Zum Inhalt springen

Rußland wie es wirklich ist!

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Michail Alexandrowitsch Bakunin
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Rußland wie es wirklich ist!
Untertitel: Der 17. Jahrestag der Polnischen Revolution. Eine Rede gesprochen in der zu Paris am 29. November 1847 zur Feier dieses Jahrestages gehaltenen Versammlung von M. Bakunin, russischem Flüchtling. Ins Deutsche übertragen.
aus: {{{HERKUNFT}}}
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1847
Erscheinungsdatum: 1848
Verlag: Verlag von Heinrich Hoff
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Mannheim
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: GDZ Göttingen und Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[1]
Rußland wie es wirklich ist!




Der 17. Jahrestag
der
Polnischen Revolution.




Eine Rede
gesprochen in der zu Paris am 29. November 1847
zur Feier dieses Jahrestages gehaltenen Versammlung
von
M. Bakunin,
russischem Flüchtling.




Ins Deutsche übertragen.




Mannheim.
Verlag von Heinrich Hoff.
1848.
[3]
Meine Herren!

Der gegenwärtige Augenblick ist für mich ein höchst feierlicher. Ich bin Russe, und ich trete mitten unter diese zahlreiche Versammlung, die sich vereinigt hat, um den Jahrestag der polnischen Revolution[WS 1] zu feiern, und deren bloße Anwesenheit hier schon gewissermaßen eine Herausforderung, eine Drohung und ein Fluch gegen die Unterdrücker Polens ist; – ich trete unter Sie, meine Herren, getrieben von einer tiefwurzelnden Liebe und einer unwandelbaren Achtung für mein Vaterland.

Ich weiß es wohl, wie unbeliebt Rußland bei den Völkern Europa’s ist. Die Polen halten es, und vielleicht nicht ohne Grund, für eine der Hauptursachen alles ihres Unglücks. Die unabhängigen Männer der andern Nationen sehen in der reißend schnellen Entwicklung seiner Macht eine von Tage zu Tage wachsende Gefahr für die Freiheit der Völker. Ueberall erscheint der Name Russe gleichbedeutend mit brutaler Unterdrückung und schimpflicher Sklaverei. Ein Russe ist in der Meinung Europa’s nichts Anderes, als ein feiles Werkzeug in den Händen des verhaßtesten und gefährlichsten Despotismus.

Meine Herren! Nicht um Rußland wegen der Verbrechen zu rechtfertigen, deren man es anklagt, nicht um die Wahrheit zu verläugnen, habe ich diese Tribüne bestiegen. Ich will nicht das Unmögliche versuchen. Die Wahrheit thut mehr als je meinem Vaterlande Noth.

[4] Wohlan denn, wir sind noch ein Volk von Sklaven! Bei uns gibt es noch keine Freiheit, keine Achtung vor der Menschenwürde! Bei uns herrscht noch ein scheußlicher Despotismus, zügellos in seinen Launen, schrankenlos in seinem Thun; wir haben noch Nichts von dem, was die Würde und den Stolz der Nationen ausmacht. Man kann sich keine unglücklichere und erniedrigendere Lage vorstellen.

Unsere Stellung nach Außen ist nicht weniger beklagenswerth. Geduldige Vollstrecker eines Gedankens, der uns fremd ist, eines Willens, der eben so sehr unsern Interessen, als unserer Ehre zuwiderläuft, sind wir gefürchtet, gehaßt, fast möchte ich sagen verachtet; denn man betrachtet uns überall als die Feinde der Civilisation und der Humanität. Unsere Herren bedienen sich unserer Arme, um die Welt in Fesseln zu legen, um die Völker zu unterjochen, und jeder ihrer Erfolge ist eine neue Schmach für unsere Geschichte.

Ohne von Polen zu reden, wo wir seit 1772[WS 2], besonders aber seit 1831, uns täglich durch abscheuliche Gewaltthaten, durch namenlose Schändlichkeiten entehren, – welche erbärmliche Rolle hat man uns in Deutschland, in Italien, in Spanien, selbst in Frankreich, kurz überall da spielen lassen, wo nur unser verderblicher Einfluß hindringen konnte! Gibt es wohl seit 1815 eine einzige edle Sache, die wir nicht bekämpft, eine einzige schlechte, die wir nicht unterstützt, eine einzige große politische Missethat, die wir nicht entweder angestiftet, oder an der wir uns nicht betheiligt hätten? – Rußland ist, seit es zu einer Macht ersten Ranges sich emporgeschwungen, durch ein wahrhaft beklagenswerthes Geschick, dem es selbst zuerst als Opfer gefallen, eine Ermuthigung für das Verbrechen unter [5] eine Drohung für alle heiligen Interessen der Menschheit geworden!

