci. „Was ich zu sagen habe, ist bald auseinandergesetzt. Hört, – und laßt Euch beglückwünschen! Ich weiß mit Bestimmtheit, daß wir am Ziele sind! Ich meine, am letzten Ziel . . . Ihr versteht mich!“

„Endlich!“ sagte Crispina, aus tiefster Brust Athem holend.

„Schon, Frau Gevatterin! Die Sache ist ganz verflucht schnell gegangen! Cesari hat mit allem Gethu’ und Geschreibe Nichts zu Stande gebracht – nicht einmal die Begnadigung oder den Aufschub! Das Todesurtheil, vom Könige unterzeichnet, befindet sich seit gestern bereits in den Händen des Tribunals-Präsidenten.“

„Woher wißt Ihr . . .?“ stammelte Crispina erbebend.

„Woher? Einfach genug. Auf morgen ist die Execution festgesetzt. Ich habe schon Ordre . . .“

[362] „Komm!“ raunte Nacosta zähneklappernd. „Man überrascht uns hier noch! Es ist gut, Marsucci! Geht, geht – ich beschwöre Euch!“

Er zog Crispina hinweg.

„Der kriegt vor Freuden das Zipperlein,“ lachte Marsucci. Dann machte er Kehrt.

Emmanuele sprach keine Silbe. Zu Hause angelangt, warf er sich, noch im Ueberrocke, auf’s Bett, und preßte sein Gesicht wider den Arm. Seine Brust schien zu krampfen. Es packte und schüttelte ihn wie ein Fieberanfall.

Staunend hatte Crispina sein Gebahren beobachtet. Eine Weile stand sie mit übergeschlagenen Armen da, als sei sie unschlüssig, ob sie ihm zureden solle. Dann plötzlich trat sie an ihre Kommode, öffnete, nahm vorsichtig Etwas heraus und schloß wieder ab.

In diesem Augenblicke sprang Emmanuele empor.

„Morgen! Morgen!“ schrie er mit geller Stimme. „O, ich wußt’ es im Voraus, es würde mich niederwerfen! Du, Du allein bist schuldig an dieser Erbärmlichkeit! Du und Marsucci!“

„Sprich nicht so laut!“ versetzte Crispina frostig. „Du lügst, Emmanuele! Die ganze Idee ging von Dir aus, nicht von mir, – und den Marsucci hast Du erst später geworben, wie der Apulier Dir Miene machte, aus dem Netze zu schlüpfen. Du, Du bist der Urheber: also laß Dein Gewinsel! Ueberhaupt, was bezweckst Du damit? Du geberdest Dich wie ein schlotterndes Weib, nicht wie ein Mann, der Courage hat und Mark in den Knochen!“

„Crispina,“ versetzte er tonlos, „pack’ zusammen, was Dir von Werth scheint – noch jetzt, noch in dieser Minute! Wir müssen fort! Ich erfuhr heute auf Santa Lucia, daß morgen in aller Frühe ein Schiff nach Malta geht. Dort sind wir in Sicherheit. Für Pässe habe ich längst schon gesorgt. Eh’ wir an Bord steigen, schicke ich einen Beamten des Viertels zum Cardinal und enthülle ihm, was er zu wissen braucht. Kannst Du denn ruhig mitansehn, wie dieses Scheusal, dieser Marsucci, einen Menschen auf’s Brett schnallt, der unschuldig ist wie ein Kind? Ich, Crispina, ich ertrage es nicht! Also vorwärts! Was zögerst Du noch? Pack’ ein, sag’ ich! Hörst Du? Ich unterdessen schreibe den Brief!“

„Elender Feigling!“ raunte die junge Frau, hochroth vor Zorn und Erbitterung. „Einmal hast Du mich zur Närrin gemacht – aber ich schwöre Dir’s: nicht zum zweiten Mal! Hältst Du Dein Wort nicht aus freien Stücken – wohl: so zwinge ich Dich!“

„Du ?“

„Ja, ich! Eh’ ich Dich abreisen lasse, geh’ ich selber zum Polizei-General und zeige Dich an! Mag dann werden, was will! Ich bin’s müde, ewig wie eine Heimathlose von Ort zu Ort zu wandern und nirgends Ruhe zu finden, nur weil mein Gatte ein verächtlicher Tropf ist!“

„Gut!“ stöhnte Emmanuele außer sich. „Geh’, – geh’, Crispina – oder besser: ich gehe selbst!“

So sprechend wollte er nach der Thür.

Crispina vertrat ihm den Weg. In ihrer Rechten blitzte ein Terzerol.

„Wag’ es, Du Memme!“ flüsterte sie mit dämonischem Augenrollen. „Ich zerschmettere Dir das Gehirn, wenn Du nicht augenblicklich einen Eid auf das Kreuz schwörst, daß Du schweigen willst und Dich ruhig verhalten!“

Emmanuele war beim Anblick der gespannten Waffe zurückgeschreckt. Jetzt lachte er höhnisch auf.

„Schieß’ nur zu, Du zwiefache Mörderin!“ ächzte er, einen Schritt vorwärts machend. „Was liegt mir wohl am Leben? Ich erkenn’ es nun, wie verblendet ich war, als ich dem Marseiller das zärtliche Liebchen abjagte! Ohne Dich – wie stünde es anders um mich! Du allein hast mich in den Bagno gebracht mit Deinem verwünschten Hang zum Genuß, mit Deiner blöden Verschwendung und Deiner schmeichlerischen Verlogenheit. Schieß’ doch zu, schöne Crispina! Der Marseiller bleibt Dir ja immer noch – oder ein Andrer!“

Durch den Lärm dieser Scene geweckt, hatte das Kind in seinem Bettchen sich aufgerichtet. Mit großen, ängstlich blickenden Augen starrte es um sich, – bald auf den Vater, bald auf die Mutter, deren wilde Geberde es nicht verstand.

Plötzlich, wie vom Taumel des Wahnsinns erfaßt, richtete Crispina den Lauf ihres Terzerols nach der Stirne der Kleinen.

„Ich drücke los, wenn Du Dich rührst, Du Verräther!“ raunte sie ihrem Gatten zu. Der Ausdruck ihrer verzerrten Züge war fürchterlich. „An Deinem eignen Leben mag Dir wenig gelegen sein, – denn der Feigling ist nicht die Kugel werth, die ihm dem Schädel zerschmettert – aber das Kind –! Hörst Du, Emmanuele? Du hast sie lieb gehabt, die kleine Laurella; sie war Dein Glück und Dein Trost zu einer Zeit, da uns Alles verloren ging! Ich tödte Laurella, und mich darnach, wenn Du noch die leiseste Miene machst, wie ein Schwächling zu handeln!“

Emmanuele sank in die Kniee.

„O Gott, o Gott!“ stammelte er todtenblaß. Er fühlte: dieses Weib war zu Allem fähig.

„Steh’ auf,“ herrschte sie ihn an, „und begieb Dich zur Ruhe! Ich will’s vergessen, was zwischen uns vorgefallen, wenn Du mir beim Leben der Kleinen schwörst, nichts zu beginnen, was ich nicht gutheiße!“

„Das Terzerol!“ stöhnte Nacosta, angstvoll die beiden Arme ausstreckend.

Crispina senkte langsam den Lauf ihrer Waffe.

„Tritt zu Laurella an’s Bett!“ befahl sie. „Leg’ ihr die Hand auf’s Köpfchen und schwöre!“

Emmanuele gehorchte. Nachdem er ihr nachgesprochen, was sie ihm vorsprach, schloß er das Kind, das jetzt laut zu weinen anfing, krampfhaft in seine Arme.

Die Uhr schlug Eins.

Kein Wort mehr wurde zwischen den beiden Ehegatten gewechselt. Während sich Emmanuele entkleidete, goß Crispina frisches Oel auf die Lampe.

„Ich will die Nacht über Licht halten,“ sagte sie halb zu sich selbst. „Mein Schlaf ist leise. Wehe ihm, wenn er versucht, mich zu täuschen!“

Das Terzerol neben sich auf den Stuhl legend, ging sie zu Bett. Unruhig warf sich Emmanuele von einer Seite zur andern. Erst gegen fünf Uhr entschlief er; Crispina jedoch schloß kein Auge.

So schien denn die letzte Möglichkeit, die das Schicksal des unglücklichen Apuliers hätte abwenden können, durch den Willen dieses leidenschaftlichen Weibes vernichtet.

Gegen halb zehn richtete sich Emmanuele wie verstört in den Kissen auf.

„So!“ rief Crispina mit triumphirendem Hohn. „Jetzt thu’, was Du willst! Ehe Du noch den Richtplatz erreichst, hat Marsucci sein Werk schon gethan!“




10.

An dem nämlichen Morgen ward Salvatore Padovanino gegen halb sieben geweckt.

Der Verurtheilte hatte, seitdem das Urtheil verkündet war, dem Tage der Execution mit den Empfindungen des Schülers entgegengesehen, der, des glücklichen Ausgangs gewiß, ein Examen durchmachen soll. – Jetzt aber, als der Gefängnißwärter mit den Schergen des Signore di Napoli die Zelle betrat, überlief’s den Apulier wie von heimlichen Schauern. Sein Stolz bäumte sich auf. Selbst vor den Schranken des Tribunals hatte er sich leichter und freier gefühlt, als im Anblick der beiden Knechte . . .

„Salvatore Padovanino,“ sagte der Aeltere – ein roher, wüster Geselle, der gleichwohl den Eindruck einer gewissen Jovialität machte, „wir kommen, Euch abzuholen. Der Geistliche, der Euch gestern besuchte, wartet einstweilen in der Wohnung des Schließers. Es steht Euch frei, ob Ihr noch einmal, eh’ wir Euch fertig machen, mit dem hochwürdigen Manne allein sein wollt. Es ist Zeit mehr als genug.“

Den Apulier fröstelte. Starr die Augensterne auf den Sprecher gerichtet, fragte er, was das heiße: „Eh’ wir Euch fertig machen“?

„Nun,“ gab ihm der Scherge zur Antwort, „Ihr könnt doch nicht so, wie Ihr da seid – Na, Ihr werdet schon sehen! Also: wollt Ihr den Priester, oder genügt’s Euch, wenn er zuletzt . . .?“

Salvatore machte eine Geberde der Ablehnung. Als gläubiger Katholik hatte er’s schon gestern kaum über’s Herz gebracht, dem Priester, der ihm die Beichte abnahm, den wahren Sachverhalt [363] zu verschleiern. Jetzt nun gar in dieser wachsenden Aufregung – nimmermehr! Die erneute Begegnung hätte ihn zu erneuten Kunstgriffen genöthigt, und er hatte jetzt vollauf zu thun mit der Hauptsache.

Der Kerkermeister legte das Verhalten des Delinquenten als frevelhafte Verstocktheit aus. Mit einem halblauten Fluch auf die ‚Freiheitsfreunde‘ entfernte er sich, während die beiden Knechte Dasjenige bei dem Apulier in Angriff nahmen, was in der Amtssprache des Nachrichters die Toilette genannt wird.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 23, S. 382–384

[382] Salvatore mußte den Rock, den er bis dahin getragen, mit einem kurzen, enganschließenden Wamms vertauschen. Dann rückte man die Holzbank in die Mitte der Zelle. Nachdem der Apulier sich rittlings darauf gesetzt, packte ihm der jüngere der beiden Knechte das dichte Gelock und zog es straff an, während der ältere es mit haarscharfer Scheere dicht am Kopf abschnitt.

