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Requiem (Tucholsky)

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Requiem
Untertitel:
aus: Mit 5 PS Seite 279-285
Herausgeber:
Auflage: 10. – 14. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Ernst Rowohlt
Drucker: Herrosé & Ziemsen
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Zyklus: KIRCHHOFSMAUER
Erstdruck in: Weltbühne, 21. Juni 1923
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[279]
Requiem

Am 24. Mai ist er sanft entschlafen, und am 27. Mai haben wir ihn begraben. Es war eine erhebende Feier.

*

Es war so überraschend schnell gegangen. Am Mittwoch hatte er noch Spengler gelesen und andern Unfug getrieben, als um dreiviertel sieben Uhr abends zwei Freikarten für eine neue Operette einliefen. War es nun die Gelehrsamkeit des 18 prozentigen Industrie-Philosophen oder der Schreck – kurz: Wrobel bekam Atembeschwerden, und, seiner Sinne nicht mehr mächtig, ließ er den Halsspezialisten Dr. Puppe rufen. Bevor der noch in der Eile den letzten Teuerungsindex errechnen konnte, glitt der Patient dahin, und alles war aus. Der schwer erschütterte Mediziner saß im Vorzimmer des Toten – es war die erste Nasenscheidewand in seinem Leben, die unoperiert davongekommen war –, und als ihm nun eröffnet wurde, daß er als Vermächtnis alle Jahrgänge der „Weltbühne“ geerbt hatte, da weinte der große und starke Mann bitterlich.

Wir andern aber formierten den Trauerzug und setzten uns langsam in Bewegung. Vorn rollte der Dichter selbst – zum Glück war der Sarg geschlossen, denn der Anblick des im Wagen fahrenden Wrobel hatte stets den Neid und den Abscheu aller Vorübergehenden erregt. Immer hatte er in den großstädtischen Automobilen nach der Melodie gesessen: „Wie gut, daß ihr lauft!“ Das konnte er dieses Mal nicht [280] sagen. Schwer zogen die Pferde an der ungewohnten Last. Bekanntlich hatte Wrobel falsch ausgesehen – die tiefe Tragik seines Lebens bestand darin, daß jeder, der ihn kennenlernte, beleidigt fragte: „Sie sind Herr Wrobel? Sie habe ich mir ganz anders vorgestellt!“ Und auf die bescheidene Frage, wie man sich ihn denn vorgestellt habe, erfolgte jedesmal die Antwort: „Nun – hager, blau rasiert und mit einer Intellektual-Brille versehen!“ Und dann hatte Wrobel jedesmal zu bedauern – aber es half ihm nicht: er sah falsch aus. Das also fuhr im vordersten Wagen.

Dahinter folgte eine unübersehbare Reihe von drei Droschken. In der ersten saß die republikanische Partei Deutschlands; ein Mitglied hatte auf dem Bock Platz genommen, weil es eine Sondergruppe bildete und sich mit den andern nicht vertrug. Im zweiten Wagen saßen die Geliebten des Dichters – von jeder Haarfarbe eine zur Auswahl. Die Damen hatten sich sofort miteinander verständigt, denn sie waren sich über die zahllosen Lächerlichkeiten des lieben Verstorbenen vollkommen einig: er schnarchte, machte Plüschaugen, bevor er mit den Mädchen geschlafen hatte, und war im ganzen von einem stinkenden Geiz. Alle in diesem Wagen hatten ihn wirklich geliebt, ehe sie ihn persönlich kannten; auch gaben sie ihn für eine freundliche Erinnerung aus: an die Zeit der Kopulation selbst mochte keine gern zurückdenken. Die dritte Droschke war leer – der Kutscher fuhr aus Langerweile mit, und weil er hoffte, auf dem Friedhof eine gute Fuhre zu bekommen.

Der Friedhof war stippevoll. Als der Wagenzug räderknirschend das schmiedeeiserne Tor erreicht hatte, senkten sich alle Zylinderhüte. Der Sarg wurde durch das Spalier getragen. Hinter Trauerbosketts aus frischem Suppengrün setzte sich ein unsichtbarer Chor in musikalische Bewegung – [281] der Direktor Rudolph Nelson dirigierte ihn, leicht verärgert, daß man ihn so aus seiner Ruhe gestört hatte, würdevoll und eingedenk der hohen Vorschüsse, die da zu Grabe getragen wurden. Er konstatierte mit Befriedigung, daß auch hier alles ausverkauft war, nickte mit dem kleinen dicken Kopf aus dem tadellosen schwarzen Überzieher, sah zu Käthchen Erlholz, seiner Frau, hinüber, die dastand und sich furchtbar mopste – und der Chor begann:

„Mir ist heut so nach Tamerlan!“

Das war eines jener zahllosen Chansons des Verstorbenen, angefertigt für die Kreise, die er so zu verachten vorgab; mit der einen Hand kritisierte er sie, mit der andern zapfte er ihnen den Sekt ab. Er war eben eine problematische Natur…

Die Leute schritten langsam zur Trauerhalle.