Dieser abscheulichen Politik unserer Fürsten haben wir es zu danken, daß das Wort „Russe,“ im offiziellen Sinne, einen Sklaven, einen Henker bezeichnet!

Sie sehen, meine Herren, ich kenne meine Lage vollständig; und doch stelle ich mich hier als Russe vor, nicht obgleich Russe, sondern weil Russe. Ich komme mit dem tiefen Gefühl der Verantwortlichkeit, welche auf mir ruht, ebenso wie auf allen andern Bewohnern meines Landes; denn die Ehre der Einzelnen ist nicht zu trennen von der Ehre der Nation. Ohne diese Verantwortlichkeit, ohne diese innige Verbindung zwischen den Nationen und ihren Regierungen, zwischen den Individuen, und den Nationen, gäbe es kein Vaterland und keine Nation. (Beifall.)

Diese Verantwortlichkeit, diese gemeinsame Verpflichtung für das Verbrechen, nie, meine Herren, nie habe ich sie so schmerzlich empfunden, als in diesem Augenblick. Denn der Jahrestag, den Sie heute feiern, meine Herren, ist eine große Erinnerung für Sie, die Erinnerung an eine heilige Erhebung des Volks und an einen heroischen Kampf, die Erinnerung an eine der schönsten Epochen Ihres Volkslebens. (Längerer Beifall.) Sie Alle haben dieser großartigen Erhebung des Volks beigewohnt; Sie haben Theil genommen an diesem Kampf; Sie waren Mitspieler und Helden dieses Drama’s. In diesem heiligen Krieg haben Sie Alles, was die große Seele der Polen an Begeisterung, an Hingebung, an Kraft und Vaterlandsliebe enthält, entwickelt und erschöpft. Erdrückt durch die Zahl, mußten Sie endlich unterliegen. Aber die Erinnerung an diese ewig denkwürdige Epoche ist mit Flammenzügen in Ihre [6] Herzen geschrieben; Sie Alle sind wiedergeboren aus diesem Kriege hervorgegangen; wiedergeboren und gestärkt, abgehärtet gegen die Versuchungen des Unglücks, gegen die Schmerzen der Verbannung, mit Stolz erfüllt auf Ihre Vergangenheit, mit Vertrauen auf Ihre Zukunft!

Der Jahrestag des 29. November, meine Herren, ist nicht allein für Sie eine große Erinnerung, er ist auch das Unterpfand einer nahen Befreiung, einer nahen Rückkehr in Ihr Vaterland. (Beifall.)

Für mich als Russe ist er der Jahrestag eines Schandflecks. Ja, eines großen nationalen Schandflecks! Ich sage es laut: der Krieg von 1831 war unsererseits ein unvernünftiger, ein verbrecherischer, ein brudermörderischer Krieg. Es war nicht blos ein ungerechter Angriff gegen ein Nachbarvolk, es war ein scheußliches Attentat auf die Freiheit eines Bruders. Es war noch mehr, meine Herren: es war ein politischer Selbstmord von Seiten meines Landes. (Beifall.) – Dieser Krieg wurde im Interesse des Despotismus unternommen, aber wahrlich nicht im Interesse der russischen Nation; diese beiden Interessen stehen sich schnurstracks entgegen. Die Befreiung Polens wäre unser Heil gewesen: wart Ihr frei, so wurden wir es auch; Ihr konntet den Thron des Königs von Polen nicht umstürzen, ohne den des Kaisers von Rußland zu erschüttern... (Beifall.) – Kinder desselben Volksstamms, sind unsre Schicksale unzertrennlich, und unsere Sache muß eine gemeinschaftliche sein. (Beifall.)

