68) M. Iunius Congus Gracchanus. Im Vorwort seiner ersten Satirensammlung sprach sich Lucilius dahin aus, er wünsche sich als Leser weder Leute von den höchsten Bildungsansprüchen noch solche ohne jede Bildung, sondern Männer mittleren Schlages, und nannte als Vertreter der letzteren u. a. einen Iunius Congus (Man⟨il⟩ium Persium⟨ve⟩ haec legere nolo, Iunium Congum volo frg. 595f. Marx; vgl. Marx Lucil. II 220ff. Cichorius Untersuch. zu Lucilius, 1908, 104ff. Leo Geschichte d. röm. Liter. I 412, 2). Dasselbe seltene Cognomen und damit auch dieselbe Persönlichkeit erkannte K. L. Roth (Rhein. Mus. VIII 1853, 613ff.; vgl. auch H. Peter Hist. Rom. rell. I p. CLXXIII) in der verdunkelten Überlieferung zweier Cicerostellen. In dem im J. 91 v. Chr. spielenden Dialog de or. I 256 läßt Cicero den Redner M. Antonius sagen: reliqua vero …, historiam dico et prudentiam iuris publici et antiquitatis litteras (so Marx, iter Hss.) et exemplorum copiam, si quando opus erit, a viro optimo et istis rebus instructissimo familiari meo Congo (longo Hss.) mutuabor, und pro Plancio 58 macht er sich über den Vertreter der Gegenpartei, welcher einen Iuventius als den ersten curulischen Aedilen plebeischen Standes bezeichnet hatte, mit den Worten lustig: in quo, Cassi, si ita tibi respondeam, nescisse id populum Romanum, neque fuisse qui id nobis narraret, praesertim mortuo Congo (long. oder longe Hss.), non, ut opinor, admirere; die Worte setzen voraus, daß Congus nicht sehr lange vor der Zeit der Rede (54 v. Chr.) gestorben ist, wie der Schol. Bob. p. 163, 1 St. atque ideo mentionem Congi (Conci Hs.)
[1032]
videtur interposuisse, qui per illud tempus decesserat, homo curiosus et diligens eruendae vetustatis; nam historicus (das weitere ist zerstört) mit Recht annimmt. Da die Herausgabe der ersten Satirensammlung des Lucilius ins J. 123 v. Chr. fällt (Cichorius a. a. O. S. 68ff.) und Congus doch damals mindestens etwa 20 Jahre alt gewesen sein muß (er wäre dann mit dem 143 v. Chr. geborenen Redner M. Antonius gleichaltrig, was gut zu der Art seiner Erwähnung in de or. paßt), so muß er ein sehr hohes Alter erreicht haben. In der Hervorhebung seiner umfassenden historischen und antiquarischen Interessen und Kenntnisse stimmen die angeführten Zeugnisse überein, literarische Tätigkeit des Mannes wird durch ihren Wortlaut zwar nicht unbedingt bewiesen (davon, daß Congus der junge Historiker wäre, an den Lucilius eine Satire des 26. Buches gerichtet hat, hat Cichorius a. a. O. 121ff. mich ebensowenig überzeugen können wie Leo a. a. O. I 413, 4), aber doch sehr wahrscheinlich gemacht, und darum muß es auffallen, daß wir keinerlei Bruchstücke und Anführungen von ihm besitzen. Aus diesem Grunde hat die nach dem Vorgange von J. Becker (Ztschr. f. Altert.-Wiss. 1854, 123ff.) neuerdings von Cichorius (a. a. O. 123ff.) aufgestellte Vermutung viel für sich, daß er mit einem andern Angehörigen der Gens Iunia aus derselben Zeit zu identifizieren sei, von dem wir eine größere Anzahl von Bruchstücken aus einem oder mehreren Werken staatsrechtlichen und antiquarischen Inhalts besitzen. Allerdings erscheint hier nie das charakteristische Cognomen Congus, sondern, wo der Mann nicht einfach als Iunius oder M. Iunius bezeichnet ist, führt er den Beinamen Gracchanus (Ulp. Dig. I 13, 1 pr. Censor. 20, 2; Γρακχιανός Lyd. de mens. prooem. p. 2, 4. I 24 p. 27, 9 W.), den er von seiner Freundschaft mit dem jüngeren Gracchus erhalten hatte (Plin. n. h. XXXIII 36 Iunius … qui ab amicitia eius Gracchanus appellatus est); es ist aber ganz plausibel, daß Cicero es verschmähte, diesen an den revolutionären Volkstribunen erinnernden Beinamen zu verwenden, und lieber das alte Cognomen gebrauchte, das sonst durch das jüngere und aktuellere verdrängt worden war. Gracchanus schrieb ein mindestens sieben Bücher umfassendes Werk de potestatibus (Ulp. Dig. I 13, 1 pr. Gracchanus denique Iunius libro septimo de potestatibus =
