Carmenta (Carmentis) gehört zu dem ältesten römischen Götterkreise, denn ihren Dienst versieht ein eigener Opferzünder (flamen Carmentalis), Cic. Brut. 56. CIL VI 3720. Ephem. epigr. IV 759 (verschieden davon sind die Carmentarii, welche die Orakelsprüche der C. aufzeichneten, Serv. Aen. VIII 336), und das ihr zu Ehren begangene Doppelfest der Carmentalia am 11. und 15. Januar (über den Abstand vgl. Wissowa De feriis anni Rom. vetust., Ind. lect. Marpurg. S. S. 1891, 8f.) verzeichnet bereits der numanische Kalender, fast. Caeret. Maff. Praen. Varro de l. l. VI 12. Macrob. I 16, 6, vgl. Mommsen CIL I² p. 307. Die Pontifices (Ovid. fast. I 462) vollzogen zusammen mit dem flamen Carmentalis das Festopfer und indigitierten dabei C. als Porrima (Prorsa, Antevorta) und Postverta, d. h. sie riefen ihren Schutz an für die nach vorn oder rückwärts gewandte Lage des Kindes bei der Geburt, Varr. bei Gell. XVI 16, 4. Ovid. fast. I 631–633. Tertull. ad nat. II 11; Dinge, die an den Tod erinnern, galten für die Geburt als übles Vorzeichen und mussten darum, wie z. B. das Leder von gefallenem oder geschlachtetem Vieh, von der Kultstätte der C. fern gehalten werden, Ovid. fast. I 629. Fast. Praen. CIL I² p. 231, vgl. Varro de l. l. VII 84. Die staatliche Feier galt also der Geburtsgöttin und war ein Fest der Frauen. Die Auffassung Ovids (fast. I 633f. Macrob. I 7, 20. Aug. c. d. IV 11. Interp. Serv. Aen. VIII 336), als seien Porrima und Postverta in die Zukunft bezw. in die Vergangenheit schauende Gottheiten und Schwestern oder Begleiterinnen der C., beruht teils auf falscher Etymologie
[1595] teils auf dichterischer Erfindung. Zwei Altäre der Göttin lagen zwischen dem Südabhang des Capitols und dem Tiber in der Nähe der nach ihr benannten porta Carmentalis (Gell. a. a. O. und XVIII 7, 2. Liv. V 47, 2. Dion. I 32. Serv. Aen. VIII 337. Solin. I 13. Becker Top. 137f. Gilbert Gesch. u. Top. Roms I 257f. II 299f.). Die Entstehung des einen Heiligtums knüpfte die gelehrte Legendendichtung an die Person des Arkadiers Euander (Verg. Aen. VIII 337. Ovid. fast. I 585. Serv. Dion. Solin. a. a. O.); unter den verschiedenen Traditionen über seine mütterliche Abstammung (Dion. I 31. Strab. V 230. Paus. VIII 43, 2. Schol. Plat. 269f. Herm. Plut. q. R. 56. Solin. I 10. Serv. Aen. VIII 51. 130. 336. Orig. g. R. 5. Isid. orig. I 4, 1) wurde diejenige zur herrschenden, die ihn zum Sohne der C. machte (ihr Gatte bei Plut. Rom. 21); mit dieser wurden dann die andern Mütter, Nikostrate, Themis, Tyburs identificiert. C. veranlasste ihren Sohn zur Auswanderung nach Italien (nachdem er auf ihr Geheiss seinen Vater getötet hatte, Serv. Aen. VIII 51); sie verkündete ihm die Schicksale des Hercules und Roms Weltherrschaft und wandelte das griechische Alphabet in das lateinische von fünfzehn Buchstaben um (Verg. Aen. VIII 333f. Ovid. fast. I 461f. Liv. I 7, 5f. Dion. I 31. 40. Strab. a. a. O. Plut. q. R. 56. Charis. p. 33. Serv. Aen. VIII 336. Fast. Silv. z. 11. Jan. CIL I² p. 257. Orig. g. R. 5. Hyg. fab. 277. Isid. a. a. O. und V 39, 11). Die Erbauung des zweiten Altares und die Einsetzung des Festes am 15. Januar gehen nach Ovid. fast. I 617ff. und Plut. a. a. O. auf die römischen Matronen zurück. Der Anlass war folgender: Als den Frauen auf Senatsbeschluss das Fahren im Wagen (carpenta) untersagt wurde, da entzogen sie sich den ehelichen Pflichten so lange, bis das Verbot wieder zurückgenommen war; dann aber bescherte ihnen C. so reichen Kindersegen, dass sie ihr ein neues Heiligtum und ein neues Fest stifteten. Die Verehrung der G. als Geburtsgöttin ist die zu Grunde liegende Thatsache; die etymologische Spielerei carpenta carmenta und das Hervortreten der Frauen bringt hier zwei Dinge in einen ursächlichen Zusammenhang, die ihrer Natur nach nichts miteinander zu schaffen haben, nämlich die Verehrung der C. als Geburtsgöttin und die Bestimmungen über die Benützung der carpenta durch die Matronen (Liv. V 25, 9. XXXIV 3, 9). Nach den praenestinischen Fasten a. a. O. wurde der zweite Festtag für die Einnahme von Fidenae eingerichtet. Da aber diese Stadt des öfteren erobert wurde und der Name des Feldherrn im Kalender zerstört ist, so bleibt die Zeit unbestimmt, Marini (Eph. Pis. XLI 266) denkt an Aemilius Mamercus dict. a. 437 oder 426, Klausen (Aeneas und die Penaten II 884) an Servilius dict. a. 435. Am ansprechendsten ist der Vorschlag Mommsens a. a. O., Romulus oder Ancus zu ergänzen. Wenn die Alten C. als eine Göttin der Weissagung betrachteten, so stützten sie sich dabei mehr auf die Ableitung des Namens von Carmen, als auf die Thatsachen des Kultes.