Römische Straßenjugend
Römische Straßenjugend.
„Römische Straßenjugend!“ denkt der kritische Leser, „sonderbares Thema! Die Straßenjungen werden in Rom sein wie überall: neugierig, naseweis, lärmend, meist schlecht gewaschen, stets unartig etc.“
Allerdings lassen sich diese Eigenschaften den römischen Gassenjungen nicht ganz absprechen. Auch kann ich nicht behaupten, daß sie alle so schön sind, wie die vielen sogenannten „Knaben aus Rom“, die – mit träumerischen Augen, langen (natürlich kohlschwarzen) Locken und zugehörigem Spitzhut – bei uns in allen Kunstläden und Schaufenstern in Oel, Aquarell, Kupferstich, Holzschnitt, Stahlstich etc. ausgestellt sind.
Und doch zeichnen sie sich vor der Jugend aller andern Städte aus durch etwas Eigenartiges, das sie bald zu Lieblingen dessen machen muß, der sie auch nur eine kurze Zeit lang mit Interesse beobachtet.
Das mag zunächst seinen Grund darin haben, daß Roms classischer Hintergrund die an sich oft unbedeutendsten Dinge dem Fremden bedeutsam erscheinen läßt – also auch den Straßenjungen. Diesem Zauber des Antiken unterliegt besonders der normale Deutsche, der als Mann von classischer Schulbildung mit dem historischen „frommen Schauder“ den antiken Boden betritt; er wird leicht geneigt sein, auch die zum Theil etwas minder würdigen modernen Römer mit einigermaßen romantischen Augen anzusehen. Natürlich –! Wer in seiner Jugend Jahre lang antike Geschichte und Sprachen studirt hat, wer als Lateinschüler mit saurem Schweiß die Geographie von Rom, die sieben Hügel und die Thore der ewigen Stadt auswendig gelernt hat, der betrachtet wohl unwillkürlich mit einigem Neid die ungewaschenen Jungen, die unter diesen Hügeln aufgewachsen sind und keine Schläge und kein „Nachsitzen“ bekommen haben, um zu lernen, wo man den Triumphbogen des Constantin und den tarpejischen Felsen zu suchen hat, und wer seiner Zeit, bedroht vom pädagogischen Stab des Rectors, „aqua – das Wasser“ decliniren lernen mußte, den berührt es eigenthümlich, wenn nun hier ein barfüßiger Bengel, der gewiß nie declinirt oder conjugirt hat, mit einem Glas Eiswasser auf ihn losstürzt: „acqua, Signore, acqua fresca, acqua!“ schreiend, – als ob es nicht Zumpt’s Grammatik bedürfte, um die Sprache Cicero’s zu lernen! Ganz charakteristisch für dieses Ueberraschungsgefühl war es, wenn ein deutscher Philologe und eingefleischter Grammatikal-Pädagoge bei dieser Gelegenheit mechanisch zu antworten pflegte: „Ja, aqua, Nominativ Singularis, das Wasser – aquae, Genitiv Singularis, des Wassers!“
Allein ich kann nicht zugeben, daß alles auf Illusion beruht, was die römischen Straßentypen, insbesondere die Jugend, auszeichnet. Nein, es ist thatsächlich etwas Besonderes in ihrem Wesen: eine Verkörperung jenes eigenthümlichen Contrastes von anmuthiger Grandezza und ruheloser Lebhaftigkeit, eine komische Mischung von edler Vornehmheit und unedler Gewinnsucht, von träumerischer Sinnigkeit und ausgelassenster Fröhlichkeit, welche ja allen Südländern der niederen Stände eigen ist, aber gerade bei der römischen Straßenjugend am allerfrappantesten zu Tage tritt. Wer nur irgend ein Auge hat für den sogenannten Straßenhumor, dem springen gerade bei ihr die heitersten Scenen auf Schritt und Tritt in’s Auge, der genießt Lustspiele, wie sie in keinem Theater der Welt dramatisch lebhafter und psychologisch feiner dargestellt werden können – alles nur für einen Soldo oder eine Cigarre!
Sehen wir uns diese Schauspieler ein wenig näher an! Wir können versichert sein, sie sind nie „unpäßlich“ und stets in Action.
