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Quitt

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Textdaten
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Autor: Theodor Fontane
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Titel: Quitt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–6, S. 20–27, 53–60, 84–94, 115–124, 144–156, 180–186
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[20]

Quitt.

Roman von Theodor Fontane.
1.

Die Kirche war noch nicht aus, aber die alte Frau Menz und ihr Sohn Lehnert – ein schlanker, hübscher Mensch von siebenundzwanzig Jahren, dem man, auch ohne seine siebziger Kriegsdenkmünze (neben der übrigens auch noch ein anderes Ehrenzeichen hing), den gedienten Soldaten schon auf weite Entfernung hin angesehen hätte – hatten den Schluß des Gottesdienstes nicht abgewartet. Sie saßen bereits draußen auf einem großen Grabstein, zu dessen Häupten eine senkrecht stehende Marmorplatte mit einer „Christi Himmelfahrt“ in Relief in die dicht dahinter befindliche Kirchhofsmauer eingelassen war. Der Sohn, der schon während einer ganzen Weile mit der Kante seiner Stiefelsohlen allerlei Rinnen in den Sand gezogen hatte, war augenscheinlich verstimmt und vermied es, die Mutter anzublicken, die ihrerseits ängstlich vor sich hin sah und darauf wartete, daß der Sohn reden solle. Dazu kam es aber nicht, und so hörte man denn nichts als die letzte Liederstrophe, die drinnen eben gesungen wurde. Sonst war alles still. Der grelle Sonnenschein lag auf den Gräbern, die Schmetterlinge flogen dazwischen hin und her und über dem Ganzen wölbte sich der tiefblaue Himmel und versprach einen heißen Tag.

Endlich nahm die Mutter ihres Sohnes Hand. Er zog sie aber unwirsch wieder zurück und sagte: „Ach, laß, Mutter! Du meinst es gut. Aber was hab’ ich davon? Eigentlich bist Du doch schuld an allem, weil Du nicht weißt, was Du willst, und es auch nie gewußt hast. Auf Paschen und Wildern hast Du mich erzogen und wenn’s dann schief geht und Du’s mit der Angst kriegst, dann steckst Du Dich hinter Siebenhaar und jammerst ihm was vor, und der soll dann mit einem Mal einen Heiligen aus mir machen.“

„Du weißt ja doch, Lehnert, was er alles für Dich gethan hat.“

„Weiß alles. Aber er darf mich nicht anpredigen, und wenn er’s thut, so darf er nicht nach mir hinsehen, daß auch der Dümmste merken kann, wen er meint. Das darf er nicht, und wenn ich ihn sehe, dann sag’ ich’s ihm auch.“

„Er will Dich sprechen nach der Kirche.“

„Da haben wir’s. Also wieder abgekartet. Dacht’ ich’s doch. Ach Mutter, Du quälst mich und richtest nichts Gutes damit an.“

In diesem Augenblicke schwieg es drin und statt des Gesanges der Gemeinde hörte man nur noch das Nachzittern der Orgel und bald danach den eigenthümlichen Klapperton, mit dem die Pfennigstücke der einzeln und in Gruppen aus der Kirche Kommenden in die dicht an der Kirchenthür aufgestellte Sammelbüchse fielen.

Und nun kamen auch die Leute selbst und gingen an dem Grabstein vorüber, auf die weit offenstehende kaum dreißig Schritt entfernte Kirchhofspforte zu, wobei sie der Frau Menz und ihrem Sohne freundlich zunickten; aber ehe sie noch den Ausgang erreicht hatten, erschien auch schon im Gesichtskreis der nach wie vor auf dem Grabstein Sitzenden ein breitschultriger und kurzhalsiger Mann von Mitte dreißig, dessen Stutzhut und hechtgrauer Rock mit grünen Rabatten, des Hirschfängers ganz zu geschweigen, über seinen Beruf keinen Zweifel lassen konnten. Vorn, im zweiten Knopfloch, an einem absichtlich nicht allzu kurzen Bande, trug er das Eiserne Kreuz, das sich, eben weil das Band zu lang war, bei jedem Schritt in herausfordernder und jedenfalls in respekterwartender Weise hin und her bewegte. Der ganze Mann ein Bild von Selbstbewußtsein und Hochmuth!

„Guten Tag, Herr Förster,“ sagte Frau Menz und stand rasch auf, um ihm einen Knix zu machen.

Der Förster Opitz nickte kurz, streifte Lehnert, der sich nicht gerührt hatte, mit einem Blick und ging dann weiter.

„Was bliebst Du nicht sitzen, Mutter? Warum hast Du geknixt? Er kam, er mußte grüßen, nicht Du. Aber das ist immer die alte Geschichte mit Dir. Du hast nur zwei Gedanken: Angst und Vortheil, und hast keinen Stolz und keine Ehre. Du bist noch ganz aus der Kriechezeit. Und nun gar kriechen vor dem, vor solchem Schubbejack! Ist er denn Dein Herr? Unser Feind ist er, weiter nichts. Gott sei Dank, er fürchtet sich vor mir. Aber ich wollt’ es ihm auch rathen! Er kennt mich noch vom Görlitzer Scheibenstand her und weiß, ich hab’ eine sichere Hand und ein gutes Auge.“

„Sei doch still, Junge! Du red’st Dich noch ins Gericht. Und wenn Du durchaus reden willst, so rede nicht so laut. Es kann’s ja jeder hören.“

„Soll’s auch!“

Er hätte wohl noch weiter gesprochen, wenn nicht in eben diesem Augenblicke der alte Pastor Siebenhaar in Person von der Kirche her den Kirchhofsgang heraufgekommen wäre, neben ihm der Küster, zu dem er leise sprach.

Und jetzt erhob sich auch Lehnert.

„Ich möchte Dich noch sprechen,“ sagte der Alte, während er Lehnert im Vorübergehen die Hand reichte. „Komm in einer Viertelstunde! Das heißt, so Dir’s beliebt.“ Und mit einem freundlichen Blick, der Lehnert zu Herzen ging, schritt der Alte weiter, erst auf die Pforte und dann, etwas rechts abbiegend, auf das hinter einer Reihe verschnittener Linden gelegene Pfarrhaus zu.




2.

Lehnert setzte sich nach dieser flüchtigen Begegnung wieder. Sonst, wenn der Gottesdienst aus war, ging er mit seiner Mutter in den nahen Kretscham hinüber, um erst eine Stonsdorfer und hinterher einen „Grünen“ oder auch wohl einen Ingwer zu trinken. Heut aber war ihm nicht danach zu Muthe. „Laß uns sehen, Mutter, wie das Grab aussieht!“ sagte er.

Er meinte das seines Vaters, und während er so sprach, nahm er der alten Frau Arm und ging mit ihr den langen Hauptgang hinauf, bis sie vor einem gut gepflegten Grabe standen, an dem nur die halb verwaschene Inschrift erkennen ließ, daß der Todte schon seit lange hier liegen müsse. Die Jahreszahl bestätigte das auch. „Hier ruhet in Gott Anton Menz, Stellmacher und Schreiner zu Wolfshau bei Krummhübel, geb. 13. März 1821, gest. 17. August 1859. Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

Lehnert faltete die Hände, als er die Worte las; wie er aber sah, daß die Alte nach ihrem Sacktuch suchte, riß er die Hände gleich wieder auseinander und sah ärgerlich weg, weil er wußte, daß alles bloß Schein und Komödie war und die Alte nur weinte, weil sie weinen wollte. Sie steckte denn auch das Tuch wieder ein und bückte sich, um eine große gelbe Studentenblume zu pflücken.

„Das war seine Lieblingsblume,“ sagte sie.

[22] „Weißt Du das gewiß, Mutter? Ich habe noch keinen Menschen gekannt . . .“

In diesem Augenblicke schlug die Thurmuhr ein Viertel und Lehnert unterbrach sich mitten im Satz. „Es ist Zeit,“ fuhr er fort, „ich kann den Alten nicht warten lassen und muß nun hin und mir meine Litanei holen. Als ob ich in der Kirche nicht schon genug gehabt hätte! Willst Du hier auf dem Kirchhof warten oder gehst Du lieber gleich nach Hause? Eine Weile wird es in der Pastorstube doch wohl dauern, Siebenhaar ist nicht immer der kürzeste. Oder willst Du lieber nach dem Kretscham hinüber und Dir bei Pohl einen Ingwer geben lassen?“

Die Alte verschwor sich gegen den Kretscham und den Ingwer; ihr sei heute so andächtig wie lange nicht, und so wolle sie denn lieber gleich nach Hause. Da sei sie doch am liebsten und am nöthigsten. Opitzens Christine hab’ ihr freilich versprochen, in der Küche nach dem Rechten zu sehen, aber vielleicht habe die gute Seele selber alle Hände voll zu thun.

Und so verließen sie denn gemeinschaftlich den Kirchhof.

Als sie draußen vor der Pforte waren, mußte die Alte, wenn sie nach Krummhübel und Wolfshau zurück wollte, scharf nach links hin abbiegen, sie ließ sich’s aber nicht nehmen, ihren Sohn erst noch bis zum Pfarrhaus, das nach der entgegengesetzten Seite hin lag, zu begleiten, wo sie vorsichtig wartete, bis er eingetreten und im Flur verschwunden war. Dann aber steuerte sie sofort mit einem geschickten kleinen Umwege nach dem Kretscham hinüber, um sich hier den Ingwer geben zu lassen, den sie, „weil ihr heute so andächtig sei“, vor wenig Minuten erst abgelehnt hatte. –

Lehnert stand inzwischen auf dem kühlen Fliesenflur und wartete, denn niemand erschien, trotzdem die Klingel zweimal an geschlagen hatte. Die Hofthür, hinter der ein alter Nußbaum stand, war weit auf und das Summen einer Wespe, die sich vom Hof her in den Flur verirrt hatte, war das einzige, was die Stille unterbrach. Endlich kam die Magd und sagte, sie wisse schon, er möge nur eintreten.

Das that er denn auch.

Es war „des Alten“ Studierstube, die Lehnert von seinen Kindertagen her kannte. Das Christusbild, mit Friedrich Wilhelm III. und dem Kronprinzen zur Linken und Rechten, hing noch gerade so schief wie vor vierzehn Jahren, als er hier, wöchentlich zweimal, auf einer wackligen Konfirmandenbank gesessen hatte. Alles genau wie damals und nur die Dielen noch etwas ausgehöhlter.

Lehnert hatte so seine Betrachtungen, kam aber nicht weit damit, denn in der nächsten Minute schon trat der Alte, der mittlerweile seinen Talar abgelegt und einen Imbiß genommen hatte, von der Nebenstube herein und ließ sich in einen vor seinem Schreibtisch stehenden Polstersessel nieder.

„Ja, Lehnert,“ hob er an, „es ist das alte Lied. Deine Mutter hat sich wieder über Dich beklagt.“

„Ach, Herr Prediger . . .“

„. . . Und daß Du wieder Deine Tobsucht hast und nichts wie bittere Worte sagst und ihm, ich meine natürlich Deinen Nachbar Opitz, den Tod an den Hals wünschest und fluchst und Dich verschwörst, daß er dran glauben solle. Lauter gotteslästerliches dummes Zeug, für das Du viel zu klug, und ich muß Dir das nachsagen, auch eigentlich viel zu gut bist. Ich begreife Dich nicht. Du hast doch einen guten Verstand und hast die gute Schule gehabt, und wenn ich auch weiß, daß man nicht immer nach dem Worte Gottes lebt, so kennst Du’s doch und darfst nicht so sprechen, als ob Du’s nicht kenntest und als ob es gar nicht da wäre. Du weißt recht gut, daß es da ist, und weißt auch recht gut, daß Gottes Wort heilig ist und daß es das Klügste und Beste ist, seine Gebote zu halten. Aber Du redest drauf los wie ein Heide und Türke . . .“

„Ach, Herr Prediger . . . “

„Wie ein Heide und Türke, sag’ ich, und thust es nicht bloß zu Haus und in Deinen vier Pfählen, Du sagst es auch jedem, der’s hören will, und wenn Du Dich müde gesprochen und keine Worte mehr gegen ihn finden kannst, dann bindest Du mit dem Grafen an, dem guten gnädigen Herrn, von dem Du doch weißt, wie nachsichtig er ist, und hältst ihm vor, daß er was Besseres thun könne, als solchen Großthuer und Menschenquäler in die Försterei zu setzen, und daß es kein gutes Ende nehme.“

Lehnert nickte.

„Nun siehst Du, Du nickst und hältst es nicht ’mal für nöthig, ,nein’ zu sagen und Deinem alten Freund und Lehrer, von dem Du weißt, daß er’s gut mit Dir meint, mit einer Entschuldigung oder so was Aehnlichem entgegenzukommen. Du bist geblieben, wie Du schon warst, als Du hier mit Deinem blonden Krauskopf auf der Konfirmandenbank saßest. Das krause Haar haben sie Dir bei den Soldaten weggekämmt, aber den krausen Sinn haben sie Dir nicht wegschaffen können, Du bist ein Trotzkopf, voll Selbstgerechtigkeit, und glaubst, alles am besten zu wissen. Und nun liest Du auch noch allerlei dumme Blätter, in denen hochmüthige Schulmeister und verlogene Winkeladvokaten ihre Weisheit zu Markte bringen, und redest hier in den Kretschams herum von Freiheit und Republik und dem glücklichen Amerika. Lehnert, Lehnert, dazu bist Du mir viel zu schade! Sieh, Junge! aus Dir hätt’ eigentlich was Ordentliches und was ganz Gutes werden müssen, und nun verthust Du Deine Zeit mit schlechter That und schlechtem Wort. Ich lebe nun hier seit Anno 29 und noch zwei Jahre, dann hab’ ich mein Jubiläum und ich darf wohl sagen, ich kenne Euch und weiß, daß Euch allen der Pascher und Wilddieb von Kindheit an im Leibe steckt. Das wird Euch so gleich mit in die Wiege gelegt und so nehmt Ihr’s als Euer gutes Recht und wenn Ihr einen Grenzer oder Förster über den Haufen schießt, dann ist es nicht Mord, dann ist es Nothwehr. Ich weiß das alles und find’ es traurig genug. Aber ich finde mich darin zurecht, das heißt, mißversteh’ mich nicht, ich finde mich darin zurecht, weil ich die schwache menschliche Natur kenne, der es schwer wird, der Versuchung und der Sünde, die heute so ist und morgen so, zu widerstehen. Aber daß Ihr das alles in der Ordnung findet, daß Ihr thut, als ob das Gesetz sich gegen Euch versündige, sich, das ist das Traurige. Und daß Du die Dummheit mitmachst und auch so sprichst, als ob der Opitz ein Scheusal und eigentlich nicht viel besser als der Gottseibeiuns wäre, das thut mir leid. Und nun sprich und sage was Vernünftiges. Aber erst trink ein Glas Wein mit mir! Es ist heiß und die Zunge klebt einem am Gaumen.“

Der Pastor trank auch wirklich ein Glas; Lehnert aber dankte.