Ihr hattet das wohl verstanden, als Ihr auf Eure Revolutions-Fahnen die russischen Worte schriebt: za nachu i za vachu volnost: „Für unsere und Eure Freiheit!“ (Beifall.) Ihr hattet es wohl verstanden, [7] als im kritischen Augenblick des Kampfes ganz Warschau, der Wuth des Kaisers Nicolas[WS 3] Trotz bietend, sich eines Tages, getrieben von dem großen Gedanken der Brüderlichkeit, vereinigte, um unsern Helden, unsern Märtyrern von 1825, Pestel, Ryleeff, Murawieff-Apostol, Bestuscheff-Rumin und Kohoffsky[WS 4] (Beifall), die in St. Petersburg dafür aufgeknüpft worden sind, daß sie die ersten Bürger Rußlands waren, – um diesen Helden öffentlich eine feierliche Huldigung darzubringen!

Ja, meine Herren, Sie haben nichts vernachlässigt, um uns von Ihren brüderlichen Gesinnungen zu überzeugen, um unsere Herzen zu bewegen und uns aus unserer verderblichen Verblendung zu reißen. Vergebliche Versuche! Verlorne Anstrengungen! Soldaten des Czaren, taub gegen Euern Ruf, sahen wir nichts und verstanden nichts; wir marschirten gegen Euch, – und das Verbrechen war vollbracht.

Meine Herren, von allen Unterdrückern, von allen Feinden Ihres Vaterlandes haben grade wir am meisten Ihre Verwünschungen und Ihren Haß verdient.

Und dennoch erscheine ich hier nicht blos als ein reuiger Russe. Ich wage es, in Ihrer Gegenwart meine Liebe und meine Achtung für mein Vaterland auszusprechen. – Ich wage noch mehr, meine Herren, ich wage es, Sie zu einer Verbindung mit Rußland einzuladen.

Ich muß mich darüber näher aussprechen.

Vor etwa einem Jahre – ich glaube, es war nach den Mordscenen in Galizien[WS 5] – machte ein polnischer Edelmann in einem an den Fürsten Metternich[WS 6] gerichteten, mit vieler Beredsamkeit geschriebenen Briefe, der seitdem Berühmtheit erlangt hat, Ihnen einen [8] befremdenden Vorschlag. Hingerissen ohne Zweifel von einem an sich sehr gerechten Haß gegen die Oesterreicher, forderte er Sie zu nichts Geringerem auf, als sich dem Czaren zu unterwerfen, sich ihm ganz zu geben mit Leib und Seele, ohne Bedingung und ohne Rückhalt; er rieth Ihnen, aus freien Stücken das zu thun, was Sie bisher nur gezwungen erduldet hatten, und er versprach Ihnen als Ersatz dafür, daß, sobald Sie aufhören würden, sich als Sklaven hinzustellen, Ihr Herr wider seinen Willen Ihr Bruder werden würde.

Ihr Bruder, meine Herren, hören Sie? der Kaiser Nicolas Ihr Bruder! (Nein! nein! Große Aufregung.)

Den Unterdrücker, den erbittertsten Gegner, den persönlichen Feind Polens, den Henker so vieler Opfer (Bravo! Bravo! Bravo!), den Räuber Ihrer Freiheit, der aus Haß sowohl und Instinkt, als auch aus Politik mit wahrhaft teuflischer Ausdauer Sie verfolgt, - würden Sie den wohl als Ihren Bruder annehmen? (Geschrei von allen Seiten: Nein! nein! nein!)

Ich wußte es wohl, Sie Alle würden den Tod vorziehen; (Ja! ja!) – Sie Alle würden lieber Polen’s Untergang sehen, als in eine solche verabscheuenswerthe Verbindung willigen. (Verdoppelte Bravo’s.)

Aber gestatten Sie mir, für einen Augenblick das Unmögliche anzunehmen. Wissen Sie, meine Herren, welches für Sie das sicherste Mittel sein würde, Rußland viel Uebles zuzufügen? Es würde das sein, sich dem Czaren zu unterwerfen. Er würde dadurch in seiner Politik bestärkt werden und eine solche Kraft erlangen, daß Nichts mehr ihn aufzuhalten vermöchte. Welches Unglück für uns, wenn diese antinationale Politik alle Hindernisse besiegte, die ihrer vollständigen Verwirklichung noch im Wege stehen. Und das erste, [9] das größte dieser Hindernisse ist ohne Zweifel Polen, ist der verzweifelte Widerstand dieses heldenmüthigen Volkes, das uns rettet, indem es uns bekämpft. (Rauschender Beifall.)