Wir treten Morgens aus dem Hause, im Kopf den Schlachtplan für die heute zu besichtigenden Sehenswürdigkeiten. Auf der Straße herrscht schon reges Treiben; denn die kühlere Jahreszeit will ausgenützt sein. Aber unbekümmert um den geschäftigen Menschenknäuel, der die Straße auf- und abwogt, lagern auf dem Trottoir die langhaarigen Ziegen, die der Hirt aus der Campagna früh Morgens zur Stadt treibt, um die Milch zum Frühstück zu verkaufen. Der struppige Hirt hat soeben eines der Thiere gemolken und tritt in ein Café, seine Waare auszubieten.
Jetzt fährt hinter dem nächsten Eckstein hervor – wie der Falk auf die Tauben – ein brauner, halbnackter, kleiner Kerl auf einen der nachdenklichen Wiederkäuer los, stürzt sich nieder und – saugt aus Leibeskräften am vollen Euter, daß ihm die Milch über die Wangen trieft.
Ehe der brave Campagnole herausstürzt und den langen Prügel gegen den Milchdieb schwingt, entweicht dieser mit ein paar Sprüngen – sein Frühstück hat ihn gestärkt. Hinter dem Eckstein holt er seine Zeitungen hervor, und nun nimmt er seine unterbrochene Handelsthätigkeit wieder auf, mit entsetztich unmelodischem Tonfalle sein: „ecco giornali, ecco notizie nuovissime – Fanfulla – Popolo romano – ecco gazetta!“ hinausbrüllend. Ja, „brüllend“; denn es gilt, die anderen Zeitungsverkäufer zu überschreien und die übrigen Dutzende von Verkäufern anderer Artikel zu übertäuben, die ihrerseits mit geradezu polizeiwidrigem Geschrei ihre Fächer, Zündhölzer, Zahnstocher, Stadtpläne, Heiligenbilder, Lotterieloose, Hosenträger, Pantoffeln etc. etc. anpreisen. Einzelne mit besonders schrillem Organ ausgerüstete Kerle haben ihre Waaren in Reime gebracht und singen sie nach der Melodie irgend einer bekannten Oper, deren Componist sich [179] wohl nicht hat träumen lassen, daß sein musikalisches Meisterwerk noch zu einem Text über Zündhölzer und Zahnstocher werde gemißbraucht werden – ein wahrer Höllenlärm, der den ganzen Tag über tobt.
Daß wir Fremde sind, sieht natürlich jeder der Bengel auf den ersten Blick, daß wir Deutsche sind, ebenso. Folgerichtig stürzt der erste, der uns sieht, auf uns los: „Signori, prendete questo giornale; l’imperatore di Germania è ammalato.“ (Nehmen Sie diese Zeitung – der deutsche Kaiser ist krank.) Als patriotische Deutsche, die an ihrem Kaiserhaus liebevoll hängen, kaufen wir das Blatt, um zu erfahren, worin die Krankheit Seiner Majestät besteht. Natürlich ist die Krankheit reiner Schwindel; denn dem deutschen Kaiser geht es besser als je; das Blatt erzählt sogar von einer Reise desselben, aber der Verkäufer hat seinen Zweck erreicht und ist schon längst im Gewühl verschwunden, um andere anzuschwindeln, ehe wir uns nach ihm umsehen.
Wir sind am ersten Ziel unserer Wanderung angelangt und treten in eine der unzähligen Kirchen, um irgend ein berühmtes Deckengemälde oder eine Madonna zu bewundern. Dicht gedrängt voll von Andächtigen ist der Raum; elegante Damen und Herren, Bauern aus der Campagna, Arbeiter, alles holt sich im Heiligthum den Morgensegen für das beginnende Tagewerk. Am Weihwasserbecken aber entwickelt sich eine sonderbare Scene. Zwei kleine, barfüßige Gassenjungen mit braunen Waden und Armen lechzen förmlich nach dem heiligen Wasser, allein sie sind viel zu klein, um die Hand in das Marmorbecken tauchen zu können. Was thun? Ohne jedes Besinnen biegt sich der eine vornüber: „monta, monta! (steig’ hinauf!)“; der andere klettert ihm auf die Schultern, taucht den Finger, nein, die ganze Hand in das Weihwasser, bekreuzt sich und springt herunter. Das geht alles wie der Blitz.
