RE:Laterculum
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
---|---|---|---|
| |||
ein Verzeichnis für alle höheren Ämter, wie die Notitia dignitatum | |||
Band XII,1 (1924) S. 904–908 | |||
Bildergalerie im Original | |||
Register XII,1 | Alle Register | ||
|
Laterculum. Das Wort im Sinne von ,Verzeichnis‘ ist zuerst bei Tertullian nachweisbar (ad nat. I 13: in laterculum septem dierum solem recepistis; adv. Valent. 29). Über eine bestimmte technische Bedeutung, die es im 4. Jhdt. gewonnen hat, unterrichtet uns am genauesten die Notitia dignitatum (or. XVIII; occ. XVI). Hier erscheint auf den gemalten Insignien der beiden Primicerii Notariorum neben ihrem Anstellungsdekret (codicilli) und einem Bündel zusammengeschnürter Buchrollen als Hauptstück ein codexartiges Gebilde mit der Überschrift: laterculum maius. Im Texte aber steht: sub cura viri spectabilis primicerii notariorum notitia omnium dignitatum et administrationum tam civilium quam militarium. Daraus hat man von Anfang an geschlossen, daß l. maius nur ein anderer Name für die Notitia dignitatum ist, von der uns eine Abschrift oder richtiger vielleicht ein Auszug erhalten ist (Ed. princeps von A. Alciatus, Lyon 1529. Neuere Ausgaben von E. Böcking, Bonn 1839–1853 mit Kommentar. O. Seeck, Berlin 1876).
Die Tätigkeit des Primicerius notariorum schildert Claudian (epith. Pall. 85–91) folgendermaßen:
- cunctorum tabulas adsignat honorum,
- regnorum tractat numeros, constringit in unum
- sparsas imperii vires cuneosque recenset
- dispositos: quae Sarmaticis custodia ripis,
- quae saevis obiecta Getis, quae Saxona frenat
- vel Scottum legio, quantae cinxere cohortes
- oceanum, quanto pacatur milite Rhenus.
Der Primicerius stellte also für alle höheren Ämter und Würden die Anstellungsdekrete (tabulae = codicilli) aus. Da diese, wie die Formulare des Cassiodor [905] zeigen, sich im rhetorischen Stile der Zeit über die Pflichten der Ämter ausließen, bedurfte er dazu eines Verzeichnisses derselben mit kurzer Angabe ihrer Kompetenzen, wie es die Notatia dignitatum darstellt. Indem nun bei den militärischen Ämtern die Truppenteile aufgezählt wurden, welche jedem derselben anvertraut waren, gewann so der Primicerius notariorum auch einen Überblick über die Streitkraft des Reiches, wie Claudian das hervorhebt. Allerdings nennt er nur die Truppen an Donau und Rhein, an der Küste des Ozeans und am britanischen Grenzwall; der Tigris und der Nil fehlen. Die Tätigkeit jedes Primicerius beschränkte sich also auf den einen Reichsteil, während die Notitia dignitatum beide umfaßt. Man wird daraus schließen dürfen, daß ihr Grundstock auf die Zeit zurückgeht, in der die Reichsteile noch eine Einheit bildeten oder doch in höherem Grade als Einheit empfunden wurden, als das seit Arcadius und Honorius der Fall war.