„Nun gut, dann setz’ Dich wenigstens. Und dann sage mir, was Du zu sagen hast.“

„Ach, Herr Prediger, Sie wissen ja, wie’s liegt, und wissen auch, wir sind nicht so schlimm, ich schon gewiß nicht. Ich war bei den Soldaten und weiß, was gehorchen heißt, und es ist gar kein vernünftiger Mensch, der gegens Gehorchen ist. Denn das hält alles zusammen. Und so muß auch das Gesetz sein. Aber die Menschen, ja, Herr Pastor, die Menschen, die machen den Unterschied und wenn die nichts taugen, dann ist es schlimm. Das weiß ich auch noch von den Soldaten her und ich darf wohl sagen, und ich hab’ es schriftlich in meinen Attesten, ich war ein guter Soldat. Aber auf die, die den Befehl haben, auf die kommt es an, und was giebt es nicht für Vorgesetzte! Da muß man antreten mit Gepäck und zwei Stunden auf dem Hofe nachexerzieren, und die Sonne brennt und sticht, und wie man sich quälen mag, der Paradeschritt taugt nichts, die Griffe bleiben falsch und wenn sie noch so richtig wären; immer wieder ’ran, immer wieder vor, und dann einen Stoß unters Kinn und Verwünschungen und Drohungen, ,daß man’s wohl noch bis zum Zuchthaus oder bis zum Baugefangenen bringen würde’. Ja, Herr Pastor, solch ein Unteroffizier – und es giebt solche – verlangt auch Gehorsam und findet ihn auch, aber wenn’s dann paßt, dann stellt man ihm ein Bein oder schafft ihn über Eck. Und die, die das thun, die sind nicht gegen Gehorsam und Disciplin, die sind bloß gegen den Unteroffizier. Und was mich angeht, Herr Prediger, ich bin nicht gegen das Gesetz, auch wenn ich’s nicht immer halte, ich bin bloß gegen den Opitz, diesen Schuft und Schelm, diesen Saufaus und Menschenschinder.“

Siebenhaar lächelte. „Da haben wir’s wieder, ganz wie ein Puter, wenn er den rothen Lappen sieht. Du willst Person und Sache trennen. Aber geht das, hast Du ein Recht dazu?“

„Ich meine ,ja’, Herr Pastor. Sie wissen, daß ich zwei Monat drüben in Jauer war, wie’n Verbrecher, unter lauter Gesindel. Und das verdank ich ihm.“

„Er hat Dich angezeigt. Das war seine Pflicht.“

„Er hat mich angezeigt, das war seine Lust. So liegt es. Er ist immer lustig dazu, bei jedem; aber doppelt bei mir, denn wir sind alte Feinde, noch von den Soldaten und vom Kriege her. Ich kenn’ ihn, Herr Pastor; er ist ein schlechter Kerl, und so lang [23] ich denken kann, hat er mich gequält. Er war mein Oberjäger und kein gutes Wort hat er mir je gegönnt. Immer hart, immer roh, und nur wenn’s in die Schlacht ging, war er wie’n Ohrwurm. Es giebt eben Kugeln, die sich verirren. Und dann, Herr Pastor, wenn er nicht gewesen wär’, so hätt’ ich das Kreuz. Aber er hat dagegen gesprochen. Und was hat er gesagt? Ich taugte nichts, ich wäre frech und übermüthig und man könne nicht jedem das Kreuz geben, der ein paarmal aus einem Fenster geschossen habe, bei guter Deckung. Wahr und wahrhaftig, ,bei guter Deckung’, so hat er gesagt, der schlechte Kerl. Und er war gar nicht einmal dabei. Ich will nicht sagen, daß er feig ist, nein, feig ist er nicht, aber ein Neidhammel ist er. Und was dann nachher kam, ich meine das vorige Jahr, nun das weiß der Herr Pastor. Von Unschlitt und Schimmelbrot will ich leben, wenn ich’s dem Kerl verzeih, daß er mich belauert und an die Grenzaufseher verrathen hat, und daß sie mich nach Jauer abgeliefert haben. Und warum? Um ein Stück Reichenberger Tuch, nicht der Rede Werth! Immer hat er mir den Weg gekreuzt. Hol ihn der Teufel!“

Siebenhaar drohte halb scherzhaft mit dem Finger. Lehnert, aber trat an den Alten heran und bat in einem Tone, drin sich Ernst und gute Laune die Wage hielten, um Entschuldigung.

„Ich will Dir den ,Teufel’ zu gute halten, Lehnert, wiewohlen man ihn nicht anrufen soll. Aber versprich mir dafür, Friede zu halten. Ich weiß nicht, ob Opitz Dir unrecht gethan hat mit dem Kreuz, aber wenn es auch wäre. Du mußt es vergessen.“

„Will’s versuchen.“

„Versprichst Du’s ernsthaft? Hab’ ich Dein Wort?“

„Ja! Aber wenn er wieder anfängt . . .“

„Er wird nicht. Ich werde mit ihm sprechen und Du sollst Bescheid haben. Vielleicht bald. Und dann komm ich selbst.“


3.

Während Lehnert dieses Gespräch hatte, schritt der, dem all diese Drohungen galten, heimwärts auf Wolfshau zu, wo seine Försterswohnung mit der Menzschen Stellmacherei zusammengrenzte. Der nächste Weg nach Haus wäre der unten im Thal, an der Lomnitz hin, immer flußaufwärts, gewesen, er mied ihn aber, weil dieser nähere Weg ohne Wirthshaus war und er ernstlich vorhatte, sich bei einem Glase Bier und einem guten Gespräch von den Anstrengungen der Siebenhaarschen Predigt, die wie gewöhnlich gut, aber etwas lang gewesen war, zu erholen.

So stieg er denn, den Umweg nicht scheuend, die große Straße bergan auf Krummhübel zu, wo er sicher war, in dem prächtig gelegenen Wirthshause „Zur Schneekoppe“ den ersehnten guten Trunk und vor allem auch eine gute, das heißt eine gefällige Gesellschaft zu finden, die sich’s angelegen sein ließ, ihn reden zu lassen und ihn bei jedem dritten Worte „Herr Förster“ zu nennen. Denn sich umworben und ausgezeichnet zu sehen und Ehre vor den Menschen zu haben, war das, wonach ihm zumeist der Sinn stand.

Sein Hühnerhund Diana, der darauf dressiert war, die Predigt draußen auf einer von der Sonne beschienenen Kiesstelle zu verschlafen, folgte dicht hinter ihm, ein schönes, schwarz und weiß geflecktes Thier. Und keine halbe Stunde, so bog er in Krummhübel ein, drin eine sonntägliche Stille herrschte. Links lief ein Wässerchen und schäumte, Hühner und Sperlinge pickten überall umher, wo eine Krippe gestanden hatte, und in der offnen Hausthür lehnten einzelne Dorfbewohner und genossen der Sonntagsruhe.

„Guten Tag, Herr Förster,“ sagte Gerichtsmann Klose, seine Pfeife respektvoll aus dem Munde nehmend, und „Guten Tag, Herr Förster“ wiederholte die nebenanwohnende, für gewöhnlich mit ihren Gunstbezeigungen etwas kargende Frau Böhmer den Gerichtsmann Kloseschen Gruß auch ihrerseits und trat aus ihrem Kramladen in die Dorfstraße hinaus, um dem Vorübergehenden die Hand zu geben, ja, sie schien ihn sogar anreden zu wollen. Des Försters Haltung aber war so steif und gemessen, daß selbst Frau Böhmer mit ihrer Frage zurückzuhalten für gut fand.

Und nun noch hundert Schritte, so stand unser Förster Opitz vor Exners „Schneekoppe“,“ trat aber nicht über den Schwellstein in den Flur, sondern bog gleich daneben in einen von einem Staketenzaun eingefaßten Garten ein, in dem um einen plätschernden Springbrunnen herum vor einer großen Veranda viele Sommergäste saßen. Sich diesen zu gesellen, fiel Opitz aber nicht ein, weil er im Vorübergehen herausgehört hatte, daß es Berliner waren, also Leute, von deren eigener Eingebildetheit er für die seinige nicht viel zu hoffen hatte. So ging er denn lieber auf eine kleine, von wildem Wein umwachsene Holzlaube zu, wo noch niemand saß, und ließ sich hier an einem langen braungestrichenen Eßtisch nieder; unmittelbar an der Wand daneben war ein Klingeldraht angebracht, der nach dem Wirthshause hinüber führte. Diesen zog er. Die Bedienung war aber einigermaßen säumig, was ihn, weil er eine Verkennung seiner Wichtigkeit und Würde darin erblickte, sofort heftig ärgerte. Wirklich, sein ohnehin etwas auf Schlagfluß deutendes Gesicht wurde von Minute zu Minute röther, und erst den Hut vom Kopf nehmend und gleich danach Unruhe bald mit dem einen bald mit dem andern zu beschäftigen. Endlich kam die Bedienung, eine schöne schwarze Person, von der es hieß, daß sie Kunstreiterin gewesen und als Kind durch fünf Reifen gesprungen sei, was ihr jetzt freilich etwas schwer geworden wäre, und entschuldigte sich, daß der „Herr Förster“ so lange habe warten müssen.

„Schon gut, Marie, schon gut.“

Und nun bestellte er eine Kulmbacher und ein Schnitzel. „Aber ohne Kapern und Sardellen!“

Die Kulmbacher kam denn auch bald, aber das Schnitzel ließ auf sich warten und in seiner sofort wiederkehrenden Unruhe nahm Opitz diesmal, statt des Sacktuches, ein Notizbuch aus seiner Tasche und begann Einzeichnungen zu machen, die, seiner Miene nach, von besonderer Wichtigkeit sein mußten. In Wahrheit aber waren es bloß Krikelkrakel, bei deren gedankenloser Hinmalung er, aller Aufregung und Wichtigthuerei zum Trotz, neugierig nach der großen Veranda und den vor derselben stehenden Tischen hinüber sah.

Endlich unterbrach die Marie mit dem Schnitzel diese nervöse Geschäftigkeit, und einige Augenblicke nachher bekam Opitz auch Lehrer Wonneberger, dessen Schule bei den „Baberhäusern“ hoch oben im Gebirge lag, waren in den Exnerschen Garten eingetreten, und Opitz ging ihnen, was eine große Auszeichnung war, drei Schritte entgegen und begrüßte jeden einzeln. Er sei froh, daß sie kämen, denn er hab’ einen ganzen Sack voll Neuigkeiten. Es gehe wieder was vor und der gottvergessene Kerl, der Sambetta, stecke dahinter. „Was meinen Sie, Kraatz? Sie sind ja doch auch ein Mann, der was hört und weiß und mit dabei war.“

Während Opitz noch so sprach, hatte man sich’s um den Tisch her bequem gemacht. Die Klingel wurde gezogen, eine Bestellung folgte der anderen, und ehe zehn Minuten um waren, hörte man aus der Holzlaube her nichts als Lachen und das Zusammenstoßen der Seidel.

Vor der nachbarlichen Veranda aber, wo die Berliner gesessen hatten, war alles still und leer geworden.

Ja, alles war still und leer geworden, und doch wurden Opitz und seine Freunde beobachtet, nicht von Gästen draußen, deren es kaum noch gab, wohl aber von Gästen, die drinnen im Exnerschen Hause saßen und durch die Fenster der Gaststube nach der Holzlaube hinübersahen, kleine Leute von Querseiffen und Wolfshau her, Freunde Lehnerts, Führer und Träger, auch wohl Pascher und Wilderer, die hier wie herkömmlich nach dem Gottesdienst ihren Sonntag feierten. Allen gemeinsam war das Gedienthaben bei den „Görlitzern“ oder den Siebenundvierzigern oder den Königsgrenadieren in Liegnitz, und kaum einer befand sich unter ihnen, der nicht die Kriegsdenkmünze getragen hätte. Von einer richtigen Mahlzeit war nicht die Rede, sie begnügten sich mit einem „Grünen“ oder einer Stonsdorfer und die kleine Stummelpfeife ging nicht aus.

„Opitz läßt heute was drauf gehn,“ sagte der dem Fenster zunächst Sitzende. „Wenn ich recht gezählt hab’, ist er schon beim dritten Seidel und sieht aus wie’n Puter. Ihr sollt sehen, er trinkt sich noch den Schlag an den Hals, und eh’ man den Schaden recht besieht, ist er um die Ecke.“

„Du mußt ihm heute was zu gute halten, Schmidt. Siebenhaar hat ja gepredigt, als ob Krummhübel und Wolfshau so was wie Sodom und Gomorrha wären. Und so was hört Opitz gern. Und was ihn am meisten gefreut haben wird, nu das [24] war, daß Siebenhaar immer nach der Ecke hin sah, wo Lehnert Menz saß, und es hätte bloß noch gefehlt, daß er ihn beim Namen genannt hält’. Und ich sah auch, wie Lehnert sich verfärbte.“

„Ja,“ sagte Schmidt. „Und dabei hat Lehnert noch ’nen Stein bei ihm im Brett und ist eigentlich sein Liebling. Daß er ihn, weil er so findig und anschlägig war, auf die Schule nach Jauer geschickt hat, na, das wißt Ihr, und nun nimmt er doch Partei für den Opitz, der den Lehnert zwei Monat ins Jauersche Amtsgefängniß geschickt hat. Ich versteh den Alten nicht und ich kann es mir mit seiner Predigt bloß so denken, daß er ein Unglück verhüten will. Er weiß, daß es beide harte Steine sind und daß es kein gutes Ende nimmt, wenn nicht Friede wird. Einer muß klein beigeben und der eine muß Lehnert sein, weil es Opitz nicht sein kann. Er is doch nu ’mal ein Mann im Amt und sozusagen im Recht. Hol’s der Teufel, daß ich das sagen muß. Und da hat Siebenhaar ihn warnen wollen, ich meine den Lehnert, und ihn ermahnen, daß er zu Kreuze kriecht.“

„Es wird aber nicht helfen. Is alles ein alter Schaden noch von den Soldaten her und nun schon sieben Jahre zurück. Opitz ist ein Quäler und Schuster und war es immer. Er hat ihn chikaniert vom ersten Tag an, ich weiß nicht warum. Ich glaube, Lehnert war ihm zu forsch und zu freiweg und nicht unterthänig genug, und ich erinnere mich, daß das ein ewiges Schnauzern war. ,Das will ein Jäger sein, Du mein Gott’, ,der Menz hat keinen Zug im Leibe’, ,der Menz hat keine Ehre’, ,der Menz hat keine Schneid’. Und so ging es weiter und nahm kein Ende, bis Menz den kleinen Fähnrich von Uttenhoven aus dem Wasser zog. Opitz natürlich spöttelte bloß, als sei’s nichts gewesen, keine vier Fuß tief und der Fähnrich so leicht wie ’ne Feder; als dann aber die Medaille kam, da mußte Opitz still sein und von ,nicht Ehre und nicht Schneid’ war keine Rede mehr. Ich sage Euch, Major Griepenkerl, der damals das Bataillon hatte, der hielt eine Rede, Donnerwetter, der verstand es, das ging an die Nieren, und hätte sich alles wieder zurecht gezogen, wenn nicht der Krieg gekommen wär’ und die Geschichte mit dem Kreuz. Opitz hat ihm das Kreuz gestohlen. Eine ganz verdammte Geschichte . . .“

„Warst Du denn mit dabei?“

„Nein. Aber so gut wie mit dabei, denn ich stand in demselben Zug und habe den ganzen Spektakel, der nachher kam, mit erlebt. Alles war für Menz. Aber Opitz, der sich bei seinem Hauptmann – es war ein neuer, der alte war gefallen – in Thee gesetzt hatte, das versteht er, denn nach oben hin kriecht er und nach unten hin tritt er und schuhriegelt er, Opitz, sag’ ich, wußt’ es so zu drehen, daß Lehnert leer ausging und das Nachsehen hatte. Und von dem Tag an war der Unfrieden wieder da.“

„Wie war es denn eigentlich? War es denn noch bei Sedan? Lehnert spricht nie davon.“

„Nein, bei Sedan war es nicht. Bei Sedan, das war Spaß, trotzdem wir fünf Minuten lang scharf drinsteckten. Aber das ging vorüber wie ’ne Regenhusche. Nein, dies war im Winter, als der französische General . . . nu, Donnerwetter, wie hieß er doch? Bazaine war es nicht . . . “

„Ducrot.“

„Richtig, Ducrot . . . als der seinen letzten Ausfall machte. Die dritte Kompagnie hielt die Vorderreihe von St. Cloud, und in dem Eckhause rechts, dran die große Straße vorbeiläuft, lagen zwölf Jäger von uns unter Oberjäger Jaczewski, und bei diesen zwölfen war auch Lehnert. Nun, daß ich’s kurz mache, die ganze Linie mußte zurück und der Angriff ging zuletzt auf das Eckhaus, das der Punkt war, auf den es ankam. Ging das Eckhaus auch verloren, so nahm man uns in die Flanke. Jaczewski fiel und das Kommando kam an Lehnert und da war bald keiner mehr, der nicht einen Denkzettel weggehabt hätte; Lehnerten, das hab’ ich nachher gesehen, wurde der Gefreitenknopf und der Ohrzipfel weggeschossen. Aber er wollte nichts von Uebergabe wissen und hielt aus, bis Unterstützung kam und die ganze Linie wieder genommen wurde.“

„Und kein Kreuz? Das begreife wer kann! Du mein Gott, da waren doch die Aussagen der Leute!“

„Ja, die Aussagen der Leute. Die Leute, die lagen verwundet im Lazareth und ließen sich natürlich betimpeln und beschwatzen und sagten aus, was Opitz ihnen vorredete. Jaczewski habe das Kommando gehabt und Jaczewski sei gefallen . . . “

„Aber bist Du denn auch sicher, daß Opitz unrecht hatte? Menz ist ein forscher Kerl, aber er dünkt sich was, weil er auf Schulen war, und ist eitel und hält sich für mehr als er ist. Er hat einen Nagel.“

„Ja, den hat er und es ist schwer, Friede mit ihm halten. Er hat so was wie Opitz selber und ist gleich aus dem Häuschen. Aber eins muß doch wahr bleiben, er is ein guter Kerl und ein guter Kamerad und dabei grundehrlich und läßt keinen im Stich, und wenn man ihn nicht reizt und ihm nicht widerspricht und ihm in seinem Willen zu Willen ist, dann ist er wie’n Kind und man kann ihn um den Finger wickeln.“

„Das sag’ ich auch. Und wenn Siebenhaar es recht angefangen hätte, na, dann hätt’ er Opitzen angepredigt und dem ins Gewissen geredet und von den Geizigen und Hartherzigen gesprochen, die nicht ins Himmelreich kommen. Aber er hat den Spieß umgedreht und hat Opitzen recht gegeben. Und das ist nicht recht. Denn Opitz ist ein Narr und ein Quälgeist, und ich wollte bloß, er tränke sieben Seidel und hätte seinen Schlag weg. Dann wären wir ihn los und das arme Volk wär’ ihn los, das in den Wald geht, und könnte sich ruhig sein bißchen Holz holen.“

„Und wir könnten einen Spießer wegschießen, ohne Gefahr und Gericht. Und das ist doch immer die Hauptsache!“


4.

