Attis (gen. Attis, Attidis, Attinis, Atteos inschriftlich bezeugt, s. Ruggiero Dizion. I 763), griechisch Ἄττις (gen. -ιδος und -εως Firm. Mat. de err. 18 p. 102, 20 Halm, vgl. Kaibel Epigr. 828 = CIL VI 509, acc. stets -ιν), Ἄττης (gen. -εω; Αττυς nur als Personenname, vgl. Pape Benseler). Ein Götterwesen der Phryger und Lyder, das im Kultus und Mythus der Kybele in derselben Weise zur Seite steht, wie Adonis der syrischen Aphrodite. Ob der ursprüngliche Name *Atins identisch mit Adonis ist (Haakh Stuttgarter Philol.-Vers. 1856, 176), lassen wir dahingestellt sein. Dass der Gott semitischen Ursprungs ist, ist aber nicht unwahrscheinlich [2248] (Ed. Meyer Gesch. d. Altert. I § 257, vgl. Luc. de dea syr. 15). Über die frühe Geschichte des A. in Asien erfahren wir so gut wie nichts. Nach Psellos (περὶ ὀνόμ. 109, vgl. Arrian FHG III 592, 30 und u. Papas) bedeutet A. bei den Phrygern Zeus, d. h. A. wurde als der höchste Gott angesehen. Auf eine Verschmelzung mit dem Men (s. u.) deutet der Beiname Menotyrannus, der ihm auf späten Inschriften beigesetzt wird (CIL VΙ 499ff. 508. 511), sowie andre Indicien hin (Rοscher Ber. Ges. d. Wiss. Leipzig 1891, 134ff., vgl. u.). Auf den Sabazioskult hat er ebenfalls mindestens einen Einfluss geübt (Lenormant Rev. archéol. 1874 II 301). Auch dem Mithras wurde er assimiliert (s. u. S. 2251, 57). Indessen scheint seine Sage in den grossen Tempeln, wie Pessinus sich ziemlich rein von fremden Elementen erhalten zu haben. Wie weit sein Gebiet sich erstreckt hat, können wir nur ungefähr bestimmen. Ursprünglich scheint A. nur in Phrygien verehrt worden zu sein, das ja immer das Centrum seines Kultes blieb (Dion. Halic. ant. I 61, vgl. Paus. I 4, 5). Von da aus ist derselbe zu den Lydern gekommen (Paus. VII 17, 5, vgl. Luc. a. a. O.), hat sich nördlich in Bithynien verbreitet (Arrian. FHG III 592, 30, vgl. CIG III 3817) und ist im Süden bis Kilikien (Tarsos, s. Heuzey Gazette de beaux arts XIV 1876, 389ff.) und die Insel Rhodos (Socr. hist. eccl. III 23) gelangt, aber bis jetzt sind von dieser weit ausgedehnten Verehrung in Kleinasien sehr wenige Spuren wiedergefunden worden (bei Maionia: Le Bas Itin. pl. 55; Antiocheia ad Maeandrum: Waddington Rev. numismat. 1851, 235, 3; Kyzikos: Schol. Nicand. Alex. 8; vgl. Drexler Jahrb. f. Philol. 1894, 321ff.; dagegen scheint der Λόφος Ἄτυος in der Nähe von Smyrna [Aristid. XXV I 499 Dind.] nicht nach dem Gotte genannt). Obwohl die Anwesenheit des Kybeledienstes in Athen seit dem 4. Jhdt. sich nachweisen lässt, ist von A. so selten bei den Schriftstellern (Theop. com. bei Suidas), wie in den Inschriften (CIA II 622, vgl. Foucart Assoc. religieuses 90ff.) die Rede. Es ist recht bezeichnend, dass sonst in Griechenland überhaupt nur in Dyme und Patrae, wo Pompeius und Augustus fremde Colonisten angesiedelt hatten, von einer Verehrung des A. im Tempel der Grossen Mutter gesprochen wird (Paus. VII 17, 5. 20, 2). Es war ein der griechischen Religion allzu fremdartiges Wesen, dessen Dienst erst spät, wie Plutarch sagt (amator. 12), ,aus dem Gebiete barbarischen Aberglaubens durch Weiber und Eunuchen‘ sich bei Griechen und Römern eingeschlichen hat (vgl. Luc. deor. conc. 9; Icarom. 