Nachdem wir die Kirche verlassen, sehen wir uns nach einem Wagen um und fahren zur zweiten Nummer unseres heutigen Programms, nach Sanct Peter. Da wir aussteigen, ist der Kutscher, wie immer, natürlich nicht zufrieden mit dem Lohn und verlangt durchaus noch eine buona mancia (Trinkgeld). Während wir mit ihm streiten, kommt ungerufen ein kleiner Kerl von sechs oder sieben Jahren herzu und sagt uns in väterlich protegirendem Gönnerton. „O nein, meine Herren, zahlen Sie ihm nicht mehr als 80 Centesimi! Das ist genug – basta questo.“ In demselben Athem bittet er sogleich um einen Soldo für seine Intervention; wir lachen, geben ihm ein Geldstück, das er mit gnädigem: „grazie, Signore! a rivederla“ (Danke, auf Wiedersehen!) annimmt, dann aber entweicht er flüchtig; denn der Kutscher greift ingrimmig nach der Peitsche, um ihm die Vermittelung seinerseits zu belohnen.
Kaum haben wir zwanzig Schritte gemacht, als bereits ein anderer Junge herbeieilt mit geschäftigem:
„Si, Signori, Sie haben ganz Recht, hier geht’s nach S. Pietro in Vaticano – also einen Soldo!“
Welch logische Begründung! Natürlich jagen wir ihn fort, aber nach ein paar Augenblicken kommt ein Dritter herbeigestürzt:
„Mein Herr, mein Herr, Sie verlieren Ihr Taschentuch. Also einen Soldo!“
Vom Verlieren des Taschentuches ist natürlich keine Rede; das Taschentuch sieht nur vorschriftsmäßig etwas aus der Brusttasche hervor. Auch dieser Versucher wird abgewiesen – allein wir kommen vom Regen in die Traufe. Schnurstracks steuert ein kaum fünfjähriger Stiefelputzer mit hochgeschwungenen Bürsten auf uns zu:
„Die Stiefel, meine Herren!“
Da wir nicht so eitel sind wie die römischen Herren, die mindestens jede Stunde ihre Stiefeln putzen lassen, ignoriren wir diese Mahnung. Doch er zieht andere Saiten auf:
„Aber, meine Herren, solche Stiefel!“ ruft er vorwurfsvoll und läuft neben uns her. „O Dio mio! welch schmutzige Stiefel! O santa madre di Dio! welche Stiefel! O, meine Herren – nein, wie schmutzig! O, meine Herren – nein, es thut mir leid, meine Herren – in der That – aber nein, solche Stiefel – es thut mir leid um Sie, in fatto! es thut mir sehr leid, sehr!“
Das Alles im wärmsten Tone tiefinnigster moralischer Ueberzeugung! Das reine, uneigennützige, mitleidsvolle Bedauern mit einem Freunde, den man auf schlechten Wegen sieht – es kann nicht überzeugender und eindringlicher gegeben werden, als es dieser kleine Teufel thut, da er unsere Stiefeln putzen möchte „per due soldi“ (um zwei Soldi). Aber Alles hilft nichts; wir wollen unsere Stiefel durchaus nicht putzen lassen. Da, endlich, ergreift er sein letztes Mittel: mit lautem Gejohle verfolgt er uns:
„Oho, seht diese Deutschen! Dieses sind Deutsche. – Man erkennt alle Deutschen daran, daß ihre Stiefel nie geputzt sind.“
Nun, das geht uns denn doch zu nahe an unsern Nationalstolz: wir sind geschlagen und erlauben ihm lachend, unsere Stiefel zu putzen. Er putzt und erhält zwei Soldi; unsere Ehre ist gerettet, und wir können das Vaterland wieder würdig repräsentiren – was die Stiefel betrifft.