Opitz hatte keine Eile, nach Hause zu kommen, und die dritte Nachmittagsstunde war fast schon heran, als er aufbrach und seinen Weg nach der Wolfshauer Försterei hin fortsetzte. Der alte Förster von der Annenkapelle blieb noch im Exnerschen Lokale zurück, ebenso Grenzjäger Kraatz, und nur Lehrer Wonneberger, der bis zur Obermühle hin denselben Weg mit Opitz hatte, schloß sich ihm an. Es war ein in wunderlichen Sprüngen gehendes Gespräch, das sie führten, erst über den Papst und das neue Dogma, dann über Mac Mahon, der viel zu gut für die Franzosen, und über den Corpskommandeur in Breslau, der zu lang im Dienste sei. All dies erledigten sie übrigens in kurzen Sätzen, um dann um so ausführlicher auf das Nächstliegende einzugehen, auf Siebenhaar, auf Exner, Vater und Sohn, auf den alten Laboranten Zölfel mit seinem Melissengeist und seinen Wundertropfen und auf das Blitzmädel, „die schwarze Marie“.

„Die Marie soll sich ja verheirathen wollen,“ sagte Wonneberger. „Ist es denn richtig, daß sie Kunstreiterin war und als Kind durch fünf Papierreifen gesprungen ist?“

„Ich habe sie nicht gezählt und es mögen wohl auch ihrer sieben gewesen sein. Aber fünf oder sieben, es ist eine forsche Person und sie hat so was, was nicht jede hat, und wenn sie so das Essen bringt und die Messer und Gabeln über den Tisch hinfliegen läßt, wie die chinesischen Messerspieler, dann denk’ ich immer, es geht wieder los. Haben Sie ’mal solche Messerspieler gesehen?“

„Ei freilich, einen Messerspieler und einen Degenschlucker. Und waren noch dazu Brüder. Das ’Runterschlucken ging noch; aber wenn er dann die lange Klinge wieder ’raus holte . . . na, so was wird die Marie doch wohl nicht gemacht haben.“

„Wer weiß! Sie hat so was Biegiges und da geht alles. Und dann, lieber Wonneberger, Sie glauben gar nicht, was die Weiber alles können, wenn sie wollen. Sie können eigentlich alles und wenn ich höre, Marie hat einen Windmühlflügel mit der Kniekehle festgehalten . . . aber hier ist ja schon die Mühle . . . Nu Gott befohlen, Wonneberger, und stecken Sie nicht immer mit dem Menz zusammen. Er hat jetzt seine zwei Monat’ abgesessen und wenn ich ihn recht kenne, so ruht er nicht eher, als bis er die zwei Monat’ auf zwei Jahre gebracht hat. Er ist ein Thunichtgut und, was schlimmer ist, ein Uebermuth und ein hochfahrender Schlingel, der große Rosinen im Sack hat. Aber ich werde sorgen, daß sie klein werden.“

Wonneberger wollte was zur Vertheidigung sagen, weil er eigentlich eine Liebe für Lehnert hatte. Opitz unterbrach ihn aber und fuhr fort. „Und Sie wissen doch, Freund, die Lehrer sollen ein gutes Beispiel geben. Der Liegnitzer Schulrath paßt auf und da steht man im schwarzen Buch, man weiß nicht wie: Reputation, Wonneberger! Immer aufpassen und nie vergessen, daß man Vorgesetzte hat und daß man dem Staat dient und daß man mitzählt. [26] Alles andere gilt nicht und wenn es gelten will, ist es Hochmuth und Unsinn. Und nun Gott befohlen, Wonneberger. Und nehmen Sie sich in acht, wenn Sie weiterhin übers Wasser müssen; die Brücke ist weggeschwemmt und die Steine sind glatt und Sie sind nicht mehr ganz fest auf den Beinen. Adieu, Wonneberger! Sie sind eigentlich ein guter Kerl, eine gute Schulmeisterseele. Kommen Sie her, Sie sollen noch einen Kuß haben.“

Und nun schieden sie wirklich und während der Lehrer höher bergan stieg, stieg Opitz einen Abhang nieder, der ihn unten, an einem Waldsaume hin, auf die Wolfshauer Gemarkung führte. Freundliche Häuser waren über einen weiten Wiesengrund hin ausgebreitet, durch den die Lomnitz schoß, an deren diesseitigem Ufer das Forsthaus, mit dem Hirschgeweih am Giebel, aufragte. Opitz, der jeden Steg kannte, nahm seinen Weg über eine hoch in Blumen und Gräsern stehende Wiese hin und eh’ er noch bis auf hundert Schritt an seine Gartenpforte heran war, schlug der große Kettenhund an und die bis dahin stumm hinter ihm her trollende Diana antwortete mit einem kurzen Blaff.

Und wenige Minuten später überschritt Opitz die Schwelle seines Hauses.

* * *

Frau Opitz, eine hagere Frau mit tiefliegenden dunklen Augen, die einmal schön und lachend gewesen sein mochten, jetzt aber nur noch geängstigt in die Welt blickten, empfing ihren Mann und fragte, ob sie decken und das Mittagbrot auftragen solle.

So zaghaft die Worte klangen, so klang doch auch etwas von Vorwurf und Anklage heraus, was Opitzen, trotz seiner Umnebeltheit, nicht entging.

„Ach was, Bärbel, Mittagbrot! Was soll das wieder! Wenn ich nicht da bin, bin ich nicht da. Du sollst nicht auf mich warten, ein für allemal. Alles bloß Eigensinn, und mir zum Tort wird das Essen bei Seite gestellt und schmort in der Schüssel, daß es wie Leder aussieht und wie Leder schmeckt. Ich will Ordnung und Stunde halten, so soll’s sein, und wenn ich die Stunde nicht halte, weil ich sie ’mal nicht halten will, nun dann will ich sie nicht halten und will nicht dran erinnert sein, am wenigsten durch Deinen Schmorbraten und Dein Jammergesicht, in dem immer so was liegt, was mich ärgert und was ich nicht leiden kann.“

Diana, müde von dem weiten Marsche, war auf den Großvaterstuhl gesprungen und wollte sich’s eben bequem machen. Aber das paßte Opitzen schlecht. „Ist denn alle Welt verrückt geworden?“ rief er, und den Hund beim Fell packend, warf er ihn auf die Erde und gab ihm einen Fußtritt. Dann ging er auf einen Schrank zu, nahm eine mit Rohr umflochtene Flasche heraus und trank. Es war Kirschwasser, zu dem er, mit oder ohne Grund, das Vertrauen hatte, daß es „niederschlage“. Dann hing er den Staatsrock an den Riegel, machte die Krawatte weiter und warf sich, einen Stuhl heranschiebend, aufs Bett. Und keine halbe Minute mehr, so, hörte man nur noch sein Athmen und Schnarchen. Diana kroch unter den Stuhl und die Frau Försterin verließ leise die Stube; draußen in der Küche aber setzte sie sich zwischen Wand und Herd und ließ sich von Christine, die seit etwa zwei Jahren in ihrem Dienste stand, die Kaffeemühle geben und begann sofort ein allerintimstes Gespräch. Denn in einem ihr eigenthümlichen Klageton über Ehe zu sprechen, war ihr so ziemlich das Liebste vom Leben, auf das sie nicht verzichten mochte, trotzdem sie wohl wußte, daß Christine durchaus abweichender Meinung war.

„Es war ihm wieder nicht recht, Christine! Und wenn ich es nicht warm stelle, ist es auch nicht recht. Er redet immer von Ordnung, aber jeden Tag hat er eine andere. Heb’ ich was auf, weil er zu spät kommt, dann ist zwölf Uhr Ordnung und darf nichts aufgehoben werden, und heb’ ich nichts auf, dann ist es Ordnung, daß eine Frau was aufhebt. Und immer grob und bullrig. Ich sage Dir, Christine, heirathe nicht! Du steckst so mit dem Lehnert zusammen, aber glaube mir, einer ist wie der andere.“

„Nein, Frau Försterin, Lehnert ist doch ganz anders.“

„Ja, das sagt Ihr, das sagt jede; jede denkt, ihrer ist besser und ihr wird der Kuchen besonders gebacken. Aber dem ist nicht so. Freilich hat er nicht solchen kurzen Hals wie Opitz und die Kurzhalsigen sind immer die schlimmsten, das ist wahr und kann ich nicht bestreiten, aber es bleibt doch dabei, sie sind sich gleich, oder wenigstens sehr ähnlich. Sie quälen uns bloß, heute mit Eifersucht und morgen mit Liebe.“

„Na, mit Liebe, das ginge doch noch, Frau Opitz; das is doch nich schlimm! Liebe, denk ich mir, is die Hauptsache.“

„Ja, Kind, das sagst Du wohl, weil Du noch jung bist. Da sieht es so aus. Aber nachher ist es alles anders und mit der Liebe auch. Und wenn man dann alt ist, ist man bloß noch dazu da, sich schimpfen und schelten zu lassen und Strümpfe zu stopfen und einen Knopf anzunähen.“

Christine versicherte das Gegentheil und schon ihre Mutter selig habe immer gesagt: „Christine, heirathen mußt Du, heirathen muß der Mensch! Und die, die viel schimpfen und schlagen, die sind auch gut und mitunter sind es die besten.“ „Und dann, Frau Opitz, ich habe doch auch schon gesehen; daß er Ihnen einen Kuß gegeben hat, und da waren Sie doch ganz vergnügt und so . . . ja, ich weiß nicht recht wie . . . Nein, nein, Frau Opitz, ich lasse mir nichts weismachen. Ich bin für heirathen, und wenn Lehnert nicht will, nu, dann will er nicht, dann will ein anderer. Ich werde schon einen finden. Und ich weiß auch, wie man’s machen muß. Man muß nur immer fidel sein und immer ,ja’ sagen und nichts merken von dem, was man nicht merken soll. Dann kann man hinterher machen, was man will. Ach, liebe Frau Opitz, Sie verstehen es nicht. Sie sehen immer aus, als ob einer gestorben wär’ oder eben dabei wär’, und das können die Männer nicht leiden. Nein, nein, Frau Opitz, ich heirathe!“

Und während sie noch so sprach, nahm sie den Kessel vom Herd und brühte den Kaffee. „Nicht zu viel Wasser, Christine, nicht zu viel!“ warnte die Frau; „Du weißt doch, daß er ihn gern stark hat, und weißt auch, was er immer dabei sagt: ,Schwarz wie der Tod und heiß wie die Hölle’, was mir immer einen Stich ins Herz giebt. Denn man soll vom Tod nicht so reden und am wenigsten, wenn man ein Förster ist. Da ist der Tod da, man weiß nicht wie. Und schlagflüssig ist er auch und von dem verdammten starken Bier kann er nicht lassen. Und dann immer das Kirschwasser! ,Es schlägt nieder,’ sagt er. Ja, wenn es bloß ihn nicht niederschlägt . . .“

In diesem Augenblick fuhren beide Frauen erschreckt zusammen, denn in der Stube nebenan fiel etwas mit dumpfem Schlage zur Erde. Der Schreck währte indessen nicht lange. Frau Opitz erholte sich zuerst. „Er hat den Stuhl umgestoßen und ich will nun hinein und Nachsehen, ob er ausgeschlafen hat.“

Opitz stand, als seine Frau eintrat, bereits vor dem kleinen Spiegel mit blankem Glasrand, der, sammt einer doppelten Verzierung von Zittergras, über der Kommode hing. Er fuhr sich eben mit der Hand durchs Haar und sah noch halb verschlafen aus seinen etwas gerötheten Augen. Ihr Ausdruck aber war mittlerweile doch ein anderer geworden, der Aerger schien mit dem Rausch dahin, und im Spiegel seine Frau gewahrend, trat er auf sie zu, legte den Arm um ihre Hüfte und gab ihr einen Kuß. Die Frau sah verschämt vor sich nieder, denn eigentlich liebte sie ihn und empfand es als einen Gram, daß solche Zärtlichkeiten so selten waren.

„Soll Christine den Kaffee bringen?“

„Versteht sich, soll sie. Und gieb mir die Pfeife! Die verdammte Trinkerei bekommt mir nicht und der Doktor will’s auch nicht und droht mir immer mit dem Finger. Aber das Fleisch ist schwach. Auch ein Förster und alter Soldat hat seine schwachen Stunden. Nicht wahr, Bärbel? Und nun gieb mir auch Feuer und dann den Kaffee. Aber keine Plämpe!“

Während Opitz noch so sprach, klopfte Bärbel mit dem Knöchel an die Wand, was das Zeichen für Christine war, den Kaffee zu bringen, und zündete gleich danach einen Fidibus an, woran Opitz, der sonst in solchen Dingen für das Neue war, eigensinnig festhielt. Er hatte nur zufällig einen Haß gegen Schwefel- und Phosphorhölzer.

Und nun brachte Christine den Kaffee.

„Nu, Christine, laß sehen! Ich hoffe. Du hast nicht zuviel Bohnen aus der Mühle springen lassen. Oder hat die Frau gemahlen? Na, na, nur still . . . Spaß muß sein . . . In Querseiffen ist heute Tanz. Was meinst Du, willst Du hin? Die Frau wird es schon erlauben; nicht wahr, Bärbel?“

Die Frau nickte.

„Nun siehst Du! Der Lehnert wird auch wohl da sein und das ist doch die Hauptsache. He? Na, thu’ nur nich’, als ob’s [27] anders wär’ . . . Und daß ihn Siebenhaar heute angepredigt und ihm den Kopf a bissel gewaschen und seinen Standpunkt klar gemacht hat, na, das wird ihn Dir beim Schottschen nicht verleiden und noch weniger draußen in der Laube. Tanz ist Tanz und Kuß ist Kuß. Und ich gönne ihn Dir auch und heute lieber als morgen. Denn Du bist eine verständige Person und wirst ihn schon zurecht rücken, besser als Siebenhaar. Und ist er erst aus dem Dünkel heraus und sitzt an der Wiege, vielleicht sind es Zwillinge, was meinst Du, Christine? Ja, was ich sagen wollte, sitzt er erst an der Wiege, statt zu paschen und zu wildern, dann werd’ ich auch gute Nachbarschaft mit ihm halten. Ich bin für Frieden, aber zu gutem Frieden gehören zwei.“

Christine hatte, während Opitz so redete, den linken Schürzenzipfel in die Hand genommen und strich an dem Saum entlang. Als er jetzt schwieg, sagte sie: „Nichts für ungut, Herr Förster, aber wenn Sie besser mit ihm wären . . .“

„. . . Da wär’ er besser mit mir,“ lachte Opitz. „Ja, das glaub’ ich. Ich soll anfangen und jeden Morgen, wenn ich ihn drüben hantieren seh’, meine Kapp’ abnehmen und über die Brück’ hinübergrüßen: ,Guten Morgen, Herr Lehnert Menz! Herr Lehnert Menz geruhten wohl zu ruhen? Ah, sehr erfreut. Empfehle mich zu Gnaden . . . ’ Nein, nein, Christine, Unterschiede müssen sein, Unterschiede sind Gottes Ordnungen. Und nun geh’ und komme nicht zu spät! All Ding will Maß haben.“

Christine ging. Frau Bärbel aber hatte mittlerweile nach ihrem Strickstrumpf gegriffen und sah verstimmt vor sich hin, weil es ihr gegen die Hausfrauenehre war, daß Opitz sich in ihre Sache gemischt und der Christine so mir nichts Dir nichts einen Ausgehetag angeboten hatte. Sie schwieg aber und erst als Opitz, der heute den Galanten und Rücksichtsvollen spielte, sie mit freundlicher Miene bat, das Licht und den Fidibusbecher vor ihn hin zu stellen, weil er sie nicht immer wieder belästigen wolle, hielt sie mit ihrer neben allem Aerger herlaufenden Neugier nicht länger zurück und sagte: „Angepredigt hat er ihn? Bist Du denn auch sicher? Er wird ihn doch nicht beim Namen genannt haben?“

