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RE:Raeti

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Bewohner d. mittleren Alpen
Band I A,1 (1914) S. 4246
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Raeti heißen im Altertum die Bewohner der mittleren Alpen. Ihr Name erscheint erst ziemlich spät, zuerst bei Polybios, nach welchem vier Pässe über die Alpen führten, der östlichste διὰ Ῥαιτῶν (Strab. IV 209), ohne Zweifel der Brennerpaß; dann erscheint der Name erst wieder in der augusteischen Zeit bei Horaz, Livius und Strabon. Die Römer schrieben, nach dem einstimmigen Zeugnis der Inschriften, den Namen Raeti ohne die griechische Aspiration, nach der keltischen Aussprache, die das aspirierte R nicht kannte (Glück Kelt. Namen bei Caesar 143. 148). Erst später kam nach dem Vorgang der Flußnamen Rhenus und Rhodanus die Schreibung Rhaeti auf und drang dann auch in die Hss. ein. Die Herkunft des Namens ist dunkel. Die Ableitung von dem lateinischen retia, Netze, wegen der verschlungenen Täler und Gebirgszüge, war wohl nur ein Scherz des Gotenkönigs Theoderich, wurde aber seltsamerweise von Planta (Das alte Raetien 1872, 1f.) angenommen. Eine Verwandtschaft mit dem Namen Rasenae der Etrusker ist bei der lautlichen Verschiedenheit sehr unwahrscheinlich. Annehmbar wäre die Ableitung von einem keltischen Worte rait, Gebirgsgegend (Forbiger in Pauly R. E. nach Rühs zu Tac. Germ. S. 66), aber dieses Wort scheint nicht nachweisbar, es wird von Holder gar nicht erwähnt. Jedenfalls ist der Volksname Raeti nicht von dem Landesnamen Raetia abzuleiten, der erst Folge der römischen Provinzbildung war.

Dunkel ist auch die Abstammung der R., über welche von den alten wie von den neueren Schriftstellern die verschiedensten Ansichten aufgestellt worden sind. Zwar den dux Raetus (Pomp. Trogus bei Iust. XX 5. Plin. n. h. III 133) dürfen wir als den eines ἥρως ἐπώνυμος ohne Bedenken in das Gebiet der Sage verweisen; aber an der Angabe des Livius (V 33)‚ daß die R. von den Etruskern ihren Ursprung (origo) nahmen, jedoch durch die Natur ihres Landes verwilderten und nur noch den Klang der Sprache, und auch diesen nicht unverdorben‚ beibehielten, ist umsoweniger vorbeizugehen, als Livius aus der Gegend herstammte und auch Trogus und der aus Comum stammende Plinius d. ä. seine Ansicht teilten. Trogus sagt sogar a. a. O.: Tusci avitis sedibus amissis Alpes occupavere et gentes Ruetorum condiderunt, und Plinius a. a. O.: Raetos Tuscorum arbitrantur a Gallis pulsos. Andererseits sollen nach Liv. I 1 zwischen Meer und Alpen [43] als ein Urvolk die Euganeer gewohnt haben, denen Plinius III 134 die Trumpliner und Cammuner zuteilt, und im Norden hat Strabon IV 206 zwei rätische Hauptstämme, die Genauner und Breuner, den Illyriern zugeteilt, während Horaz carm. IV 14 eben diese Stämme zu den (keltischen) Vindelikern zu rechnen scheint und noch Zosim. I 52 die Noriker und R. als Κελτικὰ τάγματα bezeichnet. Schon seit dem 5. Jhdt. v. Chr. waren ja Kelten in die Donauländer eingedrungen, und besonders der Stamm der Vindelici (eigentlich Vindolici) hatte die Hochebene zwischen Alpen und Donau besetzt. Ferner waren Kelten über die Alpen bis in die Tiefebene des Polands vorgedrungen, hatten hier die Macht der Etrusker gebrochen und sie zurückgedrängt; namentlich war es der Stamm der Cenomani, welcher die Gegenden von Brixia (Brescia) und Verona besetzte. So hatten die Völkerverhältnisse sich derart verwirrt, daß schon die alten Historiker und Geographen darüber uneins waren, ob Verona eine rätische und euganeische oder keltische, Mantua eine tuskische oder keltische, Tridentum eine rätische oder keltische Stadt sei. — Nicht weniger groß war die Verschiedenheit der Ansichten unter den neueren Geschichtschreibern, als die ebenso interessante wie schwierige Frage der Herkunft der Etrusker, ihrer eigenartigen Kultur und ihrer geheimnisvollen Sprache zu lösen unternommen wurde (vgl. O. Körte und Skutsch Art. Etrusker). Wir berühren diese Frage hier nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für die R. Niebuhr (R. G. I 120) und nach ihm Otfr. Müller (Die Etrusker I 153) gingen noch über die Angaben des Livius hinaus und nahmen an, daß Raetien die ursprüngliche Heimat der Etrusker gewesen sei, und daß diese von dort aus gegen Süden über Italien hin sich verbreitet hätten. Mommsen (R. G. I 121f.) verzichtete darauf, die älteste Heimat der Etrusker zu erforschen, und begnügte sich mit der Wahrscheinlichkeit, daß sie über die rätischen Alpen nach Italien gekommen, und daß die R. entweder ‚Trümmer der etruskischen Ansiedlungen am Po‘ oder ‚ein in den älteren Sitzen zurückgebliebener Teil des Volkes‘ gewesen seien. Zeuß dagegen (Die Deutschen und ihre Nachbarstämme 228ff.) hielt die R. in der Hauptsache wie die Vindeliker für Kelten und nur einige südliche Stämme für Reste der Tusker im Poland. Ähnliche Ansichten sprach Diefenbach (Celtica II 1, 133. 