Man könnte hieraus schließen, diese kleinen menschlichen Blutegel, die nie um Mittel der Reclame verlegen sind und nie um einen Grund, einen Soldo zu erbitten, sie seien in der That mehr niederträchtige Krämer als liebenswürdige Schauspieler. Allein dieser Schluß wäre zu hart; man bedenke, daß sie meist aus directer Noth handeln; sie sind fast sämmtlich auf sich angewiesen und haben keine Eltern, die ihnen gegenüber eine Verpflichtung fühlen. Und andererseits ist es sicher, daß sie in das liebenswürdigste Gegentheil umgewandelt werden, sodald man einen wirklichen Dienst von ihnen verlangt. Ein paar Soldi oder eine Cigarre machen Jeden zum diensteifrigsten Gehülfen, zum besten Führer und zuverlässigsten Geschäftsträger. Mit angelegentlichster Sorgfalt bezüglich des kürzesten Weges führt uns Jeder, dem wir zuvor eine Cigarette anbieten, durch die Straßen, und mit komischer Grandezza entläßt er uns am Ziele mit einem pathetischen „Auf Wiedersehen, meine Herren!“ als ob er uns an die Pforten der Unterwelt hätte führen müssen und sich im Trennungsschmerze nur auf ein Wiedersehen im besseren Jenseits vertröste.
Wir führen unser Pragramm durch, und nachdem wir, vom überwältigenden ersten Eindrucke des gewaltigen Baues von S. Pietro ganz erfüllt, uns wieder in’s Freie gerettet haben, wandern wir zurück durch die volkreichen Straßen, froh, den riesengroßen, saharagleichen Platz vor St. Peter in der schattigen Colonnade Bernini’s umgangen zu haben, und froh, durch das lebhafte Treiben in den Straßen dem allzu imponirenden Eindrucke des architektonischen Weltwunders entzogen und der Alltäglichkeit näher gerückt zu werden. Mit besonderem Geschicke arbeiten an unserer Ernüchterung natürlich wiederum – die Straßenjungen, dieses verkörperte Gegengewicht gegen allzu gesteigerten Kunstenthusiasmus! Und was treiben jene Kobolde dort? Hat man je so etwas gesehen? Lieber Himmel, seit wann wird das Trottoirpflaster denn gewichst wie ein Paar Stiefel!? Ein dichter Menschenknäuel umgiebt in weitem Bogen zwei Stiefelputzerjungen, welche, etwa zehn Schritte von einander entfernt, auf dem Boden knieen und, in wahrhaft grimmiger Hast, das Trottoir mit Glanzwichse beschmieren.
Jauchzender Zuruf aus der Menge feuert jeden der beiden Wetteifernden zu erneuter Arbeitswuth an; mit vor Aufregung feuerrothen Köpfen schmieren die zwei Bengel darauf los, als gälte es, durch Wichseconsum einen Ehrenpreis im Schmier-Wettstreit zu erringen.
Was denn los sei, fragen wir einen der Umstehenden. Kaum hat er vor Interesse an dem Wettkampfe Zeit, uns zu erklären, daß dies zwei Stiefelputzer sind, von denen jeder den andern, seinen Concurrenten und Todfeind, „ruiniren“ will. – Und wodurch? Dadurch, daß jeder dem andern sein Bürsten- und Wichsekästchen entrissen hat und nun den Vorrath des Gegners auf’s Pflaster verschmiert. Welch abenteuerlicher Zweikampf! Welch aufregendes Schauspiel! Kaum ist ein Schächtelchen verschmiert, so wird wüthend in den Kasten gegriffen, ein Ruck – eine neue Dose aufgerissen, hinein mit der Bürste – und den Inhalt auf die Steine gerieben. Keuchend, schweißtriefend, in teuflischer Wuth wird gearbeitet – wieder eine Büchse leer! – „un’ altra scatola, avanti! presto!“ (noch eine Dose! vorwärts, schnell!) jauchzt die Menge umher. Auf’s neue gereizt reißt jeder eine neue Büchse heraus – den Deckel weg und losgeschmiert, daß die Patentglanzwichse umherspritzt wie die Sprengstücke einer krepirenden Granate – „bene, bene, avanti, presto!“ (bravo, bravo, drauf, drauf!) schreien die Umstehenden in ausgelassener Lust. Wieder eine Dose leer – ein blitzschneller, prüfender Blick herüber und hinüber, wie weit der Gegner voran ist mit dem Zerstörungswerk – und wieder und wieder wird geschmiert, gerieben, gebürstet, daß die Haare fliegen!
