RE:Eid
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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I: Schwur bei den Griechen, im Recht. II: bei den Römern s. Ius iurandum | |||
Band V,2 (1905) S. 2076–2083 | |||
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Eid. I. Bei den Griechen.
A. Schwurgötter und Schwurformeln.
Der E. hatte infolge des nahen Verhältnisses der Griechen zu ihren Güttern eine große Bedeutung und häufige Anwendung im griechischen Leben und im griechischen Recht. Entsprechend dem Gestaltenreichtum der Götterwelt zeigt auch er die verschiedensten Formen, von dem einfachen und überaus häufigen νὴ Δία bis zu den kretischen Schwurformeln, in denen bis zu 16 Gottheiten aufgezählt werden. Zu einer Würdigung des E. und seiner Form genügt es nicht etwa die Götter aufzuzählen, bei welchen geschworen wurde. Denn wie im täglichen Leben ein Mann nicht dieselben Götter oder Göttinnen anrief wie eine Frau, ein Jüngling nicht dieselben wie ein Greis, so hatte auch jede einzelne Stadt, jeder Staat seine bestimmten offiziellen Götter für den E.-Schwur. Es gilt also, die Beziehungen aufzusuchen, auf Grund derer in einem Falle dieser Gott, im andern jener beim Schwure angerufen wird.
Sie ergeben sich für das tägliche Leben am einfachsten aus der attischen Komödie. Man lese z. B. Aristophanes Thesmophoriazusen. Dort schwört Mnesilochos v. 26 beim Herakles, v. 86 beim Poseidon, beides Götter, welche ganz gewöhnlich in Athen von älteren Männern angerufen wurden. V. 225 aber, wo schon die Verkleidung erfolgt ist, ruft er als Frau die Demeter an, ebenso v. 254 die Aphrodite. V. 268 wird [2077] er von Euripides ermahnt, auch im Sprechen recht die Frauenstimme zu markieren, und verspricht es zu versuchen. Gleich bei den ersten Worten aber fällt er aus der Rolle mit dem Schwur beim Apollon. Dasselbe widerfährt ihm noch einmal v. 748, während er v. 517 und 569 ordnungsmäßig wie die Frauen, mit denen er sich unterhält, bei der Artemis schwört. Was sich in ähnlicher Weise aus der Komödie usw. über die Schwurgötter von Männern und Frauen ergibt, ist zusammengestellt bei Ziebarth De iure-iurando in iure Graeco quaest., Göttingen 1892, 10f., wozu mancherlei nachgetragen werden könnte. Die Häufigkeit solcher Schwurformeln machen sich zu nutze die attischen Redner, bei denen der Schwur als rhetorisches Mittel eine sehr große Rolle spielt (s. Ott Beiträge zur Kenntnis des griech. Eides 38f.). Auch sie wenden natürlich meist Formeln an, die in Athen gebräuchlich waren. Daß nun in Sparta die Männer und Frauen nicht dieselben Götter zum Schwure anriefen, wie in Athen, versteht sich bei der lokalen Bedeutung der griechischen Götter ganz von selbst. In der Tat schwört die Lakonierin in der Lysistrate beim Kastor und ναὶ τῶ σιώ, wie auch sonst ihre Landsleute, ebenso die Boioter beim Herakles oder Iolaos, die Megarer bei ihrem Heros Diokles, die Sikuler bei der Persephone, die Ephesier bei ihrer Diana (Belege s. Ziebarth 9).
Soweit das griechische Privatleben. Sehen wir schon in ihm nicht den Zufall oder die Vorliebe der Schwörenden die Schwurgötter bestimmen, so werden wir dies noch weniger im öffentlichen Leben erwarten. Denn nicht jeder Gott konnte gleich wirksam die Menschen binden als ihr E.-Zeuge. Die offiziellen Götter der Staates waren dazu eher geeignet, als andere. Die E.-Formel mit den Schwurgöttern mußte daher der Gesetzgeber festsetzen. Sie hieß ὁ νόμιμος ὄρκος oder ὁ ἐγχώριος ὅρκος, und die häufige Anwendung dieses Terminus ohne nähere Ausführung beweist, daß man in jedem Staate genau wußte, welches die Götter waren, die aus Anlaß z. B. eines Staatsvertrages angerufen werden mußten (vgl. z. B. IG II 5 nr. 7 b Z. 9 ὀμνύναι δὲ τὸν νόμιμ[ον ὅρκον ἑκατέρ]ους τὸν παρά σφισιν αὐτοῖς und andere Belege b. Ziebarth 14f.).
