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RE:Demokratia 2

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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die Volksherrschaft
Band S I (1903) S. 346 (EL)–374 (EL)
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Demokratia[WS 1] (Δημοκρατία) ist seiner Etymologie nach sehr verständlich = Volksherrschaft. Nicht so sicher ist der Ursprung des Wortes; es wird ganz stehend bei Thukydides und Aristophanes gebraucht, ist also zu ihrer Zeit Gemeingut, und doch scheint es Herodot ungeläufig geblieben zu sein (vgl. u.), trotzdem der Begriff selbst in seiner kleinasiatischen Heimat früher als im Mutterlande sich gebildet haben muss (das angeblich solonische δήμῳ … ἔδωκα … κράτος bei Plut. Sol. 18 ist durch Aristot. Ἀθ. πολ. 12, 1 als Interpolation erwiesen), und obgleich er selbst den Ausdruck δημοκρατεῖσθαι = ‚vom Volke regiert werden‘ gebraucht (VI 43); man dürfte wohl daraus schliessen, dass das Wort D. viel später gebildet worden ist, als der entsprechende Begriff, und zwar durch die ersten Staatstheoretiker, die über die verschiedenen Verfassungen und ihre Vorzüge und Mängel gehandelt haben, die Sophisten, um die Mitte des 5. Jhdts. Vordem werden wohl zuerst nur verschiedentliche Parteinamen und Umschreibungen im Gebrauch gewesen sein, entsprechend den zwei grossen Gegensätzen, welche die hellenische Welt seit dem 7. Jhdt. spalteten: den ἀριστῆες, ἄριστοι, ἐσθλοί, εὐγενεῖς, εὐπατρίδαι (im feindlichen Sinne παχεῖς, in speciellerem Gebrauch ἱπποβόται, γαμόροι u. s. w.) standen gegenüber die κακοί, πονηροί, ἀγεννεῖς, ἀγροῖκοι (mit localer Bezeichnung καυνακοφόροι, κορυνηφόροι u. s. w.), zuweilen infolge eines Sieges als Ἀρχέλαοι ihre Gegner zu Ὑᾶται, Ὀνεᾶται, Χοιρεᾶται degradierend, wie solches in Sikyon geschah (Herod. V 68). Erst allmählich wird sich für die κακοί der allgemeine Ausdruck δημόται, wie für ihre Gesamtheit die Bezeichnung δῆμος in zwiefachem Sinne, ursprünglich verächtlich, als das ‚gemeine Volk‘ den ‚Edlen‘ gegenüber (so schon in der Il. II 188, wo der δήμου ἀνήρ dem βασιλεύς und ἔξοχος ἀνήρ gegenübergestellt [347] und demgemäss behandelt wird), dann umgekehrt voll Selbstbewusstsein als ‚echtes Volk‘ den ‚wenigen‘ (ὀλίγοι) ‚Schmarotzern‘ (παχεῖς) gegenüber gebildet und allgemeine Aufnahme gefunden haben, aber immer noch als Parteibezeichnung, wie eine solche stets am Worte δημόται und seinen Ableitungen (δημοτικός u. s. w.) haften blieb. Viel später und in den meisten der betreffenden Staaten kaum vor Ende des 6. Jhdts. gelangte eine Verfassungsform zum Sieg, welche beide Parteien unter das Princip der Gleichberechtigung aller Bürger beugte und sie zu einem wirklichen Gesamtdemos verschmelzen wollte: δῆμος δ’ ἀνάσσει διαδοχαῖσιν ἐν μέρει ἐνιαυσίαισιν, οὐχὶ τῷ πλούτῳ διδοὺς τὸ πλεῖστον· ἀλλὰ χὡ πένης ἔχων ἴσον (Eurip. Suppl. 406ff.), dies war das Ideal, und von diesem ‚Gesamtdemos‘ stammte der Begriff und das Wort D., leider konnte es auch nichts anderes sein als ein unerreichbares Ideal. Dementsprechend ist dasselbe auch von den Anhängern der ‚grossväterlichen Verfassung‘ (πάτριος πολιτεία) nicht anerkannt worden, so nicht von dem anonymen Verfasser der ps.-xenophontischen Ἀθηναίων πολιτεία, welcher das Wort wieder als ‚Pöbelherrschaft‘ deutet und wieder mit den alten Parteischlagwörtern der χρηστοί und πονηροί operiert, und eine ähnliche Ansicht hat wenigstens bei den Philosophen und vorwiegend auch bei den Geschichtschreibern die weiteste Verbreitung und Begründung gefunden, während die meisten (attischen) Redner selbstverständlich das euripideische Ideal erfüllt sahen.

Im folgenden sollen zuerst die Ansichten der Alten, soweit dieselben irgendwie systematisch dargelegt sind (zufällige Lob- und Tadelaussprüche kommen nicht in Betracht), dargestellt, weiter die wichtigsten Urteile der neuen Gelehrten kurz angegeben, schliesslich eine die Vorzüge und Mängel, wie die ganze Entwicklung der antiken (specieller der allein genauer bekannten athenischen D.) berücksichtigende Beurteilung derselben versucht werden.

Antike Systematik

Herodot

I. § 1. Bei Herodot (III 80ff.) zuerst findet man eine Einteilung der Verfassungen in drei Formen, je nach der Zahl der Regierenden, als Monarchie, Aristokratie oder Oligarchie und D. (die Namen fehlen noch, aber das begriffliche Princip ist unzweideutig ausgedrückt) – eine Einteilung, welche trotz gewisser Modificationen die Staatswissenschaft aller Zeiten anerkannt hat; zuerst ist hier auch in den berühmten Reden der drei Perser der Versuch gemacht, die Vorzüge und Mängel derselben im Vergleich untereinander möglichst objectiv abzuschätzen. Die D. hat folgende Vorzüge: 1. die Gleichheit aller vor dem Gesetze (ἰσονομία); 2. die Besetzung der Ämter nicht nach zufälliger Gunst der jeweiligen Machthaber, sondern nach dem Lose; 3. die Verpflichtung aller Beamten zur Rechenschaftsablegung; 4. die Entscheidung aller Geschäfte durch die Gesamtgemeinde im Wege der Majoritätsbeschlüsse – ἐν τῷ πολλῷ ἔνι τὰ πάντα (III 80). Dagegen betonten die Gegner der D. den Übermut des zur Herrschaft gelangten Volkes, das Fehlen einer richtigen Erkenntnis bei demselben und den Mangel einer Erziehung zum Guten, so dass es einem Bergstrom gleiche; infolge dessen gelange die wirkliche Regierung in die Hände von Politikern, [348] die in Gruppen vereinigt das Gemeinwesen zu ihrem eigenen Besten ausbeuten, bis das Volk, ihre Schlechtigkeit erkennend, sich einem einzelnen anvertraue, der sich dann zum Monarchen aufschwinge (ebd. 81f.). In dieser Kritik klingen die üblichen Ausfälle der ‚Edlen‘ gegen die D. nach, wie ihnen schon Theognis Worte geliehen hatte (vgl. namentlich 44ff.), während eine ähnliche Verherrlichung der D. vor Herodot sich nicht erhalten hat. Ganz eigentümlich aber ist die relative Abschätzung der Regierungsformen, die natürlich kaum in einer eigentlichen Parteischrift vorkommen konnte, andererseits ist es weder anzunehmen, dass die Perserreden historisch seien, noch dass die Betrachtungen von Herodot selbst herrühren; richtig wird wohl die Ansicht sein (Maass Herm. XXII 521ff., andeutend auch Zeller Phil. d. Griech. I 1000), dass hier die Schrift eines Sophisten zu Grunde gelegt worden sei, und zwar eines Weisheitslehrers aus Sicilien oder Unteritalien (Maass dachte an Protagoras), denn hier war es, wo in der ersten Hälfte des 5. Jhdts. die drei Regierungsformen, die glanzvolle Monarchie des Theron, Gelon und Hieron, die Oligarchie sowohl des Geschlechtsadels, als der Geistesaristokratie der Pythagoreer und die D. unvermittelt aufeinander stiessen und sich wohl ein Schriftsteller finden konnte, der unter den dreien den Vorzug der Monarchie gab (auch das ἐλευθερωθέντες δι’ ἕνα ἄνδρα würde viel besser auf Gelon passen, als im Munde des Dareios angesichts von sieben ‚Befreiern‘ der Perser) – im eigentlichen Hellas und in Kleinasien würde sich wohl um diese Zeit kein Schriftsteller zur Verherrlichung der Monarchie bereit gefunden haben. Somit besitzt der Vergleich der drei Verfassungsformen bei Herodot nicht nur an sich Wert, sondern noch mehr als erster Hinweis auf das Entstehen einer staatswissenschaftlichen Litteratur um die Mitte des 5. Jhdts. und zwar in den Kreisen der Sophisten.