Aber jetzt ist der Wichsevorrath zu Ende; jetzt geht’s an die [180] Bürsten selbst. Die Borsten werden mit rasender Hast herausgezerrt, zerstäubt, zertreten, zerstampft – jetzt kommen die Kästen d’ran; die Bretter werden aus einander gerissen, die Nägel am Pflaster zerstoßen. Jetzt – jetzt ist alles, alles vernichtet; jetzt richten sie sich auf, ein Wuthgeschrei, ein Sprung da und dort, auf einander los, und man sieht nur noch eine unförmliche Masse am Boden sich wälzen, aus der je und je ein Kopf, eine Faust, die nach dem feindlichen Ohr faßt, ein Arm, ein Fuß herausschnellt – alles das kollert nur so über einander; die Höschen fliegen in Fetzen; die Haare stieben umher; die Kämpfer verbeißen sich in einander wie zwei Hunde. Jetzt endlich wird der Zuschauermenge die Sache zu kritisch. Einige Polizeisoldaten reißen die Kämpfenden aus einander. Mit blutigen Gesichtern, keinen ganzen Faden mehr am Leibe, stehen sie jetzt da, keuchend, in Schweiß gebadet und – fangen an zu heulen? – O nein! „un’ soldo, Signori o, un’ soldo!“ – Eingesammelt wird jetzt bei den Zuschauern als Lohn für die – „Vorstellung“!
„Einen Soldo, meine Herren, ein Trinkgeld für den armen Stiefelputzer!“
„O, mein Herr, einen Soldo; ich habe keine Bürsten mehr; o, ich bin so arm und habe noch drei kleine Brüder zu Hause, o, und mein Vater ist todt, o, und meine Mutter ist krank – also einen Soldo!“
Und alles lacht; da und dort klirrt ein Geldstück in die kleine Hand, die soeben noch des Feindes Kopf bearbeitet hat und nun so unschuldig bittend ausgestreckt wird; reich ist der Lohn, den sie einsammeln – noch einen drohenden Blick auf den Gegner, einen selbstbewußten auf das schwarzglänzende Trottoir – und dann: „Danke, adieu, auf Wiedersehen, meine Herren!“ und beide trotteln ab nach verschiedenen Seiten, und die Menge zerstreut sich lachend.
Ja, wer solche Scenen nicht selbst mit angesehen hat, macht sich keinen Begriff von der überwältigenden Komik derselben. Es sind Scenen, die einen Hendschel förmlich begeistern müßten, ganze Skizzenbücher mit ihnen zu füllen.
Und wie bezeichnend ist die Gefechtsmethode der Combattanten für ihr ganzes Wesen! Wenn unsere Buben auf einander eifersüchtig sind, so prügeln sie sich eben einfach. Der Italiener aber, speciell der Römer, ist Geschäftsmann vom Mutterleibe an – zuerst wird des Gegners Waarenvorrath vernichtet, seine Concurrenz zerstört; dann erst wird man handgemein: eine diabolische Taktik!
Und weiter geht unser Weg. Wir schlendern hin und her, über die Engelsbrücke, durch dichtbevölkerte, enge Straßen, über die Piazza del Popolo und die prächtige Marmortreppe zum Monte Pincio, wo Abends die elegante Welt Corso fährt, derweil die Sonne rücksichtsvoll hinter St. Peter’s Kuppel sich zurückzieht und die Cypressen im leichten Abendwinde ihre Zweige regen, die Fontainen kühlend plätschern und rauschende Musik durch den Park schmettert.
Fast wären wir geneigt, sentimental zu werden, aber so lange die satanischen Gassenjungen mit ihren Orangen- und Kirschenkörben uns nicht in Ruhe lassen, wird das wohl nicht gelingen. Unter jedem Baum, auf jeder freien Platte der Balustrade, bei jeder Bank haben sie ihre Niederlage, und wehe dem, der so unvorsichtig ist, einen der Früchteverkäufer eines Blickes zu würdigen – es ist ganz unmöglich, ihn wieder los zu werden, ehe man ihm eine Orange abgekauft hat.
Mit Hast ordnet hier ein vielleicht sechsjähriger Händler seine Früchte zu gefälligerem Ensemble in dem schlechten Korbe; ein wohlgenährter Reisender kommt ihm unkluger Weise zu nahe; nun stürzt der Junge auf ihn zu, setzt den Korb ihm dicht vor die Füße, tritt theatralisch einen Schritt zurück und haucht in augenverdrehender Verzückung:
[181] „O dio mio, che belle orange!“ (Ach mein Gott, was für schöne Orangen!)
