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Römische Cäsaren/Tiberius

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Autor: Johannes Scherr
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Titel: Römische Cäsaren.

I. Tiberius.

Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47–49, S. 779-782, 795-797, 812-815
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[779]
Römische Cäsaren.
Von Johannes Scherr.
I. Tiberius.


1.

Im Jahre 14 der christlichen Zeitrechnung, am 19. August, ist zu Nola in Campanien Gajus Julius Cäsar Octavianus Augustus gestorben, der Rächer seines von der republikanischen Aristokratie Roms ermordeten Großoheims, der Begründer nicht, aber der Feststeller und Ausbauer der römischen Monarchie. Der nahezu siebenundsiebzigjährige Kaiser – denn er war es, welcher den Namen Cäsar zuerst im Sinne des kaiserlichen Herrschertitels trug – hatte seinen Stief- und Schwiegersohn Tiberius, welcher sich in Brundusium nach Illyrien einschiffte, bis nach Beneventum begleitet und war von dort nach Nola gereist. Hier erlitt er einen heftigen Rückfall in die Dysenterie, welche er sich unlängst durch eine Verkältung in Astura zugezogen hatte, von der er aber während eines Aufenthaltes in Neapel und auf der Insel Capreä, einer Privatbesitzung der cäsarischen Familie, scheinbar vollständig genesen war.

Seine Umgebung erkannte bald, daß es verzweifelt um ihn stände, und die Kaiserin Livia jagte ihrem Sohn Tiberius Eilboten nach, um den muthmaßlichen Thronerben an das Sterbebett des „Herrn der Welt“, des „imperator urbis et orbis“, zurückzuholen. Er kam. Ob aber noch rechtzeitig, ist fragwürdig, wennschon einer der Hauptquellschriftsteller, aus welchen wir, der vielen und nur allzu begründeten kritischen Bedenken ungeachtet, römische Kaisergeschichten schöpfen müssen – Sueton – mit Bestimmtheit versichert, Tiberius habe seinen Stief-, Schwieger- und Adoptivater noch am Leben getroffen und in langem Geheimgespräch die letzten Willensbestimmungen desselben empfangen.

Augustus täuschte sich keineswegs über seinen Zustand und nicht allein mit ruhiger Gefaßtheit, sondern sogar mit heiterer Ironie sah er dem letzten Augenblick entgegen. Dieser Mann hatte ja alles genossen, was die Erde selbst dem kühnsten Begehren zu bieten vermag. Er war einer jener großen Verbrecher der sogenannten Weltgeschichte, –

„Die stört nicht im Innern
Bei lebendiger Zeit
Ruhloses Erinnern
Und vergeblicher Streit“ –

einer jener Weltkomödianten, welche eine Laufbahn voll Frevel und Ruchlosigkeit nur als eine Rolle fassen und führen, deren Text, so bilden sie sich ein, das unwiderstehliche Schicksal selber gedichtet habe. Die Erinnerung an die Myriaden von Menschenopfern, die er der Erlangung und Festhaltung seiner Kaiserschaft dargebracht hatte, beeinträchtigte gewiß nie weder seinen Appetit noch seinen Schlaf. Es ist ihm sicherlich nie eingefallen, seine Füße darauf anzusehen, ob von den Blutströmen, die er durchwatet hatte, um zum Kaiserthron zu gelangen, kein Roth daran haften geblieben. Er nahm sich niemals Zeit zu Gewissensbissen und dergleichen unpraktischem Zeug mehr. Er hatte genug zu thun, gut zu schauspielen. Mit vollendeter Heuchelkunst wußte er den Leuten weiszumachen, das ihnen von ihm auferlegte Joch wäre keins. Seine Monarchie heuchelte immerzu noch die Republik, deren Formen und Formeln er ja bestehen ließ. Im übrigen war diese Monarchie, welche wenigstens Ordnung und Sicherheit schuf, eine Wohlthat. Wie wäre auch in diesem Rom, wie es durch die Gräuel der Zeit des Marius und Sulla, weiterhin durch die Bürgerkriege während der beiden Triumvirate geworden, die Republik, eine wirkliche Republik, noch eine Möglichkeit gewesen? Schon der bloße Gedanke war Narrheit.

Ja, mit Gelassenheit und Humor erwartete der Kaiser das Ende, als ein Mann, der bis in seine Fingerspitzen hinaus überzeugt war, daß mit dem Tod alles aus und vorbei. Konnte der, welcher mit Antonius und Lepidus zusammen die fürchterlichen „Proscriptionslisten“ entworfen hatte, an eine Fortdauer nach dem Tode, an eine jenseitige Vergeltung glauben? Nein. Die Märchen vom Elysium und vom Tartarus, welche der geschmeidige Hofpoet Vergil in so wohlklingende Verse gebracht, waren ja ganz gut als Unterhaltungsfüllsel für müssige Stunden; aber daran zu glauben, das konnte selbstverständlich nur dem Pöbel zugemuthet werden.

Am Morgen seines letzten Tages fragte der zum sterben Bereite, ob man in der Stadt von seinem Zustande Kenntniß hätte und ob sich die Leute darüber beunruhigten. Als man ihm [780] gesagt, alles ginge in Nola den gewohnten Gang, hieß er einen Spiegel bringen und ließ sich frisiren. Dies geschehen, richtete er an die sein Lager umstehenden vertrauten Höflinge die Worte: „Sagt einmal, Freunde, habe ich die Posse des Lebens anständig (commode) durchgespielt?“ fügte dann mit leiser Stimme aus dem Epilog zu einer griechischen Komödie die Verse hinzu:

„Wenn das Stück euch hat gefallen,
Nun, so laßt den Beifall schallen!“

ließ sich in die ausgestreckten Arme der Livia fallen, sagte dieser Frau, welche er sehr geliebt und wohl auch ein bißchen gefürchtet hatte, noch ein zärtliches Wort und verschied.

Tiberius Claudius Nero, der Stief-, Schwieger- und Adoptivsohn des Todten, war jetzt Princeps, Imperator, Cäsar. Denn seine Nachfolge im Besitze der höchsten Macht über den römischen Staat und damit über den „Erdkreis“ ging ohne Schwierigkeit vonstatten, obzwar der römische Adel den neuen Herrscher sehr scheel ansah. Diese mit leicht zählbaren Ausnahmen bis zum Angefaultsein verderbte Aristokratie war durch Augustus so gezähmt worden, daß die Söhne und Enkel und Vettern derer, von welchen Julius Cäsar umgebracht worden war, alles Ernstes an den „göttlichen“ Ursprung glaubten, welchen die höfische Poesie, wie sie im „augustischen Zeitalter“ aufgekommen, dem julischen Geschlechte, das seine Herkunft vom sagenhaften Trojaner Aeneas ableitete, unterthänigst angeschmeichelt hatte. Der neue Kaiser war kein Julier, sondern nur ein Claudier und das ist ihm von den römischen Legitimisten niemals verziehen worden. Er galt diesen Junkern, welche ihren Legitimismus wunderlichst mit Republikanismus zu verquicken liebten, als ein Eindringling. Und um wie viel mehr vollends den Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses!

Hier liegt zweifelsohne die Wurzel des schlechten Rufes, welchen man in den Kreisen der römischen Aristokratie dem Tiberius zurechtmachte, lange bevor er denselben verdiente. Hier wurden die Farben gerieben und gemischt zu jenem Bild eines Ungeheuers, einer Verkörperung des Begriffes „Tyrann“, als welches und als welche das Alterthum den Sohn der Livia den spätern Zeiten überliefert hat. Und so gewaltig war die Wirkung und Nachwirkung des Hasses, welchen der römische Adel dem Nachfolger des Augustus vom Anfang an trug, daß sogar der hohe Geist eines Tacitus der Ueberlieferung sich beugte und die Erscheinung des Tiberius mit einer Voreingenommenheit und Einseitigkeit ansah und behandelte, welche die moderne Kritik dem großen Geschichtschreiber nachwies und mit Recht zum Vorwurf machte. Schon der geistvolle französische Skeptiker Montaigne hat im 16. Jahrhundert den Anstoß zu solcher Kritik gegeben und merkwürdig ist auch, daß Napoleon i. J. 1804 gegen Fontanes über die Mängel der taciteischen Geschichtschreibung sich ausließ, welche seither durch deutsche Kritiker wie Krüger, Sievers, Höck, Wietersheim, Stahr, Hertzberg und andere, sowie durch englische wie Ihne und Merivale allseitig untersucht und erörtert worden sind. Die Quelle dieser Mängel ist gewesen, daß Tacitus ein überzeugter aristokratischer Republikaner oder republikanischer Aristokrat war, welcher ehrlich und fest glaubte, mit der Unterwerfung der römischen Aristokratie durch die cäsarische Monarchie hätte der unaufhaltsame Untergang des römischen Staatswesens angehoben. Unter diesem Gesichtspunkt hat er auch den Tiberius und dessen Regierung angesehen. Aber die berühmte Schilderung dieser Zeit in seinen „Jahrbüchern“ ist keineswegs folgerichtig durchgeführt. Denn nicht selten richtet sich doch der Geist der Wahrhaftigkeit in dem „großen Koloristen“ gegen die Zumuthungen vonseiten der Parteibornirtheit und der Klatschtradition entschlossen auf. Dadurch kam Ungleichheit und Unfolgerichtigkeit in das Gemälde. Wäre Tacitus konsequent verfahren, so hätte er, welcher nicht nur im politischen, sondern auch im ethischen, also im besten Sinne ein Aristokrat war, den Tiberius eigentlich sympathisch ansehen und behandeln müssen. Denn der Kaiser, obgleich mit Abrechnung seiner letzten Regierungsjahre einer der besten Regenten, welche Rom jemals gehabt, war bei der urtheilslosen Menge, der er etwas vorzuschauspielen verschmähte und deren Gunst oder Abgunst er gleichermaßen stolz verachtete, im höchsten Grade unpopulär. Die Menge will beschmeichelt und mit schönen Worten geködert sein. Der Erzheuchler Augustus hatte das wohl gewußt und sehr geschickt bethätigt. Sein schwermüthiger Nachfolger verschmähte diese kleinen, aber für einen Monarchen immerhin großen Künste und Kniffe und blickte mit der gleichen Gleichgiltigkeit auf den Haß der Junker wie des Pöbels herab.

