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Räuber und Räuberwesen in Unteritalien

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Textdaten
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Autor: Julius Rodenberg
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Titel: Räuber und Räuberwesen in Unteritalien
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Räuber und Räuberwesen in Unteritalien.

Die Zeitungen hatten vor einigen Monaten Gelegenheit, alle Welt von den nächtlichen Ueberfällen der Garotters[1] zu unterhalten, welche während des vergangenen Winters die Straßen der englischen Metropole beunruhigten. Neueren Datums sind die Nachrichten aus der Schweiz, welche – nicht sehr zum Vortheil dieses beliebten Tummelplatzes der europäischen Reisenden – von Räuberbanden sprechen, deren traurige Thätigkeit einige der frequentesten Bergpassagen unsicher gemacht habe. Indessen würde man in beiden Fällen Unrecht thun, wenn man aus diesen Erscheinungen Rückschlüsse auf den Zustand der Gesellschaft, der sie entsprungen sind, machen wollte; es sind zufällige Ausbrüche von Uebeln localer und durchaus abnormer Natur, ohne Zusammenhang und tiefere Begründung, deren radicale Heilung ausschließlich in den Händen der Sicherheitspolizei liegt.

Anders steht es um das Räuberwesen in Unteritalien. Hier ist es ein Mittel der politischen Aktion und hat als solches nicht blos sein System, sondern – was die Natur desselben noch verschlimmert – auch seine Vergangenheit und Geschichte. Der entthronte Bourbon, der in dem Rufe steht, es gegenwärtig anzuwenden, ist nicht der Erfinder desselben; er ist nur einer Tradition seines Hauses treu geblieben, indem er Freibeuter in seinen Dienst genommen, die aus der Loyalität einen Handelsartikel machen und, als die geschworenen Feinde der Ordnung, ihr verächtliches Handwerk mit der Glorie des politischen Martyriums und der Romantik zu umgeben suchen.

Als bei der französischen Invasion von 1798 und der Flucht des damaligen Herrscherpaares, Ferdinand’s und Carolinens, die Bauern in Calabrien sich erhoben, da waren es in der That Heldenmuth und Vaterlandsliebe, welche die Anfänge dieses Aufstandes beseelten. Indessen mischten sich sehr bald unreine Elemente hinein, indem die Hauptleute der Räuberbanden, welche stets in den calabrischen Wäldern Schutz gefunden, aus ihren gesetzlosen Aufenthaltsorten hervorkamen, um an die Spitze einer Bewegung zu treten, welche den Schein der edelsten Motive für sich hatte. Es hat nichts Ueberraschendes für den Kenner italienischer Zustände, daß diese Banditen auf der Stelle die eigentlichen Leiter und autorisirten Führer des patriotischen Aufstandes wurden; denn Verbrecher und Auswurf der Gesellschaft, wie sie waren, hatten sie sich doch jederzeit einer Art von Popularität unter einer Bevölkerung erfreut, welche keine geregelten Begriffe von Gesetz und Ordnung besaß und nicht ohne eine gewisse Bewunderung die Beispiele ritterlicher Kühnheit oder romantischen Edelmuths wiederholte, durch die der Eine oder Andere von den Banditen jener Zeit sich einen Namen machte. Zu diesen Banditen gehört z. B. „Fra Diavolo“, dessen Ruhm und Andenken in einer Oper fortlebt, welche wir selber auf unsern Bühnen noch zuweilen hören. Der Bandit, der sich unter diesem Beinamen eine Unsterblichkeit gesichert hat, die mindestens so lange dauern wird, als diejenige von Auber selber, hieß eigentlich Michele Pezza, und war, bevor er zu seiner politischen Notorietät gelangte, dadurch ausgezeichnet, daß dieselbe Regierung, die ihn später in ihre Dienste nahm, auf seinen Kopf mehrere Male einen bedeutenden Preis gesetzt hatte.