27; Iup. trag. 8). Indessen kann A. im Volke schon lange fromme Diener gehabt haben, bevor er die Aufmerksamkeit der Litteratur erregte. Erst die alexandrinische Gelehrtenwelt scheint sich mit dem fremden Gotte befasst zu haben (Hermesianax bei Paus. VII 17, 5. Theokr. XX 40. Nicand. Alex. 8, vielleicht auch Anacr. 12 [11]). In Rom, wo die Mater Magna seit 204 v. Chr. einen offiziellen Kultus hatte, hören wir ebenfalls von einer Verehrung des A. erst am Ende der Republik (Varro sat. men. 150, wo mit Bücheler Attidis statt aedilis zu lesen ist), aber es ist daran nicht zu zweifeln, dass er von den phrygischen Priestern, die den Dienst der Göttin verrichteten, [2249] von Anfang an angebetet wurde (vgl. Ruggiero Dizion. I 764). In der Kaiserzeit (wahrscheinlich unter Claudius, vgl. Lydus de mens. IV 41) wurde der schon längst populäre Gott (Catull. 63, vgl. Lucret. II 610ff.) vom Staate anerkannt und neben der Grossen Mutter auf gleiche Stufe gestellt (CIL VI 2138. Bull. d. Inst. 1885, 155, wo Attis Genetiv ist, wie Bull. com. 1890, 20). Sein Kult verbreitet sich mit dem seiner Geliebten in Italien (CIL IX 1538ff. 3146 XIV 35ff. 3534) und den Provinzen (Africa CIL VIII 7956. 8656; Insel Minorca II 3706; Gallien Orelli-Henzen 1898; Britannia Archaeologia XXXVIII 1840, 45; Germanien Westd. Ztschr. 1887, 109; Moesien CIL III 763, vgl. Athen CIA III 172), und bis zum Ende des 4. Jhdts. werden die zwei Gottheiten zusammen auf Inschriften genannt (CIL VI 499ff. 1779. 2183).
Der Mythus des A., wie er mehrmals von den Schriftstellern erzählt wird, bietet grosse Abweichungen, welche zum Teil localen Verschiedenheiten, zum Teil philosophischen Einflüssen zuzuschreiben sind. Die Sage von A. und Agdistis (Paus. VII 17. Arnob. V 5. 7), welche bei den Pessinuntiern heimisch war, ist oben (s. Agdistis) erzählt worden. Entweder auf einen gemeinsamen Ursprung oder eine spätere Verschmelzung (Hippolyt. Philos. V 1 p. 176. Socr. hist. eccl. III 23. Plut. Sert. 1) des A. und Adonis ist die Legende zurückzuführen, welche nach Pausanias (VII 17, 5, vgl. Schol. Nicand. a. a. O.) in Lydien verbreitet war: A. habe den Dienst der Grossen Mutter in Lydien eingeführt und sei deshalb von den Einwohnern des Landes ausserordentlich verehrt worden. Aus Eifersucht habe Zeus einen Eber hingeschickt, der ihn getötet. Der phrygischen bezw. pessinuntischen Legende ähnlicher ist die Erzählung, welche uns am reinsten bei Ovid (Fast. IV 223ff.), ausführlicher, aber mit fremdartigen Zügen geschmückt bei Iulian vorliegt (or. V 165 B ff.; daraus geschöpft ist Sallust de nat. deor. 4, vgl. Rev. de Philol. 1892, 51). Nach diesen Sagen ist A. ein schöner Jüngling, ein Hirt (Theokr. XX 40. Arnob. IV 35. Tertull. ad nat. I 10), der von Kybele geliebt wird, welche ihn Keuschheit versprechen lässt. Aber seinem Worte untreu, verbindet er sich mit der Nymphe Sagaritis, welche dann von Kybele getötet wird. Darauf wird A. rasend und entmannt sich. Eine stark abweichende euhemeristische Umbildung der Legende findet man bei Diodor (III 58. 59) und ausserdem bei Firmicus Maternus (de err. pr. relig. 3), der ausdrücklich sagt, dass A. nach seinem Tode auferstanden sei – ein Zug, der nirgends so klar ausgesprochen wird (vgl. doch Plut. de Is. et Osir. 69), obwohl das Frühlingsfest des Gottes ihn voraussetzt.