Sophistik

§ 2. Lehrreich würde es sein, die Ansichten der Hauptvertreter der Sophistik über die Regierungsformen und speciell die D. genauer zu kennen, als es aus den nur beiläufigen Erwähnungen ihres grossen Gegners Platon möglich ist. Im allgemeinen nämlich ergiebt sich ein schwer lösbarer Widerspruch; während der Sophistenfreund Euripides ein unzweifelhafter Anhänger der D. ist und dementsprechend sein Gegner Aristophanes sowohl gegen die neue Weisheit, wie gegen die uneingeschränkte Volksherrschaft und deren Vertreter, Sophisten wie Demagogen, ankämpft, ebenso Sokrates und seine hervorragendsten Schüler beiden gleicherweise feindselig-ironisch gegenüberstehen, ist es doch unleugbar, dass die ‚goldene Jugend‘ Athens, welche am stärksten den Einfluss der Sophistik auf sich hatte einwirken lassen, zum grössten Teil zu den erbittertsten Feinden der D. gehörte. Auch solche Männer, die in ihren älteren Jahren die Rhetorik der Sophisten auf sich hatten einwirken lassen, können nicht zu den Anhängern der D. gerechnet werden; weder Thukydides trotz seiner Bewunderung für Perikles (von dem er ja ausdrücklich hervorhebt, dass zu seinen Lebenszeiten nur dem Worte nach die D. geherrscht habe), noch der Verfasser der mit ätzender Ironie geschriebenen Ἀθηναίων [349] πολιτεία, noch weniger endlich Antiphon, der sich schliesslich den extremsten Feinden der D. anschloss. Daraus ergiebt sich unabweisbar die Folgerung, dass die bedeutenderen Vertreter der Sophistik sich darauf beschränkten, die Mängel und Vorzüge der verschiedenen Verfassungsformen in utramque partem zu erörtern. Als Beweis dafür und als ein Beispiel der dabei ins Feld geführten Argumente (die ja zu der Zeit wegen ihrer Neuheit viel grösseren Eindruck auf die Zuhörer ausüben mussten) kann neben der schon angeführten Herodotstelle das bekannte Zwiegespräch des Theseus und des thebanischen Heroldes bei Euripides (Suppl. 403–456) dienen; dieser Dichter spiegelt bekanntlich alle wichtigeren Zeitfragen und die Versuche zu ihrer Lösung so getreu in seinen Dramen ab, der betreffende Wortkampf ist so unvermittelt und zwecklos hier eingefügt (nach des Verfassers eigenem Zugeständnis v. 459ff.), dass man ohne Zweifel annehmen muss, der Dichter habe sich hier unter dem überwältigenden Eindruck einer sophistischen Schrift befunden, deren Hauptpunkte er wiederzugeben bemüht ist. Bemerkenswert darin aber ist, dass die Gegenreden nicht aufeinander passen; der Verteidiger der Monarchie preist das erbliche Königtum gegenüber der feilen Demagogenwirtschaft, welche die besseren Elemente der Bürgerschaft unterdrücke, der Vertreter der D. verteidigt sie gar nicht gegen diese Vorwürfe, da sie auf seine ideale D., an der er Gleichheit vor dem Gesetze, Redefreiheit, Sicherheit des Lebens und Eigentums für jeden einzelnen Bürger zu rühmen weiss, keineswegs zutreffen, zieht seinerseits auch nicht gegen das Königtum, sondern gegen die Tyrannis los – augenscheinlich wurden in Euripides Quelle nicht sowohl Monarchie und Volksherrschaft einander entgegengesetzt auf die Wage gelegt, als vielmehr ihre Vorzüge und die in beiden möglicherweise sich entwickelnden Missbräuche und Abirrungen vom Ideal ziemlich unparteiisch erwogen (vgl. Dümmler Prolegomena zu Platons Staat, Basel 1891, 15ff.). Man sieht, wie sich hier schon die spätere Lehre von den drei relativ guten Verfassungsformen und ihren bezw. Zerrbildern vorbereitet, wenn sie nicht gar schon bei diesem ungenannten Sophisten so ausgearbeitet war, wie sie sich bei Platon finden wird. In Betreff der D. wenigstens wurde nicht nur die gemässigte vor ihren Abarten hervorgehoben, sondern auch die Bedingung ihrer Existenz klar formuliert – das Vorhandensein einer starken Mittelclasse, die ‚den Staat erhält und die Verfassungsordnung wahrt‘ (Eurip. Suppl. 238ff.), ja sogar der Einfluss der Beschäftigungen auf die politische Tüchtigkeit der verschiedenen Volksclassen erwogen, wobei der bäuerlichen, als dem conservativeren Element, der Vorzug gegeben wurde (Eurip. Orest. 917ff.). Vgl. Dümmler a. a. O. 17ff. Diese unparteiisch abwägende Charakteristik der verschiedenen Verfassungsformen, wie sie den älteren Vertretern der Sophistik und ihren Anhängern eigen gewesen sein muss, konnte aber nicht standhalten angesichts der stets extremer werdenden D. in Athen und seinem Machtbereich sowohl, als auf Sicilien, diesen zwei Mittelpunkten der wissenschaftlichen Bewegung, im letzten Drittel des 5. Jhdts. und der dementsprechend wachsenden Parteileidenschaften. Selbst [350] wo diese Unparteilichkeit scheinbar beibehalten wurde, musste sie infolge der von der Sophistik nachgewiesenen Subjectivität aller Gesetze und des durch sie entfesselten und gross gezogenen Individualismus bei den radicalsten Vertretern zu dem Resultate gelangen, dass alle die verschiedenen Regierungsformen gleich gut oder vielmehr gleich schlecht seien, da sie alle auf dem Grundsatze beruhten: ‚das Recht sei der Nutzen des Stärkeren‘, d. h. auf dem Principe des Faustrechts. Diese extreme Staatslehre, welche eigentlich auf eine Negation des Staates hinausläuft, wird wohl wenig Anhänger unter den Theoretikern gefunden haben (ob als solcher Thrasymachos nach der Darstellung in Platons Politeia gelten darf, muss füglich unentschieden bleiben), mehr ohne Zweifel unter den praktischen Politikern, den Demagogen, noch mehr unter den verbissenen Oligarchen, wie das Bild eines solchen im Kallikles des platonischen Gorgias erhalten ist, dessen Ansichten wohl auch von Männern wie Kritias und Genossen geteilt wurden. Aus diesen Kreisen ist auch die hassgetränkte Darstellung der athenischen D. in der ps.-xenophontischen Ἀθην. πολιτεία hervorgegangen, wie sie ja auf kallikleisch-thrasymachischem Principe aufgebaut ist; der Verfasser lobt den Demos von Athen zwar mit beissender Ironie im Detail, aber er lobt ihn doch ganz ernsthaft für das scharfsinnige Verständnis und die energische Consequenz, mit welcher er den krassesten Egoismus zum Staatsprincip erhoben und bis zu Kleinigkeiten herab überall durchgeführt habe; dass er danach auch für seine eigene Partei dasselbe Princip nicht nur in Anspruch nimmt, sondern auch als selbstverständlich betrachtet, beweist er durch die widerspruchslose Wiedergabe der Ansicht des Demos, jeder Rat eines Aristokraten sei zum Schaden der D. (I 6) und ebenso dessen ἀρετή (II 19), und durch die eigene Behauptung, ein Aristokrat könne nur aus Eigennutz und um im Trüben zu fischen Anhänger der D. werden (II 20) – ein scharfsinniger Beobachter war der Verfasser, kein feinfühlender Mann, noch weniger wissenschaftlicher Forscher, und deshalb hat seine Parteischrift kein Recht, genauer in Betracht gezogen zu werden, wo es sich um die hellenische Staatslehre handelt (in gewissen Punkten abweichend R. Schöll Anfänge einer politischen Litteratur bei den Griechen, München 1890, 15ff., wogegen B. Keil Solon. Verfassung 215, 1). Wenn er mit Schärfe betont (III 8f.), dass durch partielle Änderungen die D. nicht aufgebessert werden könne, so wendet er sich mit diesen Worten gegen eine für uns verlorene, aber nach manchen Spuren ziemlich ausgedehnte Litteratur, welche den Idealstaat im allgemeinen oder specieller die Besserung der vorhandenen Verfassungsformen zum Ziele hatte. Diese Litteratur (vgl. Henkel Studien zur griechischen Lehre vom Staat, Leipzig 1872, 1ff.) kommt hier nur insofern in Betracht, als sie einerseits zum Zwecke der Construction eines Idealstaates die vorhandenen Verfassungsformen untersuchen und vergleichen musste, andererseits zum Ziele der praktischen Besserung der vorhandenen Staatsgebilde auf die Geschichte derselben einzugehen gezwungen war. Leider lässt sich der Umfang dieser vergleichend-historischen Untersuchungen [351] mehr im allgemeinen ahnen nach dem Einfluss, welchen dieselben auf Platon und noch mehr auf Aristoteles ausgeübt haben, der ihnen einen bedeutenden Teil des in seiner ‚Politik‘ verarbeiteten Materiales verdankt, als im einzelnen genauer feststellen (vgl. L. v. Stein Die staatswissenschaftliche Theorie der Griechen vor Aristoteles und Platon, Ztschr. f. d. ges. Staatswiss. IX 115ff.). Der erste Sophist, von dem historische Untersuchungen auf staatswissenschaftlichem Gebiete ausdrücklich bezeugt sind, war Hippias (Hypoth. Soph. Oed. R.), aber eine stärkere Entwicklung fanden diese verfassungsgeschichtlichen Studien erst nach dem sicilischen Kriege, als der Widerwille der bessergestellten Classen gegen die Auswüchse der D. zu dem Streben nach einer Reaction, nach der Rückkehr zu einer gemässigteren Staatsverfassung führte und speciell in Athen die Wiederherstellung der πάτριος πολιτεία das Losungswort auch der ehrlichen Anhänger der D. wurde; wenn selbst in dem Gesetze über die Einsetzung einer Commission zur Revision der Verfassung im J. 413 derselben vorgeschrieben wurde, die πάτριοι νόμοι des Kleisthenes in Betracht zu ziehen (Arist. Ἀθ. πολ. 29,3), wenn selbst im Friedensvertrage mit Sparta die πάτριος πολιτεία gewährleistet wurde (ebd. 34, 3), in dem Sinne natürlich, dass die Bürger selbst entscheiden würden, was unter diesem Schlagworte zu verstehen sei, so kann man sich leicht vorstellen, was für eine Unmasse von Schriften im Publicum circuliert haben muss, in denen dieser Begriff je nach der verschiedenen Parteistellung der Verfasser in anderem Sinne, aber stets auf Grund der historisch-kritischen Erörterung der früher existierenden Verfassungsnormen beleuchtet wurde. Dass aber dieses Studium, welches ja auf die praktische Verwirklichung eines oder des anderen Staatsideales hinauslief, sehr gründlich, noch mehr wissenschaftlich-unparteiisch betrieben worden sei, wird kaum jemand behaupten. Einen ungefähren Begriff von dem Charakter und der Tiefe (oder vielmehr Oberflächlichkeit) dieser Untersuchungen kann man sich bilden nach den diesbezüglichen Ausführungen des Isokrates, der sich diesen Traum von der πάτριος πολιτεία aus seinen kräftigeren Mannesjahren in das 4. Jhdt. hinübergerettet hatte, als derselbe sich längst überlebt hatte; zweimal (VII 16. XII 138ff.) singt er ihr ein begeistertes Lob mit sehr missbilligenden Bemerkungen über die D. seiner eigenen Zeit, aber das einemal schreibt er ihre Einsetzung dem Solon und Kleisthenes zu, zwischen deren Wirksamkeit er also keinen Unterschied gewahrt, das anderemal behauptet er ihre Existenz seit tausend Jahren vor Solon – eine Unklarheit der historischen Vorstellungen, über die seine naivstolze Berufung auf von ihm benutzte Schriften und Documente ebensowenig hinwegtäuschen kann (XII 149f.), wie die selbstgefällig-breite Erörterung des Satzes, dass es nur drei Verfassungsformen gäbe, Monarchie, Oligarchie und D., welche alle bald gut, bald schlecht, bald mittelmässig sein könnten, je nach dem Charakter ihrer Leiter (ebd. 132f.), über die Verwirrung der staatsrechtlichen Begriffe, die er zeigt, indem er eine ‚aristokratisch regierte D.‘ annimmt (vgl. B. Keil Solonische Verfassung 79ff.). Es wäre übrigens [352] unberechtigt, diese Unklarheit der geschichtlichen Vorstellungen der mangelnden Urteilsfähigkeit des Rhetors allein zuzuschreiben; sie beweist nur, dass zwar schon vor dem Beginn des 4. Jhdts. manches geleistet worden war für das Studium der Verfassungsgeschichte, speciell Athens, aber dass dies sich mehr auf Einzelheiten beschränkte die man noch nicht gelernt hatte unter allgemeine Gesichtspunkte zu bringen und zu einem einheitlichen System zusammen zu fügen. Dass solches von den Sophisten nicht erreicht worden ist, wird weniger wundern, wenn man in dieser Beziehung die Leistungen ihres grossen Gegners Platon betrachtet.

