RE:Annales
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Jährliche Aufzeichnungen | |||
Band I,2 (1894) S. 2248 (IA)–2256 (IA) | |||
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Annales. Jährliche Aufzeichnungen, dann nach Jahren geordnete Geschichtswerke, Jahrbücher.
I. Annales maximi
I. Annales maximi, die älteste Form solcher Aufzeichnungen. Die Hauptstellen darüber sind Serv. Aen. I 373 (auf gute, alte Quelle zurückgehend, wie Seeck Kalendertafel d. Pontif. 86 vermutet auf Verrius Flaccus): ita autem annales conficiebantur: tabulam dealbatam quotannis pontifex maximus habuit, in qua praescriptis consulum nominibus et aliorum magistratuum digna memoratu notare consuererat domi militiaeque terra marique gesta per singulos dies, cuius diligentiae annuos commentarios in octoginta libros veteres retulerunt eosque a pontificibus maximis, a quibus fiebant, annales maximos appellarunt, wobei nur die etymologische Erklärung des Namens, die übrigens ebenso bei Fest. ep. p. 126 und bei Macrob. sat. III 2, 17 sich findet, verkehrt ist. Ferner Cic. de orat. II 52: ab initio rerum Romanarum usque ad P. Mucium pontificem maximum res omnes singulorum annorum mandabat litteris pontifex maximus referebatque in album et proponebat tabulam domi, potestas ut esset populo cognoscendi; i qui etiam nunc annales maximi nominantur. Also alljährlich, und zwar, wie Hübner, Peter und Seeck richtig hervorheben, zu Beginn des Jahres, wurde von dem Pontifex maximus in seinem Amtshause, der Regia, eine weisse, d. h. mit Gips überzogene Tafel aufgestellt und mit den Namen der jeweiligen Magistrate überschrieben; auf ihr wurden dann die wichtigeren Vorkommnisse des betreffenden Jahres per singulos dies verzeichnet. Der ursprüngliche Name dieser Urkunden wird tabula pontificis maximi oder tabula annalis gewesen sein, wenigstens [2249] sagt Cato bei Gell. II 28, 6 in tabula apud pontificem maximum und Polybios bei Dionys. ant. I 74 ὁ παρὰ τοῖς ἀρχιερεῦσι κείμενοις πίναξ. Die Vorstellung, die man sich von der Anlage dieser Aufzeichnungen zu machen hat, hängt im wesentlichen von der Auffassung der Worte per singulos dies ab. Meist übersetzt man dieselben ,mit Angabe des Datums‘ und sieht dann darin eine Anzahl in chronologischer Folge aneinander gereihter datierter Notizen über die bedeutsamsten Ereignisse des Jahres. Anders urteilt Seeck, dessen Ausführungen, wenn auch nicht in jedem einzelnen Punkte ganz überzeugend, unstreitig das Beste sind, was über die Annales maximi geschrieben ist. Er geht von der bedeutsamen kalendarischen Thätigkeit des Pontificalcollegs aus und bringt mit dieser die tabula pontificis in Verbindung, wie sie für die Magistratslisten, die fasti, ja feststeht. In der Jahr aus Jahr ein aufgestellten nur einen Tabula erkennt er richtig die alljährlich von den Pontifices öffentlich auszuhängende Kalendertafel, in die per singulos dies ,Tag für Tag‘ unter dem betreffenden Datum die wichtigen Ereignisse eingetragen wurden. Dabei stand natürlich nicht unter jedem Tage etwas verzeichnet, vielmehr mussten begreiflicherweise oft lange Zeiträume ohne jede Bemerkung bleiben.
Als Gegenstand der Eintragungen in die Tafel sind für uns aus der älteren Zeit sicher nachweisbar nur die folgenden: Sonnen- und Mondfinsternisse (Cato a. a. O. Cic. de rep. I 25), Teuerung, und also wohl auch Pest u. dgl. (Cato), Prodigien (wie Blitzschlag) und deren Sühnung (Gell. IV 5).