Schwermuth war diesem Mann an- und eingeboren. In die Menschenverachtung hat er sich erst eingelebt. Und sie galt auch nur seinen Zeitgenossen. Bezeichnend sagt Tacitus: „Ihm lag weniger der Beifall der Mitlebenden als die Anerkennung der Nachwelt am Herzen.“ Gewiß kein unedler Ehrgeiz.

Die gäng und gäbe Vorstellung von Tiber wird sich gegen die Thatsache sträuben, daß er in der Blüthe seiner Männlichkeit für einen der schönsten Männer Roms galt. Seiner aus dem Alterthum herabgekommenen Porträtbüste zufolge, welche das vatikanische Museum bewahrt, war dieser Ruf wohlgerechtfertigt. Mag auch das Marmorbild des Prinzen etwas idealisirt sein, immerhin zeigt es uns einen edelgeformten Kopf und ein feingeschnittenes, geistvolles Antlitz, über welches ein Hauch von Melancholie gebreitet ist. Einen ganz andern Eindruck aber macht eine Porträtbüste, welche, im Museo Nazionale in Neapel zu finden, den altgewordenen Kaiser darstellt, gewitterdüster, um die gekniffenen Lippen einen schneidenden Zug von Skepsis, das ganze Gesicht wie von einer verderbenträchtigen Wolke von Haß und Hohn beschattet.

Wie er in diesen Bildnissen erscheint, so stand der junge und so der alte Tiberius in der Geschichte Roms – erst ein jugendlicher Heros, dann ein greiser Dämon, welcher viel, sehr viel gelitten und das Allerschlimmste erfahren haben mußte, um das zu werden.

Seine ganze Erscheinung ist keineswegs so räthselhaft, wie sie der oberflächlichen Betrachtung allerdings erscheinen mag. Um den gewordenen Tiberius zu begreifen, muß man den werdenden kennen. Der Knabe und Jüngling kann und soll uns den Mann und Greis erklären.


2.

Tiberius stammte von väterlicher und mütterlicher Seite aus dem hocharistokratischen Geschlechte der Claudier, welches, ursprünglich aus Sabinum nach Rom eingewandert, zu verschiedenen Zeiten in der römischen Geschichte eine so vortretende Rolle gespielt hatte, daß seine „Stemmata“ (Ahnentafeln) fünf Diktatoren, zwanzig Consuln und sieben Triumphatoren aufwiesen. Im gleichen Maße jedoch, wie sich die Claudier durch ihre Verdienste um den Staat berufen, hatten sie sich durch ihren unbändigen Stolz und junkerhaften Hochmuth verrufen gemacht. Tibers Vater, Tiberius Claudius Drusus Nero, hatte als der Charakterschwächling, welcher er war, den Ruf seines Hauses nicht gemehrt. In den Bürgerkriegen war er zweiächslerisch von einer Partei zur andern ge- schwankt. Erst ein Genosse des Brutus und des Cassius, dann ein Mitkämpfer des Sextus Pompejus, hatte er seinen Frieden mit dem Triumvir Antonius gemacht und unterwarf sich dann schließlich dem Octavian.

Jahrelang hatte er infolge der angedeuteten Parteistellungen mit seiner jungen Gattin Livia Drusilla, von ebenfalls claudischer Abkunft, ein abenteuerliches Kriegs- und Wanderleben geführt und auf einem dieser Züge hatte ihm die erst vierzehnjährige Livia am 6. November des Jahres 41 v. Chr. seinen Erstlingssohn Tiberius geboren. Der Vater mußte häufig große Müh- und Drangsale bestehen, um Mutter und Kind vor den Soldaten des Octavianus zu retten, desselben Octavianus, den ein „wunderbares Spiel des Schicksals“ später zum Gatten der Livia und zum Adoptivvater Tibers machte.

Livia, wohl zu schmeichlerisch als die schönste Frau ihrer Zeit gepriesen, aber fraglos eine der klügsten, eine kalte und berechnende Natur, war achtzehn Jahre alt, als sie die Blicke des siegreichen Triumvir Octavian auf sich zog, welcher ein ebenso großer Weiberjäger als Männervertilger gewesen ist. Er merkte bald, die schöne Livia wäre zu klug, ihn anders als durch Heirat in ihren Besitz gelangen zu lassen. Er beschloß also, sie zu heiraten. Freilich war auch er bereits verheiratet, allein derartige Hindernisse wurden im damaligen Rom für gar keine angesehen. Octavian verstieß seine Gattin Scribonia, verstieß sie an demselben Tage, wo sie ihm seine Tochter Julia gebar, welche nachmals so fürchterlich verrufen, aber immer noch schlechter war als ihr Ruf. Zugleich befahl der Allgewaltige dem Tiberius Claudius Drusus Nero, sich ebenfalls von seiner Frau zu scheiden. [782] Dies geschah und der gehorsame Ehemann trieb die Gefälligkeit so weit, daß er, so zu sagen, den Brautführer machte, als Octavian mit der Livia Hochzeit hielt. Drei Monate später gebar sie den Claudius Drusus Nero, welchen Sohn Octavian dem ersten Gemahl seiner Frau zustellen ließ. Tiberius Claudius Drusus Nero starb unlange darauf, nachdem er den Octavian zum Vormund seiner beiden Söhne Tiberius und Drusus bestellt hatte.

Tibers Kindheit und Jugend war eine nichts weniger als glückliche und es bewahrheitete sich an ihm auch der göthe’sche Ausspruch, daß niemand die ersten Eindrücke des Daseins je zu verwinden vermöge. Erst neun Jahre ist er alt gewesen, als er, römischem Gebrauche gemäß, seinem Vater auf dem Forum die Leichenrede halten mußte. Von Natur scheu und verschlossen, wie er war, konnte sein Aufenthalt im kaiserlichen Palatium ihn immer nur mißtrauischer gegen sich selbst und gegen andere machen. Er vereinsamte schon als Knabe. Zwar seine Mutter liebte ihn und baute, wie nicht zu bezweifeln, auf die unverkennbarst bedeutenden Geistesgaben ihres ältesten Sohnes um so mehr hochfliegende Pläne, als ihre Ehe mit dem Cäsar Augustus, wie Octavian jetzt hieß, kinderlos blieb. Aber sein Stiefvater konnte ihn nicht leiden und zog ihm nicht nur, wie natürlich, die eigene Tochter Julia, sondern auch seinen jüngeren Bruder Drusus augenscheinlich weit vor. Tiberius fühlte, daß er überflüssig, daß er diesen und jenen im Wege. Das machte ihn ungesellig und, weil er sich nicht an den Leuten abschleifen konnte, eckig und steif in seinem Gebaren. Dazu kam, daß er infolge der Frühreife seines Verstandes wie infolge der Verhältnisse schon in Knabenjahren ein scharfer Beobachter wurde, und was er in seiner Umgebung vom Thun und Treiben der Menschen sah, mußte in seiner Seele den Keim der Menschenverachtung und des Menschenhasses entstehen und wachsen machen.