Platon

§ 3. Für unsere Kenntnis ist Platon der erste, der es versucht hat, für die bekannte Dreiteilung der Verfassungsformen neben dem rein äusserlichen Einteilungsprincipe eine ethische Grundlage zu setzen und zwar hat er dies zweimal in etwas abweichender Form gethan. Im ‚Staate‘ (VIII 3ff.) entwickelt er eine Evolutionstheorie, wie allmählich aus dem besten Staate, der Aristokratie, zuerst die Timokratie, dann die Oligarchie (nach gewöhnlichem Gebrauche müssten diese Namen umgetauscht werden), in weiterer Verschlechterung die D. und endlich aus dieser die Tyrannis entstehe – hier ist das ethische Princip der allmählichen Deterioration zu Grunde gelegt. Die Darstellung enthält viele richtige Züge, welche sich durch geschichtliche Beispiele erläutern liessen, aber dieselben verschieben sich, und das ganze Bild wird getrübt dadurch, dass der Verfasser nur darnach strebt, aus der Analogie der Staatsformen die Entwicklung der ἀδικία im einzelnen Individuum zu erläutern, und dementsprechend die einzelnen Phasen hier und da möglichst einander parallel und ähnlich schildert, nur die einander entsprechenden Züge hervorhebend: wie die ganze Theorie unhaltbar ist, was in scharfer Kritik schon Aristoteles (Polit. VIII [V] 1316 a) nachgewiesen hat (vgl. Jowett-Campbell Platos’ Republik III 363ff.), so sind auch die Schilderungen der einzelnen Regierungsformen weder vollständig, noch genau genug, und speciell von der D. erhält man nur ein Zerrbild (Polit. VIII 11f. 15f.), dem selbst die äusserste Ochlokratie kaum entsprechen würde – ihre Basis ist die absolute Freiheit oder vielmehr Zügellosigkeit des einzelnen und die absolute Nichtachtung des Gesetzes, und ihre Regierung besteht im systematischen Aussaugen der Reichen durch das Volk und hauptsächlich durch dessen Führer, die sich den Löwenanteil der Beute sichern, bis endlich der kühnste und schlaueste derselben sich zum Tyrannen aufschwingt. Im Politikos (301–303 c) bietet Platon, abgesehen von der besten Staatsverfassung, eine der gewöhnlichen mehr entsprechende, aber dem ethischen Princip genügende Classification der bestehenden Regierungsformen (τῶν νῦν λεγομένων πολιτειῶν), indem er betont, dass es sich nicht sowohl um relative Güte, als um verhältnismässige Schlechtigkeit handle; jede der drei anerkannten Formen zerfalle in eine ‚gesetzmässige‘ und eine ‚gesetzlose‘, wodurch sechs entstünden, wovon vier einen eigenen volkstümlichen Namen besässen, zwei aber den gemeinsamen der D. (hierin weicht er von Sokrates ab bei Xen. mem. IV 6, 12, wo βασιλεία-τυραννίς, [353] ἀριστοκρατία-πλουτοκρατία = ὀλιγαρχία einander entsprechen, aber nur eine D. anerkannt wird); da nämlich die letztere zum Guten wie zum Bösen die geringste Kraft besitze infolge der Spaltung der Regierungsgewalt in eine Unmasse kleinster Teile, nehmen ihre beiden Formen nebeneinander eine mittlere Stellung ein zwischen den zwei der Herrschaft weniger Reicher (Aristokratie und Oligarchie), während die zwei Formen der Alleinherrschaft (Königtum und Tyrannis) die Extreme bilden. Wie Platon sich nicht bemüht hat, den beiden Formen der D. eigene Namen zu geben, und statt von sechs bisweilen von fünf Regierungsformen spricht, so scheint er keinen scharfen Unterschied zwischen beiden gemacht zu haben eben wegen der Machtlosigkeit der D. überhaupt zum Guten wie zum Bösen und ihrer daraus folgenden Mittelstellung. Wichtig ist, dass er sowohl in ethischer Hinsicht der D. vor der Oligarchie den Vorrang eingeräumt, als in logischer den Unterschied wenigstens angemerkt hat, der zwischen jener Form der D., wo das Volk sich nach den Gesetzen (κατὰ νόμους) regiert, und derjenigen, in der alles durch Willküracte der souveränen Volksversammlung (κατὰ ψηφίσματα) abgemacht wird, augenfällig besteht. Auf ein genaueres Studium der einzelnen Verfassungsformen, ihrer Grundlagen und Einrichtungen geht Platon auch hier nicht ein. Noch anders, wenigstens der Form nach, hat er in den Gesetzen (Leg. III init.) die relative Wertschätzung der verschiedenen Staatsformen gestaltet, indem er auch ihre Genesis historisch zu entwickeln sucht, wobei er aber keineswegs zu vollständiger Klarheit durchgedrungen ist. Einerseits nämlich führt er aus (Leg. III init.), wie bei den ursprünglich nomadisierenden Geschlechtern ein patriarchalisches Regiment (δυναστεία) der Ältesten herrschte, wie der Übergang zum sesshaften Leben und zur Dorfgemeinschaft zur Einführung der Alleinherrschaft oder einer Aristokratie den Anstoss gab, wie endlich infolge der Gründung von wirklichen πόλεις einerseits Vertreibung der früheren Herrscher und Einsetzung einer Volksherrschaft stattfand, andererseits die Rückkehr der Herakliden ein Volkskönigtum ins Leben rief (das erstere ist nicht klar ausgedrückt, beim zweiten der Unterschied gegenüber dem früheren Königtum nicht präcisiert). An einer anderen Stelle dagegen (ebd. 693 D) nennt er Königtum und D. die zwei Mutter-Constitutionen, aus denen alle übrigen nur abgeleitet seien, und zwar entstünde bei einer guten Verbindung beider Principien (der ἐλευθερία mit der φιλία μετὰ φρονήσεως) eine vorzügliche Verfassung, bei der Übertreibung des einen Princips auf Kosten des andern eine verwerfliche (auch hier bleibt der Verfasser sich nicht treu, indem er fast in einem Atem alle existierenden Verfassungen als διαπεποικιλμέναι, d. h. Mischverfassungen, bezeichnet, die folglich vorzüglich in grösserem oder minderem Masse sein müssten, und als Beispiel der Mutter-Constitutionen, die doch als solche lobenswert sein dürften, die persische Monarchie und die athenische D. anführt, deren Fehler in der extremen Durchführung des einen Princips bestand). Wenn so der Versuch, die historische Entwicklung der Verfassungsformen zu ergründen, gescheitert ist und Platon in unlösbare Widersprüche mit sich [354] selbst verwickelt hat, so ist dagegen sein Urteil über die zu seiner Zeit existierenden Verfassungen (Königtum mit der Abart Tyrannis, Aristokratie und Oligarchie, D.) viel schärfer zwar noch, als im Politikos, indem er sie durchweg als Parteiherrschaften (στασιωτεῖαι) bezeichnet (ebd. IV 715 B), indem die Stärkeren sich die absolute Herrschaft aneignen und dementsprechend die Gesetze ummodeln und das Recht beugen zu ihrem eigenen, nicht des Staates Nutzen (nach dem Princip des Kallikles und Thrasymachos), aber doch ist dieses Urteil den Verhältnissen seiner Zeit vollkommen angemessen und auch im allgemeinen richtiger, als die früher beliebte Einteilung der Verfassungen nach ihrer Gesetzmässigkeit (bezw. Ungesetzlichkeit), insofern es der regierenden Partei stets frei steht, sich mit den Gesetzen in Einklang zu setzen. Richtig erfasst, obgleich nicht genügend ausgeführt, ist der Unterschied zwischen den zwei Formen der D., den Platon schon im Politikos angemerkt, hier aber schärfer betont hat (ebd. III 693 D), der sozusagen ideellen D., welche eine der Mutter-Constitutionen ist, also zu den guten Verfassungen gehören muss, und der gemeiniglich so genannten, welche nur eine Ausartung ist; letztere ist eine στασιωτεία, also eine Regierung des an Kopfzahl stärkeren gemeinen Volkes, erstere folglich, wo der Freiheit des einzelnen gewisse Schranken gesetzt sind, eine Herrschaft des Gesamtvolkes, bei der infolge ungefähr gleicher Tüchtigkeit der Bürger zwar allen gleiches Recht auf die Regierungsgewalt verliehen wird, aber unter gewissen Garantien, dass nur die Tüchtigsten dazu gelangen (vgl. ebd. VI 753 B) – hier mag Platon die D. seines angeblichen Vorfahren Solon vorgeschwebt haben. Dass er in diesem seinem letzten Werke dem demokratischen Principe weniger feindselig gegenüberstand, als in den früheren Schriften (so meint er, es sei leichter ἔκ τινος δημοκρατίας zu einem Musterstaat zu gelangen, als von einer Oligarchie aus, ebd. IV 710 e), beweisen auch die mannigfaltigen Entlehnungen, die er für seinen Staat den Gesetzen der athenischen D. entnommen hat, was ein tiefergehendes Studium der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung derselben voraussetzt, als selbst K. F. Hermann (Iuris domestici et familiaris apud Platonem in Legg. cum Athen. institutis comp., 1836) angenommen hatte.