„Nein,“ sagte Opitz, dessen gute Laune durch seiner Frau Neugier eher gesteigert als gemindert wurde, „nein, er nannte keinen Namen. Aber es war so gut, als ob er ihn genannt hätte, denn alles sah nach der Ecke hin, wo die Menzens saßen. Und die Alte nickte mit dem Kopf, als ob sie jedes Wort unterschreiben wolle. Freilich weiß ich, daß es nichts zu bedeuten hat, ihr steckt noch so was Polnisches im Blut, kriecht und scherwenzelt immer hin und her, und kann keinem ins Gesicht sehen, und von alldem, wovon der Lehnert zuviel hat, hat sie zu wenig. Alte Hexe, verschlagen und heimtückisch und feige dazu.“

„Sie taugt nicht viel. Aber Du wirst doch dem Sohne die Mutter nicht anrechnen wollen?“

„Nein,“ lachte Opitz. „Das nicht und ist auch nicht nöthig, denn er trägt an seinem eignen Bündel gerade schwer genug. Er trotzt mir, und weil er, außer der Denkmünze, auch noch das Ding, die Schwimmmedaille hat, ich sage, die Schwimmmedaille, denn von retten war keine Rede, und weil es, Gott sei’s geklagt, nahe dran war, daß er das Kreuz kriegte, spielt er sich mir gegenüber auf den Ebenbürtigen, ja den Ueberlegenen aus. Ich wette, er wildert bloß, um mir einen Tort anzuthun; er könnte die Dummheit sehr gut lassen, bei der ohnehin nicht viel ’raus kommt, aber es macht ihm Spaß, mir so unter der Nase hin ein Wild wegzuknallen. Das ist es. Aber ich denke, die zwei Monat in Jauer werden ihm gezeigt haben . . .“

„Du bist zu streng, Opitz.“

„Unsinn! Streng! Was heißt streng? Ich thu’ meine Pflicht.“

„Zu sehr. Du müßtest auch ’mal ein Auge zudrücken.“

„Bah, Bärbel, Du redest, wie Du’s verstehst! Auge zudrücken! Dazu bin ich nicht da, dazu bin ich nicht in Dienst und Lohn. Ich bin dazu da, die Augen aufzumachen. Und thu’ meine Pflicht zu sehr, sagst Du? Als ob man jemalen seine Pflicht zu sehr thun könnte! Man kann sie falsch thun, am unrechten Fleck, so viel geb’ ich zu, thut man sie aber am rechten Fleck, so ist von ,zu sehr’ keine Rede mehr. Die Gesetze sind nicht dazu da, daß Hinz und Kunz mit ihnen umspringen. Das verloddert bloß. Ich bin nicht so dumm, daß ich mir einbildete, wenn der Rehbock geschossen wird, geht die Welt unter. Nein, die Welt geht nicht unter. Aber Ordre parieren geht unter, Ordre parieren, ohne das die Welt nicht gut sein kann. Und heut am wenigsten, wo jeder denkt, er sei Graf oder Herr und könne thun, was ihm beliebt, und sei kein Unterschied mehr. Das ist die verdammte neue Zeit, die das Maulhelden- und Schreibervolk gemacht hat, Kerle, die keinen Fuchs von einem Hasen unterscheiden können, trotzdem sie beides sind. Geh’ mir damit. Ich weiß, was ich zu thun hab’. Und dieser Bengel, dieser Herr Lehnert Menz, gehört auch mit dazu, hat die Glocken läuten hören, schwatzt und quatscht von Freiheit, will nach Amerika gehen und hat keine Ahnung davon, daß sie da drüben noch ganz anders ’ran müssen als hier, sonst holt sie der Teufel erst recht und lacht sie mit ihrer ganzen Freiheit aus. Ich sage Dir, hier ist es am besten, hier, weil wir Ordnung haben und einen König und eine Armee. Ich bin ein Mann in Amt und Dienst und meinen Dienst thu’ ich, und wenn es mir ans Leben geht.“

„Sprich nicht so! Beruf’ es nicht!“

„Unsinn! Unsere Stunden sind gezählt und wir können uns keine zulegen und keine wegnehmen.“

„Doch, doch!“ sagte die Frau.

Der Förster war unter diesem Gespräch ans Fenster getreten und sah auf die hart an seinem Vorgarten vorüberführende Fahrstraße hinaus. Jenseit derselben, dem Blick entzogen, floß die tief eingebettete Lomnitz und man hörte nur ihr Hinschäumen über das Steingeröll. Opitz öffnete das Fenster, um frische Luft zu schöpfen, nahm ein Kiffen und wollte sich’s eben bequem machen, als er Lehnerts gewahr wurde; unwillkürlich trat er zurück, aber doch nur so weit, daß er von der Straße her immer noch deutlich gesehen werden konnte. Lehnert sah ihn auch wirklich und hob seinen Zeigefinger nachlässig und wie zu halbem Gruß bis an den Schirm seiner Mütze.

„Wie der Kerl nur wieder grüßt!“ rief Opitz seiner Frau zu. „Hast Du gesehen, Bärbel? Und das soll ich für einen Gruß nehmen! So grüßt man einen Rekruten, aber nicht einen Vorgesetzten. Und das Gesicht dazu . . .“

„Du bist nicht sein Vorgesetzter.“

„Ach was! Was weißt Du davon! Ich sage Dir, ich bin’s. Und wenn ich es nicht wär’, ein Mann in Amt und Würden ist allemal eine Respektsperson. Der Gernegroß da drüben kann seinen Gruß lassen und sagen, er habe mich nicht gesehen, aber wenn er mich grüßt, muß er mich grüßen, wie sich’s gehört, Mütze ’runter oder den Finger fest an den Streifen und nicht so wie von ungefähr und wie bloß zum Spaß. Das ist Unordnung und Unmanier!“

[53]
5.

Opitz hatte sich ausgewettert, und als ihm gleich danach eine behaglichere Stimmung wiederkehrte, trat er auch wieder ans Fenster und lehnte sich hinaus, um sich an den Narzissen und Aurikeln zu freuen, die spärlich in seinem Vorgarten blühten. Dabei blies er Wolken aus seinem Meerschaum in die stille Luft und ließ, unter behaglichem Träumen, alles an sich vorüberziehen, was der Tag gebracht hatte.

Lehnert war, als er an Opitz vorbei war, auf sein Haus zugegangen, das unmittelbar jenseit der Lomnitz lag, der Försterei so nahe, daß man sich gegenseitig in die Fenster sehen konnte. Nichts als Fluß und Fahrstraße trennte beide Gehöfte, deren gesammtes Acker- und Heideland in alten Zeilen ausschließlich Stellmacher Menzsches Eigenthum gewesen war, bis man auf dem diesseit der Lomnitz gelegenen Kusselstreifen eine Försterei gebaut und nur alles jenseit des Flusses Gelegene bei den Menz belassen hatte. Das war jetzt runde dreißig Jahr und fast eben so lange hatte man hüben und drüben ohne Neid und Eifersucht gelebt, trotzdem zum Neid, wie nun ’mal die Menschen sind, vielleicht Grund gewesen wäre. Denn wenn einerseits die neue Försterei mit ihrer Sauberkeit und ihrem rothen Dach die drüben gelegene, hier und da sehr baufällige Stellmacherei weit in Schatten stellte, so hatte diese dafür die „fette Seite“ behalten, während sich die Förstersleute, den kleinen Vorgarten abgerechnet, mit einem Streifen Heideland und einem noch schmaleren Lupinenstreifen begnügen mußten. Aber das alles hatte die ganze Zeit über keinen Aerger geschaffen und noch weniger der rein zufällige Umstand, daß das auf einer Stein- und Geröllinsel inmitten zweier Lomnitzarme gelegene Menzsche Wohnhaus, so wenig gepflegt es war, doch kastellartig auf alles unmittelbar Umhergelegene herabsah und natürlich auch auf die Försterei. Zu keiner Zeit, um es zu wiederholen, war an diesem und ähnlichem Anstoß genommen worden, bis Opitz ans Regiment kam, von dem, ohne daß er es zugab, die Hochlage der Stellmacherei drüben einfach als eine Beleidigung empfunden wurde.

Selbstverständlich unterhielt diese malerische Kastellinsel auch ihre Verbindungen mit dem Festland, und zwar mit Hilfe zweier Brückenstege, von denen der eine beinah unmittelbar nach der Försterei, der andere nach der entgegengesetzten Seite hin nach dem Menzschen Ackerland hinüberführte, hinter dem gleich der schräg ansteigende gräfliche Forst begann. Der Ackerstreifen war mit Roggen und Kartoffeln bestellt, von denen der Roggen in diesem Jahre ganz wundervoll stand, auf dem Inselchen selbst aber befand sich, in geringer Entfernung vom Wohnhaus, noch ein Arbeitsschuppen, drin Lehnert die schon von Vater und Großvater her ererbte Stellmacherei betrieb, ein Geschäft, das im Frühjahr und Herbst meist gut ging, im Sommer aber beinah’ ruhte.

So war es auch heut. Alles still. Freilich sah man einen Pflug und ein paar alte Karren und Wagenachsen unter dem Schuppen stehen, aber all diese Dinge konnten ebenso gut zur eignen Wirthschaft gehören, wie zur Ausbesserung abgeliefert sein. In dem abgeschrägten Vorgarten von nur geringer Tiefe, durch den eine Feldsteintreppe zu dem Häuschen hinaufführte, blühten Georginen und Reseda, während ein alter Rosenstrauch von beträchtlicher Stärke neben der Hausthür aufwuchs und sein mit gelben Rosen überdecktes Gezweig unter dem Strohdach hin ausspannte, Nachmittagssonne lag auf Haus, und Gehöft und nichts war hörbar, als die doppelarmig vorüberschießende Lomnitz und das Meckern einer Ziege vom Stall her. Ein Hahn, ein schönes Thier mit Silberhals, stolzierte den Schuppen entlang, aber er krähte nicht und hatte wenig Aufmerksamkeit für die Hühner, die sich Erdlöcher gemacht hatten, um sich zu kühlen.

Nicht ganz so still war es drinnen im Hause, in welchem Lehnert inzwischen eingetroffen war.

Er hatte sich unterwegs nicht beeilt, ebenso wenig wie Opitz. Vom Pastorhause war er zunächst nach dem Kretscham hinübergegangen und hatte hier von dem ihn begrüßenden Wirth erfahren, daß Frau Menz, seine Mutter, eben da gewesen sei und gerad’ an demselben Tisch erst einen „Grünen“ und dann einen Ingwer getrunken habe. Das hörte Lehnert nicht gern. Er gönnte der alten Frau die kleine Herzstärkung, denn er liebte sie trotz all ihrer Schwächen, aber er ärgerte sich wieder über die Heimlichkeit, und dieser Aerger war noch nicht voll verwunden, als er beim Betreten der Schwelle seines Hauses der am Herde hantierenden Alten ansichtig wurde.

„Guten Tag, Metier. Pohl läßt grüßen.“

„Welcher?“

„Nu, der aus dem Kretscham unten.“

„So, der! Warst Du da?“

„Ja, Mutter. Und Du kannst Dir denken, ich habe mich just da hingesetzt, wo Du gesessen hattest. Und Dir zu Ehren hab’ ich meinen Ingwer aus Deinem Glase getrunken. Es stand noch da.“

Die Alte sah verlegen vor sich hin und sagte dann: „Aber nur einen, Lehnert. Mir war so schwach.“

Lehnert lachte. Dann ging er auf sie zu und sagte, während er ihr das graue Haar streichelte: „Gott, Mutter, wie Du so bist! Wenn das einer hört, so müßt’ er denken, der Lehnert ist ein Filz und schlechter Kerl und gönnt seiner alten Mutter nicht einmal einen Tropfen Stärkung. Aber wie liegt es denn? Ich gönne Dir nicht einen Ingwer, ich gönne Dir zwei, und wenn Dir’s nicht zu viel wird, Alte, dann können es auch drei und vier werden. Ich habe Dich auch noch eigens gefragt und da hast Du ,nein’ gesagt, aber freilich, als Du ,nein’ sagtest, da sagtest Du schon ,ja’, und als ich die Klingelthür bei Siebenhaar noch kaum aus der Hand hatte, da bist Du schon hinübergegangen. Immer versteckt! Du kannst nichts offen thun, auch nicht ’mal das, was die Sonne gar nicht zu scheuen braucht. Alles muß heimlich sein. Und sieh, Mutter, so hast Du mich auch erzogen und angelernt. Das muß ich Dir immer wieder sagen. Gott sei’s geklagt, daß ich’s muß. Es ist immer ein und dasselbe, was Du so bei Dir denkst: es sieht es ja keiner; bei Nacht sind alle Katzen grau und es darf bloß nicht ’rauskommen. Und wenn es nicht ’rauskommt, dann ist alles gleich. So denkst Du bei Dir und denkst auch wohl: ach, der liebe Gott, der is nicht so, der ist gut und freut sich, wenn man einem Förster oder Grenzaufseher ein Schnippchen schlägt.“

„Ach, Lehnert, rede doch nicht so! Du weißt ja doch . . .“

„Und wenn es dann schief geht, ja, dann ist es wieder anders. Dann geht es in die Predigt und Siebenhaar . . . na, Du weißt schon, ich hab’ es Dir heute schon ’mal gesagt . . . der muß dann wieder einen Heiligen aus mir machen. Ach, Mutter, Du meinst es mit keinem bös, und mit mir erst recht nicht, aber Du hast das Ehrlichsein nicht gelernt und davon ist alles gekommen . . . Und nun will auch Siebenhaar noch mit ihm sprechen, mit Opitz, als ob das was helfen könnte, will mich mit ihm versöhnen, und ich hab’s auch versprechen müssen. Aber ich mag nicht. Ich hasse ihn, und Haß ist überhaupt das beste, was man hat?“

„Ueberlege Dir’s, Lehnert! Er ist ein gräflicher Förster und is nu doch ’mal der Herr.“

„Ach was, der Herr! Ein Diener is er. Ich bin ein Herr, eher als er, und kann machen, was ich will.“

„Er hat das Ansehen vor den Leuten und ich weiß es von Christine, er ist nicht so schlimm, wie Du glaubst und ihn immer machen willst. Er kann auch durch die Finger sehen. Aber er verlangt, daß man ihm gute Worte giebt und ihn für was Besonderes ansieht. Und das thust Du nicht. Er kann bloß Deinen Trotz nicht leiden. Und darum hab’ ich Siebenhaar gebeten . . .“

„Aha,“ lachte Lehnert. „Also Du! Nun meinetwegen.“

„Und darum,“ so wiederholte die Alte, „Hab’ ich Siebenhaar gebeten, als ich nu doch ’mal mit ihm sprach, daß er ihn gut für uns stimme. So viel weiß ich, er giebt was auf Siebenhaar und wenn der ihn ’rum kriegt und Opitz Dir dann die Hand giebt, dann nimm sie, dann stoße sie nicht weg und vergiß all das Alte. Sieh, Lehnert, es hat ja doch alles seine zwei Seiten und vielleicht hat er nicht so ganz unrecht gehabt und Du hast [54] aus der Sache mit dem Kreuz mehr gemacht, als Du hättest machen sollen. Gieb nach, Lehnert! Trutz macht Feind’. Und wir brauchen Freunde, weil wir arm sind und das Geschäft schlecht geht und gerade jetzt im Sommer. Und unser Nachbar ist er auch. Es is doch sonst mit den Försters gut gegangen. Gieb nach und versöhne Dich mit ihm! Dann haben wir gute Zeit, und wenn dann ’mal was vorkommt, na, Du weißt schon, was ich meine, so verpufft und verknallt es. Kennst ja doch unser altes Sprichwort: der Wald ist groß und der Himmel ist weit.“

Lehnert ging auf und ab, die Hände aus dem Rücken. Er hatte das alles schon oft gehört, nur eines nicht: daß er das mit dem Kreuz doch vielleicht schlimmer genommen hätte, als nöthig. Und so hochmüthig er war, so bescheiden war er auch.

„Wenn es so wäre? Wenn ich mehr daraus gemacht hatte, als nöthig?“ so gingen seine Gedanken.

Und er nahm der Mutter Hand und sagte: „Gut, Alte, ich will es mir überlegen.“


6.