Schon frühzeitig hieß er seines unjugendlichen, ernsten und zugeknöpften Wesens wegen bei Hofe spöttlich „der Alte“. Gerechter wäre es gewesen, ihn einen „Reifen“ zu nennen. Denn schon als Jüngling war er zu einer geistigen Entwickelung gelangt, welche ihn fraglos zu den gebildetsten Männern seiner Zeit stellte. Und das muß man dem Augustus nachsagen, daß er, obzwar er es nur seiner Frau zuliebe that, umsichtig und treulich dafür besorgt war, seinem Stiefsohn alles zufließen zu lassen und zu gewähren, was zu Entfaltung der glänzenden Anlagen desselben beitragen und ihn zur späteren Uebernahme der wichtigsten Stellen und Aemter befähigen und tüchtig machen konnte. In Jahren, wo andere Knaben das Leben nur erst für einen Tummelplatz für knäbische Spiele ansehen, wurde Tiber schon in das Verständniß von Staats- und Kriegsgeschäften eingeführt und zur Handhabung von Verwaltungssachen und militärischen Aufgaben angeleitet.

Daß er und was er gelernt, hatte er schon als Neunzehnjähriger zu zeigen Gelegenheit. Da machte er als Brigadegeneral – denn diesem modernen Officiersrang entsprach etwa der eines römischen Kriegstribuns – den ersten Feldzug mit, gegen die Kantabrer in Spanien. Von da an ist er viele Jahre lang fortwährend, im Krieg und im Frieden, an der Verwaltung des römischen Weltreichs in vorragender Weise betheiligt gewesen. Im Alter von vierundzwanzig Jahren leitete er einen Feldzug in Armenien. Zwei Jahre später wurde er zum Civil- und Militärstatthalter von Gallien, also zur Regierung einer der wichtigsten Provinzen des Reiches berufen. Dann wieder hatte er in Pannonien (Ungarn und Dalmatien) den Heerbefehl zu führen und in allen diesen mit großer Verantwortlichkeit, mit vielen Anstrengungen, Gefahren und Mühsalen beschwerten Aemtern gelang es ihm, mehr und mehr das Vertrauen seines kaiserlichen Stiefvaters, sowie die Zuneigung seiner Untergebenen und die Achtung der öffentlichen Meinung zu gewinnen.

Wir besitzen dafür Zeugnisse von unanzweifelbarer Echtheit. Viel schon hatte es zu bedeuten, wenn ein junger Mann in Tibers Stellung, ein Prinz des kaiserlichen Hauses, im damaligen Rom ein geregeltes und wohlanständiges Leben führte. Im damaligen Rom, diesem ungeheuren Lasterpfuhl, dessen giftfarbigschillernde Oberfläche zwei bekannte Gedichtesammlungen des Zeitgenossen Ovid („Liebschaften“ und „Liebeskunst“) verführerisch genug widerspiegeln. Kein Zeitgenoß Tibers, überhaupt keiner unserer antiken Gewährsmänner weiß uns von Ausschweifungen des jungen Prinzen zu melden. Dagegen war seines Lobes voll ein so klassischer Zeuge wie Horaz, wohl der feinste Menschenkenner, der uns im ganzen Bereiche der römischen Literatur begegnet. Wenn seine Beziehungen zum Hofe und insbesondere zu seinem Wohlthäter, dem kaiserlichen Minister Mäcenas, ihn zwangen, gelegentlich dicke und nicht sehr wohlduftende Weihrauchswolken vor der Nase des Augustus aufsteigen zu lassen, so hat er sich doch anderwärts, wie seine Satiren und Episteln beweisen, die Freiheit des Urtheils und den Freimuth des Wortes durchaus bewahrt. In den zuletzt erwähnten seiner Werke hat er Beweise seiner Hochachtung für Tiberius niedergelegt, welche, fern von jeder Uebertreibung, schon durch die Einfachheit des Ausdrucks ihre Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit bezeugen. An einer Stelle kennzeichnet er den Prinzen als mannhaft und bieder („fortem bonumque“), an einer andern nennt er ihn gut und ruhmreich („bonus clarusque“), an einer dritten preis’t er ihn als den tapfern Besieger der Armenier („Claudi virtute Neronis Armenius cecidit“).

Also war mit der Zeit in das Dasein Tibers mehr Sonnenschein gekommen. Der hellste Stral desselben kam aus seiner glücklichen Ehe mit der Tochter von des Augustus berühmtem General und Minister Agrippa aus dessen erster Ehe mit einer Tochter des als Ciceros Freund bekannten Ritters Atticus. Diese Dame, Vipsania Agrippina, mit welcher der Prinz frühzeitig vermählt worden, nennt Sueton eine vortrefflich zu ihm passende Frau („bene convenientem“). Tiberius liebte sie innig und dieser Ehebund war einer der wenigen, der sehr wenigen in Rom, welcher für die verschiedenen daselbst aufgethanen „Lästerschulen“ kein Abhandlungsthema abgab. Vipsania hatte ihrem Gatten einen Sohn geboren, welchem er seinem Vater und seinem Bruder zu Ehren den Namen Drusus gegeben. Sie ging mit ihrem zweiten Kinde, als es dem Augustus beliebte, das Glück der Gatten brutal gewaltsam zu vernichten.

[795]
3.

Ja, der Sonnenschein im Leben des Tiberius hielt nicht lange vor. Schon zog eine dunkle Wolke nach der andern am Horizont herauf und bald war das ganze Firmament über dem Prinzen eine bleischwere Düsterniß.

Die dynastische Politik des alternden Kaisers vernichtete unbedenklich das eheliche Glück und den häuslichen Frieden seines Stiefsohns. Augustus trachtete auf alle Weise, sein Haus im Besitze des Principats zu erhalten oder, nach unserer Ausdrucksweise, seine Dynastie auf dem Throne zu befestigen. Hiergegen vermochte keinerlei andere Rücksicht aufzukommen. Nun hatte er aber keinen legitimen Sohn und also beruhten seine dynastischen Wünsche und Hoffnungen auf seiner einzigen legitimen Tochter Julia, welche seine erste Gattin Scribonia ihm geboren hatte. Die Prinzessin war schon zweimal verheiratet gewesen, erst mit des Kaisers Neffen Marcellus, dann nach dessen Ableben mit dem General und Minister Agrippa, dem Schwiegervater des Tiberius. Julia stand in ihrem achtundzwanzigsten Jahre, als Agrippa starb. Ob sie, deren begehrliches Auge noch bei Lebzeiten ihres zweiten Mannes auf den „schönen“ Tiber gefallen, oder ob, wie stark zu vermuthen steht, die Augusta Livia dem Augustus den Gedanken einer Heirat ihres Sohnes mit ihrer Stieftochter eingeblasen, muß dahingestellt bleiben. Genug, der Kaiser befahl seinem Stiefsohn, der zärtlich von diesem geliebten Vipsania den Scheidebrief zuzustellen und die Julia, welche von Tiberius verabscheut wurde, zu heiraten. Widerspruch war unmöglich und der Prinz fügte sich in das Unvermeidliche. Vipsania ward verstoßen und i. J. 10 v. Chr. hielt Tiber seine unselige Zwangshochzeit mit der Tochter seines Stiefvaters.

Um zu wissen, was das heißen wollte, muß man sich erinnern, wer und was die Julia war. Ein Weib nämlich, welches den trefflichen, ja geradezu großen Agrippa in schnödester Weise hintergangen hatte. Ja, des Augustus einzige Tochter müßte unbedingt das verrufenste Weib ihrer Zeit genannt werden, so ihr Verruf etwas später nicht durch die Aufführung ihrer gleichnamigen Tochter, der jüngeren Julia, einigermaßen hintangedrängt worden wäre. Als Frau des Agrippa hatte sie fünf Kinder geboren, die vom Augustus adoptirten Prinzen Gajus Cäsar, Lucius Cäsar und Agrippa Posthumus, sowie die Prinzessinnen Agrippina und Julia. Es schien also zur Fortpflanzung des julisch-augustischen Hauses genug Material vorhanden. Die Mutter der genannten Prinzen und Prinzessinnen kümmerte sich aber weder um diese, noch um die dynastischen Sorgen und Hoffnungen ihres Vaters. Sie lebte nur ihren Lüsten und führte ein Lasterleben, welches sogar einem so ausgesprochenen Höfling, wie der unter Tiberius dienende Stabsofficier Vellejus Paterculus, Verfasser eines Abrisses römischer Geschichte, einer war, Worte der Entrüstung entriß. Er sagt: „Des Augustus Tochter Julia, ganz und gar uneingedenk, was sie einem solchen Vater und einem solchen Gatten (Agrippa) schuldete, übersprang in ihren Ausschweifungen alle Schranken der Schamlosigkeit. Die Hoheit ihrer Stellung hat sie zum Maßstab ihrer Frechheit im Sündigen gemacht und alles für erlaubt gehalten, wonach sie verlangte.“ Etwas später hat Seneca, der Lehrer des Kaisers Nero, in einer seiner Schriften einen Auszug aus den amtlichen Untersuchungs- und Anklageakten mitgetheilt, welche nach dem Fall der Prinzessin auf Befehl ihres Vaters gegen sie aufgesetzt worden waren. Das ist eine Schandsäule, wie wohl keine zweite irgendwo für eine Frau aufgerichtet worden ist.