Unter den Erschienenen bemerkten sich u. a.:

Herr Pallenberg; Frau Massaray; der gefeierte Emil Jannings, der, wie alle vernünftigen Leute, gegen Begräbnisse eine schwere Antipathie hatte, aber gefaßt war, aussah wie ein trauernder ägyptischer Koloß und dachte: „Mensch, wenn ich bloß erst wieder zu Hause wäre –!“; zwei Zeitungsherausgeber, die dem Verstorbenen für alle seine Arbeiten zusammen so viel Honorar gezahlt hatten, wie ihre Autofahrt nach dem Friedhof kostete; kleine Damen, die sich in Rheinsberg hatten verführen lassen und dem Toten dafür dankbar waren, obgleich der gar nichts davon gehabt hatte; mit einer Hand in der Hosentasche: Georg Bernhard; Claire Waldoff; Paul Graetz, der sein wirklich ernstes Gesicht aufgesetzt hatte („Denn er war meiner!“) – und der in guter Haltung daherschritt, weil er der einzige Berliner Komiker war, weit und breit; eine Abordnung von Nazis, die der Tote so geschätzt hatte… Und Gussy Holl stand da, entzückend ließ [282] sich ihr helles Blond zu dem feinen Schwarz ihres neuen Tuchkleides –: „Doktor, rat mal, was das Kleid gekostet hat?“ Aber der Doktor konnte es ihr nicht mehr sagen – zum erstenmal in seinem Leben war er pathetisch geworden und lag in seinem Sarg und schwieg. Und alle Lebenden haben Unrecht vor einem Toten.

Die Republik hatte einen amtlichen Vertreter geschickt. Das heißt: eigentlich hatte der bei Wrobels Begräbnis gar nichts zu suchen, sondern er war ausgesandt worden, um namens der Reichsstelle für die Förderung deutscher Gebrauchskatzen zu dem Tode des Oberförsters Karnowsky sein amtliches Beileid auszusprechen. Der hohe Beamte aber hatte sich im Feld geirrt und ging hier nun ahnungslos mit. Er wurde späterhin wegen Teilnahme an einem öffentlichen Unfug pensioniert. Denn die deutsche Republik gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist.

Nun war die Menge in die Trauerhalle gelangt. Der Zug stockte, hielt. Ein schwarz begehrockter Herr trat vor und hielt ein weißes Blatt in der Hand. Alle Köpfe entblößten sich. Alfred Holzbock stand mit völlig kahler Platte da; seine Haare waren im Zylinder verblieben. Und der Redner sprach:

„Geehrte Trauerversammlung! Wir stehen am Grabe von Kaspar Theobald Peter Kurt Ignaz Wrobel. Ein schwerer Schlag hat ihn und uns getroffen. Der Entschlafene wurde geboren am 9. Januar 1890 in Podejuch bei Stettin und besuchte dortselbst bis zu seiner endgültigen Pubertät die Fürsorgeanstalt für geistig zurückgebliebene, aber uneheliche Kinder; im Jahre 1908 wurde er in die Schule für eheliche Kinder versetzt. Nachdem ihm zugleich mit General Mackensen das Doktorat einer deutschen Universität für den Wiederbeschaffungspreis von 350 Mark verliehen worden war, trug [283] er einen vom damaligen Kaiser entliehenen Rock und bekleidete denselben vom Jahre 1915–1918. Nach siegreicher Durchdringung Rumäniens trat der Verblichene in eine Berliner Zeitungsredaktion ein, woselbst er durch rasche Verjagung der zahlungsfähigen Inserenten und Abonnenten bald eine beliebte Persönlichkeit wurde. Als nur noch der Chefredakteur und er das von ihm redigierte Blatt lasen, wurde er Stellungsloser und bezog von der Stadt Berlin eine Rente.

Geehrte Trauerversammlung! Der Verstorbene ist ein glücklicher Mensch gewesen. Das Leben in diesem sonnigen Lande war ihm stets eine Freude, und zauberte dasselbe ewiges Lächeln auf seine reichlichen Züge. Er hat die Stille geliebt und die Unabhängigkeit: wollte er Unabhängigkeit, so ging er spaßeshalber zur U. S. P. D., und wollte er Stille, so ging er zur Deutschen Demokratischen Partei.

