66) Clodia. die zweite Tochter von Claudius Nr. 296, älter als ihr Bruder Publius Nr. 48 (Cic. Cael. 36), also etwa 660 = 94 geboren. Beim Tode ihres Vaters noch unvermählt (678 = 76, vgl. Varro r. r. III 16, 2), wird sie zuerst im J. 691 = 63 als Gemahlin des Q. Metellus Celer erwähnt (Cic. ad fam. V 2, 6; vgl. Plut. Cic. 29, 2). Dass sie ihm untreu war und in beständigem Unfrieden mit ihm lebte, wusste alle Welt, aber nur die Gegner deuteten an, dass sie den im J. 695 = 59 plötzlich erfolgten Tod ihres Mannes durch Gift herbeigeführt hätte (Cic. Cael. 34. 60. Cael. bei Quintil. inst. or. VIII 6, 53: Clytaemnestra). Unter den verführerischen, sittenlosen, berüchtigten Frauen des damaligen Rom hatte Clodia nicht ihresgleichen. Wie reich sie
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mit allen Reizen und Vorzügen des Körpers und Geistes begabt gewesen sein muss, lässt sich nur aus dem Zauber erschliessen, den sie als gereifte Frau auf die Männer ausübte. Zwar ist es nur thörichter Stadtklatsch, dass sie Cicero angelockt und an eine eheliche Verbindung mit ihm gedacht habe, und dass die Eifersucht Terentias darauf die erbitterte Feindschaft zwischen dem grossen Redner und Clodia sowie deren Bruder hervorgerufen haben soll (Plut. Cic. 29, 1; vgl. Harnecker Berl. philol. Wochenschr. IV 226). Aber zwei der talentvollsten und bedeutendsten Männer der jüngeren Generation haben längere Zeit in ihren Fesseln geschmachtet, und diesem Umstande danken wir das Bild, das Liebe und Hass von Clodia gezeichnet haben. Es ist jetzt ziemlich allgemein zugegeben, dass sie es ist, deren Liebe den grössten lyrischen Dichter der Römer begeistert hat. Dass Catull seine Geliebte Lesbia mit einem erdichteten Namen benannte, sagt Ovid. trist. II 427, dass sie Clodia hiess, Apul. apol. 10. Ihre Identität mit dieser Schwester des Tribunen C. ist schon von einzelnen Humanisten behauptet, dann besonders von Schwabe (Quaest. Catull. 53–135) eingehender begründet, später auch gegen wiederholte Angriffe verteidigt worden, so dass sie als gesichert angesehen werden darf (vgl. über die Geschichte der Frage Teuffel-Schwabe⁵ I 444 § 214, 3. Fenner Quaestiones Catullianae [Barmen 1896] 5f.). Der Beweis liegt darin, dass die wesentlichen Züge in dem von Catull entworfenen Bilde seiner Lesbia mit denen des Zerrbildes übereinstimmen, das uns Cicero von der geschichtlichen Clodia hinterlassen hat. Noch während sie die Huldigungen Catulls empfing, warf sie ihre Netze nach dem hochbegabten, leidenschaftlichen M. Caelius Rufus aus; nachdem dieser mit ihr gebrochen hatte, verfolgte sie ihn mit unversöhnlichem Hass und liess ihn sogar vor Gericht ziehen. Die Verteidigungsrede, die Cicero in diesem Process für Caelius hielt, ist fast nur eine von glühendem Hass und beissendem Hohn erfüllte Anklage gegen Clodia. Sie tritt den Gedichten Catulls als Quelle für unsere Kenntnis der merkwürdigen Frau zur Seite. Von Clodias hochgepriesener Schönheit (Catull. 86, 5f. u. ö.) werden nur die strahlenden Augen besonders erwähnt (Cic. har. resp. 38), die im Verein mit der angeblichen Neigung für ihren Bruder ihr den Beinamen der Hera βοῶπις eintrugen (Cic. ad Att. II 9, 1. 12, 2. 14, 1. 22, 5. 23, 3); dass sie gern und anmutig tanzte, erwähnt Schol. Bob. p. 304 Or. zu Cic. Sest. 116. Hätte sie nicht einen feingebildeten Geschmack in litterarischen Dingen besessen, so würde sie nicht den Funken des Genius in Catull zur Flamme entfacht haben (vgl. Catull. 36, 1 über ihre Abneigung gegen die schlechten Dichter; die Liebe beider gefeiert schon von Propert. III 34, 87 und noch von Sidon. Apoll, ep. II 10); ihr Einfluss in politischen Fragen bliebe unverständlich, wenn sie nicht eine geistig bedeutende Frau gewesen wäre. Aber alle Vorzüge wurden aufgewogen durch ihre ungezügelte Sinnlichkeit und Zuchtlosigkeit. Sie hiess allgemein Quadrantaria, und wenn auch schon Plutarch (Cic. 29, 2) diesen Beinamen nicht mehr zu erklären wusste, der dem Caelius (bei Quintil. inst. or. VIII 6, 53) und Cicero (Anspielungen
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Cael. 62. 69) geläufig war, so ist wohl Drumanns (G. R. II 381, 53) Deutung zutreffend, dass so die Strassendirne bezeichnet wurde, die für einen Quadrans, d. h. für den geringsten Preis, jedem gefällig war. Mit besonderer Vorliebe spielt Cicero auf das Gerücht an, das sie bezichtigte, in Blutschande mit ihrem Bruder Publius zu leben (Cael. 32. 36. 38. 78; Sest. 16. 39; de domo 92; har. resp. 38. 42. 59; ad Att. II 1, 5; ad fam. I 9, 15; ad Q. fr. II 3, 2; vgl. Vell. II 45, 1. Plut. Cic. 29, 2), und auch Andeutungen Catulls (72, 2. 79, 1) sind hierauf (oder auf das Verhältnis zu Sex. Clodius Nr. 12) bezogen worden. Wie Clodia ihren Dichter anzog und abstiess, sich ihm hingab und ihm treulos ward, und wie dieses wechselvolle Liebesleben, das von 693 = 61 bis 696 = 58 währte, in seinen Gedichten sich widerspiegelt, hat der Litterarhistoriker darzustellen; wie sein Nebenbuhler ähnliche Erfahrungen machte, wurde früher berührt (vgl. Bd. III S. 1267f.). Beide wandten schliesslich mit tiefer Entrüstung der Geliebten den Rücken, die zur Geliebten aller herabgesunken war (etwa aus derselben Zeit Cic. Cael. 32: amica omnium, Fragment der Rede des Caelius bei Quintil. VIII 6, 53 und Catull. 11, 17). Nach dem Process des Caelius 698 = 56 wird Clodia nicht mehr genannt. Im J. 709 = 45 wollte Cicero von einer Clodia ein Grundstück kaufen und correspondierte darüber bis in den Anfang des folgenden Jahres mit Atticus (ad Att. XII 38, 4. 42, 1. 47, 1f. XIV 8, 1), doch ist es ganz unsicher, ob dies seine alte Feindin war, die allerdings in Beziehungen zu Atticus gestanden hatte. Auch ihre Identität mit der ad Att. IX 6, 3 erwähnten Clodia, der Schwiegermutter des L. Metellus, Volkstribuns 705 = 49, ist wenig wahrscheinlich.