Dieses Weib zu ehelichen wurde Tiberius gezwungen, von seinem kaiserlichen Stiefvater gezwungen, unter Beihilfe seiner eigenen Mutter Livia, deren Ehrgeiz sich der Hoffnung, obzwar vorerst nur einer sehr nebelhaft unbestimmten Hoffnung überließ, mittels der Heirat ihres Sohnes mit der einzigen Tochter ihres Gemahls könnte die Thronnachfolge in ihr eigenes Geschlecht gebracht werden. Sueton erzählt, daß der Prinz nur mit großer Herzbeklemmung („non sine magno angore animi“) gehorsam sich erwiesen habe, und setzt hinzu: „Die erzwungene Scheidung von der Vipsania schmerzte ihn tief und lange. Als er der Verstoßenen einmal zufällig begegnete, sah er ihr mit so starren und thränenvollen Augen nach, daß man Vorsorge traf, sie ihm fortan fernzuhalten.“ Es bedarf keiner betonten Hinweisung, daß alles, was mit der Ehescheidung und der neuen Eheschließung Tibers zusammenhing, wie ein scharfer und vergifteter Stachel in eine ohnehin zur Schwermuth geneigte Menschenseele sich einbohren mußte. Der unglückliche, gerade in seinen besten und zartesten Gefühlen so roh verletzte Mann fügte sich zuvörderst, gewiß hauptsächlich um seiner Mutter willen, unter das ihm auferlegte Joch. Die übelzusammengefügte Ehe mit der Julia währte jedoch – wie etwas vorgreifend gleich hier noch gesagt werden mag – nicht lange, wenigstens thatsächlich nicht lange. Nachdem der Sohn, welchen sie ihm geboren, bald nach der Geburt gestorben, schied sich der Prinz thatsächlich von der Zuchtlosen, wennschon er es nicht wagte, diese Scheidung auch öffentlich und rechtskräftig zu machen.

Bevor es dazu gekommen, hatte den Tiberius von anderer Seite her ein schwerer Schlag getroffen. Er hatte, aus seinem dritten Feldzug in Pannonien zurückkehrend, im Herbst des Jahres 8 v. Chr. in Pavia eine Zusammenkunft mit dem Augustus und der Livia, als in die genannte Stadt die Nachricht gelangte, sein Bruder Drusus, welcher das römische Heer in Germanien befehligte, sei von einem lebensgefährlichen Unfall betroffen worden. Derselbe hatte nämlich bei einem Sturz mit dem Pferde den [796] Oberschenkel gebrochen und lag auf den Tod, welcher denn auch nach dreißigtägigem Leiden eintrat. Tiber warf sich in den Sattel, durcheilte, Tag und Nacht reitend und nur von einem Führer geleitet, die Alpenpässe, erreichte das jenseit des Rheins aufgeschlagene römische Lager und fand den zärtlich von ihm geliebten Bruder noch am Leben, aber doch schon rettungslos. Drusus hatte nur noch die Kraft, einen letzten Befehl zu geben, den Befehl, die Adler dem ankommenden Tiberius entgegenzutragen und denselben als Feldherrn zu begrüßen. Dann starb er in den Armen des Bruders, welcher den Todten in feierlichem Aufzug nach Italien und Rom geleitete, der Trauerpompa den ganzen Weg entlang zu Fuß voranschreitend („pedibus toto itinere progediens“), zum Zeichen seines Schmerzes und seiner Verehrung des Hingeschiedenen, dem er auf dem Forum die Bestattungsrede hielt.

Die Schmähsucht und der Verleumdungsklatsch sind immer Merkmale grundverderbter Zeiten. Es kann dannzumal namentlich auch kein unvorhergesehener Todesfall eintreten, ohne daß sofort von Dolch oder Gift gemunkelt würde. Die Leute sind eben geneigt, einander das Schlechteste zuzutrauen, und haben ja Grund genug dazu. So gab denn der Tod des Drusus der römischen Gesellschaft willkommene Veranlassung zu düsterem Gemunkel, welches sich jedoch erst später lautzumachen wagte. Die Müssiggänger und Müssiggängerinnen von Klatschvettern und Verleumdungsbasen, welche die Fora, die Spazierhallen, die Parke und Bäder unsicher machten, zischelten einander zu, der arme Prinz Drusus sei von Gesinnung ein entschiedener Republikaner gewesen und habe sich ernstlich mit dem Plane getragen, die römische Republik wiederherzustellen. Darum habe man ihn rasch mittels Giftes beiseite geschafft. Das wurde gierig gehört und gern geglaubt. Je abgeschmackter, desto glaubwürdiger. Die erlogene Schandthat wurde anfänglich dem Augustus zugeschrieben, später dann dem Tiberius auf sein Sündenregister gesetzt. Der ernste Tacitus hat die ganz sinnlose Verleumdung keiner Erwähnung werthgehalten.

Den erledigten Heerbefehl in Germanien übertrug Augustus i. J. 7 v. Chr. seinem Stiefsohn, welcher bis zum Jahre 5 diese schwierige Feldherrnpflicht erfüllte. So löblich, daß ihm die Ehre eines Triumphes zuerkannt, er auch zum zweiten Consulat berufen und endlich auf fünf Jahre mit der „tribunicischen Gewalt“ ausgestattet wurde. Die letztgenannte Würde war schon ein großer Schritt vorwärts zur Mitregentschaft. Kaum nun hatte ihn die Triumphatorsbiga zum Jupiterstempel auf dem Kapital emporgefahren, als er Rom schon wieder verlassen sollte, um nach dem Morgenland zu gehen und in Mesopotamien und Armenien gegen die Parther das Generalkommando zu führen. Gerade jetzt aber trat in sein Leben eine Krisis, welche ihn für lange Jahre zu einem Verbannten machte.


4.

Beweggründe der peinlichsten und traurigsten Art bestimmten ihn, ein Entsagender zu werden.

Er konnte es nicht mehr ertragen, für den Ehemann einer Julia zu gelten. Ihm mochte es vorkommen, als wiese man, wo er stand und ging, mit Fingern auf ihn, als sähe er überall das Spottlächeln und hörte das Hohnzischeln. Er fand nicht den Muth – und auch das kennzeichnet seine Stellung – seine verworfene Scheinfrau bei ihrem Vater anzuklagen, oder er mußte das seiner Mutter zu gefallen unterlassen. Aber er ertrug es nicht länger, den Schein auf sich zu laden, als billigte er den Wandel des schamlosen Weibes. Das war das eine Beschwerniß. Das ändere ergab sich aus seiner fragwürdigen, ja wohl geradezu widerwärtigen Stellung in der kaiserlichen Familie. Er war ja dazumal noch nicht der Adoptivsohn des Kaisers, sondern eben nur der Stiefsohn und darum als ein bloßer Eindringling angesehen. So ganz entschieden vonseiten der heranwachsenden Söhne der ersten Ehe seiner verhaßten Scheinfrau, welche Prinzen, wie schon erwähnt, von ihrem Großvater förmlich adoptirt waren und im Vollgefühl ihrer cäsarischen Prinzlichkeit zugleich übermüthig und neidisch auf den Stiefvater blickten.

Das alles vermochte Tiber, nicht mehr auszuhalten. Er faßte deßhalb den raschen und kühnen Entschluß, das Netz, welches ihn einengte und zu ersticken drohte, zu zerreißen. Auch seine Mutter – und das wollte viel sagen – war nicht imstande, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, obzwar sie es sicherlich nicht an den eindringlichsten Vorstellungen fehlen ließ. Ihr mußte ja, was der Sohn thun wollte, als die Vernichtung ihrer stolzesten Hoffnungen erscheinen. Tiberius blieb fest, legte alle seine Aemter und Würden nieder, verließ Rom, schiffte sich nach Griechenland ein und nahm als freiwilliger Exulant seinen Wohnsitz auf der Insel Rhodos, um, wie er sagte, daselbst wissenschaftlichen Studien und literarischen Arbeiten zu leben. Dame oder Dirne Julia ließ er selbstverständlich gern in der Hauptstadt des Reiches zurück, sehr gern, dagegen höchst ungern seinen fünfjährigen Sohn Drusus. Augustus hatte ihm verboten, den Knaben mitzunehmen – ein schwerer Wermuthstropfen mehr in den ohnehin vollen Kelch seiner Bitternisse.

