3) Chariton aus dem karischen Aphrodisias (auf dieses Aphrodisias scheint ausser dem von E. Rohde Rh. Mus. XLVIII 139f. Angeführten auch die Beschreibung des Weges von Innerkarien nach Milet mit Priene als Zwischenstation IV 5, 2 zu weisen, wobei die Gegend von Aphrodisias als Ausgangspunkt gedacht sein dürfte), Schreiber (ὑπογραφεύς) des Rechtsanwalts (ῥήτωρ) Athenagoras wahrscheinlich eben in Aphrodisias (I 1. Rohde a. a. O. 140), Verfasser des Romans τὰ περὶ Χαιρέαν καὶ Καλλιρρόην in acht Büchern (diese Buchteilung ist von Ch. selbst gemacht, s. VIII 1, 4 und die Recapitulation in der Mitte V 1, 1—2). Wann Ch. geschrieben hat, lässt sich nur aus Charakter und Stil seines Romans ungefähr bestimmen. Zu der Annahme (Rohde Griech. Rom. 492), Ch. sei Christ gewesen, giebt der Roman keinen Anlass. Daran ist aber nicht zu zweifeln, dass er eine Reihe von Exemplaren des pathetischen Romantypus voraussetzt und diesen gegenüber etwas Neues bieten will: neu ist z. B., dass er seine Erzählung mit der Hochzeit des liebenden Paares beginnt und dieses erst, nachdem sich Chaireas durch die früheren Freier der Kallirrhoë hat in rasende Eifersucht versetzen und zu roher Misshandlung seiner Frau hinreissen lassen, den Launen von Aphrodite, Eros und Tyche überantwortet; neu ist auch der völlig schlichte und episodenlose Verlauf der Handlung. Im übrigen erfolgt die Trennung der beiden Liebenden wie gewöhnlich durch Räuber. Dann wird das Interesse in sehr äusserlicher Weise gesteigert mit dem Rang der Bewerber, welchen gegenüber Kallirrhoë in der Trennung von ihrem Geliebten ihre Treue zu bewähren hat: zuerst heiratet sie notgedrungen den angesehensten Mann von Milet, Dionysios, dann wird sie Gegenstand der Liebe des karischen Satrapen Mithridates, endlich der Liebe des Perserkönigs, von dessen Werbung sie im Augenblick grösster Bedrängnis durch den als Deus ex machina dienenden Abfall Ägyptens befreit wird; der König muss ins Feld ziehen, wo ihm dann der zu den Ägyptern übergegangene Chaireas den Sieg und die Geliebte zugleich abgewinnt (Inhaltsübersicht bei Rohde Griech. Rom. 486ff.). Man bemerkt in dieser geradlinigen Führung der Handlung (die unbedeutende Spannung III 2, 17 ist zugleich structive Notwendigkeit) einen gewissen Überdruss gegen die sonst in Romanen üblichen tollen Verwicklungen, eine Stimmung, welche der Verfasser nicht nur selbst hat, sondern auch bei seinen Lesern voraussetzt (VIII 1, 4. 7, 4). Diese Beobachtung darf aber nicht Anlass werden, den Ch. an das Ende der Entwicklung des antiken Romans zu versetzen. Ähnlichkeiten zwischen Ch. und einigen der anderen Romanschriltsteller (Rohde Griech. Roman 489; einige Parallelen zwischen Ch. und Heliodor sammelt Κωνσταντῖνος Δ. Κέκκος Χαρίτων Ἀφροδισιεὺς μιμητὴς Ξενοφῶντος καὶ Ἡλιοδώρου, Erlangen 1890, 22ff.; mehrfache Entlehnungen aus Ch. bei Chorikios) sind vorhanden, geben aber keine Sicherheit darüber, wer Original, wer