Aristoteles

§ 4. Von der Einteilung der Staatsformen, wie sie Platons Politikos und Nomoi bieten, geht im wesentlichen auch sein Schüler Aristoteles aus, indem er im ganzen sechs, drei Grundformen, Königtum, Aristokratie, Politie, und drei abnorme (παρεκβάσεις), Tyrannis, Oligarchie, D. annimmt; das Princip der Zahl der Regierenden ist vereinigt mit dem ethischen Princip der Regierung ‚zum Besten der Allgemeinheit‘ oder ‚zum eigenen Vorteil der Herrscherclasse‘ (Polit. III 7 p. 1279 a 22ff.; Eth. Nic. VIII 1160 a 31f.; Eth. Eud. 1241 b 29). Es sieht sich aber unmittelbar darauf Aristoteles selbst gezwungen, sein Schema zu durchbrechen und festzustellen, dass der Unterschied zwischen Oligarchie und D. weniger in der Zahl der Regierenden, als in ihrer Vermögensstellung liege – in ersterer herrschten die Vermögenden (εὔποροι), in der zweiten die Vermögenslosen (ἄποροι), aber er löst den scheinbaren Widerspruch durch den Hinweis auf die realen Verhältnisse, [355] indem die Reichen stets in Minderzahl gegenüber den Armen stünden. Ein anderer noch schwerer wiegender Einwand ist erhoben worden gegen das Princip der beiden Formen der Volksherrschaft, denn in der ‚normalen‘ müsse sich die Regierungsform in den Händen aller befinden, in der ‚abweichenden‘ gehöre sie nach Aristoteles selbst ausschliesslich den Armen, also seien nicht nur die Ziele der Regierenden (Staatswohl oder eigener Vorteil) verschieden, sondern auch diese Regierenden selbst (J. Schvarcz Kritik der Staatsformen des Aristoteles 9); der Einwand hat seine Berechtigung, obgleich Aristoteles als Princip der D. ausdrücklich die Geichberechtigung aller Freigeborenen betont, also nur eine factische, auf dem Übergewicht der Kopfzahl beruhende Herrschaft der ἄποροι annahm. Jedenfalls leiden die leitenden Principien so viele Durchbrechungen, dass die ganze Einteilung daran scheitert, wie sie ja von dem Autor selbst in der unmittelbar darauf folgenden Erörterung über die Zweckmässigkeit der verschiedenen Verfassungsformen zum grössten Teil übergangen wird. Da die Darstellung der späteren Bücher der Politik noch mehr unvereinbare Wiedersprüche gegen die betreffende Einteilung enthält (vgl. Zeller Gesch. d. ant. Philos. II 2, 711f. Susemihl Aristoteles Politik, griech. und deutsch, 1879, I 62f. Teichmüller Aristotelische Einteilung der Verfassungsformen 12f. Schvarcz a. a. O. 24f.), so erscheint es sicher, dass dieselbe nur ein dem Lehrer entlehntes Schema ist, das später vom Autor selbst stillschweigend abgelehnt wurde, ohne dass er Zeit fand, dementsprechend die frühere Darlegung zu verbessern. Dass dem so ist, wird auch dadurch bewiesen, dass Aristoteles später (Rhetor. I 1365 b) nur vier Grundformen der Verfassung annahm, indem er sowohl das numerische als das ethische Princip fallen liess und durch das teleologische ersetzte; die D., in der die Beamten nach dem Lose bestellt würden und die Freiheit aller die Grundlage sei, die Oligarchie mit dem Census und dem Reichtum als Staatsprincip, die Aristokratie, deren Beamten eine gesetzlich geregelte Erziehung durchzumachen verpflichtet seien, welche die Grundlage dieser Verfassungsform bilde, und das Königtum (mit der Nebenform der Tyrannis), für das ausser dem Merkmal der Alleinherrschaft kein Unterscheidungsprincip angegeben ist. Selbstverständlich kann diese Einteilung, die zu besonderen Zwecken angeführt wird, weder an sich, noch in der Charakteristik der einzelnen Verfassungsformen als erschöpfend gelten. Entsprechend aber derselben unterscheidet Aristoteles auch in den späteren Büchern der Politik ‚die vier Verfassungen‘ ebenso, nur noch eine fünfte, die κατ’ ἐξοχήν sog. Politie, hinzufügend (Polit. VI [IV] 1293 a 35), wonach die ganz ungehörige Wiederholung des früheren Schemas (ebd. 1289 a 26) mit noch viel näherer Anlehnung an Platon und sinnloser Polemik gegen denselben, der seltsamerweise als εἷς τῶν προτέρων citiert wird, als späteres Einschiebsel zu betrachten ist (wie die darauf folgenden Capitel von Susemihl ausgeschieden werden). Als das Grundprincip jeder D. bezeichnet Aristoteles die Freiheit (ἐλευθερία), sieht aber dasselbe als ein falsches an: die Verteidiger desselben gingen von der irrtümlichen [356] Voraussetzung aus, dass, wer in diesem einem (d. h. der Freiheit) gleich sei, auch in allem anderen gleiche Rechte (d. h. politische) besitzen müsse, während doch die Freien in so vielen anderen Beziehungen einander ungleich seien (Polit. III 1280 a 25ff.). In gewissen Grenzen aber ist er bereit, der D. die Berechtigung zuzugestehen, da die Menge der Bürger zwar, einzeln genommen, weniger tüchtig sei, aber insgesamt ein richtigeres und unverfälschteres Urteil besitzen dürfte, als eine kleine Gruppe tüchtigerer Leute, ebenso wie dieselben zusammengefasst eine grössere Censussumme repräsentieren, als eine kleine Zahl reichbegüterter (ebd. 1281 b 1ff. 1282 a 39ff.). Darum sei, die Fälle ausgenommen, wo eine mit ganz ausserordentlichen Tugenden ausgestattete Minderheit (Ideal-Aristokratie) oder gar ein die Mittelmässigkeit ganz incommensurabel übertreffender Alleinherrscher (Ideal-Königtum, παμβασιλεία) die Regierungsgewalt besässe, im allgemeinen eine gemässigte mit einigen Elementen der anderen Verfassungen gemischte D. vorzuziehen, welcher der Name der Politie gegeben wird (ebd. 1281 b 23. 1284 a 3). Als Charakteristikum derselben, welche eine mittlere Stellung zwischen Oligarchie und D. einnimmt und deren Grundgesetze combiniert oder zwischen denselben vermittelt, gilt das Übergewicht des Mittelstandes, welcher an Zahl und Bedeutung die beiden extremen Parteien oder wenigstens jede derselben einzeln überragt und folglich die Regierungsgewalt in seinen Händen concentriert (ebd. VI [IV] 1293 b 33), da dieselbe denjenigen verliehen ist, welche als Hopliten dem Staate dienen können, also einen gewissen, nicht zu hoch gegriffenen Census besitzen (ebd. VI [IV] 1293 b 33. 1295 b 2. 1297 b 1). Neben dieser sich gewissermassen der Oligarchie nähernden D. erkennt Aristoteles noch vier Arten der eigentlichen D. an, von denen wenigstens die bessere nicht absolut zu verwerfen sei. Diese bestehe darin, dass zwar alle Bürger gleiche Rechte besässen (also infolge der Überzahl der Demoten der Demos die Staatsgewalt in seinen Händen habe), aber die Beamtungen nach einem zwar geringen Census vergeben würden; hier würden die Armen ganz von der Regierung ausgeschlossen, die Minderbegüterten infolge der Nahrungssorgen factisch abgehalten sein, ohne sich in ihren Rechten gekürzt zu fühlen; infolge dessen würden Volksversammlungen selten zusammentreten, die Regierungsgewalt in den Händen der mehrbegüterten Beamten liegen und die Gesetze allein herrschen (ebd. 1291 b 30ff. 1292 a 25ff.). Die zweite und dritte Art der D. unterscheiden sich nur darin, dass in ersterer streng auf die rein bürgerliche Abstammung der Bürger gesehen wird, sonst haben dieselben das gemeinsam, dass allen Gemeindemitgliedern alle Rechte unabhängig von einem Census zustehen, doch die Ausübung dieser Rechte nicht vergütet wird (ebd. 1292 a 1); die wenig bemittelten Classen nehmen fürs gewöhnliche gar keinen Anteil an der Regierung, welche in den Händen derjenigen liegt, die eine gewisse Musse besitzen (ebd. 1292 b 32) – also herrschen auch hier die Gesetze. Als vierte Abart erscheint die radicale D. (ἐσχάτη δημοκρατία), in der das niedere Volk durch Kopfmehrheit herrscht und selbst regiert, und zwar despotisch [357] als Tyrann nach seinen Launen und nach Rat seiner Schmeichler, der Demagogen, die alle Angelegenheiten vor den souveränen Demos bringen, so dass sie nicht nach den Gesetzen, sondern nach den jeweiligen Willküracten der Volksversammlung entschieden werden (ebd. 1292 a 5ff.); diese Verfassungsform, wenn sie noch Anspruch auf diesen Namen besitzt, entsteht dann, wenn für die Teilnehmer an der Regierung Lohn gezahlt wird, denn dann drängen sich gerade die ärmsten und niedrigsten Volksclassen zu derselben, da sie keine Vermögenssorgen haben, wie die Reichen und noch mehr der Mittelstand – es ist die reine Ochlokratie (ebd. 1293 a 1). Aristoteles hat auch die Formel für die Zweckmässigkeit jeder dieser Arten der D. gefunden. Jede Verfassungsform kann nur Bestand haben, wenn sie den Wünschen des stärkeren Teiles der Bürgerschaft entspricht, da aber in jeder zwei sociale Classen sich gegenüber stehen, die an Zahl geringere, durch irgend welche Vorzüge (Adel, Reichtum, Bildung) ausgezeichnete und die nur nach Köpfen zählende Menge, so muss die Verfassung (modern ausgedrückt) die Diagonale des Parallelogramms dieser Kräfte sein, d. h. der qualitativen Stärke der höheren und der quantitativen der niederen Classe. ‚Wo demgemäss die Zahl der Armen nach dieser Art von Abwägung ganz unverhältnismässig im Übergewicht ist, da ist der naturgemässe Boden für eine D., und zwar für jede von den besonderen Arten derselben je nach dem Mehrgewicht der einen oder der anderen Art von Volksmasse, also wenn die ackerbautreibende Bevölkerung überwiegt, für die erste, wenn dagegen die Zahl der Handwerker und Lohnarbeiter, für die letzte Art von D., und die entsprechenden Bestimmungen gelten dafür, wann für die Mittelformen derselben der natürliche Boden vorhanden ist. Wo aber der Mittelstand an Zahl entweder beide Extreme überragt oder auch nur das eine von beiden, da ist eine dauerhafte Politie möglich‘ (ebd. 1296 b 12ff. 1296 b 25–40 übersetzt von Susemihl). Mit Recht betont Aristoteles, dass auch die Organisation der beschliessenden, der verwaltenden, der richtenden Körperschaften in directer Beziehung zur Verfassungsform stehen müsse, so dass nicht nur die Behörden verschieden zusammengesetzt, sondern auch die gleichnamigen mit verschiedener Competenz ausgestattet zu sein pflegen, ja sogar gewisse Staatsformen besondere Behörden erfordern oder im Gegenteil nicht zulassen (ebd. 1299 b 21ff.). Leider hat er die entsprechende Einzeluntersuchung nur auf die umfassenderen Formen der Verfassung, nicht auf die Unterarten der D. ausgedehnt und auch bei der Schilderung derjenigen Behörden, welche der D. entsprächen, überwiegend die radicalste Form derselben im Auge gehabt. Zwar in Betreff der Organisation der beratenden und beschliessenden Versammlung in der D. giebt er vier Modalitäten an, aber dass sie wirklich den vier Arten entsprächen, sagt er nicht und wird auch von den Erklärern meist nicht anerkannt, und auch der Text ist hier vielen Zweifeln ausgesetzt (ebd. 1298 a 10ff.); als geringste Macht der Volksversammlung wird angegeben, dass sie nur über Gesetzgebung und Verfassungsfragen zu entscheiden habe, sonst aber nur zum Anhören der Verordnungen der Behörden zusammentrete; [358] bei erweiterter Macht (also fortschreitender D.) gehöre ihr die Beschlussfassung über Krieg und Frieden, die Wahl der Beamten und Rechenschaftsabnahme von den abtretenden Behörden (in dem überlieferten Texte wird dieselbe Machtsphäre sowohl der zweiten, wie der dritten Organisationsform zugeschrieben); endlich in der radicalsten D. entscheide die Volksversammlung über alles und jedes und gestatte den Behörden nur ein Gutachten abzugeben. In Betreff der Verwaltungsbehörden