Die Insel Rhodos war zu jener Zeit eine der Lieblingsstätten hellenischer Bildung und insbesondere berühmt um ihrer philosophischen und rhetorischen Lehranstalten willen. Sieben volle Jahre, vom Jahre 5 v. Chr. bis zum Jahre 2 n. Chr., von seinem 36. bis in sein 44. Lebensjahr, hat Tiberius daselbst gelebt. In der Zurückgezogenheit eines Privatmanns, allen öffentlichen Angelegenheiten durchaus fern, nur mit literarischen Fragen und philosophischen Problemen beschäftigt. Die Klätscher und Klätscherinnen in Rom die wollten freilich wissen, er hätte in dieser „verstellten Zurückgezogenheit nur über seinem Groll, seiner Heuchelei und seinen heimlichen Lüsten gebrütet“. Allein Tacitus, welcher dieses meldet, hat sich doch gedrungen gefühlt, zu sagen, daß es nur auf widerspruchsvollem Gerede beruhte („rumoribus differebant“). Sueton seinerseits bringt aus der rhodisischen Zeit des Prinzen etliche liebenswürdige Züge von ihm bei. Mit den griechischen Poeten und Gelehrten der Insel verkehrte er in anspruchsloser Weise und ahndete auch eine ihm gelegentlich zugefügte Beleidigung in mildester Art.

Vier Jahre seiner Selbverbannung waren herum, als ihm ein Schnellsegler den Beweis brachte, daß Gerechtigkeit unter Menschen doch nicht gerade immer und überall ein bloßes Wort sei, wie sie es allerdings zumeist zu sein pflegt. Die Prinzessin Julia war endlich zu Fall gekommen. Ihre Zuchtlosigkeit, verbunden mit einem unbändigen Hoch- und Uebermuth, hatte seit Tibers Entfernung jede Vor- und Rücksicht so sehr hintangesetzt, daß ihre gräuelhafte Liederlichkeit zu einem öffentlichen Aergerniß ausgeschlagen war, welches zu grell, zu schreiend, um ihrem Vater Augustus noch länger verhohlen bleiben zu können. Der Kaiser, nachdem er alles erfahren, war im höchsten Grade erschüttert und beschämt, und man kann sich leicht vorstellen, daß die Kaiserin Livia es sich nicht eben angelegen sein ließ, seinen Grimm und Groll, seine Wehmuth und seine Wuth zu schwichtigen. Augustus schämte sich dermaßen, daß er sich vierzehn Tage lang in sein Kabinett verschloß und selbst vertrautesten Höflingen keinen Zutritt verstattete. Als er erfuhr, daß Phöbe, die Lieblingszofe Julia’s, die Mitwisserin aller Sünden der Prinzessin, sich erhängt habe, schrie er klagend auf: „O, warum ist Phöbe nicht meine Tochter!“ Im ersten Zorn hatte er kraft altrömischen Vaterrechts die Sünderin eigenhändig tödten wollen. Mit Mühe davon abgebracht, ließ er der Gerechtigkeit den Lauf. Eine Untersuchung ward angeordnet und als Ergebniß derselben ein Anklagebericht an den Senat erstattet. Die Galane der Prinzessin traf Tod oder Verbannung. Sie selbst wurde als Gefangene nach der kleinen Felseninsel Pandataria – jetzt Vandotene, eine der Ponzasinseln unfern Neapel – gebracht, dort eingethürmt und in strenger Haft gehalten, mit Auferlegung von allerlei Beschwerden, auch mit gänzlicher Entziehung feiner Kost und des Weins. Erst nach Verfluß von fünf Jahren ließ der ergrimmte Vater sich bewegen, der gerichteten Tochter ein weniger armsäliges Gefängniß anzuweisen, die Stadt Rhegium. Wieder zu Gnaden angenommen hat er sie nie.

Wenn jedoch Tiberius etwa des Glaubens war, die Katastrophe der Julia müßte sofort eine günstige Wendung seines eigenen Geschickes herbeiführen, so täuschte er sich. Zwar seine Ehe mit dem verlorenen Weibe lös’te der Kaiser kraft väterlicher Gewalt, aber Tibers großmüthige briefliche Fürbitten um eine Milderung von Julia’s Strafe ließ er unbeachtet und ebenso des Stiefsohns Wunsch, jetzt nach Rom zurückkehren zu dürfen. Augustus trug es ihm nach, daß er sich selbst verbannt hatte, und außerdem lag dem Kaiser sein ältester Enkel Gajus Cäsar, welchen er sehr liebhatte, in den Ohren, daß es besser, den Stiefvater zu lassen, wo er wäre. Es bedurfte noch längerer Zeit, bis die Augusta Livia ihren Herrn Gemahl soweit herumhatte, daß ihr Sohn – im achten Jahre seines Exils – die Erlaubniß [797] erhielt, nach Italien und der Reichshauptstadt zurückzukehren, und noch dazu nur unter der ausdrücklichen Bedingung, auf alle und jede Betheiligung an den Staatsgeschäften zu verzichten und ganz und gar als Privatmann sich zu halten und zu führen.

So kehrte denn Tiberius, in sein fünfundvierzigstes Lebensjahr eingetreten, nach Rom zurück, wo die Leute ihn schon so ziemlich vergessen hatten. Nachdem er, wie der Brauch es forderte, seinen jetzt vierzehnjährigen Sohn Drusus auf dem Forum dem Volke als Volljährigen vorgestellt hatte, überließ er dem Jüngling das früher von ihm, dem Vater, bewohnte Haus des Pompejus in den Carinen und zog sich in eine in den Gärten des Mäcenas auf dem Esquilin gelegene oder, so zu sagen, verborgene Villa zurück, fest entschlossen, die ihm auferlegte Rückkehrsbedingung streng zu erfüllen. Darin beharrte er, wie es denn überhaupt als denkwürdig zu betonen ist, daß dieser Mann, welcher später den Despotismus zu einem Grauen erregenden Kunstwerke gestaltete, zu dieser Zeit keineswegs nach Macht und Herrschaft begierig schien. Ganz anders allerdings dachte hierin seine Mutter Livia, die fraglos in ihrer innersten Seelenfalte den Wunsch barg, ihren Sohn dereinst als Herrn der Welt zu sehen.

Dazu war freilich zunächst wenig oder gar keine Aussicht. Allein binnen kurzem gestalteten sich die Verhältnisse im augustischen Hause so, daß der geheime Gedanke der Augusta als kein so hoffnungsloser mehr erschien.

[812]
5.

Aus den Peristylien (Salons) der vornehmen Welt Roms ging das Geraune hervor, die tragischen Einbußen, welche die kaiserliche Familie erlitt, seien vornehmlich auf die gewissenlosen Ränke der Kaiserin Livia zurückzuführen. Beweise hierfür liegen nicht vor, es wäre denn, daß man die bezüglichen Aufstellungen und Behauptungen beim Tacitus und andern für beweiskräftig ansehen wollte. Die Livia brauchte auch gar nicht zur Giftphiole zu greifen, um die beiden ältesten Enkel des Augustus, Gajus Cäsar und Lucius Cäsar, aus dem Wege zu schaffen. Diese Herren Prinzen sorgten ja mittels ihrer von der Mutter überkommenen und eifrig bethätigten Lüderlichkeit schon dafür, sich selber zu vergiften. In Festhaltung der immerhin tröstlichen Illusion, daß es auf Erden so etwas wie Gerechtigkeit gebe, könnte man die schweren Schläge, welche den Augustus als Vater [813] und Großvater trafen, weniger der Livia als vielmehr der Nemesis zuschreiben, von welcher man sagt, daß sie die Weltgeschichte durchschreite, um die Pläne und Hoffnungen der Octaviane, Philippe, Napoleone u. s. w. zunichtezumachen.

Kurz nach des Tiberius Heimkehr starb, unterwegs nach Spanien, Lucius Cäsar zu Massilia (Marseille) am 20. August des Jahres 2 n. Chr. und 18 Monate später verschied Gajus auf der Rückreise aus Asien nach Italien begriffen, zu Limyra in Lykien an durch eine empfangene Verwundung gesteigerter Entkräftung. Der Kaiser versuchte die Lücke, welche diese ihn höchst schmerzlich ergreifenden Todesfälle gerissen, einigermaßen auszufüllen dadurch, daß er seinen jüngsten Enkel, Agrippa Posthumus, und zugleich seinen Stiefsohn Tiberius förmlich adoptirte. Das hatten die Bestürmungen vonseiten der Livia endlich doch zuwegegebracht, aber es war auch eine Staatsnothwendigkeit. Denn Augustus wußte recht gut, daß der rohe, bildungslose und halbtolle Junge, sein Enkel Agrippa Posthumus, ihm keine Hilfe und Stütze im Reichsregiment sein könnte, daß dagegen Tiberius ihm das sein würde. Darum begleitete er den feierlichen Akt der Adoption am 27. Juni des Jahres 4 n. Chr. in der Sitzung des Senats mit den Worten: „Ich schwöre, daß ich um des Staatswohls willen den Tiberius an Sohnesstatt annehme.“ Etliche Jahre nachher sah sich der greise Kaiser in die bittere Nothwendigkeit versetzt, auch seine Enkelin und den letzten ihm gebliebenen Enkel als brandige Auswüchse von seinem Dasein zu trennen. Die jüngere Julia, eifrig darauf aus, im Laster ihre Mutter zu überbieten, wurde zur Buße dafür auf der Insel Trimerus (Tremiti) an der apulischen Küste eingethürmt. Agrippa Posthumus, zu allem Rechten unfähig und unwillig, war schon mit 19 Jahren ein so brutaler Wüstling, daß er durch sein Gebaren die Würde des kaiserlichen Hauses in den Koth schleifte. Sein Großvater ließ ihn daher auf der Insel Planasia (Pianosa) bei Elba gefangensetzen, woselbst er später (14 n. Chr.) getödtet wurde, unentschieden, ob noch einer Anordnung des Augustus gemäß oder einem Befehl des Tiberius zufolge.