Bei der ersten Berührung des kalten Stahls war Salvatore zusammengezuckt.

„Gemach!“ rief der Knecht auflachend. „Sträubt Ihr Euch, dann geht mit den Haaren auch die Schwarte zum Teufel. Das hat zwar nicht viel mehr zu sagen für die anderthalb Stunden, – aber es thut nicht gut, so bei lebendigem Leibe skalpirt zu werden.“

Salvatore biß die Zähne zusammen. Die langen Wochen im Verließe von Pizzo Falcone hatte er hingenommen wie eine schwere, unabweisliche Arbeit: jetzt aber dieser brutale Angriff wider seine Person, diese Entwürdigung durch die Fäuste der Henkersknechte – das warf ihn beinahe zu Boden. Nicht viel hätte gefehlt, und er wäre schwankend geworden, ob er nicht jetzt noch im letzten Moment die Maske abwerfen und – „neuer Geständnisse halber“ – die Vorführung beim Präsidenten des Tribunals verlangen sollte.

Nachdem sein schönes dunkles Gelock unter der Scheere des Knechtes gefallen war, trennte man ihm den zollbreiten Bund vom Hemde los, damit der Hals auch nach unten vollständig freiliege. Die flachen Bastschuhe mußte er mit Lederstiefeln vertauschen. Auf die rechte Schulter heftete man ihm ein schwarzes Kreuz aus gestepptem Wolltuche, – das Zeichen, daß er dem Tode verfallen sei.

Hiermit waren die Zurüstungen vollendet.

„Eine halbe Stunde noch haben wir Zeit,“ sagte der Knecht, der bis dahin das Wort geführt hatte. „Verlangt Ihr etwas zu essen oder zu trinken, so könnt Ihr’s haben. Ich weiß wohl, ein armer Teufel in Eurer Lage verspürt keinen übermäßigen Appetit: aber wenn ich Euch rathen soll, so genießt wenigstens etwas Wein, damit Ihr nicht schwach werdet. Ein Kerl wie Ihr darf nicht sterbeu, wie eine alte Giftmischerin, mit Zittern und Winseln!“

Salvatore verspürte in der That das Bedürfniß nach einer Stärkung. Der Knecht pochte wider die Thür; gleich darauf brachte der Schließer einen Korb mit Lebensmitteln und eine offene Foglietta. Das Gewohnheitsgemäße, das aus dieser Promptheit zu sprechen schien – denn der Kerkermeister hatte eine Bestellung gar nicht erst eingeholt – übte auf Salvatore abermals eine bedrückende Wirkung. Er kam sich vor, als sei er nur noch das Rad einer Maschinerie, die mit scharf zu berechnender Genauigkeit arbeite. Was ihm denn eigentlich bei der Sache so nahe ging, wußte er selbst nicht; denn ein Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Vereinbarungen mit dem vermeintlichen Cardinal war ihm, seit Emmanuele ihn im Kerker besucht hatte, nicht wieder aufgetaucht.

Gierig leerte er ein paar Gläser; dann aß er einige Bissen von dem gebratenen Fleisch, ohne sich um die halb gutmüthigen, halb cynischen Redensarten der beiden Knechte zu kümmern, die ihm allerlei Rathschläge ertheilten und Muth zusprachen und ihm versicherten, es gehe schnell wie der Blitz.

Es schlug acht. Gleich darauf begann ein schrilles, klagendes Glöcklein zu läuten. Die Knechte banden dem Verurtheilten die Hände quer übereinander und führten ihn durch den langen Corridor nach der steinernen Wendeltreppe, wo der Priester sich ihnen anschloß.

Vor dem nördlichen Thor des Castells hielt ein zweirädriger Wägen, – nach Landessitte mit schwarzen Tüchern bedeckt.

Beim Anblick dieses entsetzlichen Fuhrwerks ward Salvatore blaß wie der Tod. Nacosta mußte ihn unerhörter Weise getäuscht haben, oder Seine Eminenz hielt nicht Wort; denn es war dem Verurtheilten mit aller Bestimmtheit versichert worden, die Execution politischer Verbrecher finde neuerdings stets im inneren Hof des Castells statt, so daß auch er die Mauern von Pizzo Falcone nicht werde verlassen müssen. Jetzt aber bewies ihm das schwarzverhangne Corricolo, daß ihm die Fahrt durch die volksbelebten Gassen der Stadt bevorstehe, nach dem Richtplatz des Signore di Napoli, wo eine unabsehbare Menschenmenge ihn voll Neugier begaffen würde.

Er stutzte. Er stammelte etwas von Verrath. Er machte eine Geberde des Widerstandes. Im nächsten Moment jedoch sah er sich von den Knechten rechts und links bei den Armen gepackt und auf den Vordersitz der Karre gedrängt, wo der Priester schon Platz genommen. Fast betäubt, wie er war, fügte er sich schweigend ins Unvermeidliche.

Von berittenen Sicherheitswächtern begleitet, setzte das Fuhrwerk sich in Bewegung. Ueberall wich das Volk mit jenem neugierigell Grausen zurück, das der Anblick eines todgeweihten Verbrechers hervorruft. Gleichzeitig machte sich ein halbunterdrücktes Murmeln gelteud, das beinahe wie Bedauern klang. Die öffentliche Meinung hatte während der letzten Wochen einen Umschwung erfahren. Alle Welt erzählte sich jetzt: Salvatore Padovanino sei von Zauberern und Dämonen verlockt worden – denn so legte sich das abergläubische Volk die Behauptungen Antonio Cesaris zurecht. Der Verurtheilte erschien daher mehr im Lichte eines unglücklichen Verhängnisses, als in dem der Schuld und der Missethat, – und da man überdies wußte, daß er von auffallender Schönheit war, so hatte sich namentlich bei den Frauen eine mitleidige Sympathie entwickelt, die allgemach bis hinauf in die höchsten Kreise ging. Salvatore, der – nach seinen Erfahrungen vom Tage des Attentats – einen Sturm der Entrüstung und des Hasses erwartet hatte, begriff diese Ruhe nicht; in seiner tiefen Erregtheit hielt er sie für jenes Uebermaß der Verachtung, das keines Wortes mehr fähig ist, und abermals befiel ihn eine trostlose Zaghaftigkeit, die ihn das ganze Gaukelspiel qualvoll bereuen ließ.

Auf dem Platze des Signore di Napoli hatte man in der Nacht zuvor das Blutgerüst aufgeschlagen. Eine Barrière, mit Polizisten und Soldaten besetzt, sperrte die eigentliche Richtstätte gegen das Publicum ab. Hier traf Salvatore, vom Corricolo steigend, den Präsideuteu des Tribunals und zwei seiner Beisitzer, den Staatsprocurator, den Secretär des Cardinals, die Spitzen der Sicherheitsbehörden und einige andere officielle Persönlichkeiten, die in ceremoniöser Haltung dem aufregenden Acte, zu dessen Erledigung sie hier versammelt waren, entgegensahen.

Jenseits des Blutgerüstes, wider den Stamm eines Flaggenbaums, lehnte, in Scharlach gekleidet, Meister Gregorio, der Henker, den das Volk „il Signor di Napoli“ nannte. Rechts von ihm, gleichfalls in Scharlach, stand sein erster Gehülfe, ein feister, stämmiger Sicilianer; links, in Scharlach und Gelb, sein zweiter –: Nacostas Mitverschworener Marsucci. Der Letztere hatte sein breites Barett tief in die Stirn gedrückt. Der Vollbart, [383] der ihm das breite, behäbige Antlitz umrahmte, ließ allerdings den Pseudo-Cardinal aus dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“ nur mühsam erkennen.

Die Knechte, die den Apulier aus dem Kerker geholt, führten ihn jetzt in die Mitte des Platzes. Der Staatsprocurator in seiner langen, wallenden Robe trat mit feierlicher Würde zu ihm heran und las ihm noch einmal das Urtheil des Tribunals, das der König durch seine Unterschrift für vollstreckbar erklärt hatte; danll winkte er dem Signore di Napoli und überantwortete ihm in der vorgeschriebenen Redewendung den Verurtheilten zur Execution.

Salvatore hörte nur den Klang dieser dröhnenden Stimme; den Sinn des Gesprochenen faßte er nicht mehr auf. – Sein Blick haftete mit wachsender Ungeduld an der Oeffnung der umstellten Barrière, wo der Bote des Cardinals mit dem Begnadigungsdecrete erscheinen mußte. Wahnsinniges Grausen ergriff ihn bei dem Gedanken, den er früher bereits im Kerker sich ausgemalt hatte: daß dem Boten ein Hinderniß in den Weg treten, daß er verunglücken könne – Und dann . . .? – Freilich, Emmanuele hatte ihm noch neulich erklärt, der Sendling Seiner Eminenz werde sich ganz in der Nähe halten: im schlimmsten Fall habe der Signore di Napoli Auftrag, die Sache künstlich hinauszuziehen. Aber wer konnte wissen, ob nicht da oder dort etwas Wesentliches versäumt war, ob nicht die Rechnung so oder so einen Fehler enthielt ...?

Er träumte noch, als die Schergen ihn schon bei den Armen ergriffen und nach dem Ausgang zum Blutgerüst fortzogen. Der Priester stand bereits oben, beklommene Starrheit in den sympalhischen Zügen, offenbar noch ein Neuling in dem traurigen Berufe des letzten Trösters . . .

„Ja, was soll’s denn ...?“ ächzte Salvatore, sich krampfhaft umkehrend. „Wo bleibt – So wartet doch . . .!“

„Faßt Euch ein Herz!“ raunte der Knecht, der ihn schon im Kerker ermahnt hatte. „Das hilft nun nichts, und je schneller Ihr zuschreitet, um so eh’r ist’s vorüber.“

„Nacosta! Er läßt mich im Stich!“ röchelte Salvatore verzweiflungsvoll. Mechanisch gehorchend, stieg er die Stufen hinauf. Dann aber, als er den offenen Sarg erblickte, der neben der Guillotine stand, ergriff’s ihn wie heller Wahnsinn. Er sträubte sich mit übermenschlicher Kraft; „Verrath! Verrath!“ rief er im Ton des höchsten Entsetzens. „Nacosta – der Cardinal – ich bin verloren!“

Die beiden Knechte, an solche Scenen gewöhnt, hielten ihn mit eisernem Griffe gepackt. Von der anderen Seite her war inzwischen der Signore di Napoli mit seinen Gehülfen auf das Gerüst getreten. Die Knechte übergaben ihr widerspenstiges Opfer den beiden Unterbeamten des Scharfrichters, denn diesen lag es nun ob, den Delinquenten auf’s Brett zu schnallen.

Marsucci, die Blicke gesenkt, trat zu Salvatore heran und faßte ihn bei den Handschellen. Der Apulier starrte ihm in’s Gesicht, als gewahre er ein Gespenst. In der Verlegenheit seines bösen Gewissens schloß Marsucci das rechte Auge, wie er in gewissen Momenten zu thun pflegte, und nun schwand dem unglücklichen Salvatore der letzte Zweifel.