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Nachahmer ist. Für die Datierung des Romans ist folgendes von Bedeutung: Ch. giebt seinem Roman einen wenn auch flüchtig gezeichneten geschichtlichen Hintergrund; er lässt ihn spielen nach der Besiegung der Athener im sicilischen Krieg (II 6, 3. III 4, 17. 5, 3) bei Lebzeiten des Hermokrates, dessen Tochter Kallirrhoë ist, dessen Gegner aber nicht, wie bei Thukydides, Athenagoras, sondern Ariston (I 1, 3) heisst, also zwischen 413 und 408 (Diod. XIII 75); dazu stimmt freilich nicht, dass gleichzeitig Artaxerxes II. (seit 404; s. übrigens A. v. Gutschmid Kl. Schrift. V 284) König ist, unter welchen wiederum der Ausbruch des ägyptischen Aufstandes mit Unrecht gesetzt zu werden scheint (Rohde Griech. Rom. 491, 2). Auch die Annahme, dass Milet damals unter persischer Oberherrschaft stand (III 7, 2. IV 6, 4. 8. V 6, 1ff.), ist ungeschichtlich. Nun macht aber der von U. Wilcken gefundene Ninosroman (Herm. XXVIII 167ff.), welcher nicht nach Beginn des 1. Jhdts. n. Chr. entstanden sein kann und bereits die auch von Ch. benützte Romanphraseologie aufweist (Wilcken Herm. XXVIII 180ff.), wahrscheinlich, dass Aufbau auf geschichtlicher Grundlage im allgemeinen ein Charakterzug der älteren Epoche griechischer Romanschriftstellerei ist, während die späteren Romane sich von geschichtlichen Voraussetzungen frei machen. Spricht diese Beobachtung dagegen, den Roman allzu spät anzusetzen, so gestatten einige technischen und sprachlichen Indicien eine genauere Feststellung der Abfassungszeit: Ch. legt nicht nur in Reden handelnder Personen (II 3, 7. IV 1, 3. 5. 4, 5. V 10, 9. VI 4, 6. VII 2, 4. 3, 5) Homerverse ein, sondern er benützt solche (einmal IV 7, 7 auch einen sprichwörtlich gewordenen Komikervers) auch als Glieder seiner eigenen Erzählung (I 1, 14 = IV 5, 9. I 4, 6. II 9, 6. III 4, 4. 5, 6. 6, 3. IV 7, 5. V 2, 4. 4, 6. 5, 9. VI 1, 8. 2, 4. VII 1, 11. 4, 3. 6. VIII 1, 17. 5, 2), bedient sich also der Form der menippischen Satire, welche auf griechischem Boden, soviel wir sehen, erst durch Lucian c. 160 wieder eingebürgert, von den späteren griechischen Romanschreibern aber nirgends mehr (vielleicht noch in dem griechischen Original des Apollonius rex Tyri?) angewendet worden ist. Die von Nikostratos, Aelianus und Philostratos geschaffene atticistische ἀφέλεια dagegen kennt Ch. nicht, er vermeidet noch sorgfältig den Hiatus (R. Hercher Jahrb. f. Philol. LXXVII 165; vgl. W. Schmid Atticism. III 291f.), gebraucht den Dual höchst selten (nur δυοῖν θάτερον p. 43, 3. 58, 27. 96, 23 Hercher; δυοῖν p. 119, 31; ἀμφοῖν p. 77, 7. 103, 27), ebenso wie Xenophon Ephesius, der nur eine Dualform (δυοῖν III 8, 5) hat, während z. B. Heliodor deren eine Menge aufweist; ferner gebraucht Ch. nie den Nominativus absolutus (welcher, von sorgfältigeren Schriftstellern saec. I.—II. p. Chr. vermieden, erst im 2. Jhdt. als attische Eleganz in Anspruch genommen und häufig gebraucht wurde); nie das Futurum III, sehr sparsam den Optativ (die Finalpartikeln [immer ἵνα ausser p. 58, 14. 73, 1] haben auch im Zusammenhang von Vergangenheitstempora stets den Coniunctiv; ebenso bei Xenoph. Ephes. ausser V 4, 2) und ist namentlich weit entfernt von dem bei allen sophistischen ἀφελεῖς seit Ende des 2. Jhdts. allgemeinen Übermass