So war für den Sohn der Livia die Bahn freigemacht. Aber schon jahrelang zuvor war das Verhältniß Tibers zu seinem Stiefvater ein besseres und traulicheres geworden. Die politischen und militärischen Fähigkeiten und Leistungen des Adoptivsohns mußten dem alten Kaiser mehr und mehr nothwendig werden und ihm auch mehr und mehr Achtung abgewinnen. Tiberius verstand es, ihm die ungeheure Bürde der Weltherrschaft zu erleichtern, ohne doch die Eitelkeit und Eifersucht zu verletzen, allwomit der Greis an dem Besize dieser Herrschaft hing. Der Kaiser machte sich allmälig immer bestimmter mit dem Gedanken vertraut, in seinem Stiefsohn seinen Nachfolger zu sehen. Eine Reihe von Auszügen aus Briefen des Adoptivvaters an den Sohn, welche Sueton uns überliefert hat, zeigt klärlich, wie hoch Augustus den Tiberius werthete und, in seiner Art, auch liebte. Er wird da „Allerliebster Tiber“ (jucundissime Tiberi) angeredet und seiner feldherrlichen Tapferkeit, Umsicht und Wachsamkeit halber gelobt. Mit Fug. Denn Tiberius war es ja, welcher mittels wiederholter Feldzüge in Germanien und Pannonien die in jenen Gegenden sehr gefährdete Waffenehre und Macht Roms wiederherstellte und zur Geltung brachte. Das gute Vernehmen zwischen Stiefvater und Adoptivsohn, welcher in den letzten Jahren des Augustus als anerkannter Mitregent dastand, blieb ungetrübt bis zur Stunde, allwo zu Nola Tiberius die Zügel der Herrschaft aus der im Tode erstarrten Hand seines Vorgängers übernahm.

Wie war nun zu dieser Zeit der Ruf des fünfundfünfzigjährigen Mannes? Tacitus antwortet: „Man muß seinen Wandel als Privatmann und sein Verhalten als General unter Augustus vortrefflich nennen“ (egregium vita famaque, cet.). Aber in demselben Athem deutet der römische Historiker an, diese Vortrefflichkeit sei nur eine scheinbare und listige gewesen, und spricht von erheuchelten Vorzügen („fingendis virtutibus“). Man muß sich eben gefallen lassen, daß beim Tacitus vieles unmotivirt und unvermittelt neben einander steht. Wie, bis zum fünfundfünfzigsten Lebensjahr, ja sogar noch verschiedene Jahre darüber hinaus – wie sich aus dem Zusammenhang der bezüglichen taciteischen Stelle ergibt – hätte Tiberius den Heuchler gemacht, um dann erst die Maske der Verstellung abzuthun? Rein unmöglich das! Wer so lange geheuchelt, kann gar nicht mehr aufhören, zu heucheln: die Heuchelei ist ihm zum Lebenselement, ja, zur Natur geworden.

Die historische Wahrhaftigkeit verlangt demnach gebieterisch eine andere Erklärung der furchtbaren Veränderung, welche mit Tiberius, dem Kaiser Tiberius vorging – übrigens nicht etwa plötzlich, sondern nur sehr allmälig. Eine unbefangene Prüfung und Werthung der uns zu Gebote stehenden Quellen dürfte zu diesem Ergebnis führen: – Die Masse von Verbitterung oder, gerade herausgesagt, von Galle, welche sich von kindauf in Tiberius angehäuft hatte, mußte den physischen Organismus des Mannes so verstimmen, daß infolge dieser Verstimmung auch eine psychische Hypochondrie eintrat, welche mitunter geradezu eine starke Färbung von Wahnsinn annahm. Solcher Wahnsinn – für welchen man ja die richtige Bezeichnung „Kaiserwahnsinn“ gefunden hat – mußte sich dann um so schrecklicher gestalten und äußern, als einestheils in dem Gedanken, der Herr der Welt zu sein, etwas so Märchenhaftes, Verlockendes, Bezauberndes und Berauschendes lag, daß auch ein solid gebautes Menschengehirn davon wohl schwindelig und wirbelig werden konnte, und anderntheils fortgesetzte schlimme Erfahrungen den Tiberius wohl an der Welt, an den Menschen und an sich selbst irremachen und verzweifeln lassen konnten.


6.

„In Rom – so schreibt Tacitus da, wo er Tibers Regierungsantritt erzählt – wetteiferten Consuln, Senatoren und Ritter in der Knechtschaffenheit (ruere in servitium). Je höheren Ranges, desto gleißnerischer und zudringlicher. Mit einstudirter Miene, um ja keine Freude über den Tod des einen Fürsten und keine Betrübniß über des andern Gelangung zum Regiment sehen zu lassen, brachten sie in niederträchtiger Huldigung Thränen, Lachen und Seufzer mit- und durcheinander vor.“

Hier ist im Lapidarstil angedeutet, warum Tiberius als Kaiser wurde, werden mußte, was er geworden. Diese römische Sklavenbande bedurfte der Peitsche und küßte sie.

Sueton seinerseits meldet: „In der ersten Zeit seiner Regierung benahm er sich ganz bürgerlich und fast wie ein Privatmann (civilem admodum ac paullo minus quam privatum egit). Von den großen Ehrenbezeigungen, welche man ihm verschwenderisch darbot, nahm er nur wenige und bescheidene an. Die Errichtung von Tempeln, die Stiftung von Priesterschaften ihm zu Ehren verbat er sich entschieden. Auch Standbilder sollten ihm nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubniß aufgerichtet werden. Die Titel Imperator und Augustus lehnte er ab.“ Das wird durch das Zeugniß des Cassius Dio bestätigt, welcher angibt, Tiberius habe nur den Titel Princeps führen wollen in der Bedeutung eines Vordersten, eines Fürsten, eines Ersten unter seinen Mitbürgern. Zu betonen ist auch die Nachricht beim Sueton, daß der neue Kaiser es verschmäht habe, gegen solche, die ihn und die Seinigen beschimpften und verleumdeten, gerichtliche Verfolgungen anstrengen zu lassen, und daß er bei solchen Veranlassungen die Aeußerung gethan: „In einem freien Staate müssen Denkweise und Sprache frei sein.“

Alles zusammengenommen, wird man also sagen dürfen, sagen müssen, daß die Anfänge von Tibers Regiment gut, würdig und löblich gewesen seien. Möglich, daß auch die Fortsetzung so geblieben, falls die Zeit eine andere war. Die sämmtlichen auf uns herabgelangten Berichte ergeben als Summe, daß der Nachfolger des Augustus seine Regentenpflichten etwa in der Art und Weise faßte und zu erfüllen strebte, wie viele Jahrhunderte später König Friedrich der Zweite und Kaiser Josef der Zweite sie gefaßt und erfüllt haben; nämlich so, daß er sich als erster Diener des Staates fühlte und bekannte. Keineswegs nur in Worten, sondern vielmehr mittels seines ganzen Thuns und Waltens. Wäre der Begriff des modernen Konstitutionalismus auf das römische Staatswesen anwendbar, so könnte man versucht sein, den Tiberius einen konstitutionellen Monarchen zu nennen. Wie er es sich im allgemeinen angelegen sein ließ, der eingerissenen Knechtseligkeit entgegenzuarbeiten, so bemühte er sich im besonderen, das tiefgesunkene Ansehen des Senats wieder zu heben, namentlich dadurch, daß er sich den Beschlüssen der „Versammelten Väter“ unweigerlich fügte. Redlich und angestrengt arbeitete er für die Sicherung der Reichsgränzen und des römischen Machtbestandes, für eine gute Ordnung der Finanzen, für eine ehrliche Führung [814] des Staatshaushalts, für die Handhabung einer unparteiischen Rechtspflege, für die Sicherheit der Personen und des Eigenthums, für die Beschränkung des übermäßigen Luxus und für die Besserung der schlechten Sitten.