Was hüben die Mutter ihrem Sohn und drüben die Frau ihrem Mann gesagt hatte, blieb doch nicht ganz ohne Einfluß, weil beide Parteien klug genug waren, das Wahre darin herauszufühlen. Opitz war strenger als nöthig, Lehnert war aufsässiger als nöthig, und der schlichte Ton, worin das einem jeden gesagt wurde, that seine Wirkung. So machte sich’s, daß beide still schweigend übereinkamen, sich wenigstens nicht mehr reizen zu wollen, und weil sie dabei fühlen mochten, daß das bei steten persönlichen Begegnungen sehr schwer sein würde, so faßten sie den Entschluß, sich nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. In der That, sie vermieden es, sich zu sehen, und gaben es unter anderm auf, zu gleicher Zeit wie sonst wohl im Vorgarten zu sitzen und sich über die Straße hin mit den Augen zu messen. Ja, Lehnert seinerseits ging noch weiter und machte, wenn er ins Dorf mußte, nur um die Försterei zu vermeiden, lieber den Umweg am Waldsaume hin. Auch die Hühner, die durch ihre Besuche drüben im Garten der Försterei beständig Anlaß zu Klagen und bitteren Worten gegeben hatten, hielt er besser in Ordnung. An einen völligen Ausgleich der alten Gegensätze war freilich nicht zu denken, dazu war zu viel vorgefallen, aber wenn Friede nicht sein konnte, so war doch wenigstens Waffenstillstand.

Und unter solchem Waffenstillstande verging eine Woche.

Nun war wieder Sonntag und die Glocken der Arnsdorfer Kirche klangen wie gewöhnlich vom Thal zu den Bergen herauf. Aber diesem Rufe folgten heute nur wenig, weil oben in der Kirche von Wang ein Brückenberger Paar getraut werden sollte. Das veranlaßte denn alle die, die sich mehr von der Trauung einer jungen hübschen Braut als von der Predigt des alten Siebenhaar versprachen, lieber bergauf nach Wang zu steigen, und das um so mehr, als über das wundervolle Brautkleid, das aus Hirschberg und nach andern sogar aus Breslau stammen sollte, schon die ganze Woche lang gesprochen worden war. In der That, Schaulust und Neugier gaben heute den Ausschlag. Aber einige stiegen doch nicht bloß als Neugierige, sondern als recht eigentliche Trauzeugen und Hochzeitsgäste hinauf, unter ihnen auch Opitz in Gala.

Zu den zur Hochzeit Geladenen hatte wegen aller guter Beziehungen zum Bräutigam anfangs auch Lehnert gehört; als dieser aber durch Christine von Opitz’ wahrscheinlicher Anwesenheit erfuhr, war er sofort zum Fernbleiben entschlossen gewesen. Wußt’ er doch, daß mit Opitz, wenn dieser ein Glas über den Durst getrunken hatte, doppelt schwer zu verkehren war, und auf diese Gefahr hin wollt’ er eine Begegnung mit ihm nicht wagen. So zog er es denn vor, zu Hause zu bleiben und in einem von Amerika handelnden Buche zu lesen, das ihm ein alter Kriegskamerad neuerdings geliehen und auf das er sich schon ein paar Tage lang gefreut hatte. Daneben war es ihm übrigens durchaus recht, daß seine Mutter, ohne gerade zu den Geladenen zu zählen, an dem Kirchgänge nach Wang hinauf theilnehmen und sich hinterher in dem ihr aus besseren Tagen wohlbekannten Hochzeitshause nach Möglichkeit nützlich machen wollte.

Der Tag wurde freilich unserem Lehnert ganz gegen Erwarten lang und schwer genug. Denn bald nach Opitz waren auch Frau Bärbel und Christine nach Wang hinaufgestiegen, und so kam es, daß der auf seinem Inselchen Zurückgebliebene zwölf Stunden lang nichts als das Vorüberschießen der Lomnitz hörte, wenn nicht gerade drüben der Opitzsche Hofhund anschlug. Bis gegen abend sah er so draußen im Freien und las von Urwald und Prairie, von großen Seen und Einsamkeit. Er schwelgte darin und vergaß die Zeit, aber mit einemmal ergriff ihn doch ein Grauen. „Einsamkeit! Nein, nein, nicht Einsamkeit! Nicht einsam leben, nicht einsam sterben.“ Und er wiederholte sich das Wort und in seiner überreizten Einbildungskraft sah er sich auf einem Bergkegel, ein Thal zu seinen Füßen und den Sternenhimmel über sich. Ein Frösteln überkam ihn zuletzt, und so ging er denn wieder hinein und warf Kienäpfel in die Gluth und starrte darauf hin. Aber das Hineinstarren in die Flamme war ihm bald nicht weniger unheimlich als das Bild, das eben draußen vor seiner Seele gestanden hatte. Dabei war es ihm beständig, als ob er Stimmen höre, Stimmen von weit, weit her. Und er sprang auf und trällerte vor sich hin, um sich alles, was ihn ängstigte, fortzusingen. Aber es wollte nicht recht glücken und er war froh, als er um die zehnte Stunde seine Mutter über den Brückensteg schreiten sah.

„Singst ja so, Lehnert. Was is es denn?“ sagte die Alle beim Hereintreten. „Christine war wohl da . . . Ja, sie ging schon, als der Tanz eben anfing.“

„Ach, laß doch die Christine!“

„Du nimmst sie doch noch.“ Und während die Alte das sagte, stellte sie ein Bündel, das sie bis dahin vorsichtig in den Händen gehalten hatte, auf den Tisch und löste den Knoten eines buntgeblümten Taschentuchs, in das alles eingeschlagen war, was sie vom Hochzeitshause her mitgebracht hatte: große Stücke Streußelkuchen, eine halbe Wurst, ein Schinkenknochen und ein Napfkuchen.

„Wollen wir uns noch einen Kaffee machen, Lehnert?“

Er schwieg.

„Du hast ja noch Feuer im Ofen. Und das ist recht. Oben auf Wang, in der Kirche, war es wieder so kalt und auf dem Kirchhof pfiff es, daß es einem bis auf die Seele ging. Ich glaub’, ich habe mir wieder was geholt, hier links unterm Schulterblatt. Aber wenn wir uns noch einen Kaffee machen und ein Glas Rum einthun, ich habe noch welchen . . . ja, Lehnert, ein paar Tropfen muß man doch immer haben . . . dann vergeht es wieder. Und ein Katzenfell ist auch gut.“

Während sie noch so sprach, hatte sie ein Messer geholt und begann den Rapskuchen in große Scheiben zu schneiden. „Iß, Lehnert; frisch schmeckt er doch am besten!“ Und dabei griff sie nach dem größten Stücke.

Lehnert schwieg noch immer.

„Iß doch, Jung’!“

„Ich mag nicht, Mutter . . . Und wie das alles wieder aussieht, – wie’n Bettelsack. Haben sie Dir’s denn gegeben?“

„Gewiß! Ich werde mir doch nichts wegstibitzen und ab zieh’n wie die Katze vom Taubenschlag!“

„Ach, das mein’ ich ja nicht, Mutter. Ich meine bloß, ob sie Dir’s aus freien Stücken gegeben haben oder ob Du darum gebeten hast?“

„Versteht sich, hab ich drum gebeten. Alle haben . . .“

„Opitz auch?“

„Nu, der wohl nich. Der is ja was Vornehmes. Und Siebenhaar auch nich.“

„Siebenhaar? War denn Siebenhaar auch da?“

„Gewiß war er da. Der von Wang hat freilich getraut, aber Siebenhaar kam auch noch und kam eben, als alles zu Tisch ging, und war großer Jubel, als er kam, und saß gerade der Braut gegenüber und hat auch eine Rede gehalten. Und als sie die Tische wegtrugen und das Tanzen anfangen sollte, da nahm Siebenhaar Opitzen am Arm und beide gingen wohl an die vier oder fünfmal um die Wiese ’rum. Und immer, wenn sie wieder an dem Staketzaun vorüber kamen, hab’ ich gehorcht.“

„Das glaub’ ich. Du horchst immer. Aber der Horcher an der Wand . . .“

„Diesmal nicht, Lehnert. Es war bloß Gutes, und daß es von Dir war, ist sicher; ich habe Deinen Namen gehört. Und Opitz, der wieder etwas fisslig war - er hielt sich aber und ließ sich nichts merken – Opitz nickte. Das hab’ ich mit diesen meinen Augen gesehen. Und einmal hört’ ich ganz deutlich, daß er sagte: ,Nu, ja, ja! Jeder ist ein Mensch und jeder hat seine Menschlichkeiten [55] und seine Fehler. Und ich auch.’ Siebenhaar hat ihm also ins Gewissen geredet. Und Du sollst seh’n, Lehnert, es wird noch alles gut, und Du kommst mit ihm auf Freundschaft und Du und Du. Und dann guckt er uns durch die Finger und wir haben gute Tage.“

„Ja, ja,“ sagte Lehnert, „durch die Finger gucken, das kenn’ ich. Is ja das alte Lied. Na, gute Nacht, Mutter! Ich bin müde.“

Und dabei nahm er eine Oellampe und das Amerika-Buch und stieg in seine Giebelkammer hinauf. Oben aber schob er einen Stuhl an sein Bett und eh’ er das Licht auslöschte, sah er noch einmal auf den Titel des Buchs. Der lautete: „Die neue Welt oder Wo liegt das Glück?“

* * *

Eine Woche verging, während der Lehnerts Stimmung beständig wechselte, was bei den Erlebnissen der letzten Zeit und mehr noch bei seinem von Natur beweglichen Gemüth nicht wohl Wunder nehmen konnte. Denn so gewiß er einen Hang nach dem Abenteuerlichen hatte, so gewiß überkam ihn auch, inmitten dieses Hanges, eine plötzliche Sehnsucht danach, die Hände in den Schoß zu legen und alles ruhig über sich ergehen zu lassen. Er war dann mit einem Male von der Vergeblichkeit alles Ankämpfens überzeugt und verlor in diesem ihn überkommenden Gefühl seiner Ohnmacht auch die Lust zum Kampf. „Ja, die Alte hat eigentlich ganz recht. Was ist all die Jahre bei meiner Auflehnung herausgekommen? Nur Aerger und böses Blut. Und so geht es dann weiter, immer Zug um Zug, bis man sich das Messer in die Brust stößt. Ach, es ist besser, ich thue, was ich versprochen hab’, und grüß ihn, anstatt ihn anzustarren und ein spöttisch Gesicht zu machen. Er ist der Stärkere, weil er im Dienst ist und die Gerichte neben und hinter sich hat. Und wer mit dem Stärkeren anbindet, so lang er noch eine Wahl hat, der ist ein Narr. Wahrhaftig, was hab’ ich davon gehabt? Nichts, als daß ich zwei Monate hinter Schloß und Riegel war und daß nun in meinen Akten steht: ,Bestraft’. Und wer kann immer gleich erzählen, wie’s kam und daß es eigentlich nichts war; bestraft ist bestraft, und wenn man gefragt wird, wie’s denn eigentlich mit einem stehe, so wird man roth und steht da, als ob man ein Galgenvogel wär’ oder einer, der den Leuten die Uhr aus der Tasche zieht.“

In dieser Richtung gingen tagelang Lehnerts Betrachtungen, und mehr, er that auch danach, und wenn er in der letzten Woche, bloß um einer Begegnung mit Opitz auszuweichen, den großen Umweg am Waldsaume hin gemacht hatte, so zwang er sich jetzt, die Begegnung geradezu zu suchen, nur um durch artigen Gruß oder auch wohl durch ein „Guten Morgen, Herr Förster“ seinen Respekt zu bezeigen. Und Opitz freute sich dieser Wandlung und gefiel sich seinerseits darin, den Gnädigen zu spielen. Er trat jetzt öfter, wenn Lehnert vorüber ging, mit einer Art wohlwollenden Behagens an den Staketenzaun heran und verstieg sich nicht bloß zu Fragen und Scherzworten, sondern einmal sogar bis zur Inanspruchnahme kleiner Gefälligkeiten. „Ihr geht ja nach Arnsdorf, Lehnert. Bitte, nehmt das mit an den Grafen, und wenn Ihr bei Pohl vorbei kommt, so bringt mir eine Kruke Himbeersaft mit herauf. Oder lieber eine Flasche, wenn er’s in Flaschen hat. Ich kann heut die Christine nicht schicken.“

An solchen Annäherungen war eine Zeit lang kein Mangel und Frau Menz berechnete sich schon, was im Herbst beim Gänseschlachten, auf das sie sich ganz vorzüglich verstand (sie sang dann immer, wenn sie die Gans zwischen die Kniee nahm und mit dem Messer zu bohren anfing, allerlei Wiegenlieder), an Federn und Fett für sie abfallen würde. „Ja, Lehnert, Du siehst es nun. Ist es nicht besser so? Haben wir nicht gute Tage? Sage selbst!“

Aber diese guten Tage sollten nicht Dauer haben. Im Gegentheil, sie gingen so rasch wie sie gekommen waren, und wie gewöhnlich war es ein bloßes Geklätsch, was den ersten Anstoß zu diesem Wiederhinschwinden gab.

Christine, die wohl wußte, welche Pläne Frau Menz mit ihr hatte, war jetzt oft drüben bei der Alten, öfter vielleicht als gut war und jedenfalls öfter als sie sollte. Zu verdenken war es ihr freilich nicht, denn wenn Opitz im Wald war, dann war die Försterei ein schweigsames, ja beinah’ ein melancholisches Haus, in dem wenig gesprochen wurde. Plaudern aber und sich aussprechen war Christinens größte Lust und dazu gab es für sie keine bessere Gelegenheit, als bei den Menzes drüben. Alles nahm ihr die Alte wie vom Munde weg, und wenn drüben bei Opitzens eine Maus gefangen worden oder ein Fliegenstock umgefallen war, so war es ein mittheilenswerthes Ereigniß, an das sich sofort allerlei Hoffnungen und Befürchtungen knüpften.

Und zu solcher Plauderstunde war man eben wieder beisammen und genoß sie doppelt, weil Christine nicht mit leeren Händen, sondern mit einem Teller voll prächtiger Glaskirschen herübergekommen war, deren Heranreifen die alte Menz schon seit anderthalb Wochen mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte.

„Die schickt Euch die Frau Försterin,“ sagte Christine.

„Gott, Gott, die Frau Försterin! Eine seelensgute Frau, das muß wahr sein, und alle wie frisch vom Baum und keine angestoßen. Aber er auch, er is auch gut; ein bischen bullrig und kollert gleich, aber wer es bloß versteht, der hat es gut mit ihm. Und wie soll er’s denn auch anders machen? Er muß doch auch welche anzeigen. Lehnert sagt es auch. Und sie sind ja jetzt ein Herz und eine Seele.“

„Ja,“ sagte Christine. „Das sind sie. Das heißt so lang es dauert.“

„Wird schon dauern, Kind, wird schon. Warum soll es nicht dauern? Sie haben sich nun beide die Hörner abgestoßen und sehen, daß Frieden besser ist als Krieg. Lehnert grüßt ihn und gafft ihm nicht mehr ins Gesicht. ,Guten Morgen, Herr Förster,’ sagt er. Und dann stehen sie beid’ an dem Staketenzaun und haben ihren Schnack. Und neulich hat ihm Opitz einen Zettel an den Grafen mitgegeben und eine Bestellung für unten bei Pohl, und Lehnert hat ihm alles besorgt und ihm den Himbeersaft auch richtig mit ’rauf gebracht. Eine ganze Flasche voll. Es war gerade der Tag, als der neue Oberförster kam und Ihr drüben den Semmelpudding hattet. Aber was sag’ ich nur, Du mußt es ja besser wissen als ich . . .“

„Freilich weiß ich es. Aber ich weiß auch, was Opitz sagte.“

„Was war es, was er sagte?“

„,Nu,’ sagte er, als er vom Flur in die Küche kam und den Saft vor uns hinstellte, ,da habt Ihr den Saft, das süße Zeug, das der Lehnert mit ’rauf gebracht hat. Und diesmal mag es drum sein. Aber das nächste Mal, Bärbel, das nächste Mal paß besser auf! Der große Herr drüben ist auf eine Weile zahm geworden und frißt vorläufig aus der Hand. Aber wer weiß, ob es vorhält . . . ’ Ja, Frau Menz, das war es, was Opitz sagte. Und als meine gute Frau darauf antwortete und ihm zureden wollte, weil Lehnert ja jetzt grüße, da ließ er sie gar nicht zu Worte kommen und bullerte gleich los: ,Das verstehst Du nicht, Bärbel. Was heißt Gruß? Er grüßt; aber es ist auch danach. Er hat noch dieselben Mucken wie sonst; ich seh’s ihm jedesmal an, wenn er so verlegen dasteht und nicht weiß, was er sagen soll. Und ein Glück ist es, daß er wenigstens eine Weile klein beigegeben hat! Davon erholt er sich nicht wieder. Wer ’mal zu Kreuze gekrochen ist, der bringt die Courage nicht mehr fertig. Das ist nu ’mal so.’“

So ging das von Frau Menz und Christine geführte Gespräch, das noch eine Weile weiter gesponnen wurde, weil sie sich allein glaubten. Aber sie waren nicht allein. Dicht hinter ihnen stand Lehnert in der offenen Thür und hatte jedes Wort mit an gehört. Er zog sich, eh’ sie seiner gewahr wurden, still wieder zurück und ging auf seinen Arbeitsschuppen und in diesem auf die Stelle zu, wo die Späne hoch aufgeschichtet lagen. Da warf er sich hin und schlug sich vor die Stirn und schwur und zitterte. Denn er war seiner Sinne kaum noch mächtig. Zuletzt verfiel er in ein krampfhaftes Weinen, aber auch die Thränen gaben ihm keine Erleichterung. Er hatte sich klein und verächtlich gemacht und alles umsonst! Alles lag wieder wie vordem, und vor seiner Seele stand es, wie’s kommen würde.