Dabei eine Haltung, die, in Schiller’sches Deutsch übersetzt, ungefähr sagt: „Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!“ Der verliebte Prinz, dem die schöne, arrogante Turandot sich entschleiert – er kann nicht geblendeter vom Glanz ihrer Herrlichkeit sein, als der pockennarbige Bursche hier vom Anblick seiner schmierigen Orangen es zu sein scheint. Freilich erscheint er plötzlich wieder sehr gefaßt; die Verzückung hat ihm den Verstand nicht ganz geraubt; denn da der Fremde lächelnd weiter schreitet, hat er doch noch die Geistesgegenwart, ihn um eine Cigarre anzubetteln. Ob mit Erfolg, vermögen wir nicht abzuwarten; denn schon sind wir selber umlagert von einer Anzahl gleicher Kobolde – wir waren ja so unvorsichtig zu lachen, das kostet nothwendig einen Soldo oder eine Cigarette.
Und wie wird sich wohl jener Herr dort von ihnen loskaufen, der an der Skizzenmappe unter dem Arm schon von weitem als Zeichner oder Maler kenntlich ist? Der Arme! Er weiß noch nicht, wie sehr er in Rom als „Pittore“ mit Modellanerbietungen geplagt sein wird. Schon ist er von einem Bengel attakirt, der ihm mit lautem: „Hier bin ich ja, mein Herr!“ selbstbewußt entgegeneilt.
Der Herr mit der Mappe scheint sich zwar nicht zu erinnern, ihn bestellt zu haben, besieht sich vielmehr den schwarzen Burschen mit Befremden. Der aber läßt sich nicht beirren:
„Ja, ja, mein Herr, Sie suchen mich; gewiß, mein Herr! Ja, Sie wollen mich malen. Vabbene! Wie wollen Sie mich malen? So – oder so?“
Dabei nimmt er, weiß Gott welche, malerische Stellung an, wie er sie den Statuen oder den Gemälden in den Fenstern der Kunsthandlungen abgelauscht hat. Aber keine dieser „Posen“ will dem Maler imponiren; ungeduldig sagt der Kleine, der fortwährend neben ihm her eilt: „Aber so werden Sie mich doch malen?!“
So anmuthig wie möglich beugt er seinen kurzhaarigen Kopf vorwärts; die eine Hand wird stramm vorgestreckt, die andere legt sich mit gekrümmtem Zeigefinger an die Wange; tänzelnd hüpft er in die Höhe, die Beine graziös balancirend – o ja, man sieht klar, was er als Trumpf vorführt: es ist Amor, der auf den Wolken leichtbeschwingt einherschwebt und eben den sichertreffenden Pfeil auf sein Opfer entsendet hat! Daß Amor in diesem Falle nicht allzu sauber gewaschen dem Olymp entronnen zu sein scheint, stört ja die Illusion in keiner Weise.
Allein der Herr Maler ist ganz unempfindlich gegen die Gliederverrenkungen Amor’s – er hat offenbar gar keinen „Blick“ für Schönheit. Verzweifelt giebt Amor sein Spiel auf.
„Dann geben Sie mir wenigstens einen Soldo oder eine Cigarre.“
Unser Tag geht zu Ende. Aber noch ehe das Tageslicht ganz verschwunden ist, erleuchten Tausende von Laternen die Plätze und Straßen, auf deren Trottoiren sich Stuhl an Stuhl, Bank an Bank in endloser Kette an einander reihen; Kaffeetrinker und Sorbettoschlürfer haben sich in dichten Gruppen plaudernd und lachend darauf niedergelassen: sie freuen sich der nächtlichen Kühle, froh, daß wieder ein heißer Junitag überstanden ist. Aber unter den eleganten Kaffeetischchen, zwischen dem Gewimmel der Menschen- und Stuhlbeine hindurch winden sich in schlangenartiger Geräuschlosigkeit die unvermeidlichen Gassenjungen, die geschmeidig von einer Gruppe zur andern krabbeln, um nach Cigarrenstummeln zu fahnden. Kaum wirft einer der rauchenden Kaffeeschlürfer einen Cigarettenrest weg, so fahren blitzschnell zwei, drei nackte braune Arme unter jedem Tisch und Stuhl hervor – eine kurze Balgerei, ein leidenschaftliches „va via!“ („weg da!“), [182] einige „maledettos“ („verflucht!“) – und der Sieger, der den schmutzigen Cigarrenstummel errungen hat, erhebt sich mit virtuoser Grandezza, lehnt sich großartig faul an die nächste Wand oder Laterne, den zerfetzten Stummel im Mundwinkel und mit überlegener Blasirtheit das Menschengewühl überschauend –: Guter Gott! wie so nichtig verschwinden doch all die Sorgen des Lebens, wie eitel und kleinlich erscheinen all die Leidenschaften der Welt, wenn man so Abends behaglich seine Cigarre raucht – und sei’s auch nur „kalt“!