Ja, weil Sie die Feinde des Kaisers Nicolas sind, die Feinde des offiziellen Rußlands, deßhalb sind Sie von selbst, auch ohne es zu wollen, die Freunde des russischen Volks. (Beifall.)

Ich weiß, man glaubt in der Regel in Europa, daß wir mit unserer Regierung ein untrennbares Ganze bilden, daß wir uns unter Nicolas’ Herrschaft sehr glücklich fühlen, daß er und sein System, das System der Unterdrückung im Innern und der gewaltsamen Eroberung nach Außen, der vollkommene Ausdruck unseres Volksgeistes sind.

So ist es nicht.

Nein, meine Herren, das russische Volk fühlt sich nicht glücklich! Ich sage es mit Freude, mit Stolz. Könnte es glücklich sein in dem Zustande der Erniedrigung, in den es versenkt ist, dann wäre es das feigherzigste und verächtlichste Volk von der Welt. Auch über uns herrscht ein fremder Arm, ein Fürst deutschen Ursprungs, der nie die Bedürfnisse und den Charakter des russischen Volks verstehen wird, und dessen Herrschaft, ein seltsames Gemisch von Mongolischer Rohheit und Preußischem Kopfthum, das nationale Element vollständig ausschließt, so daß wir, aller politischen Rechte beraubt, selbst nicht einmal jene natürliche, oder, um mich so auszudrücken, patriarchalische Freiheit haben, deren die uncivilisirtesten Völker genießen, jene Freiheit, die dem Menschen wenigstens gestattet, mit seinem Herzen in der Heimath zu ruhen und sich ganz seinen Naturtrieben zu überlassen. Nein, wir haben [10] Nichts von Alledem: keine natürliche Geberde, keine freie Bewegung ist uns gestattet. Kaum ist’s uns gestattet zu leben, denn alles Leben bedingt schon eine gewisse Unabhängigkeit, und wir sind ja Nichts, als das leblose Räderwerk dieser scheußlichen Unterdrückungs- und Eroberungs-Maschine, die man Russisches Reich nennt. Nun wohl, meine Herren, denken Sie sich eine Seele in einer Maschine, dann werden Sie sich vielleicht eine Vorstellung von der Unermeßlichkeit unserer Leiden machen können. Keine Schande, keine Qual, die wir nicht zu erdulden hätten; das ganze Unglück Polens lastet auf uns, aber ohne seine Ehre.

Ohne seine Ehre, sage ich, und ich vertrete diesen Ausdruck, so weit er sich auf das regierende, das offizielle, das politische Rußland bezieht.

Eine schwache, entkräftete Nation bedarf vielleicht des Lug’s und Trug’s, um die elenden Reste einer dem Untergang nahen Existenz zu stützen. Aber Gott sei Dank, Rußland ist so weit nicht. Nur an der Oberfläche ist die Natur dieses Volks verdorben: kraftvoll, mächtig und jung, braucht es nur die Hindernisse wegzuräumen, die man ihm in den Weg zu stellen wagt, um sich in seiner ganzen natürlichen Schöne zu zeigen, um alle seine ungekannten Schätze zu entwickeln, um endlich der Welt zu beweisen, daß das russische Volk nicht im Namen der brutalen Gewalt, wie man gewöhnlich denkt, sondern im Namen alles Dessen, was es Edles und Heiliges im Leben der Nationen gibt, im Namen der Menschheit, im Namen der Freiheit, das Recht des Daseins hat.

Meine Herren, Rußland ist nicht blos unglücklich, es ist auch unzufrieden; seine Geduld geht zu Ende. Wissen Sie, was man sich sogar am Hofe von St. Petersburg [11] ins Ohr flüstert? Wissen Sie, was die Vertrauten, die Günstlinge und sogar die Minister des Kaisers denken? Daß die Herrschaft Nicolas die Ludwig’s des XV. ist. Alles drängt zum Sturm, zu einem nahen, schrecklichen Sturm, der Viele erschreckt, den aber die Nation mit Freuden herbeiruft. (Stürmischer Applaus).