Wichtig ist die Frage, zu welchem Zwecke diese Eintragungen ursprünglich gemacht wurden; dass sie von Anfang an, wie es in der späteren Zeit der Fall ist, historiographischen Charakter tragen sollten, erscheint ausgeschlossen. Als Depeschen oder Bulletins in modernem Sinn zur schnellen Bekanntmachung wichtiger Nachrichten sehen sie Peter (Hist. rel. p. IX; Jahresbericht LXXVI 102) und Soltau (Röm. Chron. 445) an, doch brauchten gerade Dinge wie die oben angeführten, Teuerung, Mondfinsternis u. s. w. nicht erst dem Volke bekannt gemacht zu werden. Ebensowenig erscheint Seecks Ansicht haltbar, der die Eintragungen als Marksteine innerhalb des Kalenders zur leichteren Orientierung und als bequeme Anhaltspunkte für das Gedächtnis der Menge ansieht. Ganz abgesehen davon, dass damit für die frühen Zeiten die Kenntnis des Lesens als allgemein verbreitet vorausgesetzt wird, eignen sich längere Zeit andauernde Zustände wie Teuerung, Pest u. dgl. nicht zur Eintragung unter einem besonderen Datum und als Merktage. Um die Entstehung solcher Einzeichnungen in den Jahreskalender zu erklären, muss einmal der rein priesterliche Charakter derselben wie überhaupt der ältesten römischen Litteratur, dann aber die eminent wichtige Stellung des Pontificalcollegs im Staate und zum Staate im Auge behalten werden. An fast allen bedeutsamen Vorgängen im Staate, Tagesereignissen, historischen Vorkommnissen war das Colleg durch Opfer, Weihungen, Sühnungen, Feste amtlich beteiligt. Um nur einiges hervorzuheben – ausführliche Darlegungen [2250] s. bei Marquardt-Wissowa Staatsverw. III 256f. –, so lagen in der Hand der Pontifices die Sühnungen von Prodigien, von Vergehen und bei Todesurteilen, die Procuration des Blitzes, Processionen bei Dürre, Gelübde in Zeiten der Not, bei Pest, Kriegen u. s. w., die Consecration von Heiligtümern, die Überwachung der öffentlichen Feste und vieles andere mehr. Jedes solche Ereignis hatte also, abgesehen von seiner allgemeinen Bedeutung, noch eine specielle für das Colleg durch dessen dabei vollzogene Amtshandlungen. In späterer Zeit hatte es in den acta Protocolle für all diese Fälle, für die frühere Zeit dagegen liegt – da bei sehr vielen jener Ereignisse, zumal bei Gelübden, Tempelweihen, Festen, die an historische Facten anknüpfen, die Feststellung des Datums unerlässlich war – die Annahme nahe, dass die Pontifices ihre Amtshandlungen in dem von ihnen geführten Kalender anmerkten. Die oben geltend gemachten Schwierigkeiten sind dann hinfällig, denn wenn der Pontifex maximus auch eine Dürre nicht in dem Kalender unter einem bestimmten Datum verzeichnen konnte, so doch eine zur Abwendung dieser Dürre vom Colleg abgehaltene Procession, zwar eine Epidemie nicht, wohl aber ein zur Pestzeit an bestimmtem Termin erfolgtes Gelübde. Somit würde die Entstehung der Vermerke auf der tabula lediglich auf das praktische Bedürfnis der Priesterschaft zurückzuführen sein. Die Aufzeichnungen waren damals also noch keine Geschichte oder Geschichtschreibung, aber sie enthielten für eine solche Stoff und Material, wie etwa die Arvalacten für uns.