Dieses Fest, das in Phrygien schon üblich war (Diod. III 59, 7. Plut. a. a. O. Dionys. Hal. ant. I 61) und wovon sich Spuren in Athen nachweisen lassen (Foucart a. a. O.), wurde in Rom, seitdem es von Claudius officiell zugestattet, mit einem Glanz, den es nur in dieser Hauptstadt erreichen konnte, gefeiert. Nach dem Einzug der Cannophoren (s. d.), der am 15. März stattfand, begann am 22. das eigentliche Fest. Eine Fichte, der Baum, unter welchem A. sich den Tod gegeben hatte, mit Veilchen bekränzt [2250] und mit Wollenbinden wie ein Leichnam umwickelt, wurde von den Dendrophoren (s. d.) zum Tempel des Palatins getragen. Es war dies eine Zeit der Trauer, wo die Keuschheit (Hippol. Philosoph. V 1 p. 177, 4 Cruice, vgl. Arnob. V 16) und die Enthaltsamkeit von Früchten der Erde (Iul. or. V 174 A) geboten war. Am 24., dem dies sanguinis, erreichten die Schmerzensäusserungen ihren Gipfel, ursprünglich gingen die Diener Gottes in ihrer wilden Raserei bis zur Selbstentmannung (s. Galli), später begnügten sie sich damit, ihre Arme aufzuritzen. Es fingen dann am 25. mit dem Aequinoctium die Tage der Freuden an (Hilaria), welche am 27. mit einem lustigen Umzug endeten, der das Bild der Grossen Mutter zum Flusse Almo begleitete, wo sie gebadet wurde.
Aus diesem Feste, welches eine Art Aufführung der Sage des A. ist, erhellt die Bedeutung derselben. Wie von den Alten im grossen und ganzen schon richtig erkannt worden ist (Porphy., bei Euseb. praep. evang. III 7. Aug. civ. D. VII 25. Firmic. Mat. Plut. a. a. O.), ist A. wie Adonis ein Bild der Vegetation, welche von der Glut der Sonne vernichtet wird, bevor sie auswachsen und Samen hervorbringen kann, dessen Verschwinden die Erde in Trauer setzt, aber welche jeden Frühling wieder aufblüht. A. stirbt unter einer Fichte, dem immergrünen Baum, welcher Sommer und Winter durchlebt, und aus seinem Blute entspriessen Veilchen, die Boten des herannahenden Frühlings. Es lag also sehr nahe, den Gott dem Dionysos gleichzusetzen (Socrat. a. a. O. Schol. Lucian. IV 173 Jacobitz). Wenn dagegen in anderen Quellen A. als ein Gestirn angesehen wird (Hippol. a. a. O. ἐπουράνιον Μήνης κέρας ... ποιμὴν λευκῶν ἄστρων, vgl. Iulian. or. V 165 B. 171 A. CIL IX 3146 lunam argenteam. VI 499 A. invictus) oder mit der Sonne identificiert wird (Macrob. I 21, 9. Arnob. V 42. Mart. Capella II 192. Bährens Poet. lat. min. III 292 v. 109), so beruht das entweder auf einer frühen Verschmelzung mit Men (s. o.) oder ist dem spätrömischen Syncretismus zuzuschreiben, der in allen Göttern die Sonne erkennen wollte. In der Kaiserzeit wurde sogar A. – ähnlich wie Silvanus, dem er auch assimiliert wurde (CIL IX 3375. VI 641f.), – als eine pantheistische Gottheit aufgefasst (Kaibel Epigr. 828. Hippol. a. a. O. πολύμορφον Ἄττιν vgl. u. S. 2251, 41). – Eine ganz eigentümliche neuplatonische und, wie er selbst zugesteht (or. V 161 C, vgl. 178 D), rein persönliche Deutung des Mythus giebt Iulian.
In die spätere Kaiserzeit fallen auch die meisten Denkmäler die wir von A. haben, in Bildhauerwerken oder auf Contorniaten, die für die megalesischen Spiele ausgeteilt zu werden pflegten (Robert Mythe de Cyb. et d’A., Revue numism. III 1ff.). Er wurde dargestellt als ein weichlicher Jüngling in phrygischer Kleidung, der phrygischen Mütze, einer geärmelten Tunica, bald mit, bald ohne Chlamys, in langen Hosen, die öfters geschlitzt sind, so dass das üppige Fleisch des Eunuchen durchblickt. Er trägt gewöhnlich den Hirtenstab (Pedum), oft die Syrinx und das Tympanum. Neben ihm sieht man zuweilen die ihm und der Kybele geheiligte Fichte. Das ihm geheiligte Tier ist der Widder, der oft [2251] mit dem Stier der Kybele zusammengestellt ist und der neben demselben in der Ceremonie des taurobolium und criobolium (s. u.) geopfert wurde. – Die beste Untersuchung über die Denkmäler des A. ist noch die von Zoega (Bassiril. I 45ff.; Nachträge: Visconti Annal. d. Inst. XLI 1868, 238ff. Pottier und Reinach Nécropole de Myrina 1888, 393ff. 405ff. Drexler Jahrb. f. Philol. 1894, 321ff.). Es fehlt völlig an einer Sammlung derselben und einer geschichtlichen Beschreibung der verschiedenen Typen. Vieles ist noch unediert. Ich erwähne hier, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu machen, einige Denkmäler, wo A. allein dargestellt ist (für die andern s. Kybele).