Ein Anderer derselben Bruderschaft, Namens Pronio, war ursprünglich Geistlicher gewesen und war unter die Räuber gegangen, nachdem er wegen Mordes aus seinem Orden ausgestoßen, zu den Galeeren verurtheilt worden und entsprungen war. Die grauenhaftesten Dinge jedoch wurden von einem gewissen Gaetano Mammone, einem Müller, erzählt. Es war seine Gewohnheit, so oft er sich mit seinen Banden zu einem Zechgelage niedersetzte, die Gefangenen, die er während des Tages gemacht, in der Nähe zu haben, um sich und seine Spießgesellen damit zu amüsiren, daß er die armen Schlachtopfer eines nach dem andern und in gegebenen Zwischenräumen niedermetzeln ließ, während im Kreise lustig dazu gesungen und getrunken ward. Dieser politische Held pflegte sich zu rühmen, daß er mit eigenen Händen vierhundert Personen kalten Blutes getödtet habe.

Verworfene Subjecte dieser Art waren es, mit denen der König und die Königin sich von Palermo aus zuerst 1798 und dann bei der zweiten Flucht 1806 in Verbindung setzten. In dem letzteren Jahre benutzten sie geradezu diese Banditen, um Insurgentenbanden zu organisiren. Ehrenzeichen und sogar Adelsdiplome wurden angewendet, um den Eifer derselben anzuspornen, und während der [681] ganzen Zeit von 1806 bis 1812 unterhielt die Königin Carolina einen regelmäßigen Briefwechsel mit Bandenführern, welche sich Insurgenten nannten, in Wahrheit aber nichts Anderes waren, als Räuber. Die beiden Regierungen Joseph Bonaparte’s und Murat’s wurden von den schmählichen Thaten dieser Banditen gekennzeichnet. Die Anzahl derselben war so bedeutend, daß sie in ganz Calabrien sowohl Leben als Eigenthum unsicher machten. Aus den fast unzugänglichen Dickichten der Wälder brachen sie hervor, um bald dieses, bald jenes Haus oder Dorf zu plündern, unter dem Vorwand, daß die Bewohner derselben französisch gesinnt seien. Die heilige Sache der Religion und Loyalität wurde zum Deckmantel von Grausamkeiten gemacht, welche ihresgleichen nicht haben in der ganzen Geschichte politischer Verbrechen. Denn wenn es auch nichts Neues war, im Namen des Glaubens und der Königstreue zu rauben und zu morden, so war dies doch das erste Beispiel davon, das Interesse der Fürsten in die Hände professioneller Räuber und Mörder zu legen, und verurtheilte Missethäter zu Werkzeugen der Staatskunst zu machen. Es herrschte ein Regiment des Schreckens, an dessen Wiederholung zu denken schon genügt, um Schauder zu erregen. Denn dieser entsetzliche Zustand rief Repressalien der zur Zeit anerkannten Regierung hervor, welche nicht minder grausam waren, als das Verbrechen, gegen das sie sich richteten. Indessen hatte es während der langen Periode seiner Dauer zu tiefe Wurzeln geschlagen, um so bald wieder ausgerottet werden zu können. Es überlebte die französische Invasion, den Strafcodex Murat’s und die Unmenschlichkeiten des General Manhès, der die Verordnungen desselben zur Ausführung brachte. Es überlebte sogar die Restauration der Bourbonen; Ferdinand war gezwungen, einige seiner besten Alliirten zum Galgen zu schicken, nachdem er den Thron wieder bestiegen, und die Nachkommen der Banditen, welche einst die Correspondenten der Königin Caroline waren, sind es, die im Namen ihres Urenkels den alten Schauplatz mit neuen Blutmalen zeichnen.

Das Brigantenwesen beschränkt sich auf die Provinz. Die Städte, und namentlich Neapel, werden von einer andern Art der organisirten Räuberei, der sog. „Camorra“ heimgesucht, über welche uns ein neuerdings in Paris erschienenes Buch (La Camorra. Mystères de Naples) von Marc-Monnier einige höchst interessante Aufschlüsse giebt.