Nachdem sich dann so im Laufe der Zeit die Gewohnheit herangebildet hatte, alles historisch Bedeutsame, jeden Triumph, jeden Kriegsauszug, jede Wahl auf der Tafel zu verzeichnen, musste der ursprüngliche Hauptzweck der Eintragungen zurücktreten und sie sich allmählich zu einer bewussten und beabsichtigten Chronikführung entwickeln, so dass schliesslich alles digna memoratu domi militiaeque terra marique gesta (Serv. a. a. O., vgl. Cic. de orat. II 52) vermerkt war. Dabei wurden aber alle für das Collegium speciell wichtigen Dinge wie Prodigien, Priesterwahlen u. dgl. noch immer besonders sorgfältig verzeichnet. Aber auch noch auf dieser Stufe der Entwickelung werden die Aufzeichnungen als in dem Kalender verstreute Notizen, nicht als zusammenhängende Berichte über die Geschichte des jeweiligen Jahres zu betrachten sein. Die alten tabulae blieben im Pontificalarchiv verwahrt, waren aber schwerlich ausserhalb des Collegs bekannt oder benutzt, bis auf die Zeit hinab, da in Rom eine eigene Geschichtschreibung begann. Da freilich bildeten für die ersten Annalisten die Tafeln, wenigstens für die älteren Perioden, fast die einzige Quelle, und auf dem darin enthaltenen historischen Material baute sich ihre Darstellung auf. Dass sie dabei den Stoff in der That erst aus den Kalendertafeln herausschälen mussten und ihnen nicht schon wirkliche zusammenhängende Priesterchroniken vorlagen, darf wohl aus der Stelle des Dionys I 73 geschlossen werden, der die Nachricht wohl ebenso wie die andere über die Pontificaltafel (I 74) aus Polybios hat. Er sagt παλαιὸς μὲν οὖν οὔτε συγγραφεὺς οὔτε λογογράφος [2251] ἐστὶ Ῥωμαίων οὐδὲ εἶς • ἐκ παλαιῶν μέντοι λόγων ἐν ἱεραῖς δέλτοις σωζομένων ἕκαστός τι παραλαβὼν ἀνέγραψεν. Die uralten heiligen Tafeln, die aufbewahrt wurden, mit ihren λόγοι, aus denen die Annalisten jeder nach Gefallen dies oder jenes heraus entnahmen, können einzig eben die Pontificalkalendertafeln gewesen sein. Eine Buchchronik würde hier gar nicht passen, denn die λόγοι werden ja ausdrücklich in Gegensatz gestellt zu zusammenhängenden Darstellungen. Ein ungefähres Bild von dem Charakter jener den Kalenderchroniken entnommenen Nachrichten gewähren einzelne aus den älteren Annalisten geschöpfte Partien der ersten Decade des Livius (zusammengestellt z. B. bei Peter Hist. rel. p. XXV).
Auch als es in Rom bereits eine reiche historische Litteratur gab, blieb die Führung der Jahrestafel durch die Pontifices nach wie vor beibehalten. Sowohl Cato (bei Gell. II 28, 6) wie Polybios (bei Dion. I 74) erwähnten noch die zu ihrer Zeit jeweils aushängende Tafel, und diese kann, da eine dürftige Chroniktafel neben den litterarischen Werken unzeitgemäß und lächerlich gewesen wäre, eben immer noch nur die Kalendertafel gewesen sein. Ihr Inhalt war offenbar im wesentlichen noch immer derselbe (Cato: non lubet scribere quod in tabula apud pontificem maximum est, quotiens annona cara, quotiens lunae aut solis lumine caligo aut quid obstiterit), nur scheint, wie die Polybiosstelle schliessen lässt, das Jahr jetzt nicht mehr blos durch die Namen der Magistrate, sondern auch noch durch eine Jahreszahl ab urbe condita bezeichnet gewesen zu sein. Erst der Pontifex maximus P. Mucius Scaevola hat nach Cic. de orat. II 52 den alten Brauch aufgehoben. Da er 623/24 = 131/30 zu der Würde gelangte (Bardt Die Priester der vier grossen Collegien, Berlin 1871, 5) und zwischen 631 = 123 und 640 = 114 starb (Peter a. a. O. p. XVIII), ist das Aufhören der Jahrestafeln zwischen 624 = 130 und 640 = 114 anzusetzen. Der aufgeklärte Mann, der Freund der gracchischen Bewegung, hatte wohl erkannt, dass die alte Sitte sich überlebt hatte.