Die Notitia dignitatum bietet kein einheitliches Zeitbild, sondern setzt sich aus Bestandteilen sehr verschiedener Zeiten zusammen. Daß zu dem ursprünglichen Texte Zusätze gemacht sind, tritt am deutlichsten hervor, wo eine Truppe ihre Garnison verändert hat. Hier ist dem alten Aufenthaltsorte der neue durch ein nunc (z. B. occ. XXXIII 26: Cuneus equitum Constantianorum, Lusionio, nunc Intercisa; vgl. XXXII 56. XXXIII 27. 44. 47. XXXV 15. 17. XLII 30) oder ein sive verbunden (z. B. occ. XXXII 40: Auxilia Novensia, Arsaciana sive Novas; vgl. XXXIV 28. XXXV 32. XXXVIII 8. XLII 14. 57; or. XXXIV 28) oder auch asyndetisch danebengestellt (z. B. or. XXXVIII 35: Cohors prima Lepidiana, Caene – Parembole; vgl. XXXI 41. 53. 56. XXXV 28. XXXVI 25. XXXVII 23. XL 48). Ebenso ist verfahren, wenn ein Ort seinen Namen gewechselt hat, z. B. als Resain in Theodosiopolis umbenannt wurde (or. XXXVI 20). Diese verschiedene Formulierung, bald mit nunc, bald mit sive, bald ohne jedes Verbindungswort, weist bereits darauf hin, daß diese Zusätze nicht von derselben Hand, also wohl auch nicht zu derselben Zeit, gemacht worden sind. Da Resain um 383 zur Theodosiopolis wurde (s. o. Bd. I A S. 619), werden wir den betreffenden Zusatz etwa dieser Zeit zuzuschreiben haben, und auch andere Stellen, die unzweideutig als Zusätze charakterisiert sind, gehören in die gleiche Zeit. So or. XXVIII 20. 21: Ala Theodosiana nuper constituta, Ala Arcadiana nuper constituta, beide ohne Angabe des Garnisonsortes, wahrscheinlich weil ihnen ein solcher noch gar nicht angewiesen war; ferner XXXIX 27: milites primi Gratianenses, Gratiana, außerhalb der geographischen Reihenfolge stehend, die sonst beobachtet ist, und ganz am Ende des Abschnitts angehängt. Doch während im Orient auch die Zusätze nicht über die Zeit des Theodosius hinausweisen und der Kern natürlich noch früher ist, findet sich im Occident die Truppe Placidi Valentinianici felices (VII 36), die nicht vor Valentinian III. (425–455) ihren Namen empfangen haben kann, weil er der einzige Valentinian war, der nach seiner Mutter Placidia Placidus hieß. Und andererseits erscheint Britannien noch in einem Zustande, wie er der Zeit Diocletians entspricht; nichts weist bei zwei Abschnitten, welche die Inselprovinzen betreffen (occ. XXVIII. [906] XL), über diesen Kaiser hinaus (Μommsen Gesammelte Schriften VI 117). In den Donauprovinzen sind einzelne Stücke noch vortheodosianisch, aber daneben stehen Zusätze, die nicht früher sein können, als 427, das Jahr, in dem die Hunnen Pannonien dem Römerreiche zurückgaben (Seeck Herm. XI 70ff.). In ihrer abschließenden Form, wie sie uns vorliegt, kann also die Notitia dignitatum kaum lange vor 430 niedergeschrieben sein; doch der Orient geht in seinem Kern bis etwa 370 zurück und reicht auch in den Zusätzen wohl nicht über 395 hinaus. Britannien aber, das schon 407 endgültig verlorenging, wird nicht nur mit aufgeführt, sondern erscheint auch in einer Gestalt, die mehr als ein Jahrhundert älter ist.
Suchen wir uns nach diesem Tatbestande ein Bild von der Führung des L. maius zu machen, dessen Abschrift uns in der Notitia dignitatum vorliegt. Bei den Veränderungen, die in den Ämtern eintraten, nahm man Streichungen vor oder machte Zusätze am Rande, die sich für uns meist dadurch kenntlich machen, daß sie an falscher Stelle, z. B. außer der geographischen Reihenfolge, in den Text hineingeraten sind. Natürlich wurden diese Änderungen nur innerhalb des Gebietes vorgenommen, über das sich die Tätigkeit des Primicerius notariorum erstreckte. Seit dem Tode des Theodosius blieb daher der Orient unverändert; denn unser Exemplar gehörte dem Westreich an. In diesem gehen die Korrekturen daher fortlaufend weiter, nur daß man bei der schlechten Wirtschaft, die damals in allen Verwaltungsgebieten herrschte, das entfernte Britannien ganz vergißt und daher einen sehr alten Zustand desselben unverändert bewahrt. Im übrigen begnügt man sich bei den einzelnen Ämtern mit Randbemerkungen, bis die Veränderungen so groß werden, daß diese nicht mehr ausreichen. In solchen Fällen nahm man wahrscheinlich das Blatt heraus, auf dem das betreffende Amt verzeichnet war, und ersetzte es durch ein neues. Es war also am bequemsten, wenn das L. nicht die Gestalt eines Codex oder gar einer Buchrolle hatte, sondern nach Art eines modernen Zettelkatalogs angelegt wurde, und daß man dies getan hat, dafür spricht auch seine Abbildung in der Notitia dignitatum. Es erscheint dort als ein quadratischer Stoß gelbgeränderter Blätter, in eine rote Hülle wohl eher eingeschlagen, als eingebunden; von dieser gehen Zacken aus, die um den Inhalt herumgeschlungen und durch Schließen und Fädchen befestigt werden können. Dieser allseitige Schutz weist darauf hin, daß es sich nicht um ein Buch, sondern um lose Blätter handelt, die sich ohne denselben lösen und verlorengehen konnten.