In der einfachsten Art solcher fester E.-Formeln wurde nur eine Gottheit als Zeuge angerufen, so in Gortyn die Artemis, in Athen im Phratrien-E. der Zeus πατρῷος, ebenso in Delphi in der πάτρα der Labyaden, während die Phratrie noch Apollon und Poseidon φράτριος hinzufügte (Michel Recueil 995), so auch in Kalaureia der Zeus Σωτήρ (IG IV 841. 30), in Olympia der Zeus Olympios (Inschr. v. Olympia 16), in Eresos der Apollon Λύκιος, in Zelea die Artemis (Belege bei Ziebarth 16. 17), in Ephesos Zeus (Österr. Jahreshefte II Beibl. 49). Nur einmal finden sich zwei Gottheiten Zeus und Halios in Eresos: feste Geltung hatte dagegen die Dreizahl der E.-Götter. Sie ist uns zunächst bekannt aus Athen. Es gab dort zwei Formeln, die gebräuchlichere bei Zeus Apollo Demeter, die andere bei Zeus Poseidon Demeter (Belege bei Ziebarth 17). Eine Abweichung von diesen Formeln (über die vgl. auch Drerup Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV 258) findet sich zuerst im J. 362/1, wo die attischen Strategen [2078] wie die Städte von Keos beim Friedensschlusse schwören: νὴ τὸν Δία, νὴ τὴν Ἀθηνάαν, νὴ τὸν Ποσειδώ, νὴ τὴν Δήμητρα, also eine besondere Formel für diesen Zweck vereinbart ist. Wenn aber auf derselben Insel staatliche Beamte, die zur Ausführung einer Stiftung erlost sind, schwören: ναὶ Δία, Ἀπόλλω, Ἀθηναίην (IG XII 5, 595 a 20), so hat man hier vielleicht wieder ein Einwirken der ersten attischen Formel zu erkennen. Ebenfalls eine Konzession der Athener an die mit ihnen einen Vertrag schließende Macht erkennen wir in dem Bündnis mit Ketriporis vom J. 356/5, wo auch die Athener schwören: ὀμνύω Δία καὶ Γῆν] καὶ Ἥλιον καὶ Ποσειδῶ καὶ Ἄθηνᾶν καὶ Ἄρην (s. Ziebarth 20).
Drei Schwurgötter können wir ferner nachweisen in Phokis und Eretria (E. bei den drei delphischen Gottheiten), bei dem Achaeischen und bei dem Magnetenbunde.
Eine Stellung für sich nehmen ein die ozolischen Lokrer, wo die πεντορκία, der Fünf-E., schon im 5. Jhdt. üblich war, dessen fünf Götter uns nicht sicher bekannt sind.