Dem späteren Altertum lag der Inhalt der Priestertafeln in einer grossen Gesamtpublication von 80 Büchern redigiert vor (Serv. Aen. I 373), und das elfte Buch dieser Gesamtausgabe wird thatsächlich bei Gellius IV 5, 6 citiert. Erst für diese Publication kann übrigens der Name annales maximi aufgekommen sein, um sie von den zahlreichen anderen annalistischen Werken zu unterscheiden; noch Cato und Polybios kannten nur die jährliche tabula pontificis. Wann und durch wen die Redaction, die dem Verrius sicher bereits vorlag, erfolgt ist, ist zwar nicht überliefert, doch wird sie allgemein und zweifellos richtig in Verbindung mit dem Abschluss der Tafelführung durch Scaevola gebracht. Der grosse Jurist, der selbst litterarisch thätig gewesen ist, wird die Zusammenstellung des in seinem Archiv erhaltenen Materials – sei es nach den Originaltafeln, sei es nach Abschriften derselben – veranlasst und damit zugleich die Priesterchronik endgültig abgeschlossen haben. Eine Hauptfrage ist nun die, welchen Zeitraum die 80 Bücher der annales maximi umfassten und bis auf welche Zeiten zurück [2252] Tafeln oder Abschriften noch zu Scaevolas Zeit vorhanden waren. Den einzigen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage bietet die Bemerkung Ciceros (de rep. I 25), dass nach der in den Annales maximi und bei Ennius unter dem 5. Juni 351 a. u. c verzeichneten Sonnenfinsternis alle früheren zurückberechnet worden seien. Daraus folgt, dass diese Finsternis die früheste in den später noch erhaltenen Tafeln eingetragene gewesen ist, dass also die Annales maximi nur wenig über jenes Jahr zurückgereicht haben können. Da aber andererseits die Führung der Jahrestafeln sicher viel älter ist, müssen die ältesten Tafeln schon vor der Redaction verloren gewesen sein. Allgemein wird richtig vermutet, dass sie bei der gallischen Katastrophe zu Grunde gegangen seien, worauf vor allem Livius VI 1 fuhrt, und dass höchstens die Tafeln der unmittelbar vorangegangenen Jahre dann aus dem Gedächtnis reconstruiert sein könnten. Die entgegenstehende Ansicht Holzapfels Röm. Chronol. 163, der die älteren Tafeln zwar bei der Einnahme Roms beschädigt, aber doch erhalten bleiben lässt, ist zwar nicht unmöglich, aber wenig wahrscheinlich. Die allgemein gehaltenen Worte Ciceros ab initio rerum Romanarum besagen nur, dass die Pontificaltafel seit sehr früher Zeit geführt wurde, nicht dass sie auch erhalten war. Auch die von Polybios erwähnte Datierung der spätesten Tafeln nach Jahren der Stadt zeigt nur, dass man damals zur grösseren Bequemlichkeit die gerade geltende Jahresziffer mit auf die Tafel setzte, nicht aber, dass diese Ziffer aus uralten bis in die Königszeit zurückreichenden tabulae gewonnen war.