„Ihr! Ihr!“ schrie er mit herzzerreißender Stimme. „Der Cardinal . . . O, nun versteh’ ich’s ...!“

Marsucci fühlte, daß vom nächsten Moment Alles abhing. Wie ein Rasender hatte er den Apulier zu Boden gezerrt, während sein Genosse dem Unglücklichen die Stricke fest um den Leib schlang.

Bei dem Ausruf: „Der Cardinal!“ besorgte der Staatsprocurator, der Delinquent möchte sich in beschimpfenden Wuthausbrüchen gegen Monsignore De Fabris ergehen. Er veranlaßte den commandirenden Officier, die Trommeln rühren zu lassen, sodaß die weiteren Angstrufe Salvatore’s jäh übertäubt wurden.

„Er hat vor Angst den Verstand verloren!“ sagte Marsucci zu seinem Amtsgenossen.

Der Priester trat klopfenden Herzens zu Salvatore heran.

„Ich bin verrathen!“ schrie der Gefesselte ihm entgegen. „Ich widerrufe, was ich gestanden habe! Alles ist Lüge! Alles ist Bosheit! Hülfe! Die Verruchten ermorden mich!“

Kopfschüttelnd wandte sich der Priester hinweg. Die Hände faltend, sprach er ein stilles Gebet, während Marsucci, der Teufel in Menschengestalt, das Brett unter die Guillotine zog.

Der Signore di Napoli trat heran, um die Schnur zu lösen. Dem Apulier legte sich ein schwarzer Schleier über die Seele, eine Gefühllosigkeit, die Balsam war im Vergleich mit dem, was ihn bis dahin zerfleischt hatte. Eine Secunde noch, und das haarscharfe Beil mußte herabsausen.

Da – im letzten Moment – verstummte plötzlich das Trommelgewirbel. Ein donnernder Zuruf: „Halt! Wir bringen die Gnade des Königs!“ scholl über den menschenwimmelnden Richtplatz. Zwei Officiere von der königlichen Palastgarde waren durch die Oeffnung der Barrière gesprengt und hatten den Staatsprocurator beinahe über den Haufen geritten.

Marsucci war wie erstarrt. Das mußte das Werk des fluchwürdigen Rechtsgelehrten Antonio Cesari sein, der gleich von Anfang Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um seinen Schutzbefohlenen zu retten.

Fahl und hohläugig tastete Marsucci nach dem Haken, der die verhängnißvolle Schnur hielt. Wenn jetzt noch das Beil fiel, so konnte er einen Irrthum vorschützen, und der furchtbare Ankläger, der ihm in Salvatore erstehen mußte, war ein- für allemal stumm gemacht.

Im nämlichen Augenblicke jedoch taumelte er mit einem wilden Aufschrei zurück. Sein Vorgesetzter, von dem althergebrachten Rechte der Signori di Napoli zum ersten Male seit langen Jahren Gebrauch machend, hatte dem Widerspenstigen, der seinen Meister von Amt und Brod zu bringen gewillt schien mit dem eisernen Stab, den er führte, einen Schlag auf die Stirne versetzt, daß ihm das helle Blut über Augen und Nase rann.

Während Marsucci geblendet sein Gesicht in die Hände preßte, legte der Nachrichter selbst Hand an, um den Apulier aus seiner entsetzlichen Situation zu befreien.

Die Officiere von der Palastgarde hatten inzwischen dem Staatsprocurator eröffnet, Seine Majestät der König befehle, den Begnadigten sofort nach dem Arresthause der Municipalität zu bringen, da dem Salvatore Padovanino zwar die Todesstrafe, nicht aber die gebührende Züchtigung für seine demnächst nach Umfang und Bedeutung noch zu erhärtende Schuld erlassen sei. Eine Wiederaufnahme des Rechtsverfahrens habe Seine Majestät bereits angeordnet.

So ward Salvatore, verstört um sich schauend, wieder vom Blutgerüste herabgeführt, während Marsucci auf Ansuchen seines Vorgesetzten von einem der umstehenden Polizei-Beamten verhaftet wurde. Der Signore di Napoli, eifersüchtig auf das, was er seinen Credit nannte, heischte genaueste Untersuchung des unerhörten Gebahrens, dessen Marsucci sich beim Erscheinen der zwei Palastofficiere schuldig gemacht.




11.

Tödtlich erschöpft von Allem, was er durchlitten hatte, erreichte Salvatore das Municipalgefängniß. Jeder Nerv an ihm fieberte. Unfähig, sich länger aufrecht zu halten, warf er sich auf die Bettstatt und schloß die Augen. Ein bleierner Schlaf überkam ihn.

Gegen Mittag erst weckte ihn das Klirren der Schlüssel.

Er sah empor.

Sein Vertheidiger Antonio Cesari und Maria standen schweigend an seinem Lager.

„Du, Zingarella!“ rief er, höchlich bestürzt. Seine Gedanken verwirrten sich; er wußte nicht, wie er die Anwesenheit Maria’s verstehen sollte. Während der Fahrt nach dem Municipalgefängniß war er mehrmals geneigt gewesen, in dem plötzlichen Eingreifen der Palastofficiere dennoch die Verwirklichung des Plans zu erblicken, den er mit Emmanuele vereinbart hatte. Dann aber trat ihm die Gestalt Marsucci’s vor die schaudernde Seele und mit ihr die zweifellose Gewißheit, daß Alles Lüge und Trug gewesen. Wie aber erklärte sich dann die unerwartete Rettung?

Ein ängstlich forschender Blick in das Antlitz der Zingarella verrieth ihm, wo er die Ursache dieser Rettung zu suchen habe.

„Also ist Alles verrathen,“ sagte er zu sich selbst. „Wenn mir auch das Schlimmste erspart blieb, so ernte ich doch statt des ersehnten Lohnes neue Verfolgung; denn daß die Sache nicht einfach begraben wird, das ist klar wie die Sonne!“

[384] Seufzend schaute er bald nach Maria, bald nach Cesari. Die Zingarella war bleich, beinahe hohläugig. Im Angesichte des Rechtsgelehrten las der Apulier ein Gefühl des Triumphes – und doch wieder etwas Finsteres, Verstimmtes und Vorwurfsvolles.

„Unglückseligster aller Menschen,“ begann Cesari, „welcher Fluch verfolgt Euch, daß Ihr so blindlings in Euer Verderben rennt? Wer weiß, vielleicht wäre es besser gewesen, das Entsetzliche hätte sich regelrecht abgespielt und die Botschaft des Königs wäre zu spät gekommen!“

„O, Signore Cesari!“ stammelte Salvatore; „Ihr wißt also ...?“

„Alles weiß ich – Alles, nur nicht den Namen jenes Verruchten, der Euch im Albergo zum ‚Goldnen Kreuz‘ die Rolle des Monsignore De Fabris vorspielte. Auch das wird sich finden, denn die Häscher sind bereits auf dem Wege nach der Wohnung Eures Freundes Nacosta. Aber nun sagt mir doch, Ihr unglaublicher Thor, – wie war es möglich, daß Ihr den Sinn dieses Truggewebes nicht augenblicklich durchschautet? Daß Ihr Euch einreden konntet –? Bei San Gennaro, ich zweifle noch, ob Ihr nicht wirklich reif seid für das Tollhaus von Capua!“

„Ja, Ihr habt Recht!“ stöhnte Salvatore zerknirscht. „Mit offenen Augen habe ich geträumt, geras’t wie ein Irrsinniger. Ich verstehe mich selbst nicht! O, und wie erkenn’ ich nun, Signore Cesari, was Ihr damals im Kerker von Pizzo Falcone mir zurieft: daß es ein Wahn ist, wenn Einer sich vorredet, mit schlechten Mitteln sei das Gute zu fördern! Thorheit, unglaubliche Thorheit!“

Er stützte den Kopf in die Hand.

„Aber verlaßt Euch drauf,“ fuhr er fort, „so weit wäre es niemals mit mir gekommen, hätte ich eine Stätte gehabt, wo ich wirken konnte! Mein Geist verlangte nach Bethätigung seiner Kräfte – und da mir Alles versagt blieb, verlor ich mich in’s Abenteuerliche und Leere! Ach, ich kann’s Euch nicht schildern, Signore, wie sehr ich elend bin! Was aber den Schurken betrifft, der sich mit Emmanuele Nacosta zu meinem Untergange verschwor, so hört, was ich sage: Es ist einer von den Gehülfen des Henkers!“

„Unerhört!“ versetzte der Rechtsgelehrte. „Man sollte glauben, der verruchte Nacosta habe eigens zur Bosheit den Hohn fügen wollen, daß er sich gerade Den zum Spießgesellen erkor. Nun, sein Mitverschworener würde auch ohne Eure überraschende Mittheilung nicht verborgen bleiben, da Nacosta selber uns sicher ist. Jetzt aber erzählt mir – ruhig und der Wahrheit gemäß – wie sich das Alles entwickelt hat! – Von Anfang an – hört Ihr? Und versucht mich ja nicht zu täuschen! In Eurem eignen Interesse! – Ich schwöre Euch: um ein Haar hättet Ihr Eure Narrheit mit dem Leben gebüßt; denn mir, als einem Mitglied der Oppositionspartei, hielt es doppelt schwer, bei so kurz anberaumter Frist die gewünschte Audienz bei dem Könige zu erwirken. Auch jetzt noch seid Ihr lange nicht über alle Schwierigkeiten hinaus! Der Staatsprocurator verfügt über Angriffspunkte genug, Eure gesammte Existenz zu Grunde zu richten. Da heißt’s: energisch gekämpft – oder das Spiel ist verloren! Aber nur, wenn ich klar schaue bis in’s Einzelne, kann ich möglicher Weise etwas erreichen! Also redet die Wahrheit, Padovanino!“

„Die volle Wahrheit, wie ich sie selber weiß!“ betheuerte Salvatore.

Er begann und erzählte. Staunend folgte Cesari der phantastischen Darlegung dieser Irrthümer und Verschrobenheiten. Das war in der That ein ungewöhnlicher Mensch, und wenn auch die frühere Vermuthung des Rechtsgelehrten – daß der Apulier nämlich Spuren einer geistigen Abnormität aufweise, jetzt nicht aufrecht zu halten war, so grenzte doch die Extravaganz seines Wesens hart an die Linie, wo die Eigenart des Genies oder des Narren anfängt.

Es war unzweifelhaft: Salvatore Padovanino hatte seinen Beruf verfehlt.

An den richtigen Posten gestellt, konnte er Bedeutsames leisten; das blinde, rath- und sinnlose Streben, das bisher bald in der Maske eines ktankhaften Ehrgeizes, bald als Gold- und Genußgier aufgetreten war, mußte nur auf ein würdiges Ziel hingelenkt werden, um siegreich und gedeihlich zu wirken.

Antonio Cesari nahm sich vor, demnächst auch in diesem Punkte für seinen Clienten thätig zu sein.

Nachdem der Apulier den ganzen Hergang ausführlich berichtet hatte, ließ es ihm keine Ruhe: er mußte erfahren, wie Antonio Cesari dem so wohlverhehlten Geheimniß auf die Fährte gekommen sei. Die brennende Ungeduld der Neugier beherrschte ihn jetzt vollkommener, als die Besorgniß wegen der Zukunft, – zumal die imponirende Sicherheit, mit welcher Antonio Cesari sein Ziel erreicht hatte, dem Bethörten Bürgschaft zu geben schien, daß er unter dem Schutze dieses Vertheidigers auch fürder geborgen sei.