Aber trotz alledem und allediesem hat der Kaiser Tiber niemals das Gefühl der Liebe, sondern allen Leuten nur die Empfindung scheuer Furcht eingeflößt. Tacitus hat das gewiß richtig aus der persönlichen Erscheinung des Fürsten erklärt, aus dessen Mangel an verbindlichen Formen, aus seinem eckigen, schroffen, abstoßenden Gebaren, das eben nur der entsprechende Ausdruck seiner düsteren Seelenstimmung war. Es ist dieses Mannes Unglück gewesen, daß er nicht zu sein vermochte, was sein Vorfahr in so hohem Grade zu sein vermocht hatte, ein vollendeter Komödiant. Das Komödiantische unterhält und ergötzt ja die Leute, vorab die Weiber, welche letzteren ja, wie weltbekannt, bei Schaffung der sogenannten öffentlichen Meinung nicht etwa nur einen, sondern vielmehr alle zehn Finger, von der Zunge gar nicht zu reden, im Spiele haben. Tiberius verschmähte es, den Gaukler, Wortschaumschläger und Süßholzraspeler zu machen. Er gab sich, wie er war, folglich als einen nichts weniger als liebenswürdigen Menschen. Darum ist er von Anfang an entschieden unpopulär gewesen. Die Wucht seiner Unpopularität wirkte auf ihn wieder zurück, machte ihn von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde verschlossener und unzugänglicher, mißtrauischer und argwöhnischer. Die Folge hiervon war eine finstere Vereinsamung inmitten der Machtfülle und des Glanzes der Weltherrschaft. Diese Vereinsamung mußte mehr und mehr seine krankhafte Verstimmung und Verbitterung steigern, bis zuletzt, vollends ganz durchgiftet und durchseucht von entsetzlichen Enttäuschungen, das kranke Gemüth des Herrschers in wilden Wahnsinn, in wüthende Verzweiflung ausbarst.

Sueton und Tacitus stimmen darin überein, daß, obzwar Tiberius „mit der Zeit mehr und mehr den Fürften herauskehrte, dennoch in seinem Wesen die Seite der Milde und der Fürsorge für das Gemeinwohl noch die vorherrschende blieb“ und daß diese gute und glückliche Periode seiner Regierung neun Jahre gewährt habe, bis zum Tode seines einzigen Sohnes, des Kronprinzen Drusus, auf welchen der Vater die größten Hoffnungen gesetzt hatte und der i. J. 23 n. Chr. nach kurzer und scheinbar unbedeutender Krankheit wegstarb. Allerdings vergiftet, wie acht Jahre später kund wurde, aber keineswegs durch den eigenen Vater, wie der dumm-boshafte Stadtklatsch munkelte. Selbst Tacitus konnte nicht umhin, diese absurde Verleumdung als solche zu brandmarken (Jahrb. 4, 11). Gewiß aber ist dem Kaiser nicht verhohlen geblieben, daß die hauptstädtische Lästersucht ihm selbst das Abscheulichste, die Vergiftung des eigenen Sohnes, gewissenlos anlog, und wiederum auch dadurch mußte die Schneide der Menschenverachtung und des Menschenhasses tiefer in seine Seele gedrückt werden. Oftmals gab er diesen Eindrücken grimmigen Ausdruck, indem er auf griechisch ausrief: „Oh, über dieses nach Knechtschaft haschende, nach Sklaverei gierige Menschenpack!“ Wenn aber ein Imperator urbis et orbis, der Herr der römischen Welt einmal so weit war, in den Menschen nur noch Sklaven zu erkennen, so hatte er nur noch wenige Schritte zu thun, um dort anzulangen, wo es ihm eine bittere Lust, eine Wollust der Verzweiflung sein mußte, auf diesem „Pack“ recht hart und schwer herumzutreten.

Ein solches Gelüste konnte in dem ergreis’ten Monarchen nur noch geschärft werden durch seine Beziehungen zum römischen Adel, welcher, wenn man es so ausdrücken darf, den Tiberius mit der einen Hand streichelte und mit der andern kratzte. Die tiefe sittliche Versunkenheit der römischeu Nobilität zu dieser Zeit ist ja allgemein bekannt. Diese Sippschaft von adeligen Herren und Damen, diese ganze vornehme und feine Societas Roms hatte eine auffallende Aehnlichkeit mit der feinen und vornehmen Société von Paris in den letzten Jahrzehnten vor der großen Revolution. Hier wie dort lebte der Adel ganz wesentlich von Mißbräuchen, hier wie dort suchte er von dem Monarchen mittels der niederzüchtigsten Schmeichelei Auszeichnungen, Begünstigungen, Schenkungen und Gnadenbeweise zu erschwindeln und doch machte hier wie dort die Aristokratie im Geheimen Opposition gegen den öffentlich mit Kniebeugungen und Lobpsalmen beschmeichelten Herrn und Gebieter und suchte sich für ihre selbstverschuldete Erniedrigung durch die Ausheckung und Verbreitung der boshaftesten Lügen und giftigsten Verleumdungen schadlos zu halten.

Der einsame und düstere Fürst sah und wußte das alles. Der Abschen, den ihm dieser vornehm-süße Pöbel, dieser betitelte Menschenkehricht einflößte, wurde allmälig ein gränzenloser. Eine logische Folge hiervon ist gewesen, daß er sein Vertrauen plebeischen Männern schenkte und solchen die wichtigsten Posten im Staate anwies. Aber gerade hierin sollte er die schrecklichste Erfahrung seines an traurigen Erfahrungen so reichen Lebens machen, gerade da mußte er so schwarzen Undank, so grauenhaften Verrath ernten, daß davon der Ausbruch des tiberischen Tyrannenwahnsinns zweifelsohne datirt.


7.

Des Kaisers erster Günstling, Vertrauter und Minister war Aelius Sejanus, ein Mensch von dunkler Herkunft aus der etruskischen Stadt Vulsinii. Er führte amtlich den Titel Generalquartiermeister („praefectus praetorio“) oder Gardegeneral. Bei ihm stand jedoch nicht nur der Oberbefehl über das Gardecorps und die sämmtlichen in der Hauptstadt und ihrer Umgebung stationirten Truppen, sondern er war thatsächlich auch das, was wir unter einem Kriegsminister verstehen. Noch mehr, er war der Sache nach Erster Minister oder Reichskanzler, des Monarchen rechte und linke Hand in allem und jedem. Tiberius vertraute ihm unbedingt und ermüdete nimmer, ihn mit Würden und Reichthümern, Gnaden und Ehren zu überschütten. Zuletzt ertheilte er ihm noch Amt und Titel eines „Gehilfen im Reichsregiment“ (adjutoris imperii), also eines Mitregenten, und suchte ihn auch verwandtschaftlich mit dem kaiserlichen Hause zu verknüpfen, indem er seinen Großneffen vonseiten seines Bruders Drusus mit einer Tochter Sejans verlobte.

Dies alles jedoch reichte nicht aus, des Emporkömmlings rasenden Ehrgeiz zu sättigen. Sejan hatte kein niedrigeres Ziel ins Auge gefaßt, als sich selber an den höchsten Platz zu schwingen, entweder den Kaiser zu verdrängen, zu beseitigen oder wenigstens alles vorzubereiten, um der Nachfolger desselben werden zu können. Höchst talentvoll, außerordentlich gewandt, verschlagen und erfahren, wie in allen Lastern, so auch in allen Listen und Künsten der Zettelung und Nachstellung Meister, vor keinem Verbrechen, aber auch vor gar keinem, so dasselbe ihm zweckdienlich erschien, zurückschreckend, so konnte dieser Mensch in dem Rom von dazumal sich wohl mit der Hoffnung schmeicheln, sein ungeheures Ziel zu erreichen.

Entschlossen und energisch betrat er die gefährliche Bahn. Sein erstes großes Unternehmen auf derselben war, daß er die Livilla, die Gemahlin des Kronprinzen, des einzigen Sohnes seines gütigen Gebieters, verführte und mit ihrer Beihilfe den Drusus mittels Giftes umbringen ließ. Dann verschritt er dazu, andere Steine, welche hindernd auf seinem Wege lagen, ebenfalls zu beseitigen. So die Prinzessin Agrippina, Witwe von Tibers verstorbenem Bruder Drusus, und ihre Söhne, auf welche nach der Vergiftung des Kronprinzen Drusus die Aussicht auf die Thronnachfolge übergegangen war. Man blickt in einen Abgrund von Gräueln hinein, wenn man den Ränken und Tücken nachgeht, welche Sejan zur Förderung seines Planes anspann und durchführte.