Aber wo übernachtet denn diese Bande? O, Nachtlager giebt es in der heiligen Stadt genug! Daran hat ja Rom einen wahren Luxus! Wozu wären denn sonst überhaupt alle die Säulenhallen, die Kirchenportale, die Nischen an jeder Capellenmauer? Hinter den marmornen Beinen der Heiligenbilder, die in jeder Nische paradiren, schläft sich’s trefflich, und besonders bequem hat man’s auf der rundlich gefalteten Schleppe der unzähligen Madonnenstatuen; des heiligen Petrus opulenter Mantel deckt brillant vor dem widerwärtigen Mondschein, und der heilige Sebastian ladet förmlich ein, hinter ihm sich zu Schlaf zu legen. Wozu auch wäre denn die Basilika des Constantin mit ihren vortheilhaften Tonnengewölben über jedem der kolossalen drei Bogen, wozu die schön gerundeten Thore und gar die Triumphbogen, wenn nicht die Straßenjungen des modernen Rom darunter ihr Nachtquartier suchten? Auch das Colosseum mit seinen achtzig Portalbogen wäre eine schätzenswerthe Nachtherberge. Allein hier ist der Umstand etwas störend, daß in einem der Portale die Polizei ein Sicherheitswachlocal eingerichtet hat, und vor der Polizei hat der hoffnungsvolle Gassenbengel stets eine gewisse unbestimmte Scheu; auch ist es unangenehm, daß häufig von sentimentalen Reisegesellschaften im Colosseum Nachts bengalische Beleuchtungen arrangirt oder gar beim Mondschein Concerte gegeben werden: nein, solche Abgeschmacktheiten und Schlafstörungen liebt der junge Römer nicht. Lieber noch legt er sich auf das bloße Pflaster oder auf eine breite Hausschwelle, und wenn wir endlich gegen Mitternacht, müde vom vielen Sehen, nach Hause schlendern, stolpern wir wohl noch unter der Hausthür über ein Paar kurzer, nackter Beinchen, deren schlaftrunkener Eigenthümer, ohne sich aufzurichten, nur noch mechanisch die Hand ausstreckt: „un’ soldo, Signore!“
Und so lebt Tag für Tag die römische Straßenjugend, jedes Einzelexemplar ein drolliges Gemisch von Gutmüthigkeit und Teufelei, Naivetät und Gaunerei. Im beständigen Kampfe um’s Dasein wachsen sie auf und werden groß auf der Straße; sie ist ihre Heimath und ihre Schule zugleich. Geradezu neiderweckend ist die grenzenlose Leichtlebigkeit, mit der so ein römischer Gassenjunge durch’s Leben schlendert; er kennt keine Sorge als die um das unmittelbar Nöthige, keinen Kummer als den, daß augenblicklich keine Cigarre zu haben ist. So wächst er allmählich zum jungen Manne heran, ausgestattet mit aller Lebensklugheit und Gewandtheit. Geradezu zu Allem ist er brauchbar, nur nicht zum Stillsitzen. Vorzügliche Diener, die findigsten Soldaten, die anspruchslosesten Arbeiter erwachsen aus diesen Straßenjungen Roms – freilich auch – Taugenichtse und Verbrecher.
Jedenfalls sind diese kleinen Teufel eine interessante, lebensvolle Staffage des ewigen Rom – wenn nicht um ihrer selbst willen interessant, so doch gewiß als Contrast, gegenüber der Würde und Größe, welche sie rings umgiebt, gegenüber dem classischen Boden, auf dem sie wandeln.