Um die innern Angelegenheiten des Landes sieht es zum Entsetzen schlecht aus. Unter dem Schein der Ordnung herrscht eine vollständige Anarchie. Unter der Außenseite eines zum Uebermaß strengen hierarchischen Formenwesens liegen scheußliche Wunden versteckt; unsre Verwaltung, unsre Justiz, unsre Finanzen sind eben so viele Lügen, Lügen, um die Meinung des Auslandes zu täuschen, Lügen, um die Sicherheit und das Bewußtsein des Herrschers einzuschläfern, der sich um so lieber denselben hingibt, als der wirkliche Zustand der Dinge ihm Furcht einflößt. Es ist nichts Andres, als eine mit Geschick ausstudirte Organisation der Ungleichheit, der Barbarei und der Plünderung im Großen. Alle Diener des Czaren, von denen, welche die höchsten Stellen bekleiden, bis zu den unbedeutendsten Distrikts-Beamten herab, ruiniren und bestehlen das Land, begehen die schreiendsten Ungerechtigkeiten, die schauderhaftesten Gewaltthaten, ohne die geringste Schaam, ohne die geringste Furcht, öffentlich am hellen Tage, mit einer Unverschämtheit und einer Brutalität ohne Gleichen; sie geben sich sogar nicht einmal die Mühe, ihre Verbrechen vor dem Unwillen des Publikums zu verbergen, so sicher sind sie der Straflosigkeit.

Der Kaiser Nicolas gibt sich wohl zuweilen den Anschein, als wolle er dem Umsichgreifen dieser empörenden Korruption Schranken setzen; aber wie sollte er [12] ein Uebel unterdrücken können, dessen Ursache in ihm selbst, in dem Princip seiner Regierung liegt? Darin ist auch das Geheimniß seines gänzlichen Unvermögens zu allem Guten zu suchen! Diese Regierung, die nach außen so imposant erscheint, im Innern ist sie ohnmächtig; nichts gelingt ihr; alle Reformen, die sie unternimmt, fallen alsbald wieder in nichts zusammen. Da sie sich nur auf die beiden verächtlichsten Leidenschaften des menschlichen Herzens, auf die Verkäuflichkeit und die Furcht, stützt, und da sie alle nationalen Triebe, alle Interessen und alle Lebenskräfte des Landes nach Außen vergeudet, so schwächt sich die Gewalt in Rußland von Tage zu Tage durch ihr eignes Thun, und löst sich auf eine schreckliche Weise selbst auf. Sie schwankt hin und her, sie quält sich ab, sie ändert jeden Augenblick ihre Ideen und ihre Pläne; sie unternimmt viel auf einmal, und führt nichts durch. Sie hat die Kraft des Bösen, und macht davon einen ausgedehnten Gebrauch, als wollte sie selbst den Augenblick ihres Sturzes beschleunigen. – Mitten in einem Lande, dem sie fremd und feindlich gegenübersteht, ist sie zu einem nahen Untergang bestimmt.

Ihre Feinde sind überall: in der furchtbaren Masse der Bauern, die ihre Befreiung nicht mehr vom Kaiser hoffen, und deren von Tage zu Tage häufigeren Aufstände es beweisen, daß sie des Wartens müde sind; in einer zahlreichen aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzten Mittelklasse, einer unruhigen und ungestümen Menge, die sich mit Leidenschaft in die erste revolutionäre Bewegung hineinstürzen würde; endlich und vor Allem in jener zahlreichen Armee, welche die ganze Oberfläche des Reichs bedeckt. Nicolas betrachtet allerdings diese Soldaten als seine besten Freunde, als [13] die festesten Stützen seines Thrones; aber diese seltsame Einbildung wird ihm sicher dereinst verderblich werden. Wie! diese Menschen sollten die Stützen seines Thrones sein, die aus den Reihen des im tiefsten Unglück schmachtenden Volks hervorgegangen sind, diese Menschen, welche man gewaltsam ihren Familien entreißt, welche man wie wilde Thiere in den Wäldern verfolgt, wo sie sich zu verstecken suchen, nachdem sie sich nicht selten selbst verstümmelt haben, um der Rekrutirung zu entgehen, diese Menschen, welche man gefesselt zu ihren Regimentern bringt, wo sie verdammt sind, zwanzig Jahre lang, also fast für ihre ganze Lebenszeit, eine wahre Höllenexistenz zu führen, täglich geschlagen, täglich von neuen Strapazen erdrückt, täglich dem Hungertode nahe gebracht zu werden! Großer Gott! was würden sie denn sein, diese russischen Soldaten, wenn sie bei solchen Torturen die Hand noch lieben könnten, welche sie ihnen auferlegt! Glauben Sie mir, meine Herren, unsre Soldaten sind die gefährlichsten Feinde der gegenwärtigen Ordnung der Dinge, besonders aber die von der Garde, welche täglich das Uebel an seiner Quelle sehen, und sich keine Täuschungen über die einzige Ursache aller ihrer Leiden machen können. Unsre Soldaten sind das Volk selbst, aber noch viel unzufriedener; sie sind das aller Täuschungen bare, bewaffnete, an die Disciplin und an gemeinsames Handeln gewöhnte Volk. Wollen Sie einen Beweis dafür? Bei allen Bauern-Emäuten der letzten Zeit haben die verabschiedeten Soldaten die Hauptrolle gespielt.