Die Camorra ist eine geheime Gesellschaft, welche, aus den offenkundigsten Missethätern zusammengesetzt, von Raub, Gewalt und Betrug lebt, unter sich aber gewissen Regeln folgt und ihren selbstgewählten Obern unbedingten Gehorsam leistet. Die Camorristen sind in den Städten, und, wie gesagt, vornehmlich in der Hauptstadt, das, was die Briganten auf dem Lande sind: die ausgewählten Männer der Schurkerei und des Verbrechens, aufgewachsen in den Gefängnissen und geschult in den Galeeren. Ueber ihren Ursprung ist wenig bekannt. Indessen steht so viel fest, daß die Regierung Ferdinand’s II. die Zeit ist, in welcher sie zuerst zu einer allgemeinen Notorietät gelangten. Anfänglich spielten sie keine politische Rolle; und obwohl es Thatsache ist, daß sie unter den Bourbonen weit öfter die Verbündeten als die Feinde der Polizei waren, so begnügten sie sich doch damals mit einem Krieg gegen die Gesellschaft im Allgemeinen. Die Bevölkerung, aus der sie hervorgegangen, wurde von ihnen in der unerhörtesten Weise terrorisirt. Jedermann wußte von ihrer Existenz, und Niemand hatte den Muth, mit ihnen anzubinden. Jeder Bootsmann im Hafen, jeder Lastträger auf der Straße wurde von ihnen in Contribution gesetzt. Sogar bis in die Gefängnisse reichte ihr allmächtiger Arm, und die elenden Gefangenen mußten ihren kärglichen Vorrath von Kleidungsstücken und Brod mit ihnen theilen. Die ganze Art ihres Daseins und Auftretens, ja schon die Möglichkeit von Verhältnissen, in welchen Raum ist für ein Unwesen von solcher Organisation und solcher Dauer, würde uns wie ein Roman erscheinen, wenn nicht die Documente vorlägen, welche die Wirklichkeit desselben bestätigen. Daß eine Gesellschaft, welche durch lange Jahre der Mißregierung verwildert ist, gleich der von Neapel und anderen Städten Unter-Italiens, fast mehr noch als Furcht eine gewisse Sympathie empfinden sollte für die kühnen Uebertreter des Gesetzes, hat nichts Wunderbares, nachdem wir gesehen, daß aus ähnlichen Motiven die Bauern von Calabrien einen tiefen Respect vor den Briganten hegten, die ihnen das Haus über dem Kopfe anzündeten.

Das Jahr 1848 bezeichnet einen Wendepunkt in der Geschichte der Camorra; das Beispiel ihrer Brüder aus der Provinz mochte wirken – kurz, die Camorristen wechselten über Nacht ihre Rollen und wurden aus Räubern plötzlich Freunde des Vaterlands. Man wird sich aus den Vorgängen jener noch nicht allzu entfernten Zeit erinnern, daß die Bewegung von 1848, in Neapel wenigstens, ein Werk der gebildeten Classen war; das eigentliche Volk nahm damals noch so gut als keinen Theil daran, und die Reaction erfolgte fast ohne Widerstand. Da war’s, daß die Camorra mit den liberalen Führern zu intriguiren begann, indem sie ihnen vorspiegelte, sie sei im Stande eine allgemeine Volkserhebung zu bewerkstelligen „unter gewissen Bedingungen“. Daß diese „Bedingungen“ auf nichts hinausliefen, als darauf, Geld zu erpressen, bedarf wohl kaum einer Erwähnung; sie hatten indessen ihre Rollen zu gut gespielt. Der damalige Polizeiminister glaubte, daß die Camorristen im Ernst conspirirten, und ließ sie en masse nach den Inseln transportieren. Für die Camorristen war diese von allen möglichen Wendungen die glücklichste. Denn ihr Exil diente nur dazu, sie aus gemeinen Verbrechern in politische Märtyrer zu verwandeln, und ihr Triumph ließ nicht lange auf sich warten. Das Jahr 1860, als Franz II. seinen Unterthanen eine Verfassung gab, öffnete die Gefängnisse und führte auch die Camorristen zu den Schauplätzen ihrer ehemaligen Heldenthaten zurück. Ihre erste Manifestation, nach ihrer glorreichen Rückkehr, bestand darin, die Polizeistationen von Neapel anzugreifen, die Polizeiacten zu verbrennen und die Polizeibeamten zu mißhandeln. Die Hauptstadt stand unter der fortwährenden Gefahr der Brandschatzung, die Polizei verlor den letzten Rest von Macht und Ansehen und löste sich zuletzt gänzlich auf.