wird nur hervorgehoben, dass als Charakteristikum der D. überhaupt gelten kann das Vorhandensein eines grossen Rates, dessen Competenz im umgekehrten Verhältnis stehe zu der Macht der Volksversammlung (ebd. VI [IV] 1299 b 33. VII [VI] 1317 b 30), das Vermeiden gewisser Beamter (wie der Gynaikonomen, Paidonomen und dgl.), welche zu stark in die persönliche Freiheit des einzelnen Bürgers eingriffen (ebd. VI [IV] 1300 a 7. VII [VI] 1323 a 3), und das allgemeine active und passive Wahlrecht durch Los oder Wahl oder beide combiniert (ebd. 1300 a 32ff.). In Bezug auf die Gerichte wird nur in Kürze bemerkt, dass der D. am meisten die grossen Volksgerichte entsprächen, die aus allen Bürgern durch Wahl oder Los besetzt würden und für alle Processe Competenz besässen (ebd. VI [IV] 1301 a 12). Es wird nicht überflüssig sein, zum Schluss die hauptsächlichsten Merkmale der reinen oder äussersten D., der D. κατ’ ἐξoχήν, als welche sie bei Lobrednern und Tadlern galt, so dass man beim allgemeinen Namen stets sie speciell im Auge hatte, nach Aristoteles zusammenzufassen. Es herrscht nicht nur, sondern regiert auch das Volk, und zwar nicht das Gesamtvolk, sondern die niederen, ungebildeten Classen vermöge ihrer Majorität (ebd. VII [VI] 1717 b 8) und unter diesen vor allem der Stadtpöbel; die höheren Classen ziehen sich von den Staatsgeschäften zurück als völlig einflusslos und Verdächtigungen ausgesetzt, der begüterte Mittelstand der Stadt und die bäuerliche Landbevölkerung folgen meist ihrem Beispiel, da sie durch Eigentumssorgen abgehalten sind, nur der Pöbel, der für nichts zu sorgen hat, da er nichts sein nennt, füllt die Volksversammlungen und Gerichte (ebd. VII [VI] 1319 a 29), durch für ihn ausgiebigen Lohn angelockt, und sorgt dafür, dass dieselben möglichst stark in Anspruch genommen werden (ebd. VI [IV] 1293 a 1. 1300 a 1), da solches eine Quelle des Einkommens und zugleich der Macht ist und er niemand, selbst den am meisten demokratischen Behörden nicht, vertraut (ebd. VI [IV] 1292 a 5. 28. 1298 a 30. VII [VI] 1317 b 29) und vorzieht, alles durch eigene Willküracte zu regeln (ψηφίσμασι διοικεῖ τὰ πάντα, ebd. VI 1292 a 36). Aristoteles schlägt zwar als Correctiv vor, entsprechend dem die niederen Classen anziehenden Lohne für Besuch der Volksversammlungen und der Gerichtssitzungen für die höheren Stände Geldstrafen für Nichtbesuch derselben als Zwangsmittel anzuordnen (ebd. VI [IV] 1298 b 15), ja klügelt eine complicierte Einrichtung aus (ebd. VII [VI] 1318 a 30, vgl. VI [IV] 1298 b 24), um die Minorität vor gänzlicher Verdrängung durch die Majorität zu sichern (den diesbezüglichen Theorien um 22 Jahrhunderte vorauseilend), aber er scheint sich keine grosse Illusionen über die [359] Ausführbarkeit dieser Mittel gemacht zu haben. Als zweites Merkmal dieser D. erscheinen die grossen, starkbesetzten Ratscollegien und Gerichtshöfe und die vervielfältigten, also dementsprechend auf engen Wirkungskreis beschränkten Ämter, welche möglichst alle durch das Los aus allen Bürgern bestellt werden, und zwar auf kurz bemessene Fristen unter durchgängigem Verbot der Iteration (ebd. VII [VI] 1317 b 19); der echte ‚Freiheitsmann‘ sieht auch diese mit äusserst geschwächter Macht ausgestatteten Behörden als notwendiges Übel mit scheelem Auge an und gehorcht ihnen nur widerwillig in der Erwartung, selbst im Losesturnus zur Gewalt zu gelangen (ebd. VII [VI] 1317 b 15) – nur wenn das Los ‚durch alle durchgegangen ist‘, wird derselbe Mann zur Losung von neuem zugelassen. Nur gewisse, sehr verantwortliche, wenig vorteilhafte und speciellere Befähigung erfordernde Ämter, z. B. das Feldherrnamt, werden durch Wahl besetzt und zwar ohne Beschränkung der Wiederwahl (ebd. VII [VI] 1317 b 24). In der Administration waltet das Princip der systematischen Bedrückung und Ausbeutung der Reichen durch verschiedene Fiscalmittel (zum Zwecke, dieselben zu schwächen und den regierenden Pöbel zu bereichern), und zwar nicht nur zum Nutzen des Staates, den constitutionell notwendigen Lohn für den Besuch der Volksversammlungen u. s. w. mit eingeschlossen, sondern auch zur Befriedigung der Vergnügungslust des souveränen Demos, wozu die ‚nutzlosen‘ Leiturgien dienen (ebd. VII [VI] 1320 b 4. VIII [V] 1309 a 15); verschärft wird dieses Princip im Wege chicanöser Capitalprocesse, die hohe Bussen oder Confiscationen zur Folge haben (ebd. VII [VI] 1320 a 5. VIII [V] 1305 a 5); auf die Spitze getrieben endlich durch verschiedene Gewaltmittel, wie die Landaufteilung (γῆς ἀναδασμός), Schuldentilgung (χρεῶν ἀποκοπή), erzwungene Rückzahlung empfangener Zinsen (παλιντοκία) u. s. w. (letzteres von Aristoteles nicht bezeugt, Plut. qu. gr. 18) – diese Mittel übrigens nur in den ganz zügellosen D. und meistens infolge von Revolutionen angewendet. Endlich als letztes Princip der vollendeten D. muss die Unduldsamkeit gelten gegen den übermächtigen politischen Einfluss einer über die Mittelmässigkeit hoch erhabenen Persönlichkeit, welche ihren Ausweg findet in der (zeitweiligen) Ausweisung derselben aus dem Staate vermittels einer besonderen Art von Volksgericht, in Athen Ostrakismos genannt, in anderen Staaten (Argos, Ephesos, Megara, Miletos, Syrakusai) unter anderem Namen bekannt (ebd. VIII [V] 1302 b 18. 1308 b 19); ohne diesen Willküract absolut zu billigen, kann Aristoteles nicht umhin, ihn für gewisse Fälle zur Vermeidung grösserer Übel als notwendig zu bezeichnen, als eine Art Sicherheitsventil (ebd. III 1284 b 15). Die in Kürze wiedergegebenen Ausführungen des grossen Meisters sind, leider, nicht in wünschenswerter Klarheit und Präcision dargelegt, vielfach ist der Zusammenhang zerrissen, es fehlt nicht an scheinbaren Widersprüchen und auch nicht an wirklichen – ob nun der Verfasser in Verlauf seiner Arbeit die Ansichten gewechselt oder über gewisse Fragen nicht zu einem endgültigen Urteil gelangt ist – viele Fäden werden angeknüpft, die sich dann durchkreuzen [360] und schliesslich in einem Knäuel totlaufen, sehr häufig fühlt man, wie der Denker bei der Masse des ihm zu Gebote stehenden Materiales und der Unmenge der sich ihm aufdrängenden Fragen, Einwände, Meinungen trotz des gewaltigsten Ringens derselben nicht Herr werden kann und die glänzend begonnene Untersuchung im Sande versiegt. So hat er die Bedeutung der socialen Classen für die Verfassungsform richtig erkannt und beginnt die eingehendere Betrachtung der verschiedenen Constitutionen mit einer ausführlichen Erörterung der unterscheidbaren Gesellschaftsclassen, welche im Staate vorhanden sein müssen (ebd. VI [IV] 1290 b 38), unzweifelhaft, um aus Vorwiegen dieser oder jener derselben die Entwicklung der entsprechenden Verfassungsform zu erschliessen, aber über gewisse, sehr beschränkte Ansätze dazu (wie dergleichen auch seinen Vorgängern nicht unbekannt waren) gelangt er nicht hinaus (ebd. VII [VI] 1318 b 6), so dass sein weites Ausholen über die socialen Classen kein adäquates Resultat findet. So stellt er das wichtige Princip auf, dass sich die Eigentümlichkeit jeder Verfassungsform nicht nur in der verschiedenen Anordnung der beschliessenden Gewalt, sondern auch in der Organisation der Behörden samt der ihnen verliehenen Befugnis und in der Zusammensetzung der Gerichtshöfe, wie deren Competenzbestimmung, deutlich ausprägen müsse, aber wie oben ausgeführt, giebt er nur über die beratende und beschliessende Gewalt einige, nicht vollkommen befriedigende Andeutungen, das übrige ist einem Concepte ähnlicher, als einer ausgeführten Erörterung, und doch findet sich hier wieder eine eingehende Aufzählung der nach ihrer Competenz verschiedenen Gerichtshöfe, soviel ihrer sich vorstellen lassen (ebd. VI [IV] 1300 b 19), aber ohne jegliche Andeutung, ob dieselben alle in allen Staaten denkbar und möglich seien, oder entsprechend den verschiedenen Verfassungsformen auch eine gewisse Modification der Competenzen und Beschränkung der Zahl derselben eintreten müsse, und wie solches auf eine dem Geiste der Verfassung entsprechende Weise zu bewerkstelligen sei. Trotz dieser von der neueren Kritik genügend hervorgehobenen und sogar übertriebenen Mängel (J. Schvarcz a. a. O.) ist die Arbeit des Aristoteles über die verschiedenen Staatsformen das Hervorragendste, was das Altertum überhaupt auf diesem Gebiete geleistet hat, und muss dementsprechend auch die neuere Wissenschaft in diesen Fragen von ihm ausgehen. Um das zu erkennen, genügt es, die Charakterbilder der verschiedenen Verfassungsformen, namentlich auch der vier Formen der D. und der dazu gehörigen sog. Politie, mit den verschwommenen Umrissen der ‚relativ besseren‘ und ‚absolut schlechten‘ Verfassungen bei seinem grossen Lehrer zu vergleichen. Und der grosse Unterschied ist sehr begreiflich: Platon hatte eigentlich nur ein Herz für seinen Idealstaat, und erst als er in seinem posthumen Werke der Realität näher trat, hat er sich gezwungen gesehen, die für die realen Verhältnisse passenden Gesetze den existierenden Gesetzgebungen zu entnehmen, wobei sich ihm der Widerspruch ergab, dass er dieselben vorwiegend der ihm so antipathischen athenischen D., nicht den von ihm relativ gelobten Gesetzgebungen von Sparta und Kreta entlehnte – wohl [361] möglich, weil es ihm, wie seinen Vorgängern unter den Sophisten‚ an gründlicher‚ auf historisch-systematischen Studien beruhender Kenntnis der letzteren gebrach; Aristoteles dagegen ist nie über den ersten Beginn eines Entwurfes des Idealstaates hinausgekommen‚ und konnte es auch nicht, da es sich ihm aus der historisch-vergleichenden Behandlung der verschiedenen existierenden Staatengebilde, von deren Gründlichkeit die hundertachtundvierzig πoλιτεῖαι zeugten, klar ergeben hatte, dass die verschiedenen Formen derselben nicht auf willkürlich veränderbaren Menschensatzungen beruhten, sondern auf uncontrollierbaren Factoren, der Landesnatur, der Grösse des Staates, dem Verhältnisse der verschiedenen Gesellschaftsclassen und ihrer Existenzmittel, den historischen Entwicklungsbedingungen‚ folglich die jeweilig existierende Verfassungsform als Resultat aller dieser Kräfte in ihrer Gesamtwirkung, nicht radical durch Machtspruch geändert werden könne ohne ebenso radicale Umgestaltung der vorhin erwähnten realen Bedingungen‚ sondern höchstens im einzelnen und allmählich mit vorsichtiger Hand gebessert, z. B. von einer niederen Form der D. zu einer höheren erhoben werden dürfe. Diese Erkenntnis‚ welche sich besonders klar in der Erörterung über die Staatsumwälzungen im V. (VIII.) Buche der Politik offenbart, bezeugt, wie sehr an historischem Sinne Aristoteles seinen Lehrer überragte, dessen Excurse in das Gebiet der Geschichte (z. B. der Versuch, die Entwicklung der Verfassungsformen historisch zu begründen, vgl. o.) kläglich gescheitert sind – für Platon, nicht für Aristoteles gilt der Ausspruch eines hervorragenden Gelehrten ‚ein Historiker war er nicht‘ (vgl. Oncken Staatslehre d. Aristoteles II 220ff. Newmann Potitics of Aristoteles I Introduction 214ff. 492ff. Sidgwick und Newmann Aristotle’s classification of forms of Goverment‚ Class. Rev. VI 141ff. 289ff. Hammond Political Institutions of anc. Greeks 1895, 99ff.).