Er dankte also dem Rechtsgelehrten mit leidenschaftlichen Ausdrücken, bat ihn flehentlich um Verzeihung, daß er, Salvatore, nach der Vereinbarung mit Emmanuele Nacosta genöthigt gewesen sei, ihn, den einzigen wahren Freund in all’ dieser Noth, zu täuschen und zu belügen, und ersuchte ihn dann um Aufklärung: wie’s ihm gelungen sei, die Wahrheit zu finden, die doch selbst Maria nur unvollständig gekannt habe.

Antonio Cesari willfahrte ihm.

Die Sache war ja einfach genug.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 24, S. 398–400

[398] In der Absicht, die unerklärlichen Widersprüche in den Aussagen und besonders in dem Gebahren Salvatore’s zu lösen, hatte Cesari einen mehrtägigen Aufenthalt auf Capri genommen. Er wollte Maria aufsuchen, sie beobachten, ihr einige Fragen vorlegen und so dem Räthsel allgemach auf die Spur kommen.

Bereits von der Mutter Giulietta’s, in deren Häuschen er abgestiegen, hatte er Manches erfahren, was ihm zu denken gab.

Klarer noch und präciser drückte sich Gustav Nyborg, der nordische Maler, aus.

Nyborg – wir wissen es – hatte sich gleich von Anfang lebhaft für Maria und den Apulier interessirt. Mit dem Instincte des Künstlers ahnte er das Ungewöhnliche, Fremdartige, Extravagante im Charakter des jungen Mannes, und das Hingebende, Willenlose im Wesen der Zingarella. Er fühlte, daß diese Willenlosigkeit nicht ursprünglich in ihrer Natur gelegen, daß der Apulier erst ihr ganzes Denken und Sein dermaßen verzaubert hatte. Der psychologische Reiz dieser seltsamen Unterjochung, verknüpft mit der unvergleichlichen Schönheit des jungen Paares, war für Nyborg ein unerschöpflicher Quell bewußter wie unbewußter Betrachtung.

Als nun die Nachricht von dem tollkühnen Attentat kam, ließ der Maler die Zingarella nicht aus den Augen. Zu dem brennenden Interesse des Künstlers kam die Theilnahme des gutherzigen Menschen. Ein paarmal hatte er das Mädchen in seiner wohlthuend freundlichen Weise angeredet und ihr noch mehr durch den Ton seiner Stimme, als durch den Inhalt der Worte zu verstehen gegeben, daß ihr Schicksal ihm nahe gehe. Je größer nun das Zartgefühl war, mit welchem er jede Berührung der vermeintlichen Wunde vermied, um so mehr überraschte ihn die nervöse Absichtlichkeit Maria’s, – nicht nur in den flüchtigen Gesprächen mit ihm, sondern auch sonst. Maria trug die Lösung ihrer Beziehungen zu Salvatore vor allen Leuten förmlich zur Schau. Unter normalen Verhältnissen hätte die Braut, wenn sie ob so blutiger Missethat von ihrem Geliebten sich lossagte, das Bedürfniß der Stille und der Zurückgezogenheit verspürt; ihrem Zorn wäre die Scham zur Seite gegangen. Maria dagegen schien von dem unwiderstehlichen Verlangen beherrscht, allenthalben über die Sache zu reden, ihrer Entrüstung Luft zu machen und gleichsam den Beifall herauszufordern für ihr würdiges und correctes Verhalten. Und nun kannte man doch die weichmüthige Zingarella und ihre leidenschaftliche Liebe! – Nein, die Sache war unnatürlich: das erkannten selbst die harmlosen Bewohner von Capri, geschweige denn ein Mann von dem geschulten Künstlerblicke des dänischen Malers. –

Cesari hatte sich das Alles von Gustav Nyborg bis in’s Kleinste erzählen und schildern lassen.

Als er am Tage darauf die Hütte der Zingarella betrat, empfing sie ihn mit beispielloser Erregung.

„Laßt mich, Signore, laßt mich!“ rief sie emporfahrend, – denn sie wußte bereits, es war der Vertheidiger Salvatore’s, der sie hier aufsuchte –. „Redet mir nicht von Dem, der todt für mich ist!“

Dann verließ sie unter einem nichtigen Vorwand das Haus – und begab sich zu Silvio, dem Vater Alberto’s. Silvio nämlich, sobald die Kunde von dem Verbrechen Salvatore’s nach Capri drang, hatte sich dem Mädchen mit väterlichem Wohlwollen wieder genähert, um sie in ihrem Unglück zu trösten, vielleicht auch, weil er von dieser Wendung der Dinge neues Heil für seinen wackren Alberto erhoffte. Maria, die bei diesen furchtbaren Aufregungen in der That das Bedürfniß einer Stütze verspürte, war auf die verwandtschaftliche Haltung Silvio’s eingegangen, und so traf es sich, daß auch Alberto wieder öfter mit ihr zusammenkam, von heimlicher Wonne erfüllt, daß er der angebeteten Zingarella in ihrer Trübsal beistehen durfte. Maria fühlte wohl, daß die begrabene Hoffnung im Herzen Alberto’s neu sich zu regen begann, sie machte sich Vorwürfe, aber sie fand keinen Ausweg. Ihm geradezu in’s Gesicht zu sagen: Du hoffst umsonst – das wäre ihr vorgekommen, wie ein halbes Geständniß, daß ihre Trennung von Salvatore nur Komödie sei, und wenn man das ahnte ... ach, sie hatte ja so wie so fortwährend die unbestimmte Empfindung, daß man ihr Gebahren durchschaue . . .

Cesari war seiner Sache nun so gut wie gewiß. Schon am folgenden Morgen begann er zu operiren. In aller Frühe schickte er an Maria ein Schreiben, das in kurzen, fast kategorischen Ausdrücken eine Besprechung unter vier Augen heischte, mit dem bedeutsamen Zusatz, nur bei genauester Beantwortung aller ihr vorzulegenden Fragen könne es ihr erspart bleiben, demnächst in Neapel vor dem königlichen Gerichtshof Zeugniß ablegen zu müssen.

Das wirkte.

Maria, auf’s Höchste erschreckt, ließ ihm sagen, sie stehe zu seiner Verfügung; er möge so um die Messe – der Tag war ein Sonntag – wenn ihre Muhme nach der Kirche gegangen sei, in den Hausgarten kommen.

Mit bangem Herzklopfen harrte sie auf das Erscheinen des Mannes, dessen Blick schon ausreichte, sie zu beunruhigen. Sie sammelte sich; sie nahm sich vor, absolut Nichts zu gestehen. Cesari jedoch, mit frostigem Lächeln auf sie zueilend, sagte ihr nach kurzer Begrüßung geradezu ins Gesicht, ihr Verhalten betreffs des Apuliers sei ein abgekartetes Spiel; sie solle bekennen oder das Schlimmste befürchten.

Er wußte ja selbst nicht, in welcher Richtung sie ihn aufklären würde; daß aber Entscheidendes zu erwarten stand, dafür sprach die tödtliche Blässe, die alsbald ihr verstörtes Antlitz bedeckte. Mit dieser Wahrnehmung hatte Cesari gewonnen. Er sprach ihr Muth zu; sie solle ihm ganz vertrauen; er sei ja nicht der Ankläger des Verhafteten, auch nicht der ihrige, sondern gewillt zu fördern, zu helfen und zu beschützen, wo dies irgend vereinbar sei mit der Achtung, die er sich selbst schulde.

Hatte die vornehme Ruhe und Ueberlegenheit seines Unglaubens ihr die Fassung geraubt, so flößte ihr dieser warmherzige Ton die lebendigste Sympathie ein. Zaghaft stammelnd gab sie ihm zu, daß nicht Alles so sei, wie es scheine, und nun fragte er mit logischer Unwiderstehlichkeit Eins nach dem Anderen aus ihr heraus, bis sie zuletzt Generalbeichte ablegte.

Auch ohne ihre Ausführlichkeit würde er nicht länger gezweifelt haben, daß Salvatore das leichtgläubige Opfer einer maßlosen Schurkerei war, selber nur schuldig insofern, als ihm die traurigste Begriffsverwirrung bezüglich dessen zur Last fiel, was der Staatsbürger im Interesse einer Partei-Regierung zu unternehmen befugt ist.

Cesari theilte der Zingarella diese Auffassung mit. Sie hörte gar nicht auf seine Gründe. So vollständig hatte er ihr Vertrauen erobert, daß die bloße Meinung ihr als Beweis galt. Die unverhoffte Aufklärung aber warf sie zu Boden. Sie zerraufte ihr Haar; sie umklammerte seine Kniee; sie wollte sich tödten.

Die Frist zu einer Gegen-Operation war allerdings kurz anberaumt. Noch am nämlichen Tage fuhr Antonio in Begleitung der Zingarella, von Alberto gerudert, nach Sorrento hinüber. Dem „Einsiedler“ ward – mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit – angedeutet, Maria solle jetzt nachträglich im Proceß des Apuliers vernommen werden.

Von Sorrent ging die Reise mit dem schnellsten Corricolo, das man auftreiben konnte, über Castellamare und Portici nach der Hauptstadt – direct in’s Albergo zum „Goldnen Kreuz“.

Der Wirth und die Camerieri wußte sich jenes „Herrn aus Calabrien“ nicht zu erinnern; – auch des Mannes nicht, der für den Calabresen das Zimmer bestellt hatte. Den Portier von damals hatte man am ersten Januar entlassen. Giulietta war abwesend.

So beschloß Antonio zu warten. Um zehn Uhr Abends kehrte Giulietta in Begleitung eines halbwüchsigen Knaben von ihrem Ausflug zurück. Es war ihr Bruder, dem die Lateinschule von Salerno zwei Tage Urlaub gegeben. Strahlend vor Freude kam das Mädchen mit ihrem Alessandro die Treppe herauf – um plötzlich wie verwandelt stehen zu bleiben, da sie auf dem Freiplatze den Advocaten Cesari mit der unglücklichen Zingarella erblickte.

[399] Man ließ ihr nicht lange Zeit, – weder zum Staunen, noch zur Bekundung ihrer weichherzigen Theilnahme. Cesari erklärte ihr mit kurzen Worten, um was es sich handle. Der Knabe ward alsbald in sein Stübchen geschickt, und nun begann von Seiten des Rechtsanwalts eine förmliche Katechisation.

O, Giulietta entsann sich genau! Der Mensch, der den „Signore aus Calabrien“ angemeldet, war eine mittelgroße Gestalt, schwarz und so auffallend hager, daß man die Erinnerung an das knöcherne, blasse Gesicht gar nicht mehr los wurde! Ja, ja, die Schilderung, wie sie Cesari von dem Polizisten Emmanuele entwarf, der den Apulier ergriffen hatte, paßte auf’s Haar; – die silberne Brille, und die starre, häßliche Nase . . .: es war kein Zweifel! Sie wollte ihn wieder erkennen, und träfe sie ihn Gott weiß wo in Afrika oder in Asien! Daß sich die Zingarella nicht so deutlich entsinnen könne, das erkläre sich leicht; die habe nur Acht gehabt auf ihren Verlobten und den vermeintlichen Cardinal; auch sei das Zimmer auffallend düster. Sie, Giulietta, sei zugegen gewesen, als der Hagere zum Portier in die Loge kam. Auch der „Signore aus dem Calabrischen“ sei ihr noch ziemlich erinnerlich, wenn sein Gesicht auch nicht gerade so scharf sich einpräge, wie das des Hageren.