Er hat ein schönes Dasein gehabt. Er hat alle Frauen bekommen, die er begehrt hat – und er hat aus Vorsicht nur die begehrt, die er bekommen konnte. Stets in der Lage, seine Neurasthenie für weisen Verzicht auszugeben, war er immer bereit, um eine Arbeit zu ersparen, mehr Arbeit aufzuwenden, als die Arbeit selbst gekostet hätte. Er war Misaut von reinstem Wasser.“ (Hier murrte die Zuhörerschaft und verbat sich antisemitische Äußerungen. Aber der Redner fuhr fort.)

„Er interessierte sich für die verschlungenen Fäden der deutschen Justiz – diese Knoten von deutschen Richtern aufgelöst zu sehen, war ihm immer eine schöne Freude. Wie liebte er das muntere Völkchen der freien Künstler, diese unordentlichen Bürger! Wie liebte er die Geschäftsleute, die sich den Künstler heranholten und tief beleidigt waren, wenn er etwa seine Individualität nun auch bei ihnen adhibierte!

[284] Stets ist es ihm gelungen, in der ‚Weltbühne‘ durch die Grazie seines Stils über die Hohlheit seines Kopfes hinwegzutäuschen! Er hat durchgehalten. Er glaubte an keinen Zusammenbruch. Er sah, daß die Pazifisten zumeist beleidigter Landsturm ohne Waffe waren – und er sah, wie der altdeutsch angestrichene Apparat nur funktionierte, wenn er sich mausig machen konnte.

Und weil die meisten Erfolge auf Mißverständnissen beruhen, so darf gesagt werden: Er hat viel Erfolg gehabt. Und aus diesem Paradeis mußte er hinfort, aus diesem schönen Lande scheiden! Wie wird er es ohne Deutschland da drüben aushalten? Ohne diese Nation von Biertrinkern, Diensttuenden, Diensthabenden und Dienstmännern?

Unser Leben währet, wenn es hochkommt, siebenzig Jahre – und was das angeht, so ist ihm immer nach achtzig zumute gewesen. Wir, die wir nacheinander und unbeirrbar an Kaiser und Vaterland, an Sozialistengesetz und Lex Heinze, an Kriegsanleihe und Ruhrabwehrkampf geglaubt haben – siehe, wir stehen da und grüßen dich! Ich spreche für alle und rufe ich dir ins Grab nach, Ignaz Wrobel:

Glückliche Reise –!“

Der Redner schwieg. Leise spielte der Wind mit den abgeschabten Rockschößen der Pressevertreter, die da auf dem Rasen standen: rechts die besseren Herren, links einige Kommunisten, die am liebsten links von sich selbst gestanden hätten – und auf dem goldenen Mittelweg, wohin er gehörte: Friedrich Stampfer.

Sie hoben den Sarg und trugen ihn hinaus. „Von Erde bist du“, sprach einer und warf die drei Handvoll nach unten. Die Schollen verhielten sich vorschriftsmäßig: sie polterten dumpf.

Über und über mit Kränzen bedeckt war der Boden. Atlasschleifen [285] lugten aus dem Grün hervor; Journalisten notierten sich die Inschriften:

„Seinem Ehrenmitglied der Verband Berliner Absteigevermieterinnen.“ – „Dies war mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe. Jes. Sir. 42, 1. Gustav Noske.“ – „1000 Tränen! abzüglich 20% Freiexemplare gleich 650 Tränen vergießt der Drei-Masken-Verlag.“ So lagen da viele schöne Kränze.

Das Trauergefolge zerstreute sich. Die Nazis gingen in ihren Klub, wo sie beim Spielverbot neuen Operetten- und Filmstoff aus dem Begräbnis schöpften; Georg Bernhard organisierte in einer Ecke eine Tarifvereinigung der Totengräber; die jungen Mädchen hielten die von Mama gemopsten Spitzentaschentücher vor die Augen und fuhren dahin, sich wiederum verführen zu lassen; und Pallenberg, Massary, Jannings und Holl – nicht ungefilmt gingen sie davon.

Noch einmal trat Claire Waldoff an die Grube, sah hinunter und sagte mit heiserer Kehle: „Komm ruff!“ Und trat ab, um aufzutreten.

Der Friedhof war leer. Der freundliche Schein der Sonne fiel auf den granitenen Grabstein, mit dem sich der gute Ignaz Wrobel rechtzeitig eingedeckt hatte. In silbernen Buchstaben stand da zu lesen:


HIER RUHT EIN GOLDENES HERZ

UND EINE EISERNE SCHNAUZE.

GUTE NACHT –!