Von entscheidender Bedeutung ist es ferner, festzustellen, wie sich die grosse Buchausgabe inhaltlich zu den einzelnen Jahrestafeln verhalten hat. Es wird allgemein angenommen, dass sie deren dürre Chroniknotizen in ausführlichster, zusammenhängender Darstellung aufs breiteste ausgeführt, erweitert, verfälscht und mit allerlei Geschichtchen und Anekdoten ausgeschmückt geboten und somit eine so unzuverlässige Überlieferung enthalten habe, wie wir sie sonst erst bei den jüngeren Annalisten finden. Diese Auffassung ist schon an sich höchst bedenklich, denn der dürre, spröde Stoff der Priesteraufzeichnungen, wie ihn noch Cato für seine Zeit schildert, war zu einer derartigen Erweiterung wenig geeignet; dann aber betont Cicero de leg. I 6, der nur die Buchausgabe kennt, mit den Atticus in den Mund gelegten Worten annalis pontificum maximorum quibus nihil potest esse ieiunius (so Ursinus zweifellos richtig für das iucundius der Hss.) den trockenen Charakter derselben, was mit der üblichen Auffassung unvereinbar ist. Allein einer schärferen Kritik gegenüber ist diese Ansicht gar nicht aufrecht zu erhalten. Sie beruht im wesentlichen auf zwei Gründen, zunächst auf der Erzählung bei Gellius IV 5: statua Romae in comitio posita Horati Coclitis, fortissimi viri, de caelo tacta est. Ob id fulgur piaculis luendum aruspies ex Etruria acciti inimico atque hostili in populum Romanum animo instituerant eam rem contrariis religionibus procurare; atque illam statuam suaserunt in inferiorem locum perperam transponi, quem sol oppositu circum undique aliarum [2253] aedium numquam illustraret. Quod cum ita fieri persuasissent, delati ad populum proditique sunt et, cum de perfidia confessi essent, necati sunt, constititque, eam statuam, proinde ut verae rationes post compertae monebant, in locum editum subducendam atque ita in area Volcani sublimiore loco statuendam; ex quo res bene ac prospere populo Romano cessit. Tum igitur, quod in Etruscos aruspices male consulentis animadversum vindicatumque fuerat, versus hic scite factus cantatusque esse a pueris urbe tota fertur: ,malum consilium consultori pessimum est‘. Ea historia de aruspicibus ac de versu isto senario scripta est in annalibus maximis, libro undecimo, et in Verri Flacci libro primo rerum memoria dignarum. Wenn diese Anekdote, die ihre junge Entstehung allein schon durch den einem Hesiodvers nachgebildeten Senar verrät, wirklich, wie Gellius behauptet, so in der Buchausgabe der Annales maximi gestanden hätte, so wäre die erwähnte Beurteilung dieser Ausgabe freilich nicht abzuweisen, allein das Geschichtchen hat gar nicht darin gestanden. Durch die wichtigen Untersuchungen von Mercklin (Jahrb. f. Philol. Suppl. III 635f.) und Kretzschmer (De A. Gellii fontibus, Posen 1860) ist die Art der Quellenbenützung und die Citierweise des Gellius völlig klargelegt worden und es hat sich ergeben, dass bei solchen Doppelcitaten Gellius immer nur den an zweiter Stelle genannten Autor wirklich benützt und bei ihm den anderen citiert gefunden hat (vgl. vor allem Mercklin a. a. O. 650f.). In dem vorliegenden Fall hätte also Gellius – wie bereits Hullemann, Mercklin und Kretzschmer gesehen haben – die ganze Geschichte dem Anekdotenbuche des Verrius Flaccus entnommen und dort die Stelle der Annales maximi nur als Beleg angeführt gefunden. Für wieviel diese aber als Quelle gedient hatte, hat Gellius selbst gar nicht mehr controllieren können; es braucht an der von Verrius citierten Stelle der Annales gar nichts weiter gestanden zu haben, als was die Eingangsworte des Gellius statua in comitio posita Horati Coclitis de caelo tacta est. ob id fulgur piaculis luendum aruspices ex Etruria acciti besagen und was ganz in den Rahmen der priesterlichen Vermerke hineinpasst. Die Anekdote mit dem Vers kann überhaupt gar nicht in der Ausgabe des Scaevola gestanden haben, weil durch Bücheler Rh. Mus. XLI 2 gezeigt ist, dass das Wort consultor – darauf beruht ja die ganze Erzählung – zumal in der Bedeutung ,Ratgeber‘ für Scaevolas Zeit ganz unerhört und erst bei Sallust nachweisbar ist.