In fast allen diesen Fällen handelt es sich um feste Schwurformeln, die nicht für den einmaligen Fall zusammengesetzt sind. Wie in dem Urkundenrelief über dem Wortlaut des Vertrages manchmal die Götter der beiden Parteien abgebildet sind, so gehörte zum Abschluß des Vertrages die Anrufung der θεοὶ ὅρκιοι auf beiden Seiten. Der Gedanke lag nun nahe, wie die Staaten selbst, so auch die Götter in dem Vertrage einander noch näher zu bringen, indem man aus den beiden Schwurformeln ad hoc eine gemeinschaftliche herstellte, auf die beide Parteien schwören mußten. Dies ist geschehen in fast allen Verträgen vom 3. Jhdt. an. In Griechenland bietet das älteste Beispiel der Vertrag zwischen Phokern und Boiotern (IG IX 98), von Kleinasien besitzen wir fünf, von Kreta sogar zehn solcher Formeln. Die Vergleichung zunächst der kleinasiatischen Formeln ergibt, daß sich in dieser späteren Zeit gewisse formelhafte Elemente bilden, die überall wiederkehren. Dazu gehört der Beginn des Schwures mit Anrufung von Zeus, Ge und Helios, den wir in der Stadt Chersoneses, in Pergamon, Smyrna, Phaselis, Knidos, ja auch in Athen nachweisen können (Belege Ziebarth 21f. Wilhelm Gött. Gel. Anzeig. 1903, 789 und die Urkunde von Phaselis jetzt neu ediert von Wilhelm Österr. Jahresh. I 149ff.). Nach diesem Anfange bringen dann beide Parteien ihre Götter in die Formel hinein, die nunmehr beschlossen wird mit der summarischen Anrufung aller übrigen Götter und Göttinnen. In die Einzelheiten hier einzugehen verbietet schon die große Anzahl der angeführten Götter. Ganz besonders gilt diese Regel über die Komposition der Schwurformeln von Kreta, wo wir einmal Götter in fester Verbindung treffen, die in allen Staaten wiederkehren, wie Apollon, Leto, Artemis oder Ares, Aphrodite oder Hermes, Halios, Britomartis und andrerseits eine Fülle von Gottheiten, vielfach unterschieden durch Beinamen, bei denen uns oft nur ein Zufall, wie ein Münzfund, in den Stand setzt, nachzuweisen, welcher der vertragschließenden Städte sie angehören. Zu den bei Ziebarth 24 zusammengestellten kretischen Formeln sind [2079] noch hinzugekommen: der Vertrag zwischen den Bewohnern von Praisos und den Σταλῖται Mon. antich. VI 302 = Dittenberger Syll.2 427 und der Vertrag zwischen Sybrita und Gortyna, Journ. of the Archaeol. Instit. of America I (1897) 230f. (vgl. auch Deiters Rh. Mus. LVI [1901] 591).
Haben wir so die Schwurformeln von ihren einfachsten Anfängen bis zu ihrer größten Ausbildung verfolgt, so erübrigt noch hinzuzusetzen, daß die griechischen Staaten auch unter der römischen Herrschaft den Schwur bei den alten Stadtgottheiten festhielten. Nur mußten sie den Umständen ein Zugeständnis machen, nämlich eine Gottheit in ihre Formeln aufnehmen, den Genius Caesaris (vgl. die Formeln von Assos und Mytilene Ziebarth 26, dazu die von Phazemon [Pontus] Rev. ét. grecq. 1901, 26), was ihnen um so leichter wurde, als man schon vorher in dem ὅρκος βασιλικός die Gottheiten der Ptolemaeer, Seleukiden usw. unter die Schwurgötter aufgenommen hatte (vgl. besonders Wilhelm Österr. Jahresh. I 156).
B. Bedeutung des Eides im griechischen Recht.
Lykurg sagt in seiner Rede gegen Leokrates (§ 79) τὸ συνέχον τὴν δημοκρατίαν ὅρκος ἐστί. τρία γὰρ ἐστιν ἐξ ὧν ἡ πολιτεία συνέστηκεν, ὁ ἄρχων, ὁ δικαστής, ὁ ἰδιώτης. τούτων τοίνυν ἔκαστος ταύτην τὴν πίστιν δίδωσιν und gibt damit die Einteilung an die Hand, nach der wir den E. im griechischen öffentlichen Leben betrachten können.