160) aus. Mit großem Eifer trat andererseits Steub (Die Urbewohner Rhätiens 1843. Zur Rhätischen Ethnologie 1854) für die etruskische Herkunft der R. ein, die er besonders aus den Ortsnamen im einzelnen zu beweisen sich bemühte. Planta (a. a. O. 1ff.) nahm eine ,spärliche Urbevölkerung‘ von Menschen tieferer Kulturstufe an, dann Einwanderung von Etruskern, die sich vor den Galliern namentlich in die südlichen Alpentäler flüchteten, aber noch stärkeres Eindringen von keltischen Volkerschaften in die nördlichen Teile Raetiens. Die Einwanderung der Etrusker von Norden hat nochmals Helbig (D. Italiker in d. Poebene 1879, 100ff.) scharfsinnig verteidigt, Körte dagegen spricht sich für die Herkunft der Etrusker aus dem Osten und ihre allmähliche Einwanderung zur See zunächst in das eigentliche Etrurien [44] aus, will aber nicht bezweifeln, daß Etrusker aus der Poebene, durch die Gallier gedrängt, in die Berge ausgewichen sind. Letztere Ansicht ist wohl die wahrscheinlichste. Etruskische Einflüsse im Süden Raetiens, besonders im Etschtal, sind nachgewiesen durch die Inschriften, besonders durch die in dem ,Bozener Alphabet‘ geschriebenen (Pauli Altitalische Forschungen I 32ff.)‚ und diese Spuren reichen noch an der Haupthandelsstraße über den Brenner bis Matrei; aber daraus folgt entfernt nicht, daß ein größerer Teil der Bewohner Raetiens von den Etruskern abstammte, sondern nur, daß ihr kultureller Einfluß sich so weit erstreckte. Die Steub’schen Annahmen aber beruhen auf keiner sicheren sprachgeschichtlichen Grundlage; er selbst hat in der zweiten genannten Schrift zugegeben, daß viele der von ihm etruskisch erklärten Namen auch aus der späteren romanischen Zeit herstammen können. Wohl müssen jedem Beobachter die vielen einsilbigen, meist auf s oder z mit vorausgehendem Konsonanten endigenden Ortsnamen, wie Zirl, Schruns, Schwaz, Flims, Pfunds, Silz, Mals auffallen, und diese scheinen an die etrurischen Namen, welche durch Ausstoßung von Vokalen gekürzt sind, zu erinnern (vgl. Mommsen R. G. I 119); aber solche Ortsnamen finden sich doch auch in den Rheinlanden: Köln, Mainz, Worms, Selz, Metz. Bei diesen sind wir in der glücklichen Lage, durch Inschriften und Berichte der Historiker aus der römischen Kaiserzeit die ursprünglichen viel längeren Wortformen Colonia, Mogontiacum, Borbetomagus, Saletio, Mediamatrici zu kennen, bei den rätischen Namen aber fehlen uns solche frühen Urkunden. Ebenso ist es mit den vielen in der Aussprache allmählich einsilbig gewordenen französischen Städtenamen, wie Arles, Nantes, Bourges, Nîmes, Rennes, oder bei den zweisilbigen wie Rouen, Bordeaux, Verdun, Lyon, welche aus viel gewichtigeren, meist viersilbigen entstanden sind; ebenso endlich bei den vindelikischen Städtenamen Kempten, Bregenz, Epfach, deren vollere Urformen wir auch nicht aus den jetzigen gekürzten Formen ermitteln könnten, wenn sie nicht überliefert wären. Auch Gröber (Grundriß der röm. Philol. I² 107 kommt zu dem Ergebnis, daß die Frage nach der Herkunft der rätischen Ortsnamen ‚sprachlich unentscheidbar‘ sei. Was aber dann die keltischen Einflüsse betrifft, die hauptsächlich von Norden her gewirkt haben, wo die Vindeliker saßen, so scheinen die Kelten nicht in größeren Mengen in die Berge, also in das eigentlich rätische Land eingedrungen zu sein (Windisch bei Gröber a. a. O. I² 378); jedenfalls liegen keine Beweise dafür vor. Nach all dem dürfen wir wohl nicht mit Zeuß, Diefenbach, Planta die rätische Nation sozusagen in Etrusker und Kelten ganz oder nahezu auflösen, sondern müssen ihr eine selbständige Existenz zuerkennen, allerdings nicht ohne Beimischnng dieser fremden Elemente, zu denen wohl auch die Illyrier und Euganeer als östliche und südliche Nachbarn kommen.

