Horatius. 1) Horatius bezw. Horatus, nach Dion. Hal. V 14,1 ein Heros, dem jenseits des Tibers ein heiliger Hain geweiht war. Die Hss. des Dionysios in erster Hand bezeichnen diesen als δρυμὸν ἱερὸν ἥρωος Ὀράτου, die zweite Hand des Urbinas (B) schreibt Ὁρατίου. Auf der daneben gelegenen Wiese lagerten die Römer unter Brutus und Poplicola vor der sog. Schlacht bei der Silva Arsia gegen die Tarquinier und deren Verbündete. Auch der Name dieser Wiese wird verschieden überliefert. Von den Hss. des Dionysios hat der Urbinas ἐν λειμῶνι καλουμένῳ Ναιβίῳ, der Coislinianus (C) ναβίῳ, der Chisianns (A) und Parisinus (D) οὐινίῳ. In der entsprechenden Erzählung [2320] bei Plut. Popl. 9 heißt die Wiese Αἰσούεοις λειμών, während der Hain als Οὔρσον ἄλσος und beide Örtlichkeiten als heilig bezeichnet werden (bei Zon. VII 12. 335 A fehlt die Ortsbezeichnung). Der Name Arsia findet sich nur bei Liv. II 7, 2 und dem von ihm abhängigen Val. Max. I 8, 5, von denen die Wiese nicht erwähnt wird. Daß die Silva Arsia und der δρυμός des H. als die gleiche Örtlichkeit aufzufassen sind, beweist die in allen vier Quellen (Liv., Val. Max., Dion., Plut.) übereinstimmend überlieferte Nachricht, daß aus dem Haine heraus nach dem unentschiedenen Kampfe eine göttliche Stimme erklungen sei, die die Römer als Sieger bezeichnete, da auf der Seite der Gegner ein Mann mehr gefallen sei als bei diesen. Liv. und Val. Max. führen diese wunderbare Tatsache auf Silvanus zurück. Etwas ausführlicher berichtet Plut., der Hain sei erbebt (σεισθῆναι τὸ ἄλσος) und eine laute Stimme habe aus ihm heraus jenen Ausspruch getan, worauf sich bei den Römern mutiges Schlachtgeschrei erhoben habe, während die Feinde entsetzt abzogen. Über den Urheber sagt Plutarch nur ganz allgemein ἦν δ’ ἄρα θεῖόν τι τὸ φθεγξάμενον (vgl. Zonar.). Dion. endlich führt den Ruf entweder auf den in dem Haine waltenden Heros (vgl. Serv. Aen. I 441 dicuntur enim heroum animae lucos tenere; Ecl. V 40 heroum animae habitant vel in fontibus vel in nemoribus) oder den Faunus zurück, der für die Römer der Urheber panischer Schrecken sei (vgl. Wissowa Rel. d. Röm. 173, 8; ders. bei Roscher Myth. Lex. I 1456). An der Namensform Horatus hält Hartung Rel. d. Röm. I 318 fest; er sieht in H. einen ,gränzwahrenden Schutzgeist‘, da der Name, ebenso wie Horatius, mit ἕρκος und ὅρος verwandt sei. Auch Horatius Cocles (Nr. 9) stelle sich in dieser Eigenschaft dar. Das weibliche Gegenstück zu Horatus bildet nach Hartung 301 die Göttin Horta (s. d.), die ,den Genius der von einer Befriedung umschlossenen Gemeinde, die gleichfalls horta oder cohors geheißen haben mag, repräsentierte.‘ Weiter (S. 302) ergeht er sich in kühnen Vermutungen über den Zusammenhang dieser Göttin mit Herie, Hersilia und der Horatia in der Sage vom Kampfe der Horatier und Curiatier. Auch Schwegler, der bei der Darstellung des Kampfes bei der Silva Arsia des Namens H. keine Erwähnung tut und als Urheber der göttlichen Stimme nur den Waldgott nennt (R. G. II 47. vgl. I 233, 31), mißt dem Namen H. in den Erzählungen vom Kampfe der Drillinge (Nr. 2) und von Horatius Cocles symbolische Bedeutung bei (R. G. I 587. II 187: ,Man möchte vermuten, daß der Name H. auch etymologisch jene Bedeutung gehabt und einen Hüter oder Beschützer der Grenze bezeichnet hat‘). Steuding bei Roscher Myth. Lex. I 2741 sieht in dem Heros den aus dem Kampfe mit den Curiatiern siegreich hervorgehenden Horatier, da nach Preller R. Myth.³ II 337 die römischen Drillinge als Stammheroen des Patriziates aufzufassen seien. Befremdend wäre in diesem Falle die Lage des Haines jenseits des Tibers (Vermutungen über die genauere örtliche Ansetzung der Silva Arsia bei Nibby Analisi storico-topografico-antiquaria, Roma 1837, I 265), da die Stätte des Dreikampfes im Süden der Stadt lag, wie sich auch der Campus Horatiorum an der Via Appia befand (Schwegler G. R. [2321] I 54). Überhaupt ist bei dem noch nicht genügend geklärten Problem der Entwicklung des Kultes von Gentilheroen in der römischen Religion die Frage, ob wir es wirklich mit dem heroisierten Stammvater der Gens Horatia zu tun haben, nicht zu entscheiden. Die Ähnlichkeit der Sage vom Eingreifen des H. in den Kampf mit griechischen Erzählungen (s. Deneken in Roscher Myth. Lex. I 2479f.) liegt auf der Hand.