Einstweilen schien das genug. Cesari empfahl den Mädchen das unverbrüchlichste Schweigen, bat sie, für den folgenden Morgen sich zum Ausgang bereit zu halten, besprach sich dann mit dem Wirth, dem er für die Beurlaubung Giulietta’s eine Entschädigung bot, und entfernte sich, um sofort die Gräfin Ghiccioli aufzusuchen, mit der er von mütterlicher Seite verwandt war.

Vorher schon hatte er diese Dame mit dem Fall seines Clienten beschäftigt und ihre Verwendung nachgesucht im Interesse einer Begnadigung. Die Gräfin, deren Einfluß bei Hofe ein unbestrittener war, hatte den König zweimal über die Angelegenheit unterhalten, ohne ein Resultat zu erzielen, da der allgewaltige Monsignore De Fabris die Gegenpartie hielt und energisch darauf bestand, man müsse dem Gesetz freien Lauf lassen.

Jetzt hatte die Sachlage sich verändert. Die Gräfin versprach einen erneuten Angriff, und zwar für den folgenden Morgen; denn übermorgen in aller Frühe sollte bereits die Execution stattfinden.

Auch dieser erneute Angriff blieb resultatlos.

Am Tage darauf begab sich Cesari wieder nach dem Albergo. Er hatte inzwischen die Wohnung des Polizisten Nacosta in Erfahrung gebracht. Nun galt es die Beschaffung einer Gelegenheit für die beiden Mädchen, den Mitverschworenen des Pseudo-Cardinals zu recognosciren. Mit Rücksicht auf seine politische Situation mußte Cesari die ängstlichste Sorgfalt aufwenden. Ein Irrthum war ja noch immerhin möglich; die Polizei jedoch hätte, falls die Identität Nacosta’s mit dem hageren Herrn im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ demnächst unerweislich blieb, die Denunciation von Seiten Cesari’s für einen verwerflichen Schachzug gehalten, der sich ausbeutebll ließ, um den Politiker wie Vertheidiger ernstlich zu compromittiren.

Unweit des Hauses, dessen Erdgeschoß Emmanuele Nacosta seit Kurzem bewohnte, befand sich eine etwas heruntergekommene Trattorie mit halb erblindeten Fenstern und verräucherten Vorhängen.

Im Eckzimmer dieses Locals faßte Cesari mit seinen Begleiterinnen Posto.

Von hier aus konnte man, ohne sich anzustrengen, die niedrige Hausthür, durch welche Nacosta aus- und eingehen mußte, im Auge behalten. Der Padrone der Trattorie, der seit Wochen nicht so gut gekleidete Gäste bei sich gesehen, spielte nach allen Richtungen den Charmanten und gab auf die gleichgültig hingeworfene Frage Cesari’s die erschöpfendste Auskunft.

So erfuhr man, daß Nacosta zur Zeit noch daheim sei, gegen halb elf jedoch voraussichtlich seine gewohnte Wanderung in die Stadt antreten werde. Aus den Reden des Wirths ging hervor, daß Nacosta als der Erretter des Cardinals ein gewisses Ansehen genoß; daß man sich in der Nachbarschaft für sein Thun und Lassen interessirte, während er selber mit den Bewohnern der Straße keinen Verkehr pflog, überhaupt in der größten Zurückgezogenheit lebte, und nur ab und zu von einem Signore besucht wurde, den selbst die alte Jungfer in der Mansarde, diese lebendige Chronik Neapels, nicht kannte.

Als es dreiviertel auf elf schlug, trat Emmanuele auf die Straße, sah sich ein paarmal um und schlug dann die Richtung nach der Via Toledo ein.

„Er ist’s!“ riefen Giulietta und Maria einstimmig.

„Ihr könnt das beeidigen?“ wandte sich der Advocat zu Giulietta.

„Ich nehme die Hostie darauf! So giebt’s nur einen Menschen in ganz Italien! Freilich, er wird’s bestreiten, aber ich wette, auch der Portier muß ihn wiedererkennen, und der Cameriere, der ihm das Zimmer wies.“

Nun hatte Cesari eine genügende Basis.

Er schickte die beiden Mädchen zurück nach dem Albergo und suchte zunächst einen Aufschub der Execution zu erzielen.

Hierbei stieß er auf so unerwartete Hindernisse, daß er noch kurz vor Mitternacht auf’s Neue die Gräfin Ghiccioli aufsuchte.

Sie schien anfangs geneigt, ihr Erstaunen zu äußern, daß Cesari zu so ungewohnter Stunde inmitten ihrer glänzenden Soirée sie behellige. Dann aber begriff sie, was auf dem Spiele stand. Für diesen Abend war es zu spät. Der König, gegen zehn Uhr von einem Jagd-Ausfluge zurückgekehrt, hatte sich ohne Zweifel bereits zur Ruhe begeben. Aber – das wußte man –: Seine Majestät war ein Früh-Aufsteher. Die Gräfin Ghiccioli versprach ihrem Verwandten heilig und theuer, sich selber, so schwer es ihr ankomme, beim ersten Grauen des Morgens dem Schlaf zu entreißen und um jeden Preis eine Audienz durchzusetzen.

Sie hielt ihre Zusage. Gegen dreiviertel auf acht stand der Avvocato im Cabinet Seiner Majestät und berichtete. Es war das erste Mal, daß er mit dem Souverain in persönliche Beziehungen trat. Der König, durch die bescheidene und doch so feste Beredsamkeit Cesari’s auf’s Angenehmste berührt, beauftragte sofort die zwei Officiere seiner Palastgarde, die Hinrichtung des verblendeten Salvatore zu inhibiren, während einer der Kammerherren mit dem Befehle betraut wurde, den Geheim-Polizisten in Gewahrsam bringen zu lassen.

*               *
*

Dies Alles erzählte Antonio Cesari dem wortlos lauschenden Apulier mit großer Lebendigkeit. Salvatore schauderte, als ihm so noch einmal klar und voll zum Bewußtsein kam, wie es in der That nur eines geringfügigen Zufalls bedurft hätte, um eine Verspätung und somit seinen schmachvollen Tod herbeizuführen.

Auch Maria hatte starr und schweigend mit zugehört. Die Augen gesenkt, lehnte sie an der Brüstung des vergitterten Fensters. Plötzlich brach sie in Thränen aus.

„Ach, Signore,“ schluchzte sie, die Hand Cesari’s ergreifend, „wenn ich Eure Stimme vernehme, so mein’ ich, Ihr wäret der Engel des Herrn, der uns das Heil verkündigt! Dennoch – ich kann nicht froh werden! Es liegt mir auf der Seele, wie eine qualvolle Ahnung! Sprecht, Signore: nichtwahr, mit schwerer Strafe wird er’s zu büßen haben, trotz der Mühe, die Ihr Euch gebt – und ich mit ihm?“

Ihr schwerlich,“ versetzte Cesari, „denn Ihr habt nicht geholfen; Ihr wart nur Mitwisserin, und kein Gesetz der Welt kann Euch zwingen, Euren Verlobten zu denunciren. Er selbst jedoch – allerdings! Was soll ich Euch täuschen? Das Tribunal – das meinte auch der Monarch – hat sich in den Augen Neapels lächerlich gemacht mit diesem Proceß, und Nichts verzeiht der Napoletaner weniger, als einen Streich, der ihm Spott und Hohn auf den Nacken lädt. Mögen jetzt andere Richter die Sache führen, – in diesem Punkte sind die Signori wie Ein Leib! Ich sag’ es im Voraus, Padovanino: macht Euch gefaßt darauf, daß sie Euch züchtigen bis an die Grenze der Möglichkeit! Und wißt Ihr – so leid es mir thut: – im Grunde haben die Leute Recht! Auch Der untergräbt die Sicherheit des Gemeinwesens, der solche Verbrechen erheuchelt; und wäre es wahr, was Eure Narrheit sich eingeredet, daß Monsignore De Fabris in eigner Person Euch beauftragt hätte: gut, so verdientet Ihr Beide, daß man Euch krumm schlösse! Versteht Ihr, Padovanino?“

„Signore Cesari,“ murmelte Salvatore zerknirscht, „ich hoffe, Ihr erkennt meine Reue, und laßt mich nicht im Elend verkommen!“

„Das gebietet schon meine Pflicht. Seid jetzt nur standhaft und faßt den einzigen ehrenwerthen Entschluß: muthvoll das zu ertragen, was Ihr Euch auferlegt habt!“

„Das will ich!“ rief Salvatore.

[400] Cesari drängte zum Aufbruch. Nochmals warf sich Maria dem Geliebten an’s Herz. Dann schritt sie an der Seite des Rechtsgelehrten hinaus.

„Armer Thor!“ dachte Cesari. „Ich kenne die napoletanischen Richter! Bis auf’s Blut werden sie Rache nehmen!“




12.

Es war vier oder fünf Wochen später.

Alberto, der Einsiedler von der kleinen Marine, saß, wie so oft, in gramvoller Starrheit vor seiner Hütte und blickte hinaus auf die endlose Meeresfläche.

Seit jener Begegnung mit Antonio Cesari, der die Zingarella zu holen kam, hatte er Qualen erduldet wie nie zuvor! Gleich im Anfang das nagende Vorgefühl – und dann die Gewißheit, daß die kurze, ach, so himmlisch beglückende Hoffnung gelogen hatte! Der Apulier war also nicht der verworfene Missethäter, für den man ihn hielt, – sondern ein irregeleiteter, haltloser Schwärmer – und Maria liebte diesen Bethörten heiß und leidenschaftlich wie je! Was Alberto Petagna als dankbare Hingebung, als zärtliche Freundschaft, als beginnende Liebe ausgelegt hatte, war die Hülflosigkeit der heimlichen Angst gewesen! Das Einverständniß Maria’s mit dem Projecte des Schein-Attentats war ihm unbekannt; die Proceßverhandlungen wurden damals mit lächerlicher Geheimthuerei geführt. So hielt er die angebliche Losreißung der Zingarella von Salvatore noch immer für heiligen Ernst; ihre vermeintliche Rückkehr zu dem Verlobten bedeutete ihm den Untergang eines Glückes, das er nach so langen Jahren des Kummers und der trüben Entsagung endlich, endlich erobert zu haben glaubte!

Inmitten dieser verzweifelten Stimmung regte sich eine Selbstanklage, die während der kurzen, seligen Tage der Hoffnung nicht zum Worte gekommen war.