Von dem l. maius ist ein l. minus abgezweigt, aus dem anfangs die Tribunen und Praefecten der Alae und Cohortes (Not. dign. or. XXVIII 23–46. XXXI 42–67. XXXII 32–44. XXXIII 29–35. XXXIV 31–48. XXXV 26–34. XXXVI 31–36. XXXVII 24–35. XXXVIII 20–38. XL 44–49), später auch die Praepositi Numerorum, wahrscheinlich auch die Praefecti Legionum (Cod. Theod. I 8, 2), also wohl alle Offiziere, die an Rang den Duces nachstanden, ihre Bestallungsdekrete empfingen. Dies geschah durch den Quaestor sacri palatii, der sich dazu des Scrinium Memoriae bediente (Cod. Theod. I 8, 1. 2). In diesem führte [907] daher zur Zeit Iustinians der dem Range nach dritte Beamte den Titel Laterculensis (Nov. Iust. 35); jedenfalls hatte er das l. minus zu führen, wahrscheinlich auch die Codicilli auszufertigen, wozu ihm ein eigenes Scrinium laterculi, wahrscheinlich eine Abteilung des Scrinium memoriae, zu Diensten stand (Cod. Iust. I 31, 5 § 2). Jene Spaltung des L. dürfte wohl nur den Grund gehabt haben, daß man dem Quaestor und seinen Untergebenen einen Anteil an den hohen Sporteln gewähren wollte, die für die Codicilli zu zahlen waren (Cod. Iust. I 27, 1 § 18. 19. 2 § 35). Theodosius d. Gr. wird es gewesen sein, der das l. minus schuf. Denn in der Notitia dignitatum, die in den Donauprovinzen des Orients im wesentlichen den Zustand darstellt, wie er noch unter Valens herrschte (Seeck Herm. XI 72ff.), finden wir hier das l. minus entweder gar nicht (XXXIX. XLI. XLII), oder es ist ganz am Schlusse angeflickt (XL 44–49), wodurch es sich unverkennbar als späterer Zusatz charakterisiert. Nur in den Provinzen des eigentlichen Orients, von Armenien bis nach Ägypten findet es sich an seiner richtigen Stelle. Doch erscheinen hier schon eine Anzahl von Alae, und das zwar nach den Namen (Theodosiana, Arcadiana) die allerjüngsten, außerhalb des l. minus (XXVIII 20–22. XXXI 41. XXXVIII 17–19). Dies bezeichnet den Anfang einer Entwicklung, die später immer weitere Ausdehnung gewann. Die Magistri militum sind nämlich bestrebt, die einträgliche Verleihung der Offizierspatente dem Quaestor und dem Primicerius notariorum zu entziehen und in ihre eigene Hand zu bringen. Das ist unter der Herrschaft des Stilicho im Westen, des Fravita im Osten vollständig gelungen. Im occidentalischen Teil der Notitia dignitatum fehlt das l. minus ganz, und aus den Kompetenzen des Primicerius notariorum ist der Satz: scolas etiam et numeros tractat, der sich im Orient noch findet (or. XVIII 5), gestrichen. In Constantinopel aber hat Pulcheria, nachdem sie kaum die Regierung für ihren jungen Bruder übernommen hatte, den Übergriffen der militärischen Gewalt Einhalt geboten. Zunächst wagt sie dieser die Ernennungen der Offiziere, noch nicht ganz zu entziehen; nur 40 Praepositurae gibt sie durch Gesetz vom 15. Oktober 415 (Cod. Theod. I 8, 1) dem l. minus und damit dem Quaestor zurück; über die anderen bleibt die usurpierte Gewalt der Magistri militum noch bestehen. Doch im April 424 wird die frühere Kompetenz des l. minus in vollem Umfange hergestellt und vielleicht noch erweitert (Cod. Theod. I 8, 2. 3). Auch die Rechte des Primicerius notariorum auf die Anstellung der Offiziere scheinen teilweise wieder erwacht zu sein. Denn Kaiser Zeno spricht in einem Gesetz aus dem J. 474 (Cod. Iust. XII 7, 2; vgl. Seeck Regesten 139, 13) dem Primicerius notariorum die publicam numerorum sollicitudinem zu. Iustinian hat dann das Gesetz vom April 424 auch in seinen Codex aufgenommen (I 30, 1. 2) und damit seine fortdauernde Geltung anerkannt, und Sporteln, die an das L. zu zahlen sind, werden bei ihm fest normiert (Cod. Iust. I 27, 1 § 18. 19. 2 § 35; vgl. Nov. Iust. 35). Mommsen, Gesammelte Schriften VI 392.