1. Beamteneid. Allgemeine Bestimmungen über die Vereidigung griechischer Beamten beim Antritt des Amtes besitzen wir nicht. In Athen sind wir nur unterrichtet über den Amts-E. der Archonten, Buleuten, Strategen, Heliasten, Priester (?) (Literat. b. Ziebarth 27 dazu Drerup Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIV 248ff.). Wenn wir aber in mehreren Fällen für außerordentliche Beamte den E. festgesetzt sehen, so für die νομοθέται im J. 403 (Andok. I 84), für die καταλογεῖς im J. 411 (Arist. Πολ. Ἀθ. 29, 5. Lysias XX 14), und wenn wir in der Verfassung von 411 die Bestimmung lesen, daß die βουλή die Pflicht hat τάς τε ἀρχὰς καταστῆσαι καὶ περὶ τοῦ ὅρκου ὅντινα χρὴ ὀμόσαι γράψαι, und wenn wir schließlich in den Demen fast sämtliche Beamte vereidigt sehen, so berechtigt das zu der Vermutung, daß jeder ordentliche attische Beamte vereidigt wurde. Dem Vorbilde des Staates folgten auch hierin die Vereine (Ziebarth Griech. Vereinswesen 142). Allgemein erforderlich war ferner der Beamten-E. in Delphi (IG II 545. Dittenberger Syll.2 306, 44, dazu in römischer Zeit Wescher Ét. sur le monum. bilingue de Delphes 119), wo wie in Athen auch die Phratrie der Λαβυάδαι ihn übernommen hatte (Michel Recueil 995). E. einzelner Beamten sind uns weiter bezeugt in Erythrai, Kolophon, Mytilene, Eresos, Chersonesos Taurica, Ainos, Teos, Lampsakos, Smyrna, Kos. Andania (s. die Belege bei Ziebarth 28–30); dazu kommt noch Zeleia, E. der ἀνευρεταί Dittenberger Syll.2 154, Thasos, E. des νεωκόρος (vgl. Jakobs Thasiaca 47), Iulis auf Keos (IG XII 5, 595). Keos und Histiaia auf Euboia, E. der βουλή (Ἐφημ. ἄρχ. 1898, 243 Z. 14f.).
Eine Spur des im römischen Recht geltenden E. bei Niederlegung des Amtes findet sich auf Kalaureia in dem E. der staatlich bestellten ἐπιμεληταί [2080] einer Stiftung, welche bei der εὐθύνη schwören: εἶ μὰν μηθὲν νοσφίζεσθαι (IG IV 841) oder εἶ μὰν ὀρθῶς καὶ δικαίως ἐπιμεμελῆσθαι (vgl. Recueil des inscr. jurid. grecques II p. 104), und in Demetrias (Ziebarth 31).
2. Bürgereid. Eine allgemeine E.-Formel für alle Bürger, in der sie beim Eintritt der politischen Mündigkeit versprechen mußten, ihre Pflichten gegen das Vaterland zu erfüllen, gab es in Athen in dem Epheben-E., über den vgl. G. Hofmann De iurandi apud Athen. formulis 31, und in der Stadt Chersonesos in Thrakien (Michel Recueil 1316). Interessant ist die letztere Formel. Man versprach nicht nur Eintracht zu halten, den Besitz der Vaterstadt nicht zu schmälern und die bestehende Verfassung, die δαμοκρατία, zu schützen, sondern auch das Amt als δαμιουργός oder βουλευτής treu zu verwalten, die Staatsgeheimnisse (τὰ ἀπόρρητα) sorgfältig zu wahren, gegen Bestechung nicht zugänglich zu sein, einer συνωμοσία nie anzugehören, noch sie zu dulden, ebensowenig Getreideausfuhr zuzulassen. Es hat daher diese Formel zugleich als Amts-E. für die genannten Beamten gedient. Sonst hatte der athenische Bürger noch einen E. zu leisten, wenn er seine Kinder in die Phratrienliste aufnehmen ließ (Haussoullier La vie municipale attiq. 13. Hruza Beiträge zur Gesch. des Familienrechts I 140), und in ähnlicher Weise verlangte man in Dyme bei der Verleihung des Bürgerrechts von dem Vater für Kinder unter 17 Jahren eine eidliche Bekräftigung, daß es seine Kinder seien (Szanto Griech. Bürgerrecht 113, vgl. auch 54). Einen außerordentlichen E. auf die Verfassung finden wir ferner fast regelmäßig in jedem griechischen Staate bei Beendigung einer inneren Krise, so in Athen in den J. 410 und 403, in Thespiai, Mytilene, Kynaitha, Dreros (Belege bei Ziebarth 33), ferner in Syrakus (Diod. XIX 5), Karthago (Diod. XX 14), Thasos (Hoffmann Griech. Dialekte III 72, 19), Sparta (v. Stern Entwicklung des Ephorats 49) und Telos (vgl. vorläufig Herzog Arch. Anz. 1903, 196).