In dieser Krisis beschloß Liborio Romano, welcher eben zum Polizeiminister ernannt worden war, sich des verzweifeltsten Auskunftsmittels, welches ihm nur die Noth eingeben konnte, zu bedienen, indem er Diejenigen, gegen welche die bisherige Polizei sich als so machtlos erwiesen, an die Stelle derselben setzte, und Denjenigen die Sorge für die Sicherheit der Stadt übertrug, welche dieselbe vorzüglich bedroht hatten. Mit einem Wort, er nahm die Camorra in seinen Dienst und machte sie zu Hütern der öffentlichen Ruhe. Das Experiment des Ministers schien von einem unerwartet günstigen Erfolge gekrönt zu werden; die Einwohner Neapels erfreuten sich eines bisher unbekannten Zustandes der Ordnung, nachdem die ehemaligen Widersacher derselben ihre besten Freunde und Beschützer geworden waren. Die neue Polizeimacht betrug sich mehrere Monate lang nicht blos gesetzmäßig, sondern sogar ehrenhaft und anständig, und als Franz II. Neapel verließ und Garibaldi einzog, da geschah es unter ihrer Aegide, daß der Wechsel ohne Blutvergießen und Plünderung vor sich ging. Die Camorristen hatten die Sicherheit und Ordnung in den Straßen aufrecht erhalten. Allein bald genug sollte sich das Unnatürliche eines Zustandes ergeben, in welchem man, um mit dem Sprüchwort zu reden, den Wolf zum Hirten gemacht hatte. Die Probe dauerte den Camorristen zu lang, und sie fielen in ihre alten Gewohnheiten zurück. Mit obrigkeitlicher Gewalt bekleidet, nahmen sie unter Anderem den Schmuggelhandel früherer Tage in so großem Maßstab wieder auf, daß die Zolleinkünfte von Neapel fast gänzlich verschwanden und an einem denkwürdigen Tage das Octroi an sämmtlichen Thoren der Hauptstadt nicht mehr ergab, als einen einzigen Franken!

Seit dem Polizeiministerium Spaventa’s trat eine Aenderung ein. Man sah, daß es unmöglich sei, auf diesem Wege fortzufahren, und enthob die Camorristen ihrer Verpflichtungen als Wächter der öffentlichen Sicherheit und Einkünfte. Allein so leicht war es nicht, trotz neuer Deportationen und strenger Maßregeln, mit ihnen fertig zu werden, und der Krieg der Regierung gegen sie ist noch heute nicht zu Ende. Die große Schwierigkeit besteht darin, Zeugen zu finden, die es wagen, gegen sie aufzutreten, während es andererseits nicht an scheinbar ganz respectablen Leuten fehlt, welche stets bereit sind, zu ihren Gunsten zu sprechen und zu intriguiren. So besteht die Gesellschaft der Camorra noch heute fort, und es leidet keinen Zweifel, daß sie, nachdem die constituirte Regierung ihrer zweifelhaften Hülfe sich begeben hat, auf’s Neue in den Dienst jener unsichtbaren Macht getreten ist, welche in den Provinzen von Unter-Italien die Briganten beschäftigt und, indem sie noch einmal das traurige Vorrecht in Anspruch genommen hat, aus Verbrechern der gefährlichsten Art politische Helden zu machen, ihrer Sache den letzten Anspruch auf die Sympathien der civilisirten Welt raubt.

Julius Rodenberg.



  1. S. den Gartenlauben-Artikel Die Garrotte in London