Der zweite Grund, der in Verbindung mit dem eben besprochenen die Annahme einer weitgehenden Erweiterung und Verfälschung der alten Jahrestafeln bei der Redaction begünstigte, ist der allerdings höchst auffällige ausserordentlich grosse Umfang der Buchausgabe von 80 Büchern. Da, wie oben ausgeführt ist, die Annales maximi nur wenig über das J. 350 d. St. zurückgereicht haben können, so würde ein Zeitraum von ungefähr 280 Jahren in den 80 Büchern behandelt gewesen sein, während der gleiche Zeitraum bei Livius nur etwa 53 Bücher umfasste; d. h. bei Livius wären durchschnittlich ca. 5–6 Jahre in einem Buch berichtet gewesen, in den Annales [2254] maximi dagegen immer nur ca. 3–4 Jahre. Selbst wenn man mit Holzapfel die Annales maximi bis auf den Anfang der republicanischen Zeit zurückführen wollte, wäre das Verhältnis noch immer 6–7 Jahre auf ein Buch des Livius und 4–5 auf eines der Annales maximi. Auf jeden Fall also müsste, wenn die Publication der Annales maximi eine fortlaufende Darstellung bot, diese sehr viel breiter und ausführlicher gewesen sein als die schon sehr breite und eingehende des Livius. Dabei müsste diese Ausführlichkeit auch schon für die ältesten Partien angenommen werden, da das elfte Buch zwar nicht näher bestimmbare aber noch sehr frühe Zeiten behandelte. Aber mag man auch Ausschmückungen und Erweiterungen – für die jedoch nach dem Wegfall der Gelliusstelle gar kein Anhaltspunkt mehr vorliegt – in noch so grossem Umfange annehmen, so würden diese immer noch nicht die enorme Ausdehnung erklären können, zu der die ursprünglichen dürren Notizen angewachsen sein müssten. Diese sehr ins Gewicht fallende Schwierigkeit ist von Hullemann De annal. max. 51 und Peter a. a. O. p. XIX wohl erkannt, aber nicht befriedigend gelöst worden. Die im folgenden vermutungsweise vorgetragene Erklärung, für die sich freilich wie bei diesen Fragen überhaupt ein sicherer Beweis nicht führen lässt, würde jene Hauptschwierigkeit beseitigen. Wie durch die Stellen des Cato, Polybios, Dionys bewiesen, waren die alten, jedesmal den Kalender eines ganzen Jahres umfassenden Pontificaltafeln, sei es im Original, sei es in Abschriften aufbewahrt worden. Daraus die historischen Angaben herauszuziehen und zu publicieren – was ja eigentlich schon durch die ersten Annalisten geschehen war – konnte für Scaevola in einer Zeit, wo es bereits eine reiche historische Litteratur gab, keine Veranlassung vorliegen, auch würde der grosse Umfang der Publication dann unverständlich bleiben. Eine wirkliche litterarische Ausarbeitung bis zu jenem Umfange, deren Unwahrscheinlichkeit schon oben ausgeführt ist, wäre eine gewaltige That gewesen, deren Urheber nicht hätte in Vergessenheit geraten können und die vor allem ihre Spuren sowohl bei den Historikern hätte zurücklassen müssen wie in der Anekdotenlitteratur (Valerius Maximus, Plinius u. s. w.), für die sie ja die reichste Fundgrube gewesen wäre; endlich hätte auf eine solche wieder Ciceros Urteil über die ieiunitas nicht gepasst. Ganz anders liegen dagegen die Sachen, wenn die Redaction des Scaevola nicht die historischen Notizen allein, sondern die vollständigen, ja noch vorhandenen Kalendertafeln jedes Jahres, auch mit all den Tagen enthielt, unter denen nichts eingetragen war. Zu dieser Annahme stimmt die Schilderung bei dem Gewährsmann des Servius, der sicher nur die Buchausgabe der Annales maximi kannte: cuius diligentiae annuos commentarios in LXXX libros veteres retulerunt. Vor allem würde dann der Umfang der Publication sich einfach erklären; von dem vollständigen Kalender mit allen Eintragungen müssten unter Berücksichtigung der Schaltjahre thatsächlich 3–4 Jahrestafeln ein Buch von dem durchschnittlichen mittleren Umfang, wie ihn Birt berechnet, etwa ausfüllen. Das Urteil Ciceros ferner quibus nihil potest esse [2255] ieiunius würde für eine derartige Publication allerdings vollständig zutreffend sein, und thatsächlich musste ihr gegenüber selbst die kunstloseste Darstellung eines Annalisten einen Fortschritt bezeichnen. Endlich versteht man dann auch, warum die Buchausgabe der Annales maximi so wenig benutzt worden ist, und warum vor allem nachweisbar kein einziger der erhaltenen Historiker, weder Livius noch Dionys, dieselbe verwertet hat. Es war eben überaus mühselig, aus dem Wust einer jeden Jahrestafel die wenigen bemerkenswerten historischen Facten herauszuschälen, während man diese schon bei den Annalisten sehr bequem bei einander finden konnte.