Um diese Rundschau unter den Feinden der bestehenden Gewalt in Rußland zum Schluß zu bringen, muß ich Ihnen endlich noch sagen, meine Herren, daß es unter der Jugend des Adels eine große Zahl unterrichteter, [14] edelmüthiger und patriotisch gesinnter Männer gibt, welche über unsre schmachvolle und verabscheuenswerthe Stellung erröthen, welche mit Entrüstung ihre sklavische Lage empfinden, welche alle von einem unversöhnlichen Haß gegen den Kaiser und seine Regierung erfüllt sind. Ja, glauben Sie es mir, an revolutionären Elementen fehlt es in Rußland nicht! Rußland wird lebendig, es erhitzt sich, es zählt seine Kräfte, es besinnt sich, es vereinigt sich, und der Augenblick ist nicht mehr fern, in welchem der Sturm, der große Sturm, zu unser Aller Heil, losbrechen wird! (Längerer Beifall.)

Meine Herren, im Namen dieser neuen Gesellschaft, im Namen dieser wahren Russischen Nation, schlage ich Ihnen ein Bündniß vor. (Beifall).

Die Idee eines revolutionären Bündnisses zwischen Polen und Rußland ist nicht neu. Wie Sie wissen, war sie schon durch die Konspirirten beider Länder im Jahre 1824 erfaßt worden.

Meine Herren, die Erinnerung, welche ich hier heraufbeschwöre, erfüllt meine Seele mit Stolz. Die Russischen Konspirirten waren damals die ersten, welche den Abgrund überschritten, der uns zu trennen schien.

Nur von ihrem Patriotismus geleitet, trotzten sie den Vorurtheilen, von denen Sie ganz natürlich gegen Alles, was den Namen Russe trug, erfüllt waren, und kamen Ihnen entgegen, ohne Mißtrauen, ohne Rückhalt; – sie kamen, Ihnen ein gemeinsames Unternehmen gegen unsern gemeinsamen und einzigen Feind vorzuschlagen. (Beifall.)

Sie verzeihen mir, meine Herren, diese unwillkürliche Regung des Stolzes. Ein Russe, der sein Vaterland liebt, kann nicht ohne Wärme von diesen Männern reden; sie sind ja unser lauterster Ruhm, – und [15] ich fühle mich glücklich, ihn inmitten dieser großen und edeln Versammlung, inmitten dieser polnischen Versammlung laut verkünden zu können (Beifall), – sie sind unsre Heiligen, unsre Helden, die Märtyrer unsrer Freiheit, die Propheten unsrer Zukunft! (Beifall.) Von ihren Galgen herab und selbst aus den Steppen Sibiriens, wo sie noch seufzen, sind sie unser Heil, unser Licht, die Quelle aller unsrer guten Eingebungen, unsere Schutzwache gegen den verwünschten Einfluß des Despotismus und unser Beweis für Sie und für die ganze Welt gewesen, daß Rußland in sich selbst alle Elemente der Freiheit und der wahren Größe enthält! Schande, Schande dem von uns, der das nicht anerkennen sollte! (Stürmischer Beifall.)