Lyd. de mag. I 24 p. 27, 9 W. Ἰούνιος τοίνυν Γρακχιανὸς ἐν τῷ περὶ ἐξουσιῶν, vgl. prooem. p. 2, 4 W. ὅτι δὲ καὶ Γρακχιανός τις πάλαι περὶ τούτων ἔγραφεν, ἴσμεν τοὺς νομογράφους ἀναφέροντας), das dem Vater des T. Pomponius Atticus gewidmet war (Cic. de leg. III 49); wohl dasselbe Werk ist gemeint, wenn Varro de l. l. VI 95 sagt inveni in M. Iunii commentariis; bei Fest. p. 246 Iunius in ... ist der Titel ausgefallen. Denselben Stoff hatte nicht lange vorher C. Sempronius Tuditanus, cos. 129 v. Chr., in seinen magistratuum libri (Macr. Sat. I 13, 21) behandelt (vgl. Gell. XIII 15, 4 ut in commentario tertio decimo C. Tuditani patet), und da dieser ein Gegner der Gracchen war, liegt die Vermutung nahe, daß sein politischer Standpunkt auch seine staatsrechtliche Auffassung beeinflußte und darum Iunius Gracchanus vom demokratischen [1033] Standpunkte aus gegen ihn Stellung nahm; die von ihm in dem Dig. I 13, 1 pr. aus Ulpians Buch de officio quaestoris (benutzt auch von Lyd. de mens. I 24) erhaltenen Fragmente aufgestellte tendenziöse und sachlich sicher unrichtige (vgl. J. Rubino Untersuch. über röm. Verfass. u. Gesch. 316ff.) Behauptung, daß schon zu König Numas Zeiten die Quaestoren populi suffragio bestellt worden seien, würde dazu gut passen (Cichorius a. a. O. 125). Benutzt wurde das Werk vor allem von Varro (de l. l. V 42. 48. 55. VI 33. 95), aus welchem weiterhin Plinius (XXXIII 36, vgl. F. Münzer Beitr. z. Quellenkritik d. Naturgesch. d. Plinius 164) und Sueton, der seinerseits die Quelle für Censorin und Macrobius war (Censor. 20, 2 sed magis Iunio Gracchano et Fulvio et Varroni et Suetonio aliisque credendum. 20, 4. 22, 9. Macr. S. I 13, 20; vgl. Wissowa De Macrobii Saturnaliorum fontibus 16ff. F. Rabenald Quaestionum Solinianaram capita tria, Diss. Hal. 1909,102ff.), geschöpft haben, vielleicht auch Verrius Flaccus (Fest. p. 246); auch die aus der juristischen Literatur stammenden Bruchstücke, von denen das durch Ulpian erhaltene bereits erwähnt wurde (Iunius et Trebatius et Fenestella Dig. I 13, 1, 1 = Lyd. de mens. I 24 p. 27, 16 W.), sind vermutlich durch Varro hindurchgegangen, denn Gellius XIV 8, der Ateius Capito in Coniectaneorum VIIII als seine Vorlage zitiert, führt aus ihr Iunius und Varro (in IIII epistulicarum quaestionum) an. Dem Inhalte nach beziehen sich die erhaltenen Bruchstücke auf die Quaestur (Ulp. Lyd. aa. OO.), das inlicium beim consularischen Akte des exercitum imperare (Varro de l. l. VI 95), den Praefectus urbi feriarum Latinarum causa (Gell. XIV 8, 1), das plebiscitum Silium de ponderibus publicis (Fest. p. 246), die Namen Luceres (Varro de l. l. V 55) und trossuli (Plin. n. h. XXXIII 36), auf einige Bezeichnungen der römischen Topographie (Saturnia porta Varro de l. l. V 42, Subura ebd. 48), endlich auf Fragen der römischen Jahreseinteilung, Monatsnamen und Schaltung (Varro de l. l. VI 33f. Censor. 20, 2. 4. Macr. S. I 13, 20); in den letzteren ist Iunius überall mit Fulvius (Nobilior) verbunden, dessen kommentierte Fasten (Macr. S. I 12, 16) er jedenfalls für alles Kalendarische als Hauptquelle benutzte. Ausführliche Behandlung bei L. Mercklin De Iunio Gracchano commentationis pars I, II. Dorpati 1840. 1841 (vgl. dazu M. Hertz De Luciis Cinciis, Berolini 1842, 88ff.). Fragmente bei Huschke-Seckel-Kübler Iurisprud. anteiustin. I6 10–14. Bremer Iurisprud. antehadrian. I 37ff., die grammatischen Inhalts auch bei Funaioli Gramm. Rom. frg. I 120f. Vgl. auch Leo a. a. O. 351.