- a) A. in orientalischer Bekleidung, welche den Bauch nackt lässt, um seine Verstümmelung anzudeuten: Montfaucon Ant. expl. I t. V. Clarac 396 C, 664 J. Müller-Wieseler II 63, 811. Longpérier Notice des bronzes du Louvre nr. 445. 446. Heuzey Gazette des b. arts XIV 389 vgl. 401. Pottier und Reinach a. a. O. Smith Archaeologia XXXVIII (1840) taf. 8. Gori Mus. Flor. 1740 = Dütschke Uffizien 133 (falsch restaur.). Rom Mus. Chiaramonti 647 und Neapel Piccoli bronzi 12592 (unediert).
- b) Ganz bekleidet, trauernd, das Kinn auf die Hand gestützt, gewöhnlich auf Grabdenkmälern (die Auferstehung des A. wurde wohl als eine Versprechung der Unsterblichkeit angesehen, vgl. CIL III 6384). Diese Darstellungen sind oft mit denjenigen des Cautopates (s. u.) verwechselt. Am Rhein: Haakh Philol. Versamml. Stuttg. 1856, 176, vgl. Urlichs Rhein. Jahrb. XXIII (1856) 1. Düntzer Mus. Wallr. Rich. in Köln 1885 nr. 83, 115. Hettner Mus. Univ. Bonn 1876 nr. 84. Aquileia: Arch.-epigr. Mitt. I 53. Salona: CIL III 6384. Brescia: Dütschke Bildw. Oberitaliens IV 354. 359. 380. Verona: ebd. V 555. Lectoure: Rev. sociét. sav. dép. 1879, 326. Neapel: Piccoli Bronzi XXXI nr. 109762; im Museum von Padua nr. 53 und in Klagenfurth nr. 218 (uned.). Ähnlich aus Tarsos Heuzey a. a. O. 403.
- c) Sehr merkwürdig ist eine Marmorstatue aus Ostia (Visconti Ann. d. Inst. 1860, 225 = Monum. d. Inst. IX 8, 2), A. gelagert mit dem Pedum und einem Strauss von Blumen, Früchten und Ähren. Auf seinem Haupt eine Tiara mit Sonnenstrahlen und Mondsichel. Eine Anzahl ähnlicher Darstellungen, wo eine Gottheit (Attis oder Men) mit Sternenhut oder Mondsichel erscheint, wird von Drexler a. a. O. erwähnt; vgl. Schoene Herm. III 477, 2.
- d) A. auf einem Widder, Buonarotti Medagl. ant. 375 = Müller-Wieseler II 63, 812. A. auf einem Wagen, der von vier Widdern gezogen wird, Visconti a. a. O. 239.
- e) A.-Silvanus mit Bogen, Köcher und Hund, Passeri Lucernae fict. I 118, abgeb. Haakh a. a. O. 185.
- f) A.-Mithras, den Stier tötend, Cumont Monum. du Culte Mithra p. 191, 5f. Der Kopf aus Ostia Monum. d. Inst. VIII 60, 4 (= Baumeister Denkm. 177) scheint keinen A., sondern einfach Sol, welcher ganz gut in einem Metroon verehrt werden konnte, darzustellen. Sog. A.-Büste in London, vgl. Friederichs-Wolters Bausteine 158.
Ältere Litteratur s. Haakh a. a. O. 177, 4. Maury Relig. de la Grèce III 90ff. A. in Griechenland: Preller Gr. Mythol. I 533. Foucart Associations relig. 90ff. In Rom: Preller Röm. Mythol. II 387ff. Marquardt Staatsverw. III² [2252] 367ff. Über die Fichte Rapp Roschers Lexic. I 715ff. Mannhardt Wald- und Feldkulte 291ff.