Alberto haßte seinen Rivalen mit der ganzen Gluth des leidenschaftlichen Südländers. Es gab Minuten, wo er sein eignes Leben geopfert hätte, um den Apulier im offenen, ehrlichen Streit zu Boden schmettern, zermalmen, vernichten zu können. Nun aber, da Salvatore hülflos im Kerker saß, meinte Alberto, sei es tückisch und feige gewesen, diese Hilflosigkeit zu benutzen und sich der trauernden Braut mit Freundschaftsbetheuerungen und verkappter Bewerbung zu nähern. Er sagte sich zwar, wenn zwei Augen wie die Maria’s Einem in’s Antlitz schauten, sei man jeder Erwägung unfähig, – und ganz Capri habe doch nicht anders gewußt, als daß der vermeintliche Mörder so wie so für dieses Leben verloren sei: aber das half ihm nichts wider das dunkle Gefühl; er kam sich schuldig vor, und das Weh, das er litt, erschien ihm gleichsam als Strafe.

Wohl eine Stunde lang hatte er so gesessen, als eine zitternde Hand sich plötzlich auf seine Schulter legte.

Die Zingarella stand neben ihm. Ihr Auge blickte verstört; ihr halb geöffneter Mund schien nach Athem zu ringen.

Alberto sah zu ihr auf. Es überrieselte ihn. Was konnte sie wollen? Was besagte die verzweiflungsvolle Angst ihrer Mienen?

Sofort begriff er, daß der Apulier und sein Schicksal dabei im Spiele sein müsse. Aber was führte dann die Erschreckte zu ihm, dem Einsiedler, der nur fern von ihr sich halbwegs zu fassen vermochte? Heischte sie Trost von dem Trostlosen?

„Alberto!“ sagte sie demüthig.

Ihre Stimme klang so erschöpft, so flehend, daß Alberto sofort sich bewältigt fühlte. Im Gedanken an Salvatore hatte er selbst gegen Maria etwas wie Haß empfunden; jetzt schwand das völlig dahin.

Er stand auf.

„Du?“ sagte er, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend. „Was suchst Du hier?“

„Dich, Alberto! Ach, wenn Du mir’s nachträgst – meine Schwäche und Thorheit ... Ich hätt’ es bedenken müssen ...“

„Was, Maria?“

„Daß Du Dich täuschen würdest, und Dir Hoffnungen machen ... Aber ich konnte nicht anders, – und Deine Freundschaft that mir so wohl ...! Wirst Du mich’s büßen lassen? Ach, dann ist Alles verloren – Alles, Alles! Aber ich kenne Dich besser! Du fühlst edel und groß! In Deiner Selbstlosigkeit stehst Du höher als Alle, und ich glaube an Dich und Dein treues Herz, wie an die Wunden des Welterlösers!“

Ihre Augen, eben noch so verschleiert, loderten auf. Jeder Zug ihres Gesichtes verrieth, wie tief sie empfand, was sie so hastig hervorstieß.

„Ich zürne Dir nicht,“ sagte er düster.

„O, Du bist gut – gut wie ein Engel! Komm, führe mich in Dein Haus! Nur im tiefsten Geheimniß kann ich Dir anvertrauen, was mir die Seele zerreißt!“

Alberto schritt ihr voran. Sie betraten die Hütte.

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aus: Die Gartenlaube 1884, Heft 25, S. 414–418

[414] Kaum war die Thür ins Schloß gefallen, als Maria wie eine Beterin auf die Kniee sank und, das Antlitz zu Boden gesenkt, die beiden Arme flehentlich zu Alberto emporhob. Das lange, nachtschwarze Haar wallte ihr trauerflor-ähnlich über Stirn und Angesicht.

Alberto wollte sie aufrichten, aber sie wehrte ihm.

„Nur so kann ich Dir meine Sünde bekennen,“ schluchzte sie unter strömenden Thränen. „Ach, Du ahnst nicht, Alberto, wie grausam ich war und wie lieblos – um seinetwillen! Alles, Alles war erbärmliche Lüge! Keine Secunde lang hab’ ich aufgehört, Salvatore zu lieben; ich wußte um seinen Plan; die Lossagung war Komödie! Er verlangte es so – ich gehorchte! Ja, grausam war ich und lieblos, daß ich den Freund meiner Jugend, den treuen Alberto, nicht aufklärte, da ich gewahrte, wie er aufs Neue ... Aber ich konnte ja nicht! Ich mußte schweigen, und die Angst der Entdeckung ...“

Alberto war blaß geworden.

„Steh’ auf!“ sagte er mit unheimlicher Gelassenheit. „Ich verlange es! Hörst Du, Maria?“

Sie erhob sich. Die Ruhe, die er bekundete, flößte ihr Muth ein. Sie erzählte ihm Alles vom Anbeginn. Dann fragte sie leise:

„Kannst Du mir vergeben, Alberto? Du mußt, Du mußt! Nur wenn Du ihn rettest, hab’ ich noch Hoffnung auf eine glückliche Zukunft! Denk’ es aus, was ich jetzt sagen werde: Salvatore soll acht endlose Jahre im Bagno büßen! Acht Jahre, Alberto! Es ist zum Wahnsinnigwerden!“

Sprachlos blickte Alberto in ihr bleiches, verzerrtes Gesicht.

„Du hast’s gehört!“ fuhr sie fort. „Salvatore, der lichtverlangende Adler, der nicht hoch genug aufsteigen konnte, immer der Sonne des Glücks entgegen – Salvatore acht Jahre hindurch im Kerker! Das ist sein Tod – und der meine!“

Die letzten Worte klangen wie ein herzzerreißender Aufschrei.

„Ich beklage Dich,“ sagte Alberto nach langem Schweigen – „aber was frommt’s? Wenn ich um Deinetwillen selbst meinen Haß bezwänge: wie kann ich ungeschehen machen, was das Schicksal Euch auflädt? Du mußt’s ertragen, Maria! Bete zur Mutter Gottes, daß sie Dir Kraft verleiht!“

[415] „Nein, nein, nein!“ rief sie verzweiflungsvoll. „Du kannst mir helfen, wenn Du nur willst – und weigerst Du Dich, wohl, so mach’ ich ein Ende! Sterben ist Wonne im Vergleich zu dem, was ich dulde!“

„Ich sollte im Stande sein ...?“

„Ja! Nur von Dir hängt es ab! Allein bin ich machtlos, und keinen Menschen habe ich auf Erden, als Dich! Die Andern – o, die sind zu feige, zu selbstsüchtig! Aber Du, wenn Du Dir’s einmal gelobt hast – Du führst es durch, und gälte es den Tod! Willst Du, Alberto?“

„Was?“

„Ihn befreien!“ rief sie, die Hände ringend. „Alberto, ich lasse nicht ab, bis Du einwilligst! Räche Dich nicht an einer Verzweifelten! Gedenke Du der Worte des Heilandes, der uns befiehlt, Denen wohl zu thun, die uns hassen! Und ich hasse Dich nicht! Gott ist mein Zeuge: wenn Salvatore nicht wäre, ich würde Dich lieben – von Grund meiner Seele aus! Kann ich denn für dieses Verhängniß?“

Alberto trat einen Schritt zurück.

„Ich? Ich soll den Apulier befreien? Maria, Du rasest!“

„Sag’ Ja, – und mein letztes Gebet in der Todesstunde ...“

Er unterbrach sie heftig.

„Du willst mich entwürdigen,“ sagte er, schwer athmend. „Wär’ er mir gleichgültig, – ja, wär’ er mein Freund: ich würde mich weigern, um seinetwillen das Gesetz zu verletzen! Und nun so, da ich ihn hasse als meinen Todfeind ...“

„Bezwing’ diesen Haß, ich beschwöre Dich! O, ich weiß, was Du sagen willst – aber Cesari selber hat mir’s bestätigt – und in alle Ewigkeit will ich verloren sein, wenn ich jetzt lüge! Ob Du’s nun glaubst oder nicht: die Strafe, die der Gerichtshof über Salvatore verhängt hat, widerspricht dem Gesetz, und wer die Ketten des Verurtheilten sprengt, der stellt das Gesetz wieder her! Ein Gewaltact liegt vor, eine Handlung des Zornes, und das Recht ist geschändet worden! Acht Jahre im Bagno – für die That, die Salvatore in gutem Glauben beging! Das ist Wahnsinn! Das ist ein offenbares Verbrechen!“

„Hat Dein Verlobter nicht den Avvocato Cesari? Der wird sich so schnell nicht besiegt geben!“

„O, wohl! Cesari will es dem König an’s Herz legen – aber es ist so gut wie gewiß, daß alle Mühe vergeblich bleibt.“

„Weshalb?“

„Mein Gott, Du hörst und siehst also nicht das Geringste von Dem, was alle Welt jetzt beschäftigt! Seit jenem entsetzlichen Tage, da die Gräfin Ghiccioli früh morgens nach dem königlichen Palast fuhr, ist der Monsignore De Fabris unermüdlich im Verfolgen der Freiheitsfreunde; er fürchtet, Antonio Cesari möchte Einfluß gewinnen, und da sucht er ihm entgegen zu wirken.“

„Was kann er ihm anhaben?“

„Ihn verdächtigen, ihn bei der Gräfin verhaßt machen! Die Polizei sogar hat er dem Avvocato in’s Haus geschickt, und das Unglück hat es gewollt, daß der Commissarius bei Cesari allerlei Schriften entdeckt hat, die der Monsignore für rebellisch erklärt. Glaube mir, Alberto, das Alles habe ich bedacht! Es ist keine Hoffnung! Cesari selber hat’s eingeräumt ...“

„Aber Du könntest doch abwarten . . .“

„Allmächtiger Himmel, das ist es ja! Anfang der nächsten Woche, wenn die Verurtheilung gültig geworden, bringen sie ihn aus dem Arresthaus des Municipio nach Gaëta hinüber. Dann ist Alles zu Ende; aus den Höhlen des Bagno giebt’s kein Entrinnen mehr! Jetzt aber, so lange er noch im Stadtgefängniß verbleibt, läßt die Sache sich ausführen. Alles ist vorbereitet. Gestern spät erst bin ich von Neapel zurückgekehrt. Mit unsäglicher Mühe habe ich ihm Nachricht gegeben. Er wartet nur auf das Zeichen. Aber ohne Dich sind wir machtlos. Vorn, in dem Hofe, den er durchschreiten muß – aber so rede doch, beim Tode des Heilands! Du siehst, ich vergehe vor Angst, – und Du schweigst!“

Sie schlug die Hände vor’s Antlitz.

„O, wie bist Du anders geworden!“ rief sie in dumpfem Weh. „Freilich, die Zingarella hat es verdient! Da wir noch Kinder waren – weißt Du, Alberto – wie Dir keine Felswand zu steil und keine Klippe zu schroff war, wenn es galt, mir eine Blume zu pflücken? Manchmal hast Du Dein Leben gewagt, nur um meiner kindischen Laune zu dienen, nur um der Zingarella zu zeigen, daß Du für sie keine Gefahr scheutest! Und jetzt – jetzt schreie ich aus meiner Noth zu Dir auf und verlange Geringeres als damals – ja, Geringeres, denn es kann nicht mißglücken – und nun muß ich hülflos vergehen und jenes Kind beneiden, dem Du die Blumen brachst!“

Sie schluchzte laut auf. Alberto kämpfte einen gewaltigen Kampf. Alles Andere hätte er ihr freudig bewilligt – und wär’s der Ansturm gewesen wider die Macht der Hölle. Diese Selbstverleugnung jedoch, dieses Wagniß zu Gunsten des einzigen Menschen, den er tödtlich verabscheute – das war zu viel!

