RE:Daidala 6
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Kunstwerk, bes. Erzarbeit | |||
Band IV,2 (1901) S. 1991–1993 | |||
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6) Δαίδαλα wird Schol. Ven. Il. XIX 19 mit δαῆναι zusammengestellt, von den Neueren aber (Benfey Wurz.-Lexik. I 99. II 339. Pott in Kuhns Ztschr. VI 32. G. Curtius Etym. 232) von der Wurzel δαλ abgeleitet und bedeutet in den homerischen Gedichten ,Kunstwerk‘ (daher δαιδάλεος = künstlerisch), entweder ganz allgemein, oder speciell von Erzarbeiten; so auch Hesiod Theog. 581. Pind. Pyth. V 36; nur an einer Stelle (Il. XIV 179) wird D. im Sinne von ,Stickereien‚‘ gebraucht (Schol. ποικίλα πάντα), aber dieselbe bietet auch andere Anstösse im sprachlichen Ausdruck und erregt den Verdacht, dass ein compilierender Nachdichter hier fremdes Gut in unpassender Weise verwendet habe. Jedenfalls für Holz- oder Schnitzarbeit speciell lässt sich das Wort nicht nachweisen, und doch soll D. gebräuchlich gewesen sein zur Bezeichnung der uralten aus Brettern oder Baumstämmen mehr oder minder roh in Nachbildung menschlicher Gestalt geschnitzten Götteridole, die später als ξόανα bezeichnet wurden; dies behauptet Pausanias (IX 3, 2). Mag er solches auch nur aus den Gebräuchen des boiotischen Festes gleichen Namens geschlossen haben, so ist doch sein Schluss kaum abzuweisen, da doch mit diesem Worte unleugbar der Name des Daidalos zusammenhängt, der in der Überlieferung, wie auch seine angeblichen Schüler, hauptsächlich als Holzschnitzer erscheint (so schon Paus. a. a. O.); auch die gleich zu erwähnenden vierzehn D. in Plataiai erinnern lebhaft an den schon Il. XVIII 592 gerühmten χορός dieses Künstlers. Nur eine Erklärung scheint möglich zur Vermeidung dieses Widerspruches: D. bedeutet ‚eingelegte Arbeit‘ und konnte sowohl Erzarbeiten mit eingelegten Figuren (nach Art der mykeninischen Schwertklingen), als auch Holzschnitzwerke mit eingelegtem Silber oder Elfenbein bezeichnen, worauf es dann auch überhaupt für Werke der Holzschneidekunst verwendet werden konnte.
D. wurde weiter auch ein Fest in Plataiai genannt, welches zur Feier der Versöhnung zwischen Zeus und Hera eingesetzt worden war (darüber ausführlich Paus. IX 3. Plut. bei Euseb. praep. evang. III init.), richtiger wohl des ἱερὸς γάμος, da Hera hiebei den Beinamen νυμφευομένη) trug (wie sie eben in Plataiai auch τελεία hiess [Paus. IX 2, 7] als Schützerin der Ehe). Sie soll sich vor Zeus verborgen haben auf den Höhen des Kithairon (daher Ἥρα Κιθαιρωνία Eurip. Phoen. 24 mit Schol. Plut. Arist. 11. Clem. [1992] Al. Protr. 40), da habe letzterer auf Rat des Alalkomeneus (nach Pausanias des Kithairon) ein hölzernes ,Daidalon‘ angefertigt und dasselbe tief verschleiert als seine Braut Plataia, des Asopos’ Tochter (nach Plutarch Daidale), durch das Land am Fusse des Kithairon geführt; die eifersüchtige Göttin sei herbeigeeilt, aber, den Schleier der vermeintlichen Braut zerreissend, in heftiges Lachen ausgebrochen, wonach sie sich ihrem Gatten nicht mehr habe versagen können und an Stelle des Bildes auf den Brautwagen gestiegen sei, dasselbe aber doch, ihrer Eifersucht nachgebend, den Flammen übergeben habe. Zur Erinnerung daran wurde von den Plataiern an dem ,kleinere D.‘ (Δ. μικρά) genannten Feste ein Holzbild auf einem Wagen herumgeführt, das aus einer Eiche des Haines von Alalkomenai gefertigt war; ein Rabe, der zuerst eines der zu diesem Zwecke ausgestreuten Stücke Opferfleisch aufgriff und dasselbe auf einen Baum trug, bezeichnete dadurch den auserwählten Stamm. Dieses kleinere Fest wurde nach Pausanias in jedem siebenten Jahre gefeiert, obgleich er selbst zugeben muss, dass bei genauerer Nachrechnung die Zwischenzeiten nicht vollständig übereinstimmten, ja sogar weiterhin von ,den jedes Jahr bei den kleineren D. angefertigten Holzbildern‘ spricht. Augenscheinlich beruhen letztere