Meine Herren, indem ich diese großen Namen anrufe, und mich auf ihre gewichtige Autorität stütze, stelle ich mich Ihnen als Bruder vor, – und Sie werden mich nicht zurückstoßen. (Von allen Seiten: Nein! Nein!) Ich habe keinen Rechtstitel, so zu Ihnen zu sprechen; aber, ohne von der geringsten Anmaßung und der geringsten Eitelkeit besessen zu sein, ich fühle es, daß in diesem feierlichen Augenblick die russische Nation selbst durch meinen Mund zu Ihnen spricht. (Beifall.) Ich bin nicht der Einzige in Rußland, der Polen liebt, und der diese enthusiastische Bewunderung, diese leidenschaftliche Gluth, dieses tiefe Gefühl, gemischt aus Reue und Hoffnung, das ich Ihnen nie ganz würde ausdrücken können, für dasselbe empfindet. Die bekannten oder unbekannten Freunde, welche meine Sympathien und meine Ansichten theilen, sind zahlreich (Beifall), und leicht würde es mir sein, dies zu beweisen durch Anführung von Thaten und Namen, wenn ich nicht fürchtete, unnützerweise viele Personen zu kompromittiren. Im Namen dieser Freunde, im Namen alles dessen, was es Lebendiges und Edles in meinem Vaterlande gibt, reiche ich Ihnen die Bruderhand. (Lebhafter Beifall.)

Durch ein verhängnißvolles und unvermeidliches Geschick, durch eine lange dramatische Geschichte, deren traurige Folgen wir Alle jetzt zu tragen haben, an [16] einander gekettet, haben unsre beiden Länder sich lange Zeit verwünscht. Aber die Stunde der Wiedervereinigung hat geschlagen: es ist Zeit, daß unsre Mißhelligkeiten ein Ende nehmen. (Beifall.)

Wir haben viel gegen Euch verbrochen, und Ihr habt uns viel zu verzeihen! Aber unsre Reue ist nicht weniger groß, und wir fühlen in uns eine Fülle guten Willens, der alle Eure Leiden wieder gut zu machen und das Vergangene Euch vergessen zu lassen wissen wird. Dann wird unser Haß sich in Liebe verwandeln, in eine um so glühendere Liebe, als unser Haß unversöhnlicher war. (Lebhafte Zustimmung.)

So lange wir getrennt blieben, haben mir uns gegenseitig gelähmt; vereinigt werden wir für das Gute allmächtig sein. Nichts wird unserm gemeinsamen Handeln widerstehen können.

Die Wiedervereinigung Rußlands und Polens ist ein unermeßliches Werk und werth, daß man sich ihm ganz weihe. Es ist die Befreiung von sechzig Millionen Menschen, es ist die Befreiung aller Slavischen Völker, welche unter einem fremden Joch seufzen; es ist endlich der Sturz, der unwiderrufliche Sturz des Despotismus in Europa. (Beifall.)

Möge er denn kommen, dieser große Tag der Wiedervereinigung, – der Tag, an dem die Russen, durch dieselben Empfindungen mit Euch vereint, für dieselbe Sache und gegen denselben Feind kämpfend, das Recht haben werden, mit Euch Euer Nationallied anzustimmen, jene Hymne der Slavischen Freiheit:

„Jescze polska niezginela!“
„Noch ist Polen nicht verloren!“

(Ein Sturm von Beifallsbezeugungen begleitete diese letzten Worten, und eine lange und lebhafte Bewegung folgte auf die Rede.)


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gemeint ist der Novemberaufstand von 1830/1831 – auch Kadettenaufstand genannt
  2. Teilung Polens durch Russland und Preußen
  3. Nikolaus I. zwischen 1825 und 1855 Kaiser des Russischen Reiches und zwischen 1825 und 1830 letzter gekrönter König von Polen (Kongresspolen)
  4. Dekabristen: Pawel Iwanowitsch Pestel, Kondrati Fjodorowitsch Rylejew, Sergei Iwanowitsch Murawjow-Apostol, Michail Pawlowitsch Bestuschew-Rjumin, Pjotr Grigorjewitsch Kachowski wurden am 25 Juli 1826 in St. Petersburg gehängt.
  5. Gemeint ist der Krakauer Aufstand
  6. Klemens Wenzel Lothar von Metternich