Demosthenes

§ 5. Nach Aristoteles scheint die griechische Philosophie für die Erforschung der verschiedenen Staatsformen überhaupt wenig geleistet zu haben, sonst würden sich darüber selbst in den Trümmern der einschlägigen Litteratur Spuren erhalten haben. Die Ursache davon lag teils in den geschichtlichen Verhältnissen (die hellenischen Kleinstaaten und ihre Verfassungen traten ganz in den Hintergrund vor den gewaltigen, das Schicksal der Welt bestimmenden Monarchien, und dementsprechend mehrten sich nur die Tractate über das ‚Königtum‘), teils in der Richtung der einflussreichsten Philosophenschulen; weder der Kosmopolitismus der Stoiker noch die Weltverachtung der Kyniker, weder die Subjectivität des Epikureismus noch die Skepsis, welche die Akademie mitergriff, waren solchen Forschungen günstig, und die Peripatetiker selbst (einige unmittelbare Schüler des Aristoteles ausgenommen) wandten sich mit Vorliebe anderen Wissensgebieten zu. Nur erwähnt sei hier aus späterer Zeit die 3. Rede des Dio Chrysostomus. Es bleibt nur übrig, die Ansichten einiger hervorragender praktischer Politiker in Kürze darzustellen. An erster Stelle unter ihnen ist Demosthenes zu nennen, wo es sich um die D. handelt, da er für uns fast der einzige [362] überzeugungstreue Lobredner derselben ist. Dass er ein aufrichtiger Anhänger der D., speciell der athenischen war, wird wohl von niemandem in Abrede gestellt, ebensowenig aber, dass er scharfsichtig und vorurteilsfrei genug war, um deren Mängel‚ besonders was die Verwaltungsnormen anbetrifft‚ zu erkennen‚ ebenso wie den Verfall des schlichten Gemeinsinnes; sein Irrtum war, dass er die Meinung hegte, er könne im Verein mit wenigen Gleichgesinnten durch die Macht seines Wortes allein diesem Verfalle steuern und demgemäss auch jene Mängel abschaffen oder unschädlich machen – ein Irrtum, den er mit seinem Leben bezahlte‚ dadurch seine Gesinnungstreue beweisend. Dagegen dürfen die Lobsprüche, welche er der athenischen D. zollt, nicht als unparteiische Urteile zu einer Charakteristik derselben verwendet werden, ebensowenig wie die hämischen Bemerkungen der ps.-xenophonteischen Schrift; nicht aus niedriger Lobhudelei gegenüber dem ‚süssen Pöbel‘‚ dem er bisweilen recht bittere Wahrheiten zu sagen verstand, hat Demosthenes die Wahrheit gefälscht – indem er die D. als vollkommenste Staatsform preist und ihre Principien darlegt, zeichnet er eigentlich ein Idealbild derselben, wie sie sein sollte, um an diesem Ideale, das er in der Blütezeit Athens im 5. Jhdt. verwirklicht meinte, seine Mitbürger zu erheben und in ihnen den opfermutigen Gemeinsinn ihrer Väter zu entflammen‚ und in diesem Sinne sind seine Äusserungen über die D. aufzufassen. Gemäss der allgemeineren Ansicht nahm auch er nur drei Verfassungsformen an (XXIII 66. XIX 184), aber nur die D. als richtige anerkennend setzt er ihr die beiden anderen gewissermassen als Einheit gegenüber, indem er die Monarchie als eine auf die Spitze getriebene Oligarchie ansieht (XV 17ff. mit VI 23ff. XIX 184): eines unterscheidet die D. von diesen beiden, nämlich dass sie die einzige Verfassungsform ist, in welcher die Gesetze, die das Volk sich selbst gegeben hat, über alle Bürger gleichmässig herrschen, im übrigen ihnen ihre volle Freiheit wahrend – eine Freiheit und eine Gleichheit, welche in jenen anderen Staatsformen, wo statt des Gesetzes die Willkür des (oder der) Herrscher waltet, undenkbar sind (XXIV 75ff. I 23. VI 25; ähnlich auch Aischin. III 2). Da nun den Hellenen die Liebe zur Freiheit von Natur angeboren ist (XIV 31) und nur die Barbaren Knechtschaft ertragen (XV 15. XXI 106), so steht nur letzteren die Despotie zu, während die D. allein die der Hellenen würdige Staatsform sein kann und dementsprechend kurzweg als πoλιτεία bezeichnet wird (XXIII 141. XXII 45) – ein Gebrauch, den sich auch Aristoteles zu eigen gemacht hatte. Deshalb kann es auch zwischen D. einer- und Oligarchie oder Monarchie andererseits keine Freundschaft geben, welche für erstere verhängnisvoll wäre (XV 18), sondern nur Misstrauen und Feindseligkeit (ebd. 19. VI 23). Was nun die Gesetze der D. betrifft, so müssen sie nach Demosthenes dem Geiste der Verfassung entsprechen (XXII 30), einfach, allgemein verständlich und unzweideutig sein (XXIV 68), daher dürfen sie einander nicht entgegengesetzt sein (ebd. 32); strenge Aufrechthaltung derselben ist für die D. eine Pflicht der Selbsterhaltung (XXI 224)‚ und es darf keine Übertretung weder [363] durch einen Bürger‚ sei er noch so hoch um den Staat verdient (XXIV 131ff.), noch durch das Volk selbst mittels eines Beschlusses (ebd. 30. XXIII 86) zugelassen werden. Als Hüter der Gesetze und somit auch der Verfassung sind die Gerichte bestellt, deren Stärke durch die grosse Zahl der Mitglieder gesichert werde (XXI 140); da sie nicht sowohl der Privatklagen, als der Staatsvergehen wegen eingesetzt seien (XVIII 123), so dürften sie wohl bei ersteren entsprechend dem Geiste der D. mild sein (XXII 51. XXIV 192), unnachsichtig streng dagegen müssten sie die Staatsverbrechen ahnden. Als Palladium der Gesetzmässigkeit und folglich der Erhaltung der D. müsse die Klage wegen Gesetzwidrigkeit (γραφὴ παρανόμων) angesehen werden (XXIV 154), weiter die Zulässigkeit freier Kritik der Wirksamkeit der Beamten (XXII 31) und endlich die Vervielfältigung der Processformen bei gemeinschädlichen Verbrechen, damit jedem die Anklage gegen den Schuldigen erleichtert würde (ebd. 25). Am strengsten achtet die D. auf den Schutz jedes einzelnen Bürgers gegen Vergewaltigung (XXI 221), indem sie ihm durch die Klage wegen ὕβρις seine persönliche Unverletzlichkeit gewährleistet. Vgl. Hug Demosthenes als politischer Denker‚ Studien aus dem class. Altertum‚ Freiburg 1882, 51ff.