Angaben auf irgend welcher Confusion des Periegeten; den Schlüssel dazu giebt vielleicht die Nachricht, dass die grossen D. in jedem sechzigsten Jahre gefeiert worden seien (angeblich wegen der gerade so lange dauernden Vertreibung der Plataier), und bei diesem Feste die in der Zwischenzeit angefertigten vierzehn D. eine Rolle spielten – es ist unzweifelhaft, dass man in sechzig Jahren bei sechsjähriger Zwischenzeit zwischen den kleineren D. nur zehn Bilder hätte verfertigen können. Dazu kommt noch, dass auch bei den kleinen D., entsprechend der Cultlegende und in Analogie zum grossen Feste, das Schnitzbild wohl sicher verbrannt wurde, also die Nachricht über die Aufbewahrung der vierzehn D. falsch ist. Endlich ist die ausnehmend lange Zwischenzeit sowohl bei dem grossen wie dem kleineren Feste höchst überraschend; gewöhnlich waren die sog. ,kleineren‘ Feste jährig, und das wäre besonders angemessen gewesen bei der Feier des ἱερὸς γάμος, der sich ja jeden Frühling erneuern müsste – ob solches nicht auch bei den kleineren D. anzunehmen ist, während die Hepteteris für die grösseren zu gelten hätte und das sechzigste Jahr auf einer nur durch zufällige Umstände, wie es auch Pausanias andeutet, zu erklärenden Unterbrechung beruhen würde? Das wäre freilich eine sehr kühne und durch nichts zu beweisende Hypothese. Auch in der Beschreibung des grösseren Festes, an dem alle Städte des boiotischen Bundes teilnahmen, ist manche Einzelheit dunkel und wenigstens eine Lücke im Texte anzunehmen. Die im voraus angefertigten vierzehn Holzbilder wurden durch Los unter die teilnehmende Städte verteilt, und zwar je eines an die grösseren, Plataiai, Koroneia, Thespiai, Tanagra, Chaironeia, Lebadeia, Orchomenos, Theben (letztere soll erst seit ihrem Wiederaufbau durch Kassandros beteiligt gewesen sein), die übrigen an die zu Syntelien verbundenen kleineren Städte. Danach wurden die Bilder geschmückt, im Asopos [1993] gebadet und dann auf Wagen in Begleitung je einer νυμφεύτρια auf den Kithairon gebracht, wobei das Los die Reihenfolge derselben in der Procession bestimmte; auf dem Berge wurde ein riesiger Holzstoss aus vierkantigen Blöcken errichtet (vgl. Puchstein Arch. Jahrb. XI 57), darauf die Bilder gesetzt und die geschlachteten Opfertiere, von jeder Stadt je eine Kuh für Hera und ein Stier für Zeus und ausserdem von Privatleuten je nach ihren Mitteln Rinder oder Kleinvieh, gelegt, dann alles mit Weinspenden begossen und mit Räucherwerk bestreut und schliesslich insgesamt von weithin in die Ferne leuchtenden Flammen verzehrt, ohne dass die Teilnehmer vom Opferfleische genossen. Inschriftliche Zeugnisse über dies Fest sind leider nicht vorhanden, wenn man die D. nicht mit den Herophaneia identificiert (mit Bursian Rh. Mus. 1857, 330. Gruppe Griech. Mythol. u. Religionsgesch. 83: IGS I 48), was aber nicht annehmbar ist (Le Bas-Foucart II 42 b). Die Festgebräuehe sind sehr seltsam; dass die Opfertiere ganz verbrannt wurden, könnte auf ein Sühnopfer hinweisen; aber noch seltsamer ist das Verbrennen der vierzehn D. – eine Erinnerung an ehemalige Menschenopfer kann wohl kaum darin liegen, denn das Schmücken, Baden, Fahren auf dem Wagen in Begleitung einer Brautführerin stimmt dazu absolut nicht, auch die feierliche Wahl des Holzes ist nur für ein Götterbild begreiflich, aber ein solches verbrennt man doch nicht, selbst dem Gotte zu Ehren. Die kurzen und vielleicht unvollständigen Notizen des Pausanias und Plutarch gestatten keine bestimmte Lösung der Aporie; dass die Cultlegende nichts dazu beitragen kann, braucht nicht bemerkt zu werden, da sie ja augenscheinlich aus den Cultgebräuchen selbst herausgesponnen ist.
Litteratur: K. O. Müller Orchomenos 216. C. Fr. Hermann Gottesdienstl. Altert. § 63, 18-20. Schoemann Gr. Altert. II 492f. Preller-Robert Griech. Mythol. I 164, 4. Daremberg-Saglio Dict. des ant. II 19 (Hunziker).