„Ich kann’s nicht,“ stöhnte er wild, „ich kann’s nicht!“

Sie sah zu ihm auf, – stieren, glanzlosen Blickes; ihr Athem ging hastig, aber sie rührte sich nicht.

Dann sagte sie tonlos :

„Ich darf Dir nicht zürnen. Ja! Du hast Recht: es war zu viel gefordert – selbst von der Großmuth eines Heiligen! Leb’ wohl, Alberto! Willst Du mir eine letzte Bitte erfüllen, so trag’ mir Sorge, daß der Zettel hier in die Hände Cesari’s gelangt. Gott erbarme sich meiner!“

So sprechend schritt sie hinaus.

Alberto nahm das Blatt und entfaltete es. Er las:

„An Signore Antonio Cesari, Strada del Molo, Neapel. Ich bitte Euch herzlich, sagt ihm, daß ich bis zum letzten Augenblicke seiner gedacht habe! Was wir hofften, sei unmöglich gewesen. Ich danke Euch, Herr, für Alles, was Ihr an Salvatore gethan habt. Er soll mir verzeihen und meinen Entschluß nicht feige nennen. Was hülfe es mir, wenn Ihr selbst das Unmögliche wirklich machtet? Auch die Hälfte, auch nur ein Viertel dieser entsetzlichen Zeit der Trennung brächte mich unfehlbar zum Wahnsinn! Ich sterbe freudig, denn ich glaube an ein Wiedersehn! Maria.“ 

Alberto’s Augen umdunkelten sich. Der Gedanke, daß sie, deren Beschützer er einst gewesen, an seiner Weigerung zu Grunde gehn, daß sie sterben sollte um seines Hasses willen, raubte ihm fast die Besinnung.

Er stürzte ihr nach.

Rechts von der großen Klippe, zwischen den Sträuchern, schimmerte noch ihr helles Gewand.

„Maria! Ich komme!“ rief er den steinigen Pfad hinab. „Ich thue, was Du verlangst! Maria!“

Ein straffer Nordostwind hatte sich aufgemacht, der, in den Klüften der Felsenwände sich fangend, ein seltsames Pfeifen hervorrief und so die Stimme Alberto’s für die Enteilende übertäuben mochte. Jetzt sah er noch einmal ihr dunkles Haupt vor dem sonnbeglänzten Gestein – und nun verschwand sie hinter den Zacken.

Von unsäglicher Angst ergriffen rannte er vorwärts. Näher und näher klang das Rauschen der Brandung. Er betrat die sandige Uferstelle, wo die Barke am Pflock lag. Spähend sah er nach allen Seiten. Umsonst. Da erhob er den Blick. Droben auf der steil abfallenden Felswand gewahrte er, die er suchte – so dicht am Rande, daß es dem jungen Manne schwarz vor den Augen ward. Sie hatte das Antlitz in die Hände gepreßt, als schaudere sie zurück vor dem brausenden Abgrund. Ihr aufgelöstes Haar flatterte weit hinaus ...

Noch taumelnd trat er auf das Brett seiner Barke.

„Maria!“ rief er, so laut er konnte.

Sie zuckte zusammen. Mit der Rechten ergriff sie den Stengel einer Agave, die aus dem nächsten Felsspalt emporwuchs. Sie schaute hinab, – und wenn der Wind auch seine Worte hinweg trug, die Geberden, mit denen er sie begleitete, waren nicht mißzuverstehen. Ihr schwindelte – nicht nur im Grausen vor der gähnenden Tiefe, sondern noch mehr im wilden Rausch ihres Entzückens! Es war wie ein Traum, daß ihr da, wo sie den Tod gesucht, so im letzten Augenblicke das leuchtende Leben die Verheißung einer glücklichen Zukunft entgegenrief.

Sie trat ein paar Schritte zurück und brach dann vor innerlicher Erschöpfung zusammen. Das Haupt wider den Felsen gelehnt, wartete sie auf Alberto, der jetzt athemlos den steilen Fußpfad heraufkam und sie mit beiden Armen umschloß, wie eine Mutter, die ihr gerettetes Kind wiederfindet.

„Alles, Alles thue ich, was Du verlangst,“ betheuerte er unaufhörlich. Er hielt ihre Hand, er strich ihr das verworrene [416] Haar aus der Stirn. „Alles, Alles! Bist Du nicht die kleine Maria von einst, die Zingarella, die mit mir hinaufgeklettert nach den Höhen von Anacapri, – die Freundin, die ich beschirmte, das Schwesterchen, das ich auf den Armen getragen habe? Und ich sollte Dich sterben sehn? Ich sollt’ es ertragen, daß Du da drunten zerschellt wärest an den gräßlichen Klippen? Dieses Haupt, das so oft an meiner Schulter geruht – weißt Du noch, wie Du einschliefst – droben auf der Höhe des Salto – wie dann der Regen kam und der Sturm –! Ach Maria, waren das glückselige Zeiten, sonnig und rein, wie sie niemals wiederkehren, niemals, niemals! Nein, fürchte nichts, Zingarella! Ich werde nicht wieder anderen Sinnes werden! Ich weiß jetzt, daß der Groll und der Haß kein Balsam sind für die kranke, blutende Brust, – und seit ich’s erkannt habe, ist mir leichter und freier. Ich will Dich lieben, trotz alledem, – bis in den Tod – ich will auch ihm verzeihen, was er mir angethan, – um Deinetwillen, Maria, um Deinetwillen!“

Der Schreck, der immer noch in ihm nachzitterte, verlieh dem sonst so Wortkargen eine rührende, wundersame Beredsamkeit. Das stürmische Herz Maria’s ward ruhiger und stiller bei dem Klang seiner Stimme. Sie träumte sich zurück in die Zeit ihrer Kindheit. Es war nicht anders als damals, wie er sie in Sturm und Gewitter hinunter getragen vom Salto, und sein eignes Gewand um ihre Schultern gelegt, unbekümmert darum, daß er bis auf die Haut durchnäßt wurde. Wie gut war er damals gewesen, wie treu und aufopfernd! Ach, wenn er jetzt mit halb soviel Geschicklichkeit und Eifer wie damals den Weg durch die Nacht suchte, wenn er aushielt in seiner milden Gesinnung – dann war Salvatore Padovanino gerettet! Und nun fühlte sie auch: jetzt erst war sie fähig, das Glück, das die Zukunft ihr bringen konnte, voll zu genießen! So lang’ Alberto dem Mann ihrer Wahl feindselig gegenüber stand, so lange hing es wie eine bängliche Wolke über dem Frieden ihres Gemüths . . .

Eine Weile saßen sie so – schweigend, Jedes mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann schritten sie Hand in Hand nach der Hütte zurück.

Der Plan der Zingarella war bald entwickelt. Es handelte sich um die Bewältigung einer Schildwache, die gepackt und geknebelt sein mußte, eh’ sie im Stande war, einen Laut von sich zu geben. Alle Einzelheiten hatte Maria erkundet, alle Möglichkeiten geprüft: gelang dieser Angriff, so war das Spiel so gut wie gewonnen.

Nachdem sich Alberto einmal entschlossen hatte, war er, ganz wie Maria, blind gegen das Bedenkliche des Unternehmens. Er sah nur die Lichtseiten; er war Feuer und Flamme.

So faßten sie den Beschluß, heute noch aufzubrechen – und zwar von der großen Marina aus, dafern sich dort eine Fahrgelegenheit böte, sonst in der Barke Alberto's vom Strand der Marina Piccola.

Es war jetzt vier Uhr Nachmittags. Alberto machte sich reisefertig. Da Maria noch allerlei zu besorgen hatte, was mit den Scheingründen für ihre Fahrt nach Neapel zusammenhing – sie glaubte so jeden Verdacht im Keim zu ersticken –, so war keine Zeit zu verlieren.

Sie traten die Wanderung über den Bergrücken an. Der Fußpfad war vereinsamt wie immer. Unter dem Steigen sprachen sie kaum eine Silbe, so sehr nahm ihr Vorhaben Beide in Anspruch. Alberto befand sich in einer Stimmung, die er vor einer Stunde noch für unmöglich gehalten. Es war das Bewußtsein des Sieges über sich selbst, was ihn so freudig hinaus hob über das alte, grausam wühlende Weh ...

Sie näherten sich dem Städtchen. Rechts vom Wege lag die Osteria Romana, gegen Abend ein Sammelpunkt Derer, die Interesse hatten für die Ereignisse in Gesellschaft und Politik; denn der Wirth, ein ehemaliger Barbier aus Pozzuoli, hielt zwei Journale, die er eifrig studirte, und wenn die Osteria gefüllt war, gab er zum Besten, was er so des Tags über in seinen kahlen, viereckigen Schädel hineingelesen. Er wußte genau, wie viel Gefangene und Todte der Heiden-Sultan im letzten Gefechte wider die Griechen verloren hatte, ob in Frankreich ein neuer Skandal in Sicht war von wegen Veruntreuungen der Staatsgelder, was England für Geschäfte gemacht mit den Waffenlieferungen an die griechischen Patrioten und wie viel Wachteln der König beim letzten Jagdausfluge nach Puglia geschossen.

Jetzt, gegen halb fünf, war es noch bei weitem zu früh für diese Erörterungen, gleichwohl stand vor den Thüren der Osteria eine lebhaft erregte Gruppe von sechs oder acht Personen, und der Wirth mit der phänomenalen Glatze mitten dazwischen, gesticulirend, wie ein begeisterter Fastenprediger.

„Bei San Gennaro, so schwatzt doch nicht alle auf einmal!“ rief ein stämmiger Graukopf, der etwas schwerhörig war. „Also was hat Euch der Signor Gustavo erzählt ...?“

„Daß es aus ist mit der Herrlichkeit des Monsignore De Fabris! Bei Nacht und Nebel hat er die Flucht ergriffen – nach Gozzo – Ihr wißt doch, die Insel, die den Briten gehört – und wenn der Polizei-General nur gewollt hätte – aber des Heiligen Vaters wegen hat man den Hochverräther entkommen lassen . . .“

„Was? Unsinn! Das glaub’ Euch ein Andrer! Der Monsignore . . . Ihr seid betrunken, Giuseppe!“

„Und Ihr ein Laffe und ein rechter Haus-Narr! Wenn Ihr’s nicht glaubt, – weshalb fragt Ihr denn? Zudem – der Signor Gustavo muß jeden Augenblick ’rüber kommen. Er hat kolossalen Durst mitgebracht von der Fahrt. Wißt Ihr, die Aufregung! Ganz Neapel wie auf den Kopf gestellt! Die Welt umgewandt, als wär’ sie ein Zwillchrock! Da, seht Ihr, ich sagt’ es ja! Nur die Kleider hat er gewechselt, und nun verlangt’s ihn schon, sein Müthchen zu kühlen. Grüß’ Gott, Signore! Freut mich, daß Ihr dem armen Giuseppe ein Bischen zu Hülfe kommt. Der Piccolo schilt mich von Sinnen, da ich doch nur erzähle, was ich glaubhaft aus Eurem eignen Munde vernommen!“

Der dänische Maler war fast gleichzeitig mit Alberto und Maria zu der Gruppe herangetreten.

