Ἀρκτεία, ἄρκτοι. [WS 1] Die ἀρκτεία war ein im Artemiskult an verschiedenen Orten üblicher Brauch. Wir finden sie in Brauron (Schol. Ar. Lys. 646. Harpokr. s. ἀρκτεῦσαι), Munichia (Schol. Ar. Lys. 646. Paus. Lex. bei Eustath. Il. II 732 p. 331, 26ff. Apostol. VII 10 [aus Demon, vgl. Crusius Anal. crit. in paroem. gr., Lips. 1883, 146] = Suid. s. Ἔμβαρός εἰμι; den Peiraieus im allgemeinen nennt Bekk. An. I 444, 30), im Brauronion auf der athenischen Akropolis (Votivbärin daselbst gefunden, Ross Ann. d. Inst. 1841, 29. Beulé L’acrop. d’Ath. I 298; auch Ar. Lys. 645 ist wohl an den athenischen Kult gedacht); im Kult der Μεγάλη Θεός auf Lemnos (Eur. Hypsip. frg. 767 N. Aristoph. Lemniai frg. 8. 14, vgl. Steph. Byz. s. Λῆμνος). Er bestand darin, dass am Feste der Artemis Mädchen, ἄρκτοι genannt, in krokosfarbenem Gewande, das sie symbolisch als Bärinnen verkleiden sollte (Ar. Lys. a. a. O. mit Schol. Suid. s. ἄρκτος ἦ Βραυρωνίοις), dem Opfer einer Ziege durch die ἱεροποιοί (Poll. VIII 107) beiwohnten und der Artemis eine Zeit lang dienten (Schol. Ar. Lys. 646). Ihr Amt wird ἀρκτεύειν genannt, ebenso heisst die Opferhandlung (Bekk. An. I 206, 4. 444, 30. Harpokr. s. ἀρκτεῦσαι. Hes. s. ἀρκτεία); auch (δεκατεύειν wird dafür gesagt (Hesych. Harpokr. s. v.). Das Alter dieser Mädchen wird auf 5–10 Jahre angegeben
[1171] (Suid. a. a. O. und s. ἀρκτεύειν), und gesagt, es sei durch Volksbeschluss bestimmt gewesen, dass jedes Mädchen vor der Heirat die Weihe als Bärin durchmachen musste. Dass in der That über die ἀρκτεία ein Volksbeschluss bestand, geht daraus hervor, dass Harpokration die Sammlung der Psephismata von Krateros citiert. Er kann aber die ἀρκτεία nur im allgemeinen geregelt
haben, da sicherlich nicht alle attischen Mädchen ἄρκτοι werden konnten: sonst würde sich die Sprecherin bei Aristophanes damit nicht rühmen; auch sagt der Scholiast ausdrücklich, es seien ἐπιλεγόμεναι παρθένοι gewesen. Es hatten wohl nur gewisse Geschlechter das Vorrecht: die Altersgrenze war gewiss im Psephisma angegeben, muss aber falsch überliefert sein, wie schon aus der Aristophanesstelle hervorgeht. A. Mommsen (Heort. 406f.) vermutet daher ansprechend, die ἄρκτοι hätten über 10, vielleicht unter 15 Jahre alt sein müssen. Dazu passt, dass sie παρθένοι heissen, und dass stets hervorgehoben wird, sie hätten den Dienst πρὸ γάμων absolviert. Wahrscheinlich war ihr letzter Dienst das κανηφορεῖν oder ἑλεηφορεῖν (s. d.), was nach Schol. Theokr. II 66 am Artemisfest αἱ μέλλουσαι γαμεῖσθαι ἐπ’ ἀφοσιώσει τῆς παρθενίας ausführten, und zwar nach Ar. Lys. 646 mit Feigenschnüren behangen. Es liegt nahe, den Brauch mit den penteterischen Brauronien (Poll. VIII 107) so zu verbinden, dass an diesem Feste jedesmal die neuen ἄρκτοι ausgewählt wurden, während die abtretenden sich durch das symbolische Opfer der Kanephorie von der Verpflichtung loskauften. Der Sinn dieser Gebräuche führt in die Zeit der Menschenopfer zurück, von denen sich im Kult der Artemis (s. d.) mehrfach Spuren finden. Darauf führen auch die Stiftungslegenden (Bekk. An. I 444, 30. Paus. Lex. a. a. O. Apostol. a. a. O. Schol. Ar. Lys. 646. Suid.), die mit geringen Variationen erzählen, wie eine Bärin im Tempel der Artemis erschlagen worden sei, darauf Pest (λιμὸς aus Itacismus für λοιμὸς bei Schol. Ar. Lys. 646) eingetreten sei, gegen die das Orakel das Opfer einer Jungfrau verlangt habe; schliesslich habe die Göttin sich mit dem symbolischen Opfer einer Ziege begnügt, wenn ihr fortan die Mädchen des Landes als Bärinnen dienen würden. Die Legende ist durchsichtig genug: die Bärin ist Artemis selbst (vgl. ihre Hypostase Kallisto; häufig werden in alter Zeit die Götter in Tiergestalt gedacht, Hera als Kuh, Apollon als Delphin oder als Wolf, Dionysos als Stier, vgl. auch die ταῦροι des Poseidonkultus, die ἵπποι der Iobakchenfeier, die Böcke des Dionysoskultus, die Luperci in Rom); sie verlangt Menschenopfer (vgl. auch die, übrigens ebenfalls in Brauron localisierte [Phanodem. frg. 11. Schol. Ar. Lys. 646] Sage vom Iphigeneiaopfer), die in einer menschlicheren Zeit in Ziegenopfer umgewandelt werden. Um die Gottheit aber nicht zu verkürzen, muss das Jungfrauenopfer wenigstens symbolisch ausgeführt werden, die Mädchen, welche als δεκάτη dienen (so erklärte bereits Didymos bei Harpokr. s. δεκατεύειν diesen Ausdruck mit Recht), wohnen dem Opfer als Bärinnen verkleidet bei (zunächst wohl in Bärenfellen; als die Bären in Attika nicht mehr vorkamen, wurde dafür das braungelbe Krokoskleid gewählt) und müssen der Göttin bis zum nächsten Fest dienen, wo sie zur
[1172] Sühne (vgl. die φαρμακοὶ der Thargelien, oben S. 15. 53) mit Feigenschnüren behängt als symbolische Opfer in der Procession mitgingen, um dann entlassen zu werden. Vgl. Suchier De Diana Brauronia, Diss. Marb. 1847, 26ff. A. Mommsen Heort. 406f. Preller-Robert I 312, 2. 313, 1. 314f.