7.

Am anderen Tage hatte sich Lehnert von dem, was er gehört, insoweit erholt, daß er die Kraft aufbrachte, sich’s ruhiger zurecht zu legen. „Er traut mir nicht. Soll ich ihm böse darüber sein? Trau ich ihm? Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Es ist gut, daß ich nun weiß, wie’s mit ihm steht und [58] was ich von ihm zu gewärtigen habe. Wenn ich ihm so weiter geglaubt hätte, so wär’ ich vielleicht unvorsichtig geworden, und das thut nie gut, am wenigsten einem Opitz gegenüber . . . Ich will nicht wieder anfangen, nein, er soll anfangen. Dann bin ich ohne Schuld.“ So sprach er noch weiter vor sich hin, ohne die leiseste Vorahnung, daß derselbe Tag noch den alten Streit wieder anfachen sollte. Nur schärfer und bitterer als je zuvor.

Es war ein heißer Tag und die Steine, die durch die Lomnitz hin zerstreut lagen und bei niedrigem Wasserstand einen Uebergang von einem Ufer zum andern bildeten, blitzten in der Sonne; das Heidekraut drüben auf der Opitzschen Seite schimmerte roth und von dem Lupinenfeld, das, freilich als schmaler Strich nur, durch das Heidekraut hinlief, zog ein süßer Duft nach dem Inselchen herüber. Der Himmel stand in einem wolkenlosen Blau. Lehnert, der sich der großen Hitze halber von dem Vorplatz am Schuppen unter den Schuppen selbst zurückgezogen hatte, sah einen Augenblick von seiner Arbeit auf und wurde dabei mehrerer Taubenschwärme gewahr, deren einer eben über die Tannen am Waldsaum hinschwebte. Plötzlich aber, während er noch so hinaufsah, vernahm er durch die Mittagsstille hin einen Hundeblaff und gleich danach einen durchdringenden Hahnenschrei, der, weitab davon, sicher und siegesfroh wie sonst wohl die Seinen zu Hauf zu rufen, umgekehrt etwas von einem Angst- und Todesschrei hatte. Lehnert ahnte, was es war, sprang auf die Deichsel und Vorderachse des gerade vor ihm stehenden Arbeitswagens und sah von dieser Hochstellung aus, was drüben vorging. Diana hatte den Hahn an seinem Silberkragen gepackt und schüttelte ihn. Und nun ließ der Hund wieder ab und die plötzliche Lautlosigkeit verrieth nur zu deutlich, daß das schöne Thier, das er gepackt und geschüttelt hatte, todt war. Das gab Lehnert einen Stich ins Herz, denn neben dem prächtigen gelben Rosenstrauch an Haus und Dach war der Silberhahn so ziemlich das einzige, woran er hing; alles andere war in Rückgang und Verfall. Er ballte die Faust und drohte nach drüben hin, aber er bezwang sich wieder und richtete seinen Zorn und Unmuth, einen Augenblick wenigstens, statt gegen Opitz gegen die eigene Mutter.

Die ist schuld, die, ,die liebe Frau Menz’; hab’ ich den da drüben nicht schon ein dutzendmal sagen hören: ,liebe Frau Menz’, wenn Sie nicht nach dem Rechten sehen und das Hühnervolk immer über den Steg und die Steine bis in meinen Vorgarten lassen, ich stehe für nichts; Diana packt ’mal zu? Nun hat Diana zugepackt und wir sind unseren Hahn los und müssen noch still sein und vielleicht auch noch gute Worte geben wegen der Aurikeln und Levkoien oder was das arme schöne Thier sonst noch zerpflückt und zertreten hat . . . Aber so ist die Alte, sie will die paar Futterkörner sparen und selbst ihre Hühner sollen drüben zu Gaste gehen. Es ist ein Elend und bloß neugierig bin ich, was er nun machen und ob er sich entschuldigen und so was von Bedauern sagen wird.“

Und sieh, es währte keine Viertelstunde, so kam denn auch Christine und bestellte von Förster Opitz: es thät’ ihm leid, daß seine Diana den Hahn gewürgt hätte. Mehr könn’ er aber nicht sagen. Er habe der Frau Menz im voraus gesagt, daß es so kommen würde. Sein eigener Schade sei noch größer, und wenn er zusammenrechne, was die Menzschen Hühner ihm alles verdorben hätten, so käme mehr heraus als der Hahn.

„Und will er denn den Hahn behalten?“ wimmerte die Alte.

„Nein,“ sagte Christine, „den Hahn sollt’ ich Euch bringen. Aber Frau Opitz sagte, ,der würd’ Euch doch nicht schmecken.’ Und hinterher hat sie mir heimlich gesagt, ich sollt’ Euch fragen, was Ihr dafür haben wolltet, und sie wollt’ es alles bezahlen und noch ein Reugeld dazu.“

Lehnert war, als seine Mutter und Christine so sprachen, von seinem Arbeitsschuppen herbeigekommen.

„Ich will den Hahn,“ sagte er, „und nicht das Geld. Aber gegessen wird er nicht, Mutter. Ich begrab’ ihn und mach’ ihm einen Stein. Das schöne Thier! Meine einzige Freude! Nun ist er hin. Diese Diana, diese Bestie! Mir will sie auch immer nach den Beinen. Aber sie soll sich vorsehn, und ihr Herr auch!“

Und er ging wieder an seine Arbeit, während Christine bei der Alten blieb und ihr ohne weiteres das Geld gab, das die gute Frau Opitz für den erwürgten Hahn bewilligt hatte. –

Lehnert verwand es schneller, als er selber gedacht haben mochte. Hätt’ er klarer in seinem Herzen lesen können, so würd’ er gefunden haben, daß er eigentlich froh war, seines Gegners Schuldsumme wachsen zu sehen. Je mehr und je rascher, desto rascher mußt’ auch die Abrechnung kommen, das war das Gefühl, das ihn mehr und mehr zu beherrschen begann. Bei Tisch sprach er nicht, und als er den Krug Bier, den ihm die Mutter aus dem Kretscham geholt, geleert hatte, ging er auf seine Kammer hinauf und schlief.

Als er wieder wach war, war er zunächst willens, doppelt fleißig zu sein und bei der Arbeit alles zu vergessen – nicht für immer, dafür war gesorgt, aber doch auf ein paar Stunden. Am Abend wollt’ er dann in den Querseiffner Kretscham geh’n, wo heute Tanz war.

„Ich sitze jetzt zu viel an der Schnitzelbank und lebe . . . nun, wie leb’ ich? Ja, wie wenn ich nur noch Botenfrau wär’, Botenfrau für Opitz. Ich will es mir heute ’raustanzen aus dem Geblüt.“

Und damit ging er von seiner Kammer in die Küche, nahm da den Bunzlauer Topf, drin ihm die Alte den Nachmittagskaffee warm zu stellen pflegte, vom Herd und ging wieder auf seinen Schuppen zu. Die Hühner lagen hier in ihren Erdlöchern und sahen ihn wie fragend an.

„Ihr wollt mich wohl gar noch verantwortlich machen? Dummes Volk! Ich sag’ euch, er wäre nicht ’rüber gegangen, er hielt auf sich und hätte sich seine paar Körner auch hier gesucht. Ihr seid schuld, ihr habt ihn verleitet, und er ist euch bloß gefolgt, um euch nicht im Stich zu lassen. Nun ist er weg und ihr habt das Nachsehen. Solchen schönen Herrn kriegt ihr nicht wieder, verdient ihr auch gar nicht.“

Er unterhielt sich noch so weiter und freute sich, daß er selbe gute Laune wieder hatte.

So vergingen etliche Stunden und die Sonne machte schon Miene, hinter der mit Tannen besetzten Höhe zu verschwinden. Lehnert aber, der all die Zeit über mit besonderem Fleiße gearbeitet, hatte seines in die Hobelspäne gestellten Kaffees ganz vergessen und wollt’ eben aufstehen, um das Versäumte nach zuholen, als die Mutter in großer Hast und Aufregung vom Haus her auf ihn zukam und in den Arbeitsschuppen hineinrief: „Ein Has’, Lehnert, ein Has’!“

„Wo, Mutter?“

„In unserm Korn.“

Und ehe zwischen beiden noch weiter ein Wort gewechselt werden konnte, sprang Lehnert auch schon von seiner Arbeit auf, lief auf das Haus zu, riß die Flinte vom Riegel und stürzte durch die Hinterthür, über den Hof fort, auf den zu Feld und Wald hinüberführenden Brückensteg zu. Bevor er diesen aber erreichen konnte, wurd’ es dem Hasen drüben nicht recht geheuer, der denn auch in kurzen Sätzen, und zwar immer an dem Kornfeldstreifen entlang, sich auf den Wald zu zog. Freilich nur langsam und mit Pausen. „Sieh, er sputet sich nicht ’mal, er hat nicht ’mal Eile,“ sagte Lehnert vor sich hin und legte den Kolben an die Schulter und zielte. Da wurde der drüben mit einem Male flinker und beeilte sich, den kaum zehn Schritt breiten Abhang, der zwischen Acker und Wald die Grenze zog, hinauf zukommen; aber eh’ er noch bis an das Unterholz heran war, fiel der Schuß. Am Saume hin zog der Pulverrauch und wollte sich nicht gleich verthun; Lehnert indeß, der wohl wußte, daß er keinen Fehlschuß gethan hatte, ging langsam auf die Stelle zu, nahm den Hasen vom Boden und kehrte dann über Steg und Hof in sein Häuschen zurück.

„Da, Mutter. Der soll uns schmecken. Opitz kann sich den Hahn braten lassen.“

Erst als Lehnert diesen Namen nannte, kam der Alten die nur zu berechtigte Sorge wieder, was Opitz zu dem allem wohl sagen würde. Lehnert selbst aber war guter Dinge, sprach in einem fort von Haus- und Feldrecht und suchte der Alten ihre Befürchtungen auszureden. Ob es ihm ernst damit war und ob er wirklich an sein „Haus- und Feldrecht“ glaubte, war schwer zu sagen und blieb auch da noch im Ungewissen, als eine halbe Stunde später Opitz in Person von seiner Försterei herüberkam und den Hasen forderte.

Lehnert spielte den Unbefangenen, ja zunächst sogar den Verbindlichen und bat Opitz, Platz nehmen zu wollen, und erst als dieser, unter Ablehnung der Artigkeit, die Forderung wiederholte, stellte sich Lehnert mit dem Rücken an den Ofen und sagte: „Was man nicht hat, kann man nicht geben.“

[59] Um Opitz’ Züge, der nur zu gut wußte, daß er jetzt seinen alten Gegner in Händen habe, flog ein spöttisches Lächeln, und es trieb ihn mächtig, diesem seinem Gefühle von Ueberlegenheit auch sofort einen Ausdruck zu geben. Er bezwang sich aber und sagte: „Lehnert, Ihr nehmt den Streit wieder auf und thätet doch klüger und besser, es nicht zu thun. Ich warn’ Euch. Ich mein’ es gut mit Euch.“

„Ich habe den Hasen nicht.“

„Ihr habt von dem Brückensteg aus gezielt und geschossen.“

„Ich habe von dem Brückensteg aus geschossen, aber nicht gezielt. Der Hase saß in unserm Feld; er ist jetzt öfters bei uns zu Gast, und nachts wird er wohl mit Familie kommen. Ich brauche keinen Hasen in meinem Felde zu leiden und ich hab ihn verjagen wollen.“

„Ein Has’ ist ein Has’ und Ihr braucht bloß in die Hand zu klatschen . . .“

„Aber ein Schuß hilft mehr.“

„Namentlich, wenn er getroffen hat.“

Lehnert schwieg und sah an Opitz vorbei, der seinerseits eine kleine Weile vergehen ließ, fast als ob er Lehnert eine Frist zur Ueberlegung gönnen wolle. Als aber jedes Entgegenkommen ausblieb, nahm er zuletzt das Wort wieder und sagte: „Lehnert, Ihr bringt Euch in Ungelegenheiten. Ihr habt einen Haß gegen mich und das verdirbt Euch Euren guten Verstand. Ihr streitet mir den Hasen ab, Ihr, der Ihr immer von Eurer Wahrheitsliebe sprecht, und es wäre mir doch ein leichtes, den Hasen in Eurem Hause zu finden. Und wenn ich ihn nicht fände, so doch Diana . . . Kusch dich! . . . Ihr habt den Hasen verjagen wollen. Nun, meinetwegen; das ist Euer gutes Recht. Und wenn Ihr’s Euch einen Schuß Pulver kosten lassen wollt, nun, so mag auch das hingehen, obwohl es auffällig ist und eigentlich nicht in der Ordnung. Es ist nicht Brauch hier zu Land, einen Hasen durch einen Flintenschuß zu verjagen. Und der letztberechtigte dazu seid Ihr, der Ihr schon manches auf dem Kerbholz habt. Ich sah von meiner Giebelstube her, daß Ihr im Anschlag lagt, und ich sah auch, wie der Hase zusammenbrach. Und zum Ueberfluß hab’ ich mir die Stelle drüben, eh’ ich in Euer Haus kam, mit allem Vorbedacht angesehen und habe den Schweiß an dem hohen Farnkraut gefunden, das drüben steht.“

Die Bedrängniß, in der sich Lehnert befand, wuchs immer mehr, und ein begreifliches Verlangen überkam ihn, aus dieser seiner Lage heraus zu sein. Er war aber schon zu tief drin, und was die Hauptsache war, er konnte sich nicht entschließen, zuzugeben, daß er eine Lüge gesprochen habe. So pfiff er denn leise vor sich hin, als ob er andeuten wolle, daß der Worte genug gewechselt seien.

Opitz seinerseits aber war nicht willens, seinen Triumph abzukürzen, und fuhr, während er eine gewisse Gütigkeitsrolle weiterspielte, ruhigen Tones fort. „Ich sehe, Lehnert, daß Ihr ungeduldig werdet, und will Eure kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Und so hört denn meinen letzten Vorschlag! Ich will den Hasen nicht, und meine Frau, die’s, wie Ihr wißt, gut mit Euch meint, mag Euch auch noch den Speck dazu schicken. Und ich, Lehnert, ich will’s bei dem Grafen verantworten, und wenn er sich wundern sollte, so will ich, aus Rücksicht für Euch, von einem Schreckschuß sprechen, der zufällig getroffen habe. Der Graf ist ein gnädiger und nachsichtiger Herr, und wenn er das mit dem ,Schreckschuß’ auch nicht glauben wird, so wird er doch so thun, als glaub’ er’s. Aber das verlang’ ich von Euch, daß Ihr Euch vor mir zu dem bekennt, was Ihr getan habt, und daß Ihr Euch entschuldigt. Hab’ ich Euch doch mein Bedauern über den Hahn ausgesprochen und war nicht dazu verbunden. Aber Ihr, Ihr seid’s. Und nun heraus mit der Sprache! Beichten ist immer das beste, da wird die Seele wieder frei, nicht wahr? Und man kann jedem wieder ins Auge seh’n.“

„Kann ich!“ sagte Lehnert, und sein Auge suchte das des Försters, um sich mit ihm zu messen. Aber das Gefühl seines Unrechts war doch stärker als sein Trotz und er senke den Blick wieder.

Opitz lächelte.

„Guten Abend, Frau Menz. Ich werde meine Frau von Euch grüßen. Und auch Christine. Und nun Gott befohlen!“

Und ohne weiter ein Wort an Lehnert zu richten, verließ er das Haus und ging auf den Steg zu. Diana folgte.


8.