Dass ausser dem einen officiellen Exemplar in 80 Büchern noch weitere vollständige Abschriften der Annales maximi existierten, ist wenig wahrscheinlich, auch ist es nicht bekannt, wie lange jenes Exemplar selbst erhalten blieb. Auf jeden Fall ist der Kreis derer, die das Werk kannten und benutzten, ein ganz kleiner gewesen. Seeck a. a. O. 88 zeigt, dass von uns bekannten Schriftstellern einzig Cicero (aus ihm ist, wie Hübner Jahrb. f. Phil. LXXIX 412 nachweist, die Stelle Quintil. X 2, 7 entnommen), Atticus und Verrius eine selbständige Kenntnis der Publication hatten, und auch Ciceros Bekanntschaft damit erscheint als eine nur ziemlich oberflächliche. So ist uns denn auch nur sehr wenig aus den Annales maximi erhalten, als unbedingt sicher beglaubigt nur die beiden besprochenen Stellen, die aus dem XI. Buch bei Gellius IV 5 und die Notiz über die Sonnenfinsternis bei Cicero de rep. I 25. Ein vermeintliches Fragment in der Hist. Aug. Tac. 1, 1 ist schwerlich aufrecht zu erhalten. Ausserdem lassen sich verschiedene Stücke unserer Überlieferung mit grosser Wahrscheinlichkeit in letzter Linie auf die Annales maximi zurückführen, so vor allem, wie schon Seeck annimmt, die capitolinische Triumphliste mit den Tagdaten, die wohl Atticus aus den Tafeln für sein Tabellenwerk ausgezogen hatte, dann die Prodigienliste, die uns vom J. 505 = 249 an bei Obsequens vorliegt (die Bernayssche, von Nitzsch erweiterte Hypothese, dass mit diesem Jahre überhaupt erst die Eintragung der Prodigien in die Pontificaltafeln oder gar die Führung dieser selbst begonnen habe, hat Seeck a. a. O. 68 widerlegt). Ferner gehen auf die Jahrestafeln der Pontifices auch die Fasten der Magistrate zurück, da ursprünglich Fasten, Kalender und Chronik identisch waren; und endlich eine ganze Reihe verstreuter guter Nachrichten meist mit Angabe des Datums über Tempelweihen, Vorgänge in den Priestercollegien u. dgl. m.
Litteratur: Hullemann De annalibus maximis, Amsterdam 1855. Hübner Jahrb. für Phil. LXXIX 401 ff. Seeck Die Kalendertafel der Pontifices, Berl. 1885. Schwegler R. G. I 7ff. Mommsen R. G.7 I 461. Peter Hist. Rom. reliqu. VIIIff. Nitzsch Röm. Annalistik, Berl. 1873, 237. Soltau Röm. Chronol. 442f. Teuffel R. L.-G. § 76. Schanz Gesch. d. röm. Litt. I 18. De la Berge bei Daremberg et Saglio Dictionn. I 272f.