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in Tropen und Figuren (nur fünfmal, IV 1, 11. V 4, 4. 8, 2. VIII 1, 14. 4, 1 wird die schlichte Erzählung durch rhetorische Fragen unterbrochen; sonst verläuft sie in kurzen, vielfach asyndetischen oder mit den einfachsten Partikeln verbundenen Sätzen; die spärliche Metaphorik ist vorwiegend mit Bildern aus dem Kriegsleben gespeist); sehr angelegen ist ihm die Übersichtlichkeit (s. die Recapitulationen V 1. VIII 1 und besonders VIII 7, 5ff.). Andererseits verraten aber den Zusammenhang mit der Sophistik die eingelegten Gerichts- und Ratsversammlungen mit Reden (I 2. 5, 4ff. 10. III 4, 4ff. V 6, 1ff. VII 3, 2. VIII 2, 10), die eingelegten Briefe und Monologe (Rohde Griech. Rom. 494, 1. 2), unter welchen von exemplarischer Frostigkeit der II 11 ist. Zieht man diese Merkmale sprachlicher und stilistischer Art, von welchen keines in der sprachlichen Untersuchung des Romans durch A. Gasda (Quaestiones Charitoneae, Öls 1860) erkannt ist, in Betracht, so wird wahrscheinlich, dass Ch. nicht in das 4. oder 5. Jhdt. n. Chr., sondern in das 2., spätestens den Anfang des 3. zu setzen sei. Dazu passt, dass das (saec. III p. Chr. eingegangene) Ephebeninstitut (I 6, 5. VIII 6, 11) und die (393 zum letztenmal gehaltene) Feier der olympischen Spiele (VI 2, 1) als noch bestehend vorausgesetzt werden; das ‚Umgehen‘ (Rohde Griech. Rom. 492) einer olympischen Göttin (der Aphrodite) braucht nicht als christliche Vorstellung gedeutet zu werden; ein solcher Gedanke konnte, wie Philostratos Heroïkos zeigt, auch dem Heidentum saec. II/III nicht allzuferne liegen, und für Ch. empfahl er sich aus structiven Gründen als Motiv. Es ist darnach möglich, dass unser Ch. derselbe ist, an welchen sich der geringschätzige Brief des zweiten Philostratos (ep. 66) wendet; die Geringschätzung würde sich aus Ch.s ablehnendem Verhalten gegen die Kunstmittel der atticistischen ἀφέλεια erklären. In Ch.s Sprache macht sich besonders die Nachahmung des Thukydides (Cobet Mnemos. VIII 251), Xenophon (ebd. 232. 234. Κέκκος a. a. O. 22ff.) und Herodot (Cobet a. a. O. 235ff.) bemerklich. Erhalten ist der Roman nur in einer schlecht geschriebenen Florentiner Miscellanhandschrift (beschrieben von Cocchi in D’Orvilles Ausg.² praef. VI) saec. XIII, aus welcher der Text zuerst von A. M. Salvini, dann von dem Florentiner Professor Antonio Cocchi 1727—28 abgeschrieben wurde; Cocchi überliess seine (sehr unzuverlässige: Cobet Collectanea critica 129ff.) Abschrift an den durch P. Burmann auf Ch. hingewiesenen Amsterdamer Professor Jak. Phil. D’Orville, welcher den Roman 1750 (Amstelod. 3 voll.) zuerst herausgab mit einem übermässig weitläufigen, aber besonders durch sprachliche Beobachtungen nützlichen Commentar; einen Abdruck dieser Ausgabe nebst lateinischer Übersetzung von J. J. Reiske, eigenen Textverbesserungen und solchen von Pierson und Abresch besorgte Chr. D. Beck (Leipzig 1783). Eine neue ergebnisreiche Collation des Florentinus verdankt man Cobet; sie ist von Hirschig für die Herausgabe des Ch. in den Scriptores erotici (Paris 1856) benützt worden. Die beste Ausgabe lieferte R. Hercher (Erotici scriptores Graeci Bd. II, Leipzig 1859). Wichtigere Beiträge zur Kritik: Cobet Mnemos. VIII
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229ff.; Var. lect. 167. 169ff. Gasda Quaestiones Charitoneae 22ff. E. Hercher Herm. I 72ff.; Jahrb. f. Philol. LXXVII 154ff. Hertlein Herm. IX 363. J. Hilberg Philol. XXXIII 693ff. S. Naber Mnemos. N. S. VI 190ff. Zangoiannis Εἰκοσιπενταετηρὶς τῆς καθηγεσίας Κ. Ἐ. Κόντου 1893, 347ff. Headlam Journ. of philol. XXIII 261. Im ganzen s. E. Rohde Griech. Rom. 485–498.