Die Alte war ihm bis in den Vorgarten gefolgt und rechnete darauf, daß er sich noch einmal umsehen würde, für welchen Fall sie unterthänigst zu knixen vorhatte; als sie aber schließlich gewahr wurde, daß auf einen gnädigen Abschiedsblick nicht mehr zu rechnen sei, gab sie’s auf und ging in die Stube zurück. Hier stand Lehnert noch am alten Fleck und sah vor sich hin.

„Ach, Lehnert, wenn Du’s doch nicht gethan hättest . . . Und Speck will er uns auch noch schicken. Sieh, so ist er immer und meint es gut. Aber wenn ich ihn auch mit Schmand[1] brate, schmecken thut er mir doch nicht. Wie kann er mir auch schmecken? Wenn man Angst hat, schmeckt einem nichts, gar nichts, und will nicht ’runter, und ich fühle schon, wie’s mir hier sitzt.“

„Ach, Mutter, was soll das? Aber so bist Du. Du willst alles haben, und wenn dann nachher ’was passirt, was nach Gerichtsvorladung aussieht, oder wenn Du gar zu glauben anfängst, nun ist es mit dem Schinkenknochen und dem Liesenschmalz drüben vorbei, dann heißt es wieder: ja warum auch? warum hast Du geschossen?“

„Ich habe nichts gesagt, ich habe Dir nicht zugeredet.“

Lehnert stampfte heftig auf, fiel aber rasch wieder ins Lachen und sagte. „Wir wollen uns vertragen, Mutter. Du bist, wie Du bist. Nein, zugeredet hast Du nicht. Du kamst bloß, als ob wenigstens das Haus in Brand stünd’, und riefst : ,Ein Has’, ein Has’!’ Nun sage, was hieß das? was sollte das? Sollt’ ich kommen und mir das Wunderthier anseh’n? Oder ihn wegjagen? Kannst Du nicht selber einen Hasen wegjagen? Ich habe just das gethan, was Du wolltest, und Du hast dabei gedacht: ’Opitz wird heute still sein von wegen des Hahns und vielleicht auch von wegen der neuen Freundschaft.’ Und weil es nun anders gekommen ist, so bist Du wieder mit Vorwurf und Klage bei der Hand und weinerst mir wieder ’was vor, weil ich geschossen hab’, und sähest es am liebsten, ich ginge gleich ’rüber und würfe mich ihm zu Füßen und küßte seinen Rockzipfel. Aber daraus wird nichts. Er mag nun wieder seine Schreiberei machen und alles zur Anzeige bringen. Anschreiben und anzeigen versteht er, das war schon seine Kunst, als er noch bei den Soldaten war. Aber ich werde mich schon zu verteidigen wissen und werde vor Gericht aussagen, daß ich meinen Kohl und meinen Hafer oder was es sonst ist nicht für Opitz und seine Hasen ziehe. Geschossen hätt’ ich blind drauf los, was dann aus dem Hasen geworden, das wüßt’ ich nicht und braucht’ ich nicht zu wissen, und wenn Opitz eines Hasen Schweiß gefunden habe, was ja sein könnte, so sei’s nicht der, um den sich’s hier handle, der sei lustig in die Welt gegangen.“

„Aber dann werden sie Dir einen Eid zuschieben. Willst Du schwören?“

„Nein, das will ich nicht. Schwören thu’ ich nicht. Aber ich werde schon was finden, um aus der Geschichte ’raus zu kommen.“

Er sagte das so hin, halb um der Mutter zu widersprechen, halb um sie zu beruhigen, war aber klug genug, zu wissen, daß er schwerlich eine Ausrede finden und somit sehr wahrscheinlich einer zweiten Verurteilung entgegen gehen werde. Das war ihm ein schrecklicher Gedanke, so schrecklich, daß ihm alle Lust an der Arbeit auf ganze Tage verloren ging und er sich müßig umherzutreiben begann, was er ohnehin liebte. Den Tag über sprach er in dieser oder jener Baude vor oder ging auch wohl ins Böhmische hinüber, wo er, bis nach Sank Peter und Trautenau hin, viel Anhang hatte, abends aber saß er in den nächstgelegenen Kretschams, im „Waldhaus“, in Brückenberg, in Wang, heute hier und morgen da, und erzählte jedem, der’s hören wollte, daß wieder ein Krieg in der Luft sei, drüben in Böhmen wüßten sie schon davon, und daß er seinerseits warten wolle, bis es wieder losgehe.

Krieg im Frankreich, das sei das einzig vernünftige Leben; wenn es aber nicht wieder losgehe, nun, dann gehe er und er wiss’ auch schon wohin. Er wolle zu den Heiligen am Salzsee, da habe jeder sieben Frauen, und wenn er auch immer gesagt habe, daß eine schon zu viel sei, was auch eigentlich richtig, so woll’ er’s doch ’mal mit sieben versuchen; es sei doch ’mal was anderes.

[60] Er war sehr aufgeregt und sprach immer in diesem Ton, und sein einziges Vergnügen war, daß man ihn für einen Ausbund von Klugheit hielt und sich wunderte, wo er das alles her habe.

Aber all das Sprechen von Krieg und Auswanderung und Salzsee war doch nur ein müßiges Spiel; im Grunde seines Herzens hing er mit Zärtlichkeit an seinem Schlesierland und dachte gar nicht ans Fortgehen, wenn ihm der Boden unter den Füßen nicht zu heiß gemacht würde. Aber das war es eben. Machte „der da drüben“ Ernst, so war der heiße Boden da und zugleich der Augenblick, wo das, was er bisher bloß an die Wand gemalt hatte, Wirklichkeit werden mußte. Denn zum zweiten Mal ins Gefängnis, das zu vermeiden war er fest entschlossen, und so hing denn alles an der Frage: wird Opitz Ernst machen oder nicht?

[84] Es vergingen, ohne daß auf seiten Lehnerts etwas geschehen wäre, gegen anderthalb Wochen, und wär’ auch wohl noch weiter so gegangen, wenn nicht die Plaudertasche, die Christine, gewesen wäre, die beständig alles, was drüben in der Försterei vorging, zu den Menzes hinübertrug. Unter den keinen Freiheiten, die sie sich regelmäßig nahm, war auch die, daß sie den Opitzschen Schreibtisch beim Aufräumen und Staubabwischen einer gründlichen Musterung unterzog, so daß sie jederzeit wußte, wie die Dienstsachen standen. War das nun schon ihr alltägliches Thun, so doppelt, seitdem Lehnert in Gefahr schwebte, der Gegenstand oder das Opfer einer Opitzschen Schreibübung zu werden. Eine ganze Woche lang hatte sich nichts finden lassen, heut aber, es war der Tag vor dem vierten Sonntage nach Trinitatis, war ihr der lang erwartete Bericht an den Grafen, in geschnörkelter Abschrift und sauber zwischen zwei Löschblätter gelegt, zu Gesicht gekommen, und ehe noch eine Viertelstunde um war, war sie schon drüben, um ihre Neuigkeit vor die rechte Schmiede zu bringen.

„Liebe Frau Menz, ich habe es nun alles gelesen. Es sind drei Seiten, alles fein abschrieben und unterstrichen, denn er hat ein kleines Pappelholzlineal, das nimmt er immer, wenn er unterstreichen will, und das sind allemal die schlimmsten Stellen.“

„Jesus,“ sagte Frau Menz und zitterte. „Sie können ihm doch nicht ans Leben, bloß um den Has’, und der war noch dazu so klein, als ob er keine drei Tage wär’, und ich hab ihn eigentlich nicht essen können vor lauter Angst, bloß einen Lauf und das Rückenstück, weil es doch zu schade gewesen wäre. Ach, du meine Güte, wenn er um so ’was sterben sollte, da wäre ja keine Gerechtigkeit mehr und der Kaiser in Berlin wird doch wissen, daß er ein so guter Görlitzer war und daß er’s beinah gekriegt hätte . . . “

„Gott, liebe Frau Menz, was Sie nur alles reden, so schlimm ist es ja nicht. Und wär’ überhaupt gar nicht so schlimm, wenn es nicht das zweite Mal wär’, oder was sie, die so ’was schreiben, den ‚Wiederbetretungsfall‘ nennen. Das ist das Wort, das drin steht. Und da machen sie denn gleich aus dem Floh ’nen Elefanten und thun, als ob es wunder was sei, nicht weil es wirklich was Großes und Schlimmes wäre, nein, bloß von wegen des zweiten Mals, von wegen des Wiederholungsfalls. Und da sind sie denn wie versessen drauf und das war auch die Stelle mit dem dicken Strich . .. Das heißt die eine.“

„Die eine? Aber Du mein Gott, war denn noch eine?“

„Gewiß war noch eine da, die war noch dicker unterstrichen, und das war die von seinem Charakter.“

„Ach, Du meine Güte! Von seinem Charakter! Und die hat Opitz auch unterstrichen? Ja, was soll denn das heißen? Ein Charakter is doch bloß wie man is. Und wie is man denn? Man is doch bloß so, wie einen der liebe Gott gemacht hat, und wenn man auch nicht alles thun darf, aber seinen Charakter, ja, Du mein Gott, den hat man doch nu mal und den wird man doch haben dürfen und den kann er nicht unterstreichen. Und ein Mann wie Opitz, den ich immer beknixt habe, wie wenn er der Graf wäre! Gott, Christine, sage, Kind, was steht denn drin und was hat er denn alles gesagt?“

„Er hat gesagt, ‚daß man sich jeder That von ihm zu gewärtigen habe‘, das steht drin, Frau Menz, und das Wort ‚jeder‘ ist noch extra roth unterstrichen und sieht aus wie Blut, so daß [86] ich einen richtigen Schreck kriegte und bloß nicht wußte, an wen ich dabei denken sollte, ob an Opitzen oder an Lehnert. Ja, liebe Frau Menz, ,jeder That’, so steht drin, und daß er aus diesem Grunde beantrage, die Strafe streng zu bemessen, und zweitens auch deshalb, weil er viel Anhang und Zuhörerschaft habe und überall in den Kretschams herumsitze und den Leuten Widersetzlichkeit beibringe, was um so thörichter und strafenswerther sei, als er eigentlich einen guten Verstand habe und sehr gut wisse, daß alles, was er so predige, bloß dummes Zeug sei. Er sei ein Verführer für die ganze Gegend, so recht eigentlich, was man einen Aufwiegler nenne, und rede beständig von Freiheit und Amerika und daß es da besser sei als hier, in diesem dummen Lande. Ja, Frau Menz, das alles hat Opitz geschrieben, und am Schlusse hat er auch noch geschrieben, daß man an Lehnert ein Exempel statuiren müsse, damit das Volk ’mal wieder sähe, daß noch Ordnung und Gesetz und ein Herr im Lande sei.“

„Das alles?“

„Ja, Frau Menz, das alles. Denn das weiß ich schon, weil ich öfter so ’was lese, wenn er erst mal im Zug ist, dann ist kein Halten mehr, und auf eine Seite mehr oder weniger kommt es ihm dann nicht an, schon weil er eine hübsche Handschrift hat und mitunter zu mir sagt: ,Nu, Christine, wie gefällt Dir das große H?’ und vor allem, weil er gerne so was schreibt von Ordnung und Gesetz und dabei wohl denken mag, so was lesen die Herren gern und halten ihn für einen pflichttreuen Mann.“

Christine hätte wohl noch weiter gesprochen, aber Lehnert, der schon von früh an oben im Dorf gewesen war, kam eben von Krummhübel zurück, wohin er eine Wagenachse abgeliefert hatte. Christine mocht’ ihm nicht begegnen, um nicht aufs neue in ein Gespräch verwickelt zu werden, oder vielleicht auch, weil sie die Wirkung der schlimmen Nachricht auf ihn nicht selber sehen wollte. So nahm sie denn ihren Weg über den nach der Waldseite hin gelegenen Brückensteg und kehrte auf einem Umwege und unter Benutzung einiger im Lomnitzbette liegender Steine nach der Försterei zurück.


9.

Frau Menz hatte zu schweigen versprochen, aber sie war unfähig, etwas auf der Seele zu behalten, und so wußte Lehnert nach einer Viertelstunde schon, was Christine berichtet hatte.

„Laß ihn, er wird nicht weit damit kommen!“

Er sagte das so hin, um die Mutter, so gut es ging, zu beruhigen, in seinem Herzen aber sah es ganz anders aus, und er ging auf das Fenster zu, das er aufriß, um frische Luft einzulassen. Er hatte diesen Ausgang wohl für möglich, aber, bei der Fürsprache drüben, keineswegs für wahrscheinlich gehalten, und nun sollte doch das Schlimmste kommen, und wenn er sich diesem Schlimmsten entziehen wollte, so gab es nur ein Mittel und mußte nun das geschehen, womit er bis dahin in seiner Phantasie bloß gespielt hatte: Flucht. Ungezählte Male war es ihm eine Freude gewesen, von dem elenden Leben in diesem Sklavenlande zu sprechen, von der Lust, dieser Armseligkeit und Knechterei den Rücken zu kehren und übers Meer zu gehen, und doch – jetzt, wo die Stunde dazu da war, das immer wieder und wieder mit Entzücken Ausgemalte zur That werden zu lassen, jetzt wurd’ er zu seiner eigenen Ueberraschung gewahr, wie sehr er seine Heimath liebe, sein Schlesierland, seine Berge, seine Koppe. Das sollte nun alles nicht mehr sein! Um nichts oder um so gut wie nichts war er das erste Mal von Opitz zur Anzeige gebracht worden und um nichts sollt’ es wieder sein! Und wenn es etwas war, wer war schuld daran? Wer anders als „der da drüben“, der ihm den Dienst verleidet hatte, sonst war’ alles anders gekommen und er wäre, was eigentlich sein Ehrgeiz und seine Lust war, bei den Soldaten geblieben und hätte seinem König weiter gedient und hätte jedes Jahr Urlaub genommen und wäre dann mit dem Hirschfänger und dem Czako durch die Dorfstraße gegangen und alles hätte gegrüßt und sich über ihn gefreut. „Um all das hat er mich gebracht, weil er mir’s mißgönnte, weil er nicht wollte, daß einer neben ihm stünde. Ja, er ist schuld, er allein. Um das Kreuz hat er mich gebracht, aber mein Haus- und Lebenskreuz war er von Anfang an und hat mich geschunden und gequält, und wie damals, so thut er’s auch heute noch. Er hat mir das Leben verdorben und mein Glück und meine Seligkeit.“

Als er das letzte Wort gesprochen, brach er ab und sah vor sich hin. Alles was in Nächten, wenn er nicht schlief, ihm halb traumhaft erschienen war, erschien ihm in diesem Augenblicke wieder, aber nicht als ein in Nebelferne vorüberziehendes Bild, sondern wie zum Greifen nah’, und in seiner Seele klang es noch einmal nach „und meine Seligkeit.“

Es war Mittag und Frau Menz brachte die Mahlzeit. Aber Lehnert aß nicht, und als die Alte ihm zuredete, wies er es kurzer Hand ab, stand auf und ging in seine Kammer, um, was ihn peinigte, los zu werden und Ruhe zu suchen. Wenn er hätte schlafen können! Aber er fühlte nur, wies hämmerte. Mit einem Male sprang er auf. „Nein, ich bleibe. Nicht fort. Ich will nicht fort. Einer muß das Feld räumen, gewiß. Aber warum soll ich der eine sein? Warum nicht der andere? Mann gegen Mann . . . und oben im Wald . . . und heute noch. Ich sage nicht, daß ich’s thun will, ich will es nicht aus freien Stücken thun, nein, nein, ich will es in des Schicksals Hand legen, und wenn das es fügt, dann soll es sein . . . Und das Papier drüben und alles, was drin steht, das will ich schon aus der Welt schaffen . . . Und wenn ich ihm nicht begegne, dann soll es nicht sein und dann will ich mich drein ergeben und will ins Gefängniß, oder will weg und über See.“

Lehnert war klug genug, alles was in diesen seinen Worten Trugschluß und Spiegelfechterei war, zu durchschauen, aber er war auch verrannt und befangen genug, sich drüber hinwegzusetzen, und so kam es, daß er sich wie befreit fühlte, nach all dem Schwanken endlich einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben. Er wartete bis um die sechste Stunde, legte dann wie stets, wenn er ins Gebirge wollte, hirschlederne Gamaschen an und stieg, als er sich auf diese Weise marschfertig gemacht hatte, von seiner Bodenkammer wieder in die Wohnstube hinunter. Hier riß er aus dem unter der Jagdflinte hängenden Kalender ein paar Blätter heraus und wickelte was hinein, was wie Flachs oder Werg aussah. Alles aber that er in eine Ledertasche, wie sie die Botenläufer tragen, gab dann der Alten, unter einem kurzen „Adjes Mutter“, die Hand und ging auf das sogenannte „Gehänge“ zu, den nächsten Weg zum Kamm und zur Koppe hinauf. Drüben in der Försterei schien alles ausgeflogen. Nur Diana lag auf der Schwelle und sah ihm nach.