Polybios

Der letzte Politiker des freien Hellas, Polybios‚ hat bei Beschreibung des römischen Staatswesens eine kurze und wenig selbständige Darstellung der verschiedenen Verfassungsformen und ihres regemässigen Kreislaufes (ἀνακύκλωσις) geliefert (Polyb. VI 3, 9). Auch er unterscheidet, wie Platon und Aristoteles‚ drei Haupformen‚ Königtum, Aristokratie und D., daneben drei ihnen gleichberechtigte Nebenformen, Monarchie oder Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie. Letztere Bezeichnung kommt zuerst bei ihm vor und entspricht der ἔσχατος oder ἄκρατος δημοκρατία der classischen Schriftsteller; ein anderer Name, auch bei ihm zuerst vorkommend, ist χειροκρατία, d. h. Faustherrschaft, für dieselbe Verfassung. Die gegenseitige Folge der verschiedenen Formen schien ihm streng geregelt: jedes Paar verwandter Verfassungen ist zeitlich verbunden, und zwar folgt stets die schlechtere Form der besseren‚ und so verläuft die Entwicklung jedes Staates vom Königtum bis zur masslosesten Volksherrschaft, um wieder in die Monarchie einzulaufen und von da den Kreislauf von neuem zu beginnen. Wenn in dieser Beziehung Polybios mit nur einer Abweichung dem Beispiel Platons (im Staate) trotz der berechtigten Kritik des Aristoteles folgt, so knüpft er an letzteren an, indem er vor allen Staatsformen der gemischten Verfassung den Vorzug giebt (VI 3, 7), nur dass er sie nicht aus oligarchischen und demokratischen Bestandteilen allein, wie sein Vorgänger, zusammensetzt, sondern als Kind des hellenistischen Zeitalters ihnen noch das monarchische Element hinzufügt (solches war auch das Ideal der Stoiker, Diog. Laert. VII 131), ohne einen Widerspruch darin zu fühlen, dass dasselbe wie in Sparta durch die zwei lebenslänglichen Könige, so in Rom durch die zwei jährigen Consuln vertreten sein soll (VI 10, 8; 12, 9). Für die D. charakteristisch ist nur, dass er mit diesem Namen die bessere, gemässigtere Form der Volksherrschaft [364] bezeichnet, in der das Regiment in den Händen der erprobtesten Bürger liegt und die zwei Principe der ἰσηγoρία und παῤῥησία hoch gehalten werden; ihr Sturz erfolgt durch den Ehrgeiz und Übermut der Reicheren, welche durch verschiedene Mittel das niedere Volk ködern und verderben, um es zu einem gefügigen Werkzeug in ihren Händen zu machen; denn letzteres, gewöhnt auf fremde Kosten zu leben und durch Armut von den Ehrenrechten im Staat ausgeschlossen‚ zieht es schliesslich vor, statt sich füttern zu lassen von den reichen Herren‚ sich durch deren Vertreibung oder Tötung in Besitz ihrer Güter und Rechte zu setzen – dies ist die sog. Cheirokratie (VI 9‚ 3–9). Man merkt selbst der äusserst summarischen Darstellung des Schriftstellers an, dass man es hier mit gänzlich verschiedenen Zuständen zu thun hat, als denen, von welchen Platon und Aristoteles ausgingen; an Düsterkeit übertrifft das Bild selbst die gehässige Zeichnung der D. bei dem oligarchischen Verfasser der ps.-xenophonteischen Athenerpolitie; ‚wüste Wirtschaft‘ ist das einzige Praedicat, das man selbst der besseren Form der polybianischen D. beilegen kann‚ von seiner Cheirokratie ganz abgesehen‚ die gar keinen Anspruch mehr auf den Namen einer Staatsform erheben kann – ein beredtes Zeugnis für die inneren Verhältnisse der hellenischen Staaten im 3. Jhdt. Unter den Römern braucht nur Cicero erwähnt zu werden, der aber keinen einzigen selbständigen Gedanken vorbringt, sondern getreu dem Polybios folgt (de rep. I 26ff.; eine Kritik dieses Ideals bei Tac. ann. IV 33). Vgl. Hildebrand Geschichte und System der Staats- und Rechtsphilosophie I 523ff.

Neuzeitliche Forschung

II. Die Ansichten der neueren Forscher über die D. (speciell die athenische) waren seit den Zeiten der Renaissance stark beeinflusst durch die Autorität des xenophontischen Sokrates, des Platon und Aristoteles und neigten im allgemeinen mehr dem lykurgischen Sparta und seiner Aristokratie zu. Erst infolge der Ideen des 18. Jhdts. und der Staatsmänner des Revolutionszeitalters fingen die Sympathien an, sich mehr den demokratischen Principien Athens zuzuneigen, obgleich auch manche Vertreter der Egalitätslehre (wie z. B. Maehly) ihr Ideal eher im lykurgischen Staate mit seiner Gütergleichheit und anderen socialen Institutionen verwirklicht fanden. Dem englischen Historiker Thirlwall gebührt die Ehre, zuerst in consequenter Weise und zusammenhängender Darstellung Athen und seine D. energisch in Schutz genommen und deren grosse Leistungen auf dem Gebiete der Politik, wie der Cultur hervorgehoben zu haben. Seine Stimme verhallte aber ungehört gegenüber dem monumentalen Werke K. O. Müllers, welches die glänzendste Verherrlichung des Doriertumes und dessen Hauptvertreter Sparta als leitenden Gedanken durchführte; wer diesen voll und ganz uneingeschränkt annahm, konnte kein rechtes Herz mehr haben für die diametral entgegengesetzte Verfassungsform Athens. Diesem Ideal aber trat bald darauf G. Grote entgegen‚ die Gedanken seines Landsmannes aufnehmend und vertiefend; nicht sowohl Gelehrter, als Politiker, und zwar in einem mit seit langer Zeit gefestigter freier Constitution begabten Lande, war er ohne Zweifel [365] viel mehr als seine Vorgänger in stand gesetzt, die verwickelten Fragen der Verfassung und Verwaltung und überhaupt der inneren Geschichte in der athenischen D. zu übersehen und zu beurteilen – er brachte ihnen ein lebendiges Verständnis entgegen. Gegenüber diesem Vorzuge hatte er den Nachteil, dass er als Politiker der Neuzeit den altväterisch-simplen Bildungen, wie sie gerade die Vertreter der πάτριος πολιτεία der Aristokratie oder Oligarchie in Hellas darboten, keinen Geschmack abgewinnen, als Parteimann‚ als entschiedener Whig nach innerster Überzeugung nicht umhin konnte, alle seine stark ausgeprägten Sympathien der entwickelten D. und ihrem glänzendsten Vertreter‚ dem athenischen Staate, zuzuwenden unter energischer Verurteilung aller ihrer Gegner. Seine History of Greece hört bisweilen auf, eine unparteiische Geschichte zu sein, und nimmt den Charakter einer leidenschaftlichen, mit allen Mitteln einer scharfsinnigen, im politischen Kampfe geschulten Dialektik durchgeführten Verteidigungsrede zu Gunsten seines Staatsideales an – sein sonst so heller Blick wird bisweilen durch Parteileidenschaft ganz getrübt. Doch hat Grotes Werk, wenigstens ausserhalb Englands, kaum einen solchen Erfolg gehabt, jedenfalls keinen so nachhaltigen Einfluss auf die Ansichten der Gelehrten, wie insbesondere des Publicums geübt, wie die weitverbreitete (wohl in alle Hauptsprachen übersetzte), durch Form nicht minder‚ als durch Inhalt ausgezeichnete Griechische Geschichte von E. Curtius. Von Begeisterung und Liebe entflammt gegenüber der unvergänglichen Herrlichkeit der hellenischen Cultur, Kunst und Dichtung, wurde er hingerissen von unbegrenzter Bewunderung zu dem ‚Auge von Hellas‘, Athen‚ und gereift inmitten der demokratischen Strömungen der dreissiger und vierziger Jahre, war er sehr geneigt, die Blüte der von ihm so hoch geschätzten Cultur als unmittelbaren Ausfluss des Sieges der D. in Athen zu betrachten. Diese Begeisterung, in die edelste Form und Sprache gekleidet‚ wirkte und wirkt noch immer fort auf zahllose Leser und flösst ihnen unmerklich dieselben demokratischen Sympathien ein, welche der Verfasser hegte – wenn Grotes Geschichte einer Verteidigungsrede der athenischen D. gleicht, so ist diejenige von Curtius der glänzendste Panegyrikus auf sie, die erste reizt häufig zum Widerspruch, die letztere reisst den Leser hin. Gegen eine derartige Darstellung konnte die viel gemässigtere, ja bisweilen tadelnde, alles nüchtern abwägende Beurteilung der demokratischen Regierungsform durch Schömann (in seinen Griechischen Altertümern) nicht recht zur Geltung gelangen (trotzdem sie wohl der Wahrheit am nächsten kommt), und die überschwengliche Verherrlichung der hellenischen D. und der athenischen insbesondere war fast zu einem Glaubensartikel geworden – da machte die Reaction sich geltend in dem Werke von Jul. Schvarcz (Demokratie von Athen). Ebenso masslos zwar, wie die frühere blinde Verherrlichung, war dieser schonungslose Angriff und rief einen Sturm der Entrüstung hervor unter den Anbetern des selbstgeschaffenen Idealbildes, aber die vorsichtigeren Forscher mussten zugestehen, dass neben vielem Falschen und Unhaltbaren, neben [366] überspannten, bisweilen geradezu lächerlichen Anforderungen an den antiken Staat auch viel Wahres und Überlegenswertes vorgebracht sei und dass jedenfalls die Sophismen des Anklägers keineswegs grösser seien, als diejenigen der Verteidiger der athenischen D. Nur Holm hat es in seiner Griechischen Geschichte versucht, nicht nur die übertriebene Meinung von der Vorzüglichkeit der athenischen D. aufrecht zu erhalten, sondern alle seine Vorgänger in dieser Beziehung zu überbieten; während selbst E. Curtius einen starken Verfall derselben im 4. Jhdt. anerkennt, stellt er ihn nicht nur in Abrede (seltsamerweise beruft er sich dabei hauptsächlich auf die Ähnlichkeit der Anklagen, die im 4., wie im 5. Jhdt. gegen die D. erhoben würden, und die natürlich gleicherweise falsch sein müssten), sondern schreibt selbst der D. des 3. Jhdts. dieselbe Lebenskraft und ethische Wirkung, dem Demos denselben hohen Geist, wie im 5. zu – dagegen genügt es, auf die Charakteristik der D. bei Polybios zu verweisen. Meistens dagegen waltet in den Ansichten der neueren Forscher eine gemässigtere, Vorzüge und Mängel der D. genauer abwägende, ihren verschiedenen Erscheinungsformen gerechter werdende Richtung, welche sich der Schömannschen Schätzung nähert‚ so in den Geschichtswerken von Busolt, Beloch, Pöhlmann.