Mit dem Bürger-E. fällt in den griechischen Staaten, wo nur die Bürger Kriegsdienste leisteten, zusammen der Fahnen-E., so in Athen, wo die Epheben u. a. schwören, die Waffenehre zu schützen, den Nebenmann nie zu verlassen und für die heimatlichen Götter zu kämpfen. Die Söldnerheere der späteren Zeit mußten ein regelrechtes sacramentum militare leisten, so Charidemos und seine Truppen (Demosth. XXIII 154), die makedonischen Soldaten (Iustin. XXIV 5, 14. Joseph. ant. Iud. XII 8), die Söldner des Eumenes I. (Inschr. von Pergamon I 13. Dittenberger Or. Gr. I 266).
3. Richtereid. Mit Recht scheidet Lykurg den Richter-E. von dem Beamten-E. Die griechischen Richter schwören nicht als Beamte, was sie oft gar nicht sind, ihr E. hat eine höhere Bedeutung. Das zeigt sich am besten darin, daß in der ältesten Form des griechischen Rechts, die wir kennen, im Recht von Gortyn, der Berufsrichter nicht beim Amtsantritt einen Amts-E. leistet, sondern bei den einzelnen richterlichen Handlungen, je nach Bedürfnis, durch einen E. seinen Spruch bekräftigt. Der E. ist hier für [2081] den Richter wie für die Parteien ein Mittel, das Recht zu finden, er wird nicht in jedem Falle angewendet, sondern nur dann, wenn Zeugen und Beweismittel fehlen. Der Richter soll, wenn Zeugenaussagen vorliegen oder der Reinigungs-E. des Angeklagten, nach diesem sich richten bei seiner Entscheidung (δικάδδεν), sonst aber selbst unter Anrufung der Götter das Recht finden (ὀμνύντα κρίνεν vgl. bes. Recht von Gortyn XI 26f.). Dies gilt sowohl von dem Einzelrichter wie von den Mitgliedern eines Richterkollegiums, das es auch in Gortyn schon gab, vgl. Americ. Journ. of Archacol. II. ser. Vol. I (1893) 192 nr. 19, 11 νικῆν δ' ὅτερά κ’ οἱ πλίες ὀμόσοντι und 212 nr. 24, 13–14. Sein E. galt ebensoviel wie der E. der Parteien, und das Gesetz trifft genaue Bestimmungen, wann die Parteien und wann der Richter den E. anzuwenden hat (Recueil des inscr. jurid. 435f.).
Eine analoge Anwendung des E. durch den richterlichen Beamten ist nunmehr von Swoboda auch in der bekannten Lygdamisinschrift von Halikarnass nachgewiesen (Arch.-epigr. Mitt. XX 121). Interessant ist, daß diese Anwendung des Richter-E. schon Platon fordert (Leges IX 856 a), während in dem Athen seiner Zeit die Geschworenen schon längst nur einmal bei Antritt ihres Amtes vereidigt wurden, eine Rechtsordnung, die auch im übrigen Griechenland bestand, wie die Beispiele von Aigina, Delphi, Lesbos, Knidos, Zeleia beweisen (Belege bei Ziebarth 36); vgl. auch Syros, wo in römischer Zeit der Richter-E. vorkommt, IG XII 5, 654, 18 und Lebadeia, wo in dem Bauvertrage festgesetzt wird, daß bei Streitigkeiten unter den Bauunternehmern κρίνουσιν οἱ ναοποιοὶ ὀμόσαντες ἐπὶ τῶν ἔργων (Bull. hell. 1896, 324). Ob die in späterer Zeit so häufigen Schiedsrichter vereidigt wurden, das hing davon ab, was die Parteien untereinander ausgemacht hatten (Beispiele bei Ziebarth 37).