Versuchen wir das Gebiet der R. (im Unterschied von der römischen Provinz Raetia) annähernd zu umschreiben, so umfaßte es 1. die Täler des Rheins und seiner Nebenflüsse von den Quellen bis zum Bodensee, an dem nach Strab. [45] VII 292 die B. nur ἐπ’ ὀλίγον Anteil hatten, sodann 2. vom Donaugebiet die Täler des Inn und seiner Nebenflüsse etwa bis Kufstein und die oberen Täler der Iller, des Lechs und der Isar; 3. die Täler der Etsch und des Eisak mit den Seitentälern, ausgenommen das Pustertal; 4. das Obertal der Adda mit Maira und das des Oglio. Hiemit ist schon angedeutet, daß das Volk sich naturgemäß fast ganz nach Talgemeinschaften gliederte, so daß die Namen der kleinen Stämme teilweise in denen der Täler heute noch fortleben. Diese Stammesnamen waren am vollständigsten zusammengestellt auf dem Tropaeum, das Augustus bei dem hienach benannten Städtchen la Turbia über Monaco nach Unterwerfung sämtlicher Alpenvölker errichten ließ. Wenn Plinius in dem geographischen Teil seiner Naturalis Historia nichts besseres zu tun wußte, als die Inschrift dieses Denkmals mit den Namen der Stämme wiederzugeben (III 136f.)‚ so folgen auch wir dieser Führung, mit Zusätzen aus den Berichten von Ptolem. (II 12), Strab. (IV 206) und Cass. Dio (LIV 20). Nach der im allgemeinen von Ost nach West (a mari supero ad inferum) gehenden Reihenfolge der gentes Alpinae dürfen wir mit Weglassung der vier als vindelikisch bezeichneten gentes, Consuanetes, Rucinates, Licates, Catenates, als rätisch ansprechen 1. Trumpilini oder Trumplini im Val Trompia, nördlich von Brixia (CIL V p. 515ff.); 2. Camunni im Val Camonica, am Oberlauf des Oglio (ebd. 519ff.); 3. Venostes im oberen Etschtal, das urkundlich Vallis Venosta hieß, jetzt Vinschgau; 4. Vennonetes, nach Kiepert im Addatal, deren Verhältnis zu den Vennonenses (Plin. n. h. III 135), den Vennones (Strab. IV 204. 206), den Venii (Οὐένιοι Cass. Dio a. a. O.) und den Vennontes (Ptolem. II 12, 2) unklar ist (vgl. C. Müller zu Ptolem. a. a. O.); 5. Isarci, wahrscheinlich im Tal des Eisak [Isarcus); 6. Breuni oder Breones am Brenner, noch im 6. Jhdt. n. Chr. genannt; 7. Genauni oder Genaunes (Plin. Caenaunes) im mittleren Inntal, nahe den Breuni; 8. Focunates, sonst nicht genannt, nach Kiepert im unteren Inntal; 9. Ambisontes oder Ambisontii (nach Ptolem. II 13, 2 schon in Noricum); 10. Rugusci oder Riguscae (Ptolem.)‚ nach Kiepert im oberen Inntal (Engadin); 11. Suanetes oder Suanetae (Ptolem.), nach Kiepert im oberen Rheintal; 12. Calucones, nach Kiepert im oberen Lechtal; 13. Brixentes, vielleicht identisch mit den Brigantii am Bodensee, nach andern bei Brixen; 14. Lepontii, im oberen Ticinustal (Val Leventina), vielleicht mehr keltisch. Die weiteren von Plinius nach der Inschrift des Tropaeum Augusti genannten Stämme aus der Vallis Poenina (Kt. Wallis) waren jedenfalls nicht mehr rätisch; dagegen sind durch das Edikt des Claudius auf der Bronzetafel von Cles (CIL V 5050) als rätisch bekannt 15. Bergalei, im Bergell (an der oberen Maira); 16. Anauni im Val di Non (am Nonsberg); 17. Tulliasses und 18. Sinduni, in der Gegend von Trient; ferner aus andern Inschriften 19. Sabini im Val Sabbia (CIL V p. 512ff.). Als die kühnsten der rätischen Stämme bezeichnet Strabon Ῥουκάντιοι und Κωτουάντιοι, deren Namen wohl entstellt sind.