II. Annales als Litteraturgattung
II. Annales als selbständige Litteraturgattung. Den Namen annales führen auch die älteren römischen Geschichtswerke, die, aus den tabulae pontificum geschöpft, von vornherein auf die Darstellung [2256] im Rahmen des Jahres hingeführt wurden und zunächst, ähnlich wie ihr Vorbild, in knappem, nüchternem Chronikstil verfasst waren (die Hauptstelle zu ihrer Charakteristik Asellio bei Gell. V 18, 8). Da eine Geschichte der römischen Annalistik für die Artikel über die einzelnen Annalisten vorbehalten ist, seien hier nur die Namen dieser Annalenschreiber in chronologischer Folge zusammengestellt. Die ältesten Annalisten, wie die Mehrzahl auch der späteren den Senatskreisen angehörend und selbst am Staatsleben beteiligt, gehören der auf den zweiten punischen Krieg folgenden Zeit an; sie bedienen sich noch der griechischen Sprache, zum Teil wohl auch mit deshalb, weil sie auf griechische Leser rechnen, und behandeln die Sagenzeit und ihre eigene Zeit ausführlicher, die ältere historische Zeit dagegen nur ganz kurz (κεφαλαιωδῶς Dionys. I 6). Zu diesen ältesten Annalisten gehören Q. Fabius Pictor (ein jüngerer lateinisch schreibender Mann dieses Namens ist wenigstens als Annalist zu streichen), L. Cincius Alimentus, C. Acilius, A. Postumius Albinus. Als dann durch Cato eine eigene römische Prosa geschaffen war, begannen annalistische Darstellungen auch in lateinischer Sprache und nun bereits von grösserer Ausführlichkeit. Verfasser dieser frühesten lateinischen Annalen sind L. Cassius Hemina, Q. Fabius Maximus Servilianus (Consul 612 = 142), L. Calpurnius Piso (Consul 621 = 133, Censor 634 = 120), C. Sempronius Tuditanus (Consul 625 = 129) C. Fannius (Consul 632 = 122), Cn. Gellius, Vennonius. Sie alle sind Zeitgenossen, und es ist sehr auffallend, dass gleichzeitig so viele Männer dieselbe grosse Arbeit unternommen haben. Da aber gerade zu jener Zeit Scaevola als Pontifex maximus die Führung der Jahrestafeln einstellte und die Redaction der Annales maximi veranstaltete, so liegt es nahe, eben mit diesem Vorgang den grossen Aufschwung einer annalistischen Litteratur und zwar einer gleichzeitigen in Verbindung zu bringen. Nachdem dann eine Reaction gegen die streng annalistische Form der historischen Litteratur vor allem durch Sempronius Asellio (Gell. V 18, 7) erfolgt war, ruhte sie längere Zeit ganz, um erst nach der sullanischen Periode in der jüngeren Annalistik wieder aufzuleben. Deren Vertreter sind Q. Claudius Quadrigarius, Valerius Antias, C. Licinius Macer, Aelius Tubero, die eine bereits sehr erweiterte, gefälschte und tendenziös gefärbte Darstellung mit eingelegten fingierten Reden u. s. w. boten, auf denen aber leider unsere Tradition vorwiegend beruht. Mit ihnen schliesst die Reihe der eigentlichen Annalisten ab; der Titel annales findet sich auch später noch häufig, aber oft in anderer Bedeutung; so war der liber annalis des Atticus eine wohl aus der Buchausgabe der Annales maximi ausgezogene chronologisch-historische Tabelle (Cichorius De fastis consularibus antiquissimis, Leipz. 1886). Annales sind ferner historische Werke folgender Schriftsteller betitelt: des Scribonius Libo, Q. Hortensius, Varro, Tanusius Geminus, Fenestella, Cremutius Cordus, während die Annalen des Tacitus zwar annalistische Form haben, nicht aber den Titel annales führen. Von Dichtern benannte Ennius sein Epos seines historischen Inhalts wegen annales.