Unter den Begriff Richter-E. fällt auch der E., den in Athen bei Wahlen oder Abstimmungen die Wähler zu leisten hatten darüber, daß sie gerecht und unparteiisch wählen würden, s. Ziebarth 38. Dahin gehört auch der E. der δημόται und φρατέρες bei Aufnahme neuer Mitglieder (Is. VII 28. Dem. LVII 26. Aisch. I 77. 100). Endlich ist ein Richter-E. der der Kampfrichter (Plut. Cim. 8. Inschr. von Olymp. 56, 29 [?]).
Neben dem E. des Richters war in den altehrwürdigen Formen des ältesten griechischen Gerichtswesens, wie wir es durch immer neue Funde auf Kreta kennen, der Eid der Parteien und Zeugen das wichtigste Beweismittel. Er entschied, wie es scheint, immer, darum war es von der größten Bedeutung und gesetzmäßig festgestellt, wann der E. zuzulassen, und welche von den beiden streitenden Parteien zum E. zu verstatten sei, d. h. wer ὁρκιώτερος war (Recueil inscr. jur. grecq. 433). Dies Recht stand für gewöhnlich dem Beklagten zu, so darf die Ehefrau bei Ehescheidung durch E. sich verteidigen gegen die Beschuldigung, unrechtmäßigerweise Güter des Mannes mitgenommen zu haben (Recht v. Gortyn III init. vgl. XI fin.), so darf bei Streit über eingegangene Rechtsverbindlichkeiten im Falle des Mangels von Zeugen der Beklagte durch E. sich verteidigen (ebd. IX fin.). [2082]
In einigen Fällen steht es dagegen dem Kläger zu, seine Aussagen eidlich zu erhärten; so muß besonders dann, wenn das Gesetz die Innehaltung eines bestimmten Termins oder die Wahrung bestimmter Formen vorschreibt, der Kläger beschwören, daß er dies getan hat (ebd. III 50. IV 6), z. B. hat der Besitzer eines Pferdes, Maultieres oder Esels, welcher durch ein Tier eines andern beschädigt oder getötet ist, die Pflicht, den Besitzer des Tieres, das den Schaden angerichtet hat, binnen fünf Tagen vor zwei Zeugen aufzufordern, sich den Tatbestand anzusehen. Ob er dies rechtzeitig getan, darüber entscheidet sein und seiner Zeugen E. (Recueil 394). Sicherer war es in solchen Fällen, die Entscheidung über den Tatbestand dem E. des Richters zu überlassen, wie es geschah, wenn behauptet war, daß ein flüchtiger Sklave vor Ablauf der Frist, die das Gesetz bestimmte, verkauft worden sei (Recueil 395), oder wenn bei Grenzstreit, bei dem innerhalb 15 Tagen eine richterliche Entscheidung herbeigeführt sein mußte, der Kläger behauptete, daß diese Frist verstrichen sei.
Als Kläger ist außerdem noch ὁρκιώτερος der Gläubiger, dessen Schuldner aus irgend einem Rechtsgeschäft verstorben ist (Recht v. Gort. IX 36f.), ferner die Sklavin, die vom eigenen Herrn geschändet zu sein behauptet (II 18), der betrogene Ehemann, um zu beschwören, daß er den μοιχός in flagranti ertappt habe (II 15).
Bei solchen E. zur Feststellung des Tatbestandes ist oft auch die Mitwirkung von Zeugen erforderlich; so darf bei Anfechtung der Rechtmäßigkeit einer Pfändung eidlich erhärtet werden, daß der gepfändete Gegenstand nicht dem gehört, gegen den die Pfändung gerichtet ist, oder daß dieser gar nicht in dem Hause wohne, wo die Pfändung vorgenommen wurde. Über den Wortlaut eines solchen iusiurandum assertorium besitzen wir nunmehr eine wertvolle Angabe in der Inschrift Americ. Journ. of Archaeol. II ser. Vol. I (1897) 212 nr. 24, 9–10 ὀμνύμεν δὲ ἐ μὰν τοῦτο μέν ἐστι ἀβλοπίαι δικαίος πρὶν μολέθθαι τὰν δίκαν, õ δ' ἐνεκυράκσαν μὲ ἐμεν, welche Worte wiederkehren in nr. 28 S. 222, also formelhaft sind. Ein solcher E. sollte demnach dartun, daß der Schwörende bei seiner Aussage keinerlei Nebenabsichten verfolge, und bezog sich im übrigen auf den Tatbestand. Interessant ist in diesem neuen Fragment auch, was weiter folgt: κ' αἴ κ' ἐς στέγας ἐνεκυράκσοντι πονίοντος μ' ἐν ϝοικὲν ὅ ἐνεκύρακσαν, συνεκσομόσαθθαι τõν ὁμόρον τõν ἐννέα τρίινς, οἷς κα προ ϝείπει μὲ ἐν ϝοἰκὲν õ ἐνεκύρακσαν, d. h. die Behauptung, daß der zu Pfändende in dem betreffenden Hause nicht wohne, soll unterstützt werden durch den E. von dreien der neun Nachbarn. Diese sind demnach Eideshelfer, die ja im kretischen Recht schon bekannt sind (vgl. zuletzt G. Gilbert Jahrb. f. Philol. Suppl. XXIII 468. Wilcken Ostraka II nr. 1150). Ihre Zuziehung beweist am besten die Wichtigkeit, die man dem E. beilegte.