Während diese auf das Verderben und die Ausrottung der gesammten kaiserlichen Familie abzielenden Ruchlosigkeiten des allmächtigen Ministers ihren Fortgang nahmen, hatte der alte Kaiser, durch den Verlust seines einzigen Sohnes tief erschüttert, den lange erwogenen Entschluß gefaßt, die ihm verhaßte Hauptstadt zu verlassen und sich an einen ländlich-stillen, seiner Schwermuth mehr zusagenden Aufenthaltsort zurückzuziehen. Er that so und ging i. J. 26 n. Chr. zunächst nach Campanien, von wo er aber bald mach der im Golfe von Neapel wunderbar schön gelegenen Felseninsel Capri übersiedelte. Alldort nahm er seine bleibende Residenz und erbaute nach und nach 12 Villen. Die Insel, nur an einem einzigen, leicht zu überwachenden Punkte zugänglich, war mit ihrer Stille und mit ihrem milden Klima so recht gemacht zum Wohnort eines verdüsterten Greises, welcher dem Zudrange der Leute sich entziehen und doch die Zügel der Herrschaft nicht aus den Händen geben wollte. Man zeigt auf Capri noch jetzt die Trümmer vom „Palazzo“ des „Timberio“, wie der Kaiser in der Volkserinnerung heißt. Auch geht auf der Insel eine Sage um, welche an unsere deutsche vom Barbarossa im Kyffhäuser gemahnt. Tief in dem Berge, auf welchem die [815] Trümmer vom Palazzo des Timberio liegen, da sitze der Kaiser, eine Gestalt von Bronze mit Augen von Diamant, auf einem riesigen Rosse von Erz.

Derweil schritt Sejan voran auf seiner verwegenen Laster- und Frevelbahn. Schon konnte er wähnen, dem Ziele ganz nahe zu sein. Senat und Volk Roms erschöpften sich in sklavenhafter Kriecherei vor dem Minister. Standbilder wurden ihm errichtet, in überschwänglichen Lobpreisungen seine angeblich großen und mannigfachen Verdienste um den römischen Staat anerkannt. Die Schmeichelei ließ gerade hier wieder einmal sehen, in welche Tiefe die menschliche Niederträchtigkeit hinabzusteigen vermag. Die Augen seines Herrn und Gebieters schien Sejan vollständig verblendet, dessen Ohren ganz und gar verstopft zu haben. Nun aber beging der vom Glück über alle Maßen verhätschelte, bis zum höchsten Grade des Größewahns hinaufgeschmeichelte Narr der Fortuna den groben Fehler, von der Seite des Kaisers auf Capri weg und nach Rom zu gehen. Vermuthlich darum, weil er meinte, nur in der Hauptstadt die letzte Hand an das vielverschlungene Gewebe seiner Entwürfe legen zu können. Der Empfang, welchen er fand, mußte in dieser Meinung ihn noch bestärken. Der Senat und das Volk bewillkommten ihn, als wäre er schon der wirkliche und anerkannte Herrscher. Und doch sollte es mit seiner ganzen Herrlichkeit so rasch zu Ende gehen, daß wir verstehen, wie Cassius Dio mit Bezug auf diesen Sturz sagen mochte: „Ein Gott selbst, welcher einen so baldigen und schrecklichen Umschlag der Dinge geweissagt hätte, würde keinen Glauben bei den Menschen gefunden haben.“

Nach Sejans Abreise von Capri hatte Tiberius seinen Großneffen den Prinzen Gajus, genannt Caligula, einen Enkel seines Bruders Drusus, als den muthmaßlichen Thronfolger nach der Insel kommen lassen. Diese gute Gelegenheit benützte die Großmutter Caligula’s, die noch lebende Witwe des Drusus, Antonia, auf welche der Kaiser allzeit großes Vertrauen gesetzt hatte, um brieflich ihrem Schwager über alle die Zettelungen, Ruchlosigkeiten und Pläne Sejans die Augen zu öffnen. Die Wirkung dieser Aufklärung war furchtbar. Der Günstling, der Vertraute, welchen er aus dem Nichts zur höchsten Höhe emporgehoben, war der Verführer seiner Schwiegertochter, der Mörder seines einzigen Sohnes, der Verderber der kaiserlichen Familie, ein Laster- und Frevelbube, welcher augenscheinlich auch nicht anstehen würde, seinen Wohlthäter selber zu vernichten, sobald das ihm zweckfördernd erschiene!

Die ganze Flut von Grimm und Wuth, welche sich seit lange, lange in der Brust des Kaisers, zu dessen Verfinsterung auch der zwei Jahre zuvor erfolgte Tod seiner Mutter Livia nicht unwesentlich beigetragen, angesammelt und aufgestaut hatte, brach jetzt aus und los. Der kranke Greis wurde ein blutlechzender Tiger. Ja, nur mit dem Gebaren eines Königstigers, welcher zum Todessprung auf sein Opfer sich niederduckt, ist das grauenhaft listige Verfahren zu vergleichen, welches Tiber einschlug, um den Verräther und Mörder Sejan zu umstricken und zu vernichten. Am 18. Oktober des Jahres 31 n. Chr. fiel zu Rom der zerschmetternde Blitzstral. Der auf der Zenithhöhe seiner Macht und Sicherheit sich wähnende Verräther ward plötzlich in offener Senatssitzung angeklagt, verhaftet und noch an demselben Tage hingerichtet. Damit aber nicht genug: ein so fürchterliches Strafgericht erging über Sejans ganzen Anhang, daß die Gossen der Straßen Roms vom Blute dampften.

Fünfzig Jahre hernach hat Juvenal in der 10. seiner Satiren jenen oktoberlichen Schreckenstag in seinem pathetisch-drastischen Kothurnstil geschildert und hat daraus achselzuckend die freilich nicht neue Moral gezogen, daß der süße und der saure Pöbel („turba“) steigenden Glückspilzen allzeit den Hof mache, gefallene aber hasse („sequitur fortunam ut semper et odit damnatos“).

Wie es dem Alten auf Capri zu Muthe gewesen, bezeugt einer seiner in jenen Tagen an den Senat gerichteten Briefe, an jener bekannten Stelle, allwo er den Verzweiflungsschrei ausstieß: „Was ich an euch schreiben soll, versammelte Väter, oder wie ich es soll oder ob ich dermalen gar nicht schreiben soll, mögen alle Götter und Göttinnen mich noch verderblicher treffen, als ich täglich mich getroffen fühle, wenn ich es weiß.“

Noch sechs Jahre lang schleppte der Greis die Qual seines Daseins weiter, augenscheinlich von häufigen Anfällen von Irrsinn, ja von Tobsucht heimgesucht. Trotzdem ist von der gäng und gäben Ueberlieferung, Tiberius habe sich alle diese Jahre hindurch auf seinem Inselfels förmlich in teuflisch ausgetiftelten Grausamkeiten oder abwechselnd damit in namenlosen Lüsten gewälzt, bei näherem Zusehen manches, vieles sogar als offenbare Uebertreibung oder bare Verleumdung zu streichen. Dagegen untersteht es keinem Zweifel, daß Tiber in seinen letzten Jahren seiner gränzenlosen Menschenverachtung allerdings den Ausdruck der vollendetsten und schonungslosesten Tyrannei gegeben hat. Er schien es darauf angelegt zu haben, ausfindig zu machen, was alles die Menschen sich bieten und gefallen ließen, wie weit sie es in feiger Sklavenhaftigkeit bringen könnten, und wenn er wieder eine recht sprechende Probe davon erhalten, hat er wohl, wie Cassius Dio meldet, in dämonischer Schadenfreude ausgerufen: „Wann ich todt, mag die Welt im Feuer aufgehen!“ Daraus ist, gelegentlich bemerkt, zu ersehen, das das pompadour’sche: „Nach uns die Sündflut!“ und das metternich-gentz’sche: „Uns wird es wohl noch aushalten!“ nur Plagiate gewesen sind.

Zu Anfang des Jahres 37 n. Chr. fühlte sich der greise Tyrann plötzlich von jenem Drang, den Ort zu wechseln, ergriffen, welcher ja Menschen, über denen die Hand des Todes schwebt, häufig anfaßt. Er machte sich von Capri nach dem Festland auf und reis’te nach Tusculum, um daselbst, jedoch mit Vermeidung Roms, seine alte Schwägerin Antonia zu besuchen. Auf der Rückfahrt nach seiner Insel erkrankte er unterwegs, ließ sich nach der am Vorgebirge Misenum gelegenen Villa des Lucullus bringen und dort ist er am 16. März genannten Jahres gestorben, nicht, wie sich widersprechende Sagen wollten, eines gewaltsamen, sondern eines natürlichen Todes. Achtzehn Jahrhunderte später hat ein deutscher Dichter, Emanuel Geibel, den „Tod des Tiberius“ meisterlich geschildert. Das ist wohl die bedeutendste Aeußerung, welche die geschichtliche Erscheinung des Alten von Capri bislang der Poesie abgewonnen hat. Das Trauerspiel des dänischen Dichters Hauch, obzwar nicht ohne Verdienst, reicht an seinen Gegenstand nicht hinan.

Und die Summe unserer historischen Betrachtung?

Diese: – Tiberius trat auf als ein Vollstrecker des Strafurtheils, welches die Weltgeschichte als Weltgericht über das antike Weltalter und namentlich über das Römerthum gesprochen hatte. Immer zu Zeiten, wann die Menschheit siech, die Gesellschaft brandig und faulig geworden, kommt so ein skrupelfreier Aderlasser daher, so ein dämonisch kühner und rücksichtsloser Arzt, dessen einziges Recept lautet: Eisen und Feuer!