So waren die R. nach Plin. n. h. III 133 [46] schon durch die Natur ihres Landes in viele civitates geteilt, die sich nur gelegentlich zu besonderen Zwecken, namentlich zu kriegerischen Unternehmungen verbanden (συνηθροίζοντο Polyb. II 18, vgl. Planta a. a. O. 47f.), so zu räuberischen Angriffen auf Durchreisende und zu Einfällen in die fruchtbare, reiche Ebene des Pogebiets (Strab. IV 203. V 213. Cass. Dio a. a. O.). Das kam nach Polybios schon im 4. Jhdt. v. Chr. vor und gab schließlich unter Augustus den nächsten Anlaß zu ihrer Bekriegung und Bezwingung (Planta 40ff.). Die R. galten, wie überhaupt die Alpenbewohner, als eine verwilderte, räuberische, grausame Menschenart (immanis Raetos Horat. a. a. O.; feritate truces Vell. II 95), entsprechend dem wilden, rauhen Charakter ihres Landes, an welchem den Römern eigentlich nur das Schaurige, Beschwerliche und Gefahrvolle auffiel Strab. IV 204ff.). Soweit der Boden nicht mit Wald bedeckt war, diente das Land als Weidetrift für die Viehzucht; doch gab es auch ‚gut zu beackerndes Hügelland und wohl angebaute Täler‘ (ebd. 206), und in den südlichen Talhängen wurde schon zur Zeit des Augustus (Suet. Aug. 77) ein edler, hochgeschätzter Wein erzeugt (Verg. Georg. II 95. Strab. a. a. O. Plin. n. h. XIV 67 Raetica [vina] Falernis tantum postlata a Vergilio). Außer Wein waren Honig, Wachs und Käse, sowie als Produkte der Wälder Harz, Pech, Kienholz, auch wohl Bauholz (Lärchen, Plin. n. h. XVI 39), Gegenstände der Ausfuhr (Planta 15ff. 31f.). Die Wohnplätze hatten ohne Zweifel meistens die Form zersreuter Höfe; daß aber auch befestigte Ortschaften (oppida, urbes) vorhanden waren, wie nach Caesar bei den Helvetiern, ist an sich wahrscheinlich und wird von Vell. II 95 bezeugt. Auch nennt dieser castella (vgl. Horat. carm. IV 14, 11f. arces Alpibus impositas); das sind wohl die als Refugien bekannten Ringwälle oder Wallburgen, welche meist auf Höhen angelegt waren. Was Planta sonst noch über die Kulturverhältnisse der alten R. ausführt, sind nur Vermutungen auf Grund der über andere Völker, namentlich die Kelten, überlieferten Nachrichten. In der Geschichte tritt das Land vor der römischen Eroberung nur einmal sicher und greifbar hervor, nämlich bei dem Zug der Kimbern und Tiguriner über den Brenner und das Etschtal nach Oberitalien‚ bei dem im J. 102 das Heer des Catulus an der Etsch unterhalb Trient zuerst in panischem Schrecken davonlief, im nächsten Jahr aber auf den raudischen Feldern die Eindring1inge durch die römische Kriegskunst und das Genie des Marius eine vernichtende Niederlage erlitten. Als Nachkommen von versprengten Resten der Kimbern wurden, wenn auch ohne sichere Beweise, die früher deutsch redenden Bewohner der Sette Communi in Südtirol betrachtet.

[Haug. ]