„Ja, Leute!“ begann er mit seiner gutmüthig dröhnenden Baßstimme – „das hilft nun Nichts! Ihr müßt Euch mit dem Gedanken vertraut machen, daß die glorreiche Herrschaft des Cardinals gründlich zu Ende ist. Vielleicht verwindet Ihr’s, wenn ich Euch sage, daß Monsignore De Fabris der geschworne Feind seines Königs und des napoletanischen Reiches war ...“

„Oho!“ riefen drei Stimmen zugleich.

„Es ist, wie ich Euch sage! Ich weiß es aus zuverlässigster Quelle, denn mein Freund Antonio Cesari – von jetzt ab der erste Rathgeber Eures Monarchen, hat den Monsignore entlarvt.“

„Cesari? Der Freiheitsfreund?“

„Derselbe! Seit lange schon war er den Intriguen Seiner Eminenz auf der Spur; erst gestern jedoch gelang es ihm, die vollgültigen Beweise zu bieten. Monsignore De Fabris war von dem französischen Hofe erkauft: Nichts Geringeres hat der Landesverräther erstrebt, als die Vernichtung Eurer Selbstständigkeit, als die Auslieferung Neapels an das übermächtige Frankreich!“

„Und Cesari hat das entdeckt?“

„Cesari.“

„Der Avvocato soll leben! Die ‚Freiheitsfreunde‘ sind also doch nicht so üble Gesellen, wie die ‚Gazzetta‘ uns einreden möchte!“

„Das hat auch der König gesagt,“ fuhr Gustav Nyborg mit einem Blick auf Maria fort; „schon damals, wie er vernahm, daß Antonio Cesari die selbstlose Thätigkeit für Salvatore Padovanino auch dann mit dem nämlichen Eifer fortsetzte, als die wahre Gesinnung des Apuliers bekannt geworden. Nicht nur Salvatore, den vermeintlichen ‚Freiheitsfreund‘, den Parteigenossen, nein auch Salvatore, den fanatischen Anhänger der Gegenpartei, auch ihn hat Cesari wie einen Bruder beschirmt und beschützt – weit über die Grenzen seines Vertheidiger-Amtes hinaus, mit Aufbietung aller Kräfte, mit unsäglicher Hartnäckigkeit – und nur so gelang es ihm, den Unglücklichen vom Tode zu retten. Da hat der Monarch denn zu Monsignore De Fabris geäußert: ‚Cardinal, ich glaube, Ihr malt mir die Freiheitsfreunde zu schwarz!‘ Das war natürlich ein Todesschreck für den Monsignore, und von diesem Tage an standen die Zwei sich gegenüber, wie altrömische Fechter, bis dann Cesari dem geistlichen Herrn den Schild von der Brust riß und den zermalmenden Streich führte. Das Königreich ist gerettet, – und Cesari steht künftighin an der Spitze Eures Governo’s!“

„Evviva!“ schrie’n die Capresen. Sie bedurften nochmals eines stürmischen Ausbruchs, um ihrer Verblüfftheit Meister zu werden.

„Und Ihr –“ wandte sich Gustav Nyborg zu der staunenden Zingarella – „Ihr vor Allen habt Ursache, diese Wendung zu [418] preisen! Morgen bringt die ‚Gazzetta‘ – neben der Ernennung Cesari’s zum ersten Minister – ein königliches Decret, das Ihr an’s Herz drücken mögt, wie den zärtlichsten Liebesbrief. Allen Verurtheilten, deren That nicht aus Ehrlosigkeit der Gesinnung hervorgegangen, schenkt der König Verzeihung; – eh’ zweimal vierundzwanzig Stunden vergehn, ist Salvatore Padovanino in Freiheit!“

Ein leichter Auschrei der Wonne, des namenlosen Entzückens – und Maria lag ohnmächtig in den Armen Alberto Petagna’s.

„Laßt sie nur!“ wehrte Gustav den Umstehenden, die erschreckt auf sie zueilten. „Das wird vorübergehen ... Ich sah es voraus, und deshalb bezwang ich die Ungeduld, die mich drängte, ihr’s gleich beim ersten Anblick entgegenzurufen. Nach und nach sollte sie’s ahnen, – und nun hat’s doch ihr armes Herz übermannt, wie ein Sturm.“

Langsam schlug Maria die Augen auf. Ihr erstes Wort galt dem Freund ihrer Jugend, dem getreuen Alberto.

„Ich vergesse Dir’s nicht,“ raunte sie fast unhörbar. „Daß wir nun das Alles nicht nöthig haben, daß Du Dein theures Leben nicht zu gefährden brauchst – o wie gut, wie gut! Aber ich danke Dir’s dennoch, und nicht anders ist mir’s zu Sinne, als hättest Du allein ihn befreit, Du, Alberto, Du bester und edelster aller Menschen!“

Das Glück, die heilige Dankbarkeit, die Erlösung von dem Druck ihrer Herzenslast goß einen verklärenden Schimmer über das herrliche Mädchenantlitz, das so viele Monate lang der Spiegel quälender Unrast gewesen und mühsamer Selbstbeherrschung. Gustav Nyborg beobachtete diese Wandlung, trotz der herzlichen Theilnahme, die er für Maria empfand, mit dem Auge des Künstlers. War sie bis dahin schön gewesen – jetzt erschien sie berückend; die Harmonie ihres Wesens war endlich zurückgekehrt – und Gustav Nyborg erblickte eine neue Maria, deren zaubrischer Liebreiz ihm die alte Wahrheit verkündete: daß die höchste Schönheit aus der Tiefe eines reingestimmten Gemüths quillt.

Sie stammelte ihren Dank für die Freudenbotschaft – sie sprach von Cesari, von Salvatore, vom König – alles in holder Verwirrung, wie taumelnd von dem Rausch ihrer Seligkeit.

Der Maler erzählte noch, bis es zu dunkeln anfing. Der Platz vor der Osteria hatte sich allmählich gefüllt. Ganz Capri wußte jetzt, was sich ereignet hatte. Die Zingarella jedoch war längst in ihr Stübchen geeilt und hatte sich niedergeworfen vor dem Bildniß der Gottesmutter. Während Alberto, das Weh der Entsagung im Herzen, und dennoch ruhig und friedvoll, nach der abgelegenen Hütte zurückschritt, stieg von den Lippen Maria’s ein heißes Gebet auf, unerschöpflich in der Fülle seiner dankbaren, leidenschaftlichen Andacht. Auch Alberto’s gedachte sie in dieser heiligen Stunde, und da sie bewegt seinen Namen murmelte, rollten ihr zwei brennende Thränen unter den Wimpern hervor.

„Ja, ja, ihr Leute!“ so schloß der begeisterte Nyborg seinen Bericht, – „Ihr werdet’s nun aus eigner Anschauung kennen lernen, ob so ein ‚Freiheitsfreund‘ den Staat aus den Fugen bringt oder nicht! Was gestern noch halb wie Verrath klang, ist heute Regierungsweisheit – und ich wette darauf, Ihr sollt noch einsehn, daß Ihr nicht die Klügsten gewesen, da Ihr Euch vor den Liberalen bekreuzigt habt. Excellenz Cesari wird Euch die Augen öffnen.“

„Aber nun sagt, Signore!“ fragte ein junger Bursche, der ihm athemlos zugehört hatte, „was wird denn nun aus den beiden Canaillen, dem verruchten Nacosta und dem Henkersgehülfen Marsucci? Sind die auch miteinbegriffen in der Amnestie, oder wie Ihr’s genannt habt?“

„Wo denkt Ihr hin, Piccolo! Vergeßt Ihr, was ich von der Ehrlosigkeit der Gesinnung sagte? Für solche Spitzbuben sind die Früchte der königlichen Gnade nicht reif geworden; die marschiren zum Bagno, mitsammt der Hexe Crispina . . . Ja so, das wißt Ihr noch nicht, daß die Frau des Nacosta bei der Sache betheiligt war?“

„Doch, doch!“

„Betheiligt, wie die Schlange beim Sündenfall! Ein diabolisches Weib! Vielleicht, wenn die nicht gewesen wäre ...“

„Eins noch!“ rief der Osteria-Besitzer, da Gustav Miene machte sich zu entfernen. „Die Giulietta – wenn die doch so zu sagen die Ursache war, daß Alles herauskam – denn ohne die hätte der Avvocato ja keine Zeugen gehabt wider Emmanuele Nacosta – die Giulietta müßte doch auch ein Schön-Dank bekommen vom neuen Minister . . .“

„Seid ohne Sorge, Giuseppe! In all’ dem Aufruhr der letzten Tage hat Antonio Cesari seine freundliche Wirthin vom vorigen Herbst durchaus nicht vergessen. Er sprach mir sogar ausdrücklich von einem Plan, den er hätte . . . Sie soll nicht fürder genöthigt sein, um ihres Bruders willen im Gasthaus die Cameriera zu spielen; sie taugt zu was Besserm.“

„Das nenn’ ich einen brillanten Minister!“ sagte Giuseppe. „Seht Ihr, ich hab’s Euch immer geweissagt! Es kommt ein Umschwung, habe ich gesagt, und es ist noch nicht aller Tage Abend!“

„Evviva il Governo! Evviva Cesari!“ erklang es nun hundertstimmig. Die eine Mittheilung über Giulietta hatte tiefer gewirkt, als Alles zuvor; nun griff man’s mit Händen: der neue Lenker des Staatsschiffs war nicht nur ein „Freund der Freiheit“, wie er sich nannte, sondern auch ein Freund der Geringen, ein Beschirmer der Schwachen, kurz: ein Minister nach dem Herzen des Volkes.

Am folgenden Tage in aller Frühe verließ der Apulier das Gefängniß des Municipio’s. Die Zeit der Buße und der verzweiflungsvollen Kämpfe war nun vorüber, die Lehren aber, die er aus diesen Kämpfen geschöpft, nahm er dankerfüllt mit hinüber in eine Zukunft ernster und redlicher Arbeit. Sein großherziger Beschützer bot ihm nach wie vor die hülfreiche Hand; einmal in die rechten Bahnen geleitet, bewältigte Salvatore spielend die unglaublichsten Schwierigkeiten, – und ehe ein Jahr verstrich, war der verworrene, haltlose Schwärmer von ehedem einer der tüchtigsten Beamten des Königreichs, der getreue Mitarbeiter Antonio Cesari’s, eine wahrhaft schöpferische Kraft, die allerdings noch immer einer gewissen Controle bedurfte, um sich mit ihren großartigen Ideen nicht in’s Schrankenlose und Traumhafte zu verlieren. Zu Anfang hatte man’s dem Premier-Minister verdacht, daß er sich so hinwegsetzte über Salvatore’s Vergangenheit; der Erfolg jedoch gab ihm Recht, und so verzieh man dem Apulier um so bereitwilliger, als die frühere Schroffheit des Ungestümen sich in ruhige Anspruchslosigkeit und Schlichtheit verwandelt hatte. Das Glück macht edle Naturen, unbeschabet eines kraftvollen Selbstgefühls, demüthig; himmelstürmend geberdet sich nur die Sehnsucht. Für Salvatore jedoch, seit die angebetete Zingarella sein Weib geworden, gab’s keine Sehnsucht mehr: sein ganzes Dasein war ewig leuchtende Gegenwart.