Zusammenfassung

III. Bei so verschiedener Beurteilung der D. von seiten der hervorragendsten Historiker fällt es schwer‚ ein endgültiges Urteil über sie zu fällen. Vor allem ist es ein Grundfehler, eine gewisse Verfassungsform für alles Gute oder alles Schlechte im Leben eines Volkes verantwortlich zu machen; in dieser Hinsicht fallen hauptsächlich die Sitten, der Charakter und die Begabung der Herrscher oder der regierenden Classe ins Gewicht, weiter die Gesinnung und ethische Bildung des Volkes selbst, endlich eine Reihe äusserer und innerer Umstände‚ welche man mit dem Namen Entwicklungsgeschichte des Volkes benennen darf und die mit den zwei zuerst genannten Factoren in Wechselwirkung treten. Ein Fehler ist es also‚ die unvergleichliche Cultur Athens als directes Resultat des Aufschwunges der D. zu betrachten und infolge dessen überhaupt D. mit Cultur‚ wie Oligarchie mit Uncultur oder Stagnation gleichzusetzen. Sowohl an den Tyrannenhöfen von Samos und Syrakus, ja von Athen selbst, wie an den Königshöfen Alexanders d. Gr. und seiner Diadochen hat Dichtung, Kunst, Wissenschaft, höhere Cultur überhaupt eifrigste Pflege gefunden, und die oligarchisch regierten Staaten Korinthos und Aigina haben es an Gewerb- und Kunstfleiss‚ an Handel und Seemacht lange mit Athen aufgenommen‚ ja es überflügelt‚ bis die Waffengewalt gegen sie den Ausschlag gab. Die unerreichbare Blüte des perikleischen Zeitalters darf keineswegs der D. zu gute geschrieben werden, sondern neben dem Zusammentreffen glücklicher Umstände der genialen Staatskunst des Mannes, der mit fast monarchischer Gewalt an der Spitze des Staates stand; sonst hätte ja die vollentwickelte D. eine noch grössere Blüte hervorbringen müssen, und doch ist in ihr kein einziger Dichter ersten Ranges erstanden, und ein Platon erhoffte die Verwirklichung seiner Ideale eher von dem Tyrannen Dionysios, als von dem [367] feinsinnigen Demos von Athen – nur die kunstmässige Rhetorik samt Sophistik kann als die Frucht der vollentwickelten D. von Syrakus, wie von Athen bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass selbst in Athen die D. der höheren Bildung und Cultur eher abhold war (wie das ja aus dem demokratischen Principe möglichst voller Gleichheit mit Notwendigkeit folgt, keine stets nur wenigen zugängliche Bildung zu dulden, welche die letzteren zu ‚besseren‘ Leuten machen und sie über die Masse ihrer Mitbürger erheben könnte), wenn man die grossen Leistungen der Athener der D. zu gute schriebe, müsste man ihr consequenterweise auch die Greuelscenen von Kerkyra (Thuc. III 81) und in Argos (Diod. XV 58) zur Last legen – die Vorzüge würden reichlich durch die Mängel aufgewogen sein. Ein anderer Fehler in der Abschätzung der antiken D. entsteht durch unwillkürliche Begriffsunterschiebung: es wird der Unterschied von der modernen D. nicht scharf genug ins Auge gefasst und die Sympathien, die letzterer gelten, unvorsichtigerweise auf erstere übertragen. Und doch ist der Unterschied gewaltig! Man braucht nur auf die gerade in demokratisch regierten Staaten besonders zahlreiche Classe der Sclaven und der Beisassen, welche je den grössten Bestandteil des Arbeiterstandes, der Handwerker, Krämer, Matrosen, ja Kauffahrer in sich begriff, zu erinnern, um die Entfernung von den modernen demokratischen Principien zu ermessen. Und solches Verhältnis war keine zufällige Abweichung von den Grundsätzen der D. – es war ihre unumgänglich notwendige Grundlage; die antike D. war eben nicht nur Volksherrschaft, sie war unmittelbare Regierung des Volkes, und um sich deren Obliegenheiten voll widmen zu können, musste das Volk in seinen einzelnen Mitgliedern die nötige Musse (σχoλή), die nötige Befreiung von eigenen Geschäften, von privaten Vermögenssorgen besitzen, wie das ja Aristoteles bei seiner Beurteilung der verschiedenen Formen der D. so scharf hervorhebt – dazu genügt es aber nicht, den Bürgern für ihre Ausübung der Regierungspflichten Diäten auszusetzen, denn jeder Staat fordert zu seiner Existenz einen gewissen Complex geleisteter Arbeit, und wenn die Bürger sie nicht zu leisten im stande sind, so ist eine nichtbürgerliche, ja unfreie Classe in bedeutender Händezahl notwendig, um sie zu verrichten (vgl. Aristot. Polit. IV [VII] 1322 b 34). In dieser Hinsicht lagen die Verhältnisse im demokratischen Athen nicht viel anders, als in dem für das Urbild der Aristokratie geltenden Sparta, und dieses galt darum dem scharfen Blick des besten Staatskenners, Aristoteles, auch nicht als Repraesentant der Oligarchie oder strengsten Aristokratie, zu der es nur die modernen Anschauungen gestempelt haben; alle Spartiaten nannten sich nicht umsonst Homoien, so sehr auch die athenischen Bürger auf ihre ἰσονομία pochten, und jedem von ihnen waren die höchsten Ämter der Geronten und Ephoren eröffnet, und jeder konnte sich, wie z. B. Brasidas oder Lysandros, zu hohem Ansehen aufschwingen. Nur der vielleicht zu überwiegende Einfluss, der dem Alter und der Erfahrung auf die Staatsleitung eingeräumt war, und die für jeden Bürger obligate Erziehung und Zucht waren es, welche jedem [368] Spartiaten das Ansehen eines καλὸς κἀγαθός und dem Staate den Ruf des ‚bestregierten‘ in Hellas verschafften, und im Gegensatze zu der Regierung eines rohen und übermütigen Pöbels und der Herrschaft feiler und nur auf ihren eigenen Vorteil sinnender Demagogen und Sykophanten konnten auch keineswegs oligarchisch gesinnte Männer, wie Isokrates und Platon, sich von der spartanischen Verfassungsform angezogen fühlen, obgleich sie, ebenso wie Aristoteles, keineswegs blind waren gegen deren Fehler und hauptsächlich gegen die Einseitigkeit der spartanischen ἀγωγή. Aber immerhin irgendwelche Erziehung und Zucht war besser, als gar keine, und die grosse Menge, welche in der athenischen Ekklesie und Heliaia ihre Hoheitsrechte ausübte, hatte von beiden (wenigstens im 4. Jhdt.) nicht die geringste Spur und liess sich von Leuten leiten, von denen Aristophanes und andere Komoediendichter zwar nur eine Carricatur gezeichnet haben, die aber noch übertroffen wurde von einem Demades und Consorten. Denn es muss nochmals nachdrücklichst auf das zweite Unterscheidungsmerkmal der antiken D. hingewiesen werden, dass nämlich in ihr das Volk nicht durch Wahlen von Vertretern oder Beamten die Staatsleitung mittelbar beeinflusste, sondern über alle irgendwie wichtigen Staatsangelegenheiten nach Gutdünken entschied, ohne irgendwelche geschäftliche Vorkenntnisse oder klare Begriffe zu besitzen; so lange es sich nur um die innere Verwaltung eines winzigen Staates oder vielmehr (nach unseren Begriffen) einer Gemeinde handelte, mochte ihre Leitung ohne grobe Missgriffe vor sich gehen, aber wenn Fragen der grossen Politik zur Entscheidung vorlagen, da kam es zu den verhängnisvollsten Entschlüssen, und auch diese wurden meist zu spät gefasst oder nicht mit nötiger Folgerichtigkeit durchgeführt – nicht umsonst klagten zwei der glühendsten Anhänger der D., Kleon und Demosthenes, sie der Unfähigkeit an, ein grösseres Reich zu regieren oder überhaupt die auswärtige Politik zu leiten (Thukyd. III 37. Dem. VIII 42). Man wird sich darüber nicht wundern, wenn man sich vorstellt, was für Beschlüsse eine moderne Volksversammlung über ähnliche Fragen zu Tage fördern würde. Die Verteidiger zwar der antiken D. führen dagegen stets die hohe Cultur der Athener an, die ja einem Aischylos lauschten und einen Demosthenes verstanden. Ob sie aber sie wirklich verstanden oder nur ihr Vergnügen am Sehen und Hören fanden, ist noch sehr die Frage; möge man die Cultur in Athen sich noch so ausgebreitet vorstellen, gerade die gebildeteren Classen der Bürger hielten sich von der Staatsleitung geflissentlich fern oder besassen den geringsten Einfluss auf dieselbe, und die Entscheidung lag bei der grossen Menge, die an Bildung wohl eher zurückstand hinter der entsprechenden Volksschicht in den am weitesten in der Cultur vorgeschrittenen Staaten der Jetztzeit. Und dabei muss man eingedenk bleiben des heissblütigen, jeder Leidenschaft leicht zugänglichen Charakters eines südlichen Volkes, dessen sich seine Leiter, gute wie schlechte, wohl bewusst waren und den sie nur zu gut verstanden zu ihren Zwecken auszubeuten; nicht nur alle Geschäfte und Massregeln von irgend welcher Wichtigkeit unterzog [369] der gegen seine eigenen Beamten stets misstrauische Demos seiner souveränen Entscheidung, sondern auch die von ihm selbst erlassenen Gesetze beugte er seiner schrankenlosen Willkür, und nur zu oft mussten den ‚volkstümlichen‘ (δημοτικός) Interessen die höchsten Forderungen des Rechtes, ja des Staatswohles selbst zum Opfer fallen – an Parteilichkeit, an ausschliesslicher Sorge für das Wohlsein der regierenden Klasse auf Kosten der übrigen hatte die vollkommene D. der engherzigsten Oligarchie nichts vorzuwerfen, und wenn Scenen, wie bei den gröberen und roheren Dorern auf Kerkyra und in Argos, bei den feineren Athenern nicht vorkamen, so war das summarische Verfahren gegen die Mytilenaeer (nur durch Rücksichten auf eigenen Vorteil gemildert, Thukyd. III 36f.) und das Hinschlachten der Melier (ebd. V 84f.) nicht um ein Haar sittlich besser, weil es in eine Art rechtlicher Form gekleidet war. Nicht unzutreffend ist der antike Vergleich des Demos mit einem Tyrannen, der allen seinen Lüsten frönt, sich von seinen Schmeichlern, den Demagogen, zu jeder Schlechtigkeit verführen lässt, welche ihm nützen soll und in Wirklichkeit nur jenen nützt, der nach Laune seine Gunst verschenkt oder Verderben sendet, und zwar jenen am meisten, welche er eben aus tiefster Niedrigkeit erhöht hat (Aristot. Polit. VI [IV] 1292 a 16f.). Danach erscheint im Vergleich mit der modernen die antike D. zwar in einer höchst wichtigen Beziehung beschränkter oder oligarchischer, durch ihren Aufbau auf einer breiten Basis der Knechtung oder wenigstens (factischen) Minderberechtigung der arbeitenden Classe in ihrem vorwiegenden Bestandteil, dagegen aber in allen ihren Principien bei weitem vorgeschrittener, bis zur äussersten Consequenz durchgeführt; man kann wohl behaupten, dass keine moderne D. von einem Athener des perikleischen, geschweige des demosthenischen Zeitalters als solche anerkannt worden wäre. Demzufolge ist es nicht zu verwundern, dass die grössten politischen Denker des Altertums einig waren in der Verurteilung der D., wenigstens der äussersten oder vollkommensten; denn am vollkommensten ist jedes Object, wenn es seinen Endzweck, sein τέλoς, um mit Aristoteles zu reden, erreicht, sein Princip bis zu den äussersten Grenzen seiner natürlichen Entwicklung durchgeführt hat. Folglich ist auch unter den vier (oder mit Einrechnung der sog. Politie fünf) Formen der D., welche dieser genaueste Forscher unterscheidet, im strengsten Sinne gefasst, nur die letzte, die er fast nicht mehr als Verfassung ansehen will, die einzige reine D., während alle übrigen eine geringere oder grössere Beimischung aristokratischer oder oligarchischer Elemente enthalten, entweder de iure oder de facto; denn was bedeutete es thatsächlich, wenn zwar alle Bürger selbst an den wichtigsten Souveränetätsrechten teil hatten, aber aus Mangel an freier Zeit nicht zur regelmässigen Ausübung derselben kamen, und die Volksversammlungen, wenige besonders wichtige Fälle ausgenommen, nur von den begütertsten Leuten besucht wurden, oder wenn zwar die Gesamtbürgerschaft ihre (unbesoldeten) Beamten wählte (selbst ohne gesetzlich bestimmten Census) und von ihnen Rechenschaft forderte, sonst aber sie [370] innerhalb der gesetzlichen Schranken frei schalten liess in allen Verwaltungszweigen. Volksregierung, D. im antiken Sinne des Wortes, konnte man solche Verfassung eigentlich nicht nennen, und wenn man sie als ‚gemässigte‘ D. bezeichnet, so hätte man sie auch füglich ‚eingeschränkte‘ Oligarchie betiteln können. Richtiger wäre gesagt, dass zwischen der äussersten Oligarchie und der unverfälschten D. es eine Reihe Übergangsformen giebt, die sich nach ihren Grundprincipien bald der einen, bald der anderen mehr nähern. Infolge dessen kann man diese untergeordneten Formen auch nicht als gleichberechtigte oder als im strengsten Sinne gleichzeitige ansehen; es waren eher einzelne Haltepunkte auf der fortschreitenden Entwicklung von der Adelsherrschaft zur Volksregierung und der rückläufigen von der letzteren zur Oligarchie – etwa in der Mitte stand, die beiderseitigen Principien nach Auswahl combinierend, die von Aristoteles bevorzugte Politie. Dass dem so war, bezeugt auch dieser Staatslehrer, indem er allen erwähnten Zwischenformen (ausser der Politie) nur eine precäre Existenzfähigkeit im Vergleich mit reiner Oligarchie oder D. zuschreibt und selbst jener nur unter besonders günstigen Verhältnissen und bei besonders tüchtiger Staatsleitung (Polit. VI [IV] 1296 a 22f.) – bei consequent durchgeführten Grundsätzen steht eine Verfassung fester, als bei Compromissen oder einer Schaukelpolitik zwischen verschiedenen Interessen. Damit soll nicht behauptet werden, dass alle hellenischen Staaten die bezeichnete Entwicklung durchgemacht (obgleich wohl von keinem das Gegenteil sich beweisen lässt – wohl jeder ist irgend wann bis zur äussersten D. gelangt), noch weniger natürlich, dass bei dieser Entwicklung überall alle Zwischenformen nacheinander stattgefunden hätten; sprunghafter Fortschritt und scharfe Reaction lassen sich auch aus unserer spärlichen Überlieferung nachweisen; dieses, sowie die verschiedene Schnelligkeit in der Verfassungsentwicklung hatte zur notwendigen Folge, dass die verschiedenen hellenischen Staaten zur gleichen Zeit auf verschiedener Entwicklungsstufe standen und dass der einzelne bei der oder jener von ihnen so lange verweilte, dass diese eben als die normale Verfassung für eben dieses Staatsgebilde gelten konnte (wie das für die ‚lykurgische‘ Verfassung in Sparta der Fall war) – dadurch erhielten auch diese Zwischenformen die Berechtigung, als gewissermassen selbstständige Verfassungsarten angesehen zu werden. Dass sie aber im Grunde nur Übergangsstufen in der zeitlich progressiven Entwicklung waren, lässt sich am besten an dem athenischen Staate nachweisen; nicht nur liegt hier eine vollständigere Überlieferung über die verschiedenen Phasen der Entwicklung vor, sondern war auch letztere im allgemeinen stätiger, als in anderen Staaten, wenn man von zwei, übrigens sehr kurzlebigen Reactionen zu Ende des peloponnesischen Krieges absieht. Solches lässt sich am besten an der Hand der Ἀθην. πολ. des Aristoteles verfolgen (durch welche die Darstellung bei Jevons Development of the athenian democraty, welche übrigens die hier in Betracht kommenden Punkte wenig berührt, zum Teil antiquiert ist). Es kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dass die neuerdings bekannt [371] gewordene Verfassung des Drakon (s. d.) in den wichtigsten Punkten mit der sog. Politie bei Aristoteles übereinstimmt, so darin, dass das uneingeschränkte Bürgerrecht nur den Hopliten verliehen war, dass die wichtigeren Ämter nach dem Census besetzt wurden, die geringeren (zu denen auch die Ratsstellen gehörten) in einer durch das Los bestimmten Reihenfolge allen Vollbürgern zugänglich waren, der Nichtbesuch der Ratssitzungen für die Reicheren mit grösserer Strafe belegt war, als für die Ärmeren (Aristot. Polit. VI [IV] 1294 b 3. 1297 a 22. b 1). Im weiteren Verlaufe der Entwicklung entspricht die solonische Verfassung der ersten Form der D., in welcher zwar alle Staatsangehörigen an den Souveränetätsrechten teil haben, aber die meisten Geschäfte den nach einem Census bestellten Beamten vorbehalten sind, während die Volksversammlung neben der Entscheidung der allerwichtigsten Staatsangelegenheiten nur das Recht, die Beamten zu bestellen und sie zur Rechenschaft zu fordern, besitzt (ebd. VII [VII] 1318 b 28). Die kleisthenische Verfassung und die auf die Perserkriege unmittelbar folgenden Reformen bis auf diejenigen des Ephialtes und Perikles dürften wohl ungefähr den nur sehr allgemein charakterisierten und nicht schärfer abgegrenzten Formen der D. gleichgesetzt werden, die Aristoteles als zweite und dritte nennt, indem er als ihr auszeichnendes Merkmal die Herrschaft des Gesetzes anerkennt (ebd. VI [IV] 1292 b 1). Seit dem Ende des Perikles blühte rasch infolge der Thätigkeit verschiedener Demagogen die extreme D. empor‚ welche nach kurzen Unterbrechungen in den ersten Jahrzehnten des 4. Jhdts. zu vollem Siege gelangte; nicht nur traf hier das entscheidende Merkmal zu, das Übergewicht des Volkswillens oder seiner augenblicklichen Laune, wie sie sich in ad hoc erlassenen Einzeldecreten offenbarte, über das Gesetz, sondern auch die letzte Schranke wurde durchbrochen, indem der Demos selbst der am meisten demokratischen Behörde, dem Rate‚ seine Competenzen teils raubte‚ teils beschnitt und alles seiner eigenen souveränen Entscheidung vorbehielt (ebd. VII [VI] 1317 b 19f., speciell 32f.) – dass dieser letzte Schritt gerade im Anfang des 4. Jhdts. gethan wurde, ist man berechtigt aus Aristoteles Ἀθην. πολ. zu erschliessen, da der Verfasser häufig auf eine früher im Vergleich zu seiner Zeit grössere Machtvollkommenheit des Rates hinweist, wobei man doch wohl kaum an eine Reminiscenz grossväterlicher Institutionen denken darf (v. Wilamowitz-Moellendorff Aristoteles u. Athen I 210ff.). Diese Einschränkung der Competenz des Rates war die natürliche (so auch Aristot. a. a. O.) Folge der von Agyrrios bis zu den äussersten Consequenzen durchgeführten Besoldung des Volkes für die Ausübung seiner Herrscherrechte (des sog. ‚Kittes der D.‘ nach dem Ausspruche des Demades, Plut. quaest. Plat. 10, 4) und des durch Eubulos in schamlosester Weise ausgeübten Systems der Theorika, d. h. der Volksernährung und Volksbelustigung auf Kosten des Staates oder, genauer gesagt, auf Kosten des begüterten Teiles der Bürgerschaft unter Hintansetzung aller wichtigsten Interessen und Forderungen des Staatswohls. Über die in den kleineren Staaten von Hellas vorherrschenden Verfassungsformen und bisweilen uns bezeugten Änderungen [372] derselben sind die überlieferten Nachrichten so spärlich (einiges ist zusammengetragen worden von J. Schvarcz im Vorwort zum II. Bande der Demokratie), dass es unmöglich erscheint, nicht nur eine Verfassungsgeschichte derselben zu schreiben, sondern auch für irgend welche Zeit das Entwicklungsstadium, in welchem jedes dieser Staatsgebilde sich befand, genauer zu bestimmen (einen nicht ganz gelungenen Versuch, die griechischen Staaten nach ihren Verfassungen zu ordnen‚ hat Greenidge Handbook of greek constitutional history, London 1896 gemacht, ohne im stande zu sein, die feineren Unterschiede, wie sie Aristoteles festgestellt hat‚ in seiner Darstellung zu berücksichtigen, da doch, was gemeiniglich unter dem Namen D. ging, im einzelnen grosse Verschiedenheiten aufweisen konnte). Gegenüber dem oben hervorgehobenen principiellen Unterschiede zwischen der antiken und der modernen D. muss betont werden, dass sie in einem übereinstimmen – beide sind die Producte einer Naturnotwendigkeit, beide existieren φύσει, nicht θέσει, nicht nach willkürlichen Menschensatzungen; dies hat von allen antiken Denkern am schärfsten Aristoteles erkannt und ausgesprochen, indem er meinte, dass je nach Überwiegen dieser oder jener Volksclasse auch die Staatsform eine verschiedene sein müsste, und zwar nicht in den Haupterscheinungsformen, sondern bis hinab auf die kleinsten Differenzen, wie z. B. die vier Formen der D. (Polit. VII [VI] 1318 b 6f. VI [IV] 1296 b 25), so dass durch Gesetzgebungsmassregeln eine Verfassung nur wenig in Überführung zu einer vollkommeneren aufgebessert werden könne und auch dies nicht in allen Fällen (ebd. VI [IV] 1296 b 10). Da er unter Verschiedenheit der socialen Classen hauptsächlich den Gegensatz von reich (εὔποροι) und arm (ἄποροι) versteht (ebd. VI [IV] 1296 b 16, vgl. 1291 b 17. VIII [V] 1302 a 1), wobei auch auf den Grundbesitz gegenüber dem Capital bedeutender Nachdruck gelegt wird (ebd. VII [VI] 1319 a 6)‚ so war der antike Staatslehrer nicht weit entfernt von der modernen Doctrin, wie sie z. B. L. v. Stein (Entwicklung d. Staatswiss. bei den Griechen, Wien 1879, 16ff.) vertritt, dass ‚die Verschiedenheit und der Wechsel des Staatslebens erzeugt wird durch zwei Factoren, die Persönlichkeit an sich und den Besitz, dessen Macht zwar ewig gleich, dessen Verteilung aber ewig eine verschiedene ist, folglich alle Wissenschaft vom Staate da beginnt, wo man seine Zustände als durch den nie ruhenden Einfluss des letzteren auf die ewig an sich gleiche Natur des ersteren zu erkennen beginnt.‘ Leider hat Aristoteles diesen ihm vorschwebenden Gedanken nicht consequent zu einem Aufbau der Verfassungsgeschichte der verschiedenen hellenischen Staaten ausgenutzt, und die neuere Wissenschaft kann diesen Mangel nicht ersetzen, da über der Wirtschaftsgeschichte speziell der für die Entstehung und Entwicklung der D. in Betracht kommenden Zeit (7. bis 5. Jhdt.) ein Dunkel schwebt‚ das durch scharfsinnige Hypothesen nicht gelichtet werden kann.

Wenn im Obigen von Rom abgesehen worden ist, so geschah das aus dem Grunde, weil daselbst von einer Volkssouveränetät oder Regierung ausser im letzten Jahrhundert der Republik, und selbst da nur in den Theorien einiger Volkstribunen, [373] nicht die Rede sein kann – wie schon Polybios (a. a. O.) richtig erkannt hat, bestand hier eine ‚gemischte Verfassung‘ – eine Politie.

Litteratur: Ausser den schon angeführten [374] Werken und dem wenig brauchbaren Buche von Flegler Demokratie vgl. Burckhardt Griech. Culturgeschichte I 217.

Nachträge und Berichtigungen

Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Band R (1980) S. 97
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Demokratia

[2]) Die Volksherrschaft. S I.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe auch die Volksherrschaft personificiert in Bd. V,1, 135 von Waser.