Verfolgen wir im Anschluß an das kretische Recht kurz die Bedeutung des E. in dem Rechte andrer griechischer Staaten, so steht auf fast demselben Standpunkt das Recht von Halikarnass im 5. Jhdt., wo, wie wir aus der Lygdamisinschrift (Michel Recueil 451) erfahren, im Rechtsstreit [2083] über Grundbesitz, der zurückgeht auf Zeiten kriegerischer Umwälzung, der E. zunächst dem Kläger, welcher behauptete, der rechtmäßige Eigentümer zu sein, zusteht, dagegen nach Ablauf einer Frist von 18 Monaten dem Beklagten, d. h. dem Inhaber der streitigen Güter zustehen soll, der dann durch seinen E. den endgültigen Besitztitel erwirbt (Entscheidung der ἀμφισβητήσεις durch E. auch in Palike auf Sicilien, Diod. XI 89). Einen völlig andern Standpunkt finden wir schon in dem Athen des Solon, in dessen Gesetzen sich die Bestimmung fand, daß im Falle des Fehlens andrer Beweismittel beide Parteien zum E. zu verstatten seien, und der Richter nur zu entscheiden habe, πότερος εὐορκεῖ (Ziebarth 41. Gilbert a. a. O. 465), eine Bestimmung, die sich weiter dahin entwickelt hat, daß jeder Prozess begann mit der ἀντωμοσία, der Vereidigung beider Parteien auf ihre Aussagen hin, ohne Rücksicht darauf, ob sie diese noch durch Zeugen stützten oder nicht. Über den Inhalt dieser E. und ihre Einführung auch in andern Staaten, ebenso wie über die διωμοσία, ὑπωμοσία, ἐξωμοσία ist dem bei Ziebarth 41f. Gesagten nichts hinzuzufügen.
Um das Bild von der Anwendung des E. im griechischen Recht zu vervollständigen, sei noch erwähnt, daß der E. entsprechend dem griechischen Volkscharakter auch außerhalb des Gerichts beim Abschluß von Rechtsgeschäften jeder Art zur Anwendung kommen konnte, ohne daß hierfür gesetzliche Vorschriften bestanden. Solche Rechtsgeschäfte sind Verträge, auch Freilassungen (Delphi Collitz-Baunack Dial.-Inschr. 2072. Thespiai Bull. hell. 1901, 360), Erbschaftsteilungen (Is. V 7), Bürgschaft (Wilcken Gr. Ostraka 553), Depositum (Delos, Bull. hell. 1882, 500), Darlehen, Kontrakte über Ausführung von öffentlichen Arbeiten (Recueil des inscr. jur. 269 nr. 2), über die Übernahme einer ἱερωσύνη (Inschr. v. Perg. 251), Kauf und Verkauf u. a. (Belege Ziebarth 48f.).
Literatur verzeichnet bei L. Ott Beiträge zur Kenntnis des griechischen Eides, Leipzig 1896. R. Hirzel Der Eid, Leipzig 1902.
II. Über den Eid bei den Römern s. Art. Ius iurandum.