Lehnert verfolgte seinen Weg, der ihn zunächst an den letzten Häusern von Wolfshau vorüber führte. Von hier aus bis zu dem das gräfliche Jagdrevier auf Meilen hin einhegenden Wildzaun waren keine tausend Schritt mehr, ein mit Kusseln besetztes Waldvorland, auf dem sich in diesem Augenblick eine Krummhübler Kinderschar heranbewegte, lauter halbwachsene Mädchen, die, von ihrem Lehrer geführt, eine Tagespartie nach der Schwarzen Koppe hinauf gemacht hatten. Lehnert blieb stehen. Als sie näher kamen, sah er, daß sie Blumen in Haar und Hand trugen. Und dazu sangen sie:

Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.
Wo die Schneekoppe hoch in die Wolken steigt,
Wo der Kynast grau die Zinnen zeigt,
Wo Rübezahl tief im Berge thront,
Wo Liebe, Frohsinn, Treue wohnt,
Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.

Es war dasselbe Lied, das er in seinen Knabentagen und dann später, bei den Jägern, auf manchem heißen Marsch in Frankreich gesungen hatte. Wie das Lied ihn jetzt ins Herz traf! Er trat zurück, um den jungen Dingern, von denen die meisten ihn kannten, den Weg frei zu geben. Sie nickten ihm zu und eine gab ihm im Vorübergehen den Enzianenkranz, den sie hoch oben im Gebirge gepflückt und geflochten hatte. „Da, Lehnert!“ Und kaum, daß sie vorbei waren, so nahmen sie das Lied wieder aus und sangen die letzte Strophe:

Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand,
Ach, werd’ ich je Dich wiederseh’n,
Im Schatten Deiner Tannen geh’n.
Und sehen, wie die Wolken zieh’n’?
Auch in der Ferne knüpft mich ein Band
An Dich, geliebtes Heimathland.

[87] Lehnert hatte die Schlußzeilen unwillkürlich mitgesungen und wiederholte sie sich, als ob er in diesem Augenblicke schon ein tiefstes Heimweh in seinem Herzen empfunden hätte.

Dabei war er bis an den Wildzaun gekommen, bis an das Gatter, aus dem die Mädchen eine kleine Weile vorher herausgetreten waren. Er öffnete jetzt seinerseits das aus Holzstämmen zusammengefügte, schwer in den Angeln gehende Thor und ließ es wieder ins Schloß fallen, und der Ton, mit dem es einklinkte, durchfuhr ihn und ließ ihn zusammenschauern. Er war nun drin in dem Waldgehege. Was war geschehen? oder doch vielleicht, wenn er wieder heraustrat? Aber er entschlug sich solcher Gedanken und schritt die geradlinige, steile Straße hinauf, das „Gehänge“, das hier am Gatter seinen Anfang nahm und abwechselnd an hochstämmigem Wald und niedriger Kusselheide vorüberführte. Dann und wann kamen auch Wiesenstreifen und Streifen von Moorgrund. Es war jetzt um die siebente Stunde und hier oben herrschte schon Dämmer und abendliches Schweigen und nur dann und wann hörte man das Klucken und Glucksen eines bergabschießenden Wasserlaufes oder eine vereinzelte Vogelstimme. Kein Schmettern oder Singen, nur etwas, das wie Klage klang. Am Himmel, der hell leuchtete, wurde die Mondsichel sichtbar, ein blasser Ring, und einmal war es Lehnert, als ginge wer neben ihm her. Aber es war eine Sinnestäuschung, und wenn er seinen Schritt anhielt, schwieg auch der begleitende Schritt im Walde.

So war er, das „Gehänge“ hinauf, schon bis ziemlich hoch gekommen und durch eine bergan steigende Lichtung im Walde konnt’ er bereits den Gebirgskamm in aller Deutlichkeit erkennen. Er sah aber nicht lange hinauf, sondern setzte sich, plötzlich der Ruhe bedürftig, auf eine Bank, die man hier, wohl zu Nutz und Frommen bergansteigender Sommergäste, zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Tannen angebracht hatte. Das dachartig überhängende Gezweige war Ursache, daß es um die ganze Stelle her schon dunkelte, trotzdem war es noch hell genug, um alles Nächstliegende deutlich erkennen zu können. An der anderen Seite des Weges sprang ein Quell aus einer nur wenig übermannshohen Felswand, und der Umstand, daß man dem Quell eine zierliche Holzrinne gegeben und ihn in einen von Moos überwachsenen Steintrog geleitet hatte, gab diesem Rastplatz etwas von einem Waldidyll, An dem Steintroge vorbei zog sich, nicht allzu weit unter dem Kamm hin, ein dem Zuge desselben folgender Pfad, der zuletzt auf die Hampelbaude zulief.

Lehnert wußte hier Bescheid auf Schritt und Tritt und hatte manch liebes Mal auf dieser Bank gesessen und nach dem Quell hinübergesehen und gehorcht, ob vielleicht Opitz aus dem Unterholz heraustreten würde. Fast zu gleichem Zwecke saß er wieder hier, und als sich’s drüben einen Augenblick wie regte, schoß ihm das Blut zu Kopf und er griff unwillkürlich nach links, wie wenn er, der doch noch ohne Waffe war, das Gewehr von der Schulter reißen wollte. Rasch aber entschlug er sich seiner Erregung wieder und an ihre Stelle trat ein Lächeln.

Er wurd’ überhaupt wieder unsicher und verlangte, von der Begegnung ganz abgesehen, nach einem Zeichen, das ihm sage, was er zu thun habe. So brach er denn einen dürren Zweig ab und machte zwei Lose daraus, in Länge nur wenig von einander unterschieden, und that beide in seinen Hut. Und nun schüttelte er und zog und maß. Er hatte das etwas längere Stück gezogen. „Gut denn . . . es soll also sein . . . “ und mit einer Raschheit, in der sich die Furcht vor einem abermaligen Schwanken und Unschlüssigwerden aussprach, erhob er sich von seiner Bank und schlängelte sich mit einer Findigkeit, die deutlich sein Zuhausesein an dieser Stelle zeigte, durch allerhand dichtes Unterholz bis auf eine Waldwiese, die nach der einen Seite hin, ganz besonders aber in der Mitte mit, riesigen Huflattichblättern überwachsen war, während sie nach der anderen Seite hin in buschhohem Farrenkraut stand, das sich heckenartig an einer niedrigen Felswand entlang zog. In dieser Buschhecke war nirgends ein Einschnitt, weshalb Lehnert, der dies sehr wohl wußte, seinen Eingang von der Seite her nahm und sich zwischen dem Farrenkraut und der Felswand hindurchdrängte, mit seiner Rechten an dem Gesteine beständig hintastend. Als er bis in die Mitte gekommen, war auch die Felsspalte da, nach der er suchte, freilich nur schmal und eng. Er streifte deshalb den Aermel in die Höh’, um bequemer mit Hand und Unterarm hinein zu können, und nahm, als ihm dies gelungen, aus einer in der Felsspalte befindlichen Rische sein Doppelgewehr heraus, das hier, bis an den Kolben in ein Futteral von Hirschleder gesteckt, seinen Versteck hatte. Gleich danach hielt er auch Pulverhorn und Schrotbeutel in Händen, und abermals einen Augenblick später riß er von einem der von seiner Wohnung her mitgenommenen allen Kalenderblätter einen breiten Streifen ab, der als Schußpfropfen dienen sollte, lud beide Läufe, setzte die Zündhütchen auf und hakte das mit zwei Drahtösen versehene Stück Werg, das ein falscher Bart war, über die Ohrwinkel. Und nun wand er sich, wie vorher zu dem Versteck hin, so jetzt mit gleicher Raschheit durch Farrenkraut und Unterholz zurück und trat wieder auf die große Straße hinaus. Er war derselbe nicht mehr. Der flachsene Vollbart, der aus Zufall oder Absicht tief eingedrückte Hut, der Doppellauf über der Schulter – das alles gab ein Bild, das in nichts mehr an den Lehnert erinnerte, der vor einer Viertelstunde noch, schwankend und unsicher, auf der Bank am Quell gesessen hatte.

„Nun soll’s kommen,“ sprach er vor sich hin und stieg höher hinauf, auf den Grat des Gebirges zu.

* * *

Stiller wurd’ es und niemand begegnete ihm. Nur ein-! mal trat ein Rehbock auf eine Lichtung und stand und Lehnert griff schon nach dem Gewehr, um anzuschlagen. Aber im nächsten Augenblicke war er wieder anderen Sinnes geworden. „Nein, nicht so. Sein Schicksal soll über ihn entscheiden, nicht ich. Ich will ihn nicht Heranrufen; ich hab’ es in eine höhere Hand gelegt.“ Und sein Gewehr wieder über die Schulter hängend, schob er sich weiter an den Tannen hin. Aber es waren ihrer nicht allzu viele mehr, immer lichter wurd’ es zwischen den Stämmen, und kaum hundert Schritte noch, so lag der Wald zurück und ein breites Stück Moorland that sich auf, durch das jetzt mittenhindurch der Weg unmittelbar auf den Grat hinaufführte. Wo der Torf nicht zu Tage lag, war alles von einem gelben, sonnverbrannten Gras überwachsen, dazwischen aber blinkten Sumpf und Wasserlachen, auf deren schwarzer Fläche die Mondsichel sich spiegelte. Kein Leben, kein Laut. Aber während Lehnert dieser Lautlosigkeit noch nachhorchte, klang plötzlich durch die tiefe Stille hin ein helles Läuten herauf.

„Das ist das Kapellchen unten. Das fängt an und läutet den Sonntag ein.“

Und wirklich, ehe noch eine Minute vergangen war, fiel das ganze Thal mit all seinen Kirchen- und Kapellenglocken ein und wie im Wettstreit klangen die Tonwellen mächtig und melodisch bis auf den Koppengrat hinauf. Und nun war auch Lehnert oben und, sah hinab. Der Mond gab eben Licht genug, ihn unten im Thal, drin eben ein dünner Nebel aufstieg, alles wie in einem halben Dämmer erkennen zu lassen. Lange sah er hinab, bis das weite Thal unten nichts mehr als eine Nebelkufe war. Nur um ihn her war noch klare Luft und die Mondsichel blinkte.

„Wohin?“

Er sah nach links hin, den Grat entlang, und bemerkte das Licht, das oben auf der Koppe schimmerte.

„Wenn ich mich ’ran halte, bin ich in zwanzig Minuten oben . . . Und dann bin ich ihm nicht begegnet. Aber warum nicht? Weil ich ihm nicht begegnen konnte, weil ich ihm aus dem Wege gegangen bin. Ist das das Rechte? Heißt das sein Schicksal befragen? Ich darf ihm nicht aus dem Wege gehen, das ist kein richtig Spiel; ich muß dahin, wo sich’s begegnen läßt . . . Da ist mein Platz.“

Und rasch entschlossen, wandt’ er sich wieder und schritt denselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.

So lang er das Moor und seine freie Fläche zu Seiten hatte, hing er allerhand Träumereien nach, kaum aber war der Hochwald wieder um ihn her, so schien auch sein Auge zwischen den Stämmen hin das Dunkel durchdringen zu wollen. Aber es blieb trotzdem wie’s war und er war schon wieder bis an jene Wegstelle gekommen, wo sich die Bank befand und der Quell in den Steintrog fiel, ohne daß sich etwas geregt oder ihm auch nur im geringsten die Gegenwart seines Gegners verrathen hätte. „Was soll er auch hier auf der großen Straße? Feigheit, nichts als Feigheit!“ Und sich von der Bank her, drauf er abermals eine kurze [90] Rast genommen hatte, zum Weitergehen anschickend, bog er drüben in den am Steintroge vorüberführenden Querpfad ein, der in langer Linie, wagerecht und ohne jede Steigung, auf die Hampelbaude zuführte. „Da will ich hin. In der Hampelbaude will ich schlafen. Und hab’ ich ihn bis dahin nicht getroffen, so soll es nicht sein. Und ich muß ins Gefängniß oder in die weite Welt.“

Er konnte nicht anders sprechen, denn er wußte nur zu gut, daß er bis dahin mit der Begegnungsfrage bloß gespielt hatte; jetzt aber mußte sich’s zeigen. Und wunderbar, statt erregter zu werden, ward er mit jedem Augenblicke stiller und seine Seele ruhiger, vielleicht weil er jetzt ein Ende absah. Und ihn verlangte danach, so oder so. Nur eines war ihm lästig, die Mondsichel blinkte so hell, als ob Vollmond wäre. „Der Bart ist doch immer nur eine halbe Verkleidung. Und wenn die Todten auch schweigen .. . Es wäre besser, die Wolke drüben legte sich vor.“

Und wirklich, sie that’s. Und was jetzt niederflimmerte, war nur noch das matte Licht der Sterne . . .

* * *

„Steh!“

Opitz war um eine Weg- und Buschecke gebogen und hielt auf fünf Schritt.

Und Lehnert stand.

„Gewehr weg! Was ein Richtiger ist, der weiß, wie sich’s gehört. Aber Du bist wohl ein Böhmscher … Eins, zwei . . .“

Lehnert zögerte noch.

„Gewehr weg . . . Drei.“ Und im selben Augenblicke schlug der Hahn auf das Piston. Aber das Zündhütchen versagte.

Und nun schlug auch Lehnert an und zwei Schüsse krachten.

Opitz brach zusammen.

In engem Bogen an ihm vorbei ging Lehnert auf die Hampelbaude zu.


10.

Zehn Uhr war durch, als Lehnert, der inzwischen sein Gewehr an einem anderen Versteckort wieder untergebracht hatte, bei der Hampelbande eintraf. Trotz später Stunde war noch Leben drin, sogar Tanz, zu dem zwei böhmische Harfenstimmen von mittleren Jahren und ein zwölfjähriger Geiger lustig aufspielten. Lehnert setzte sich und ließ sich ein Nachtessen geben, als es aber vor ihm stand, schob er, es wieder zurück und sprach nur dem Bier zu. Was um ihn her tanzte, waren Sommergäste, Berliner, darunter Mütter, die dicht vor der silbernen Hochzeit, und Töchter, die dicht vor der ersten Konfirmationsstunde standen. Auch die Väter waren, in Ermangelung anderen Tanzmaterials, mit herangezogen worden, behäbige Männer mit ängstlich kurzen Hälsen. Dazwischen trippelten die Backfische mit hohen Knöpfstiefeln und lang herabhängendem Haar, dessen letzte natürliche Welle dem vorausgegangenen sechsstündigen Marsch in der Julihitze längst zum Opfer gefallen war.

Lehnert sah auf das Treiben, und mitunter konnt’ es fast den Anschein gewinnen, als freue er sich darüber, am meisten wenn die jungen Dinger, von denen einige immer aus dem Takte heraus und andere noch gar nicht hinein waren, an ihm vorbeiwalzten. Dann aber schwand mit einemmal wieder alles, was um ihn her war, und er sah wieder Opitz um die Buschecke biegen, hörte, wie der Hahn aufschlug, und sah seinen Gegner zusammenbrechen. „Er hat es nicht anders gewollt . . . Ob er todt ist’? . . . er muß todt sein . . .“ Und während er noch so sann und in sich hinein redete, trat er aus dem heißen Saal ins Freie hinaus und sah nach dem Gehänge hinüber und dann hinauf in den gestirnten Himmel. Da stand die Sichel in aller Klarheit über ihm, aber über dem Todten am Wege stand sie auch.

Eine kalte Nachtluft ging und Lehnert trat wieder in den Saal, der sich allmählich zu leeren anfing.

Als die letzten fort waren, erschien Lissi, seine gute Freundin, auch eine Böhmin, in der Thür und sagte: „Nun, Lehnert, was meinst? Wenn ich der Bertha zurede, spielt sie noch einen Ländler auf, einen Ländler oder einen Schott’schen.“ Und die Harfenistin, die jedes Wort, das die beiden sprachen, gehört und guten Grund zur Freundschaft mit der Kellnerin hatte, fuhr auch gutwillig über die Saiten. Aber Lehnert wich aus und sagte, daß er die fremden Herrschaften, die gewiß sehr müde seien, in ihrem Schlafe nicht stören wolle.

„Was Du da nur redst, Lehnert. Du willst halt nit. Das is alles. Aber gieb acht, wenn Du willst, will ich nit.“ Und damit griff sie nach einer ganzen Anzahl von Seideln, die leer auf den Tischen umher standen, und ging spöttisch und hochmüthig an Lehnert vorüber. Zuletzt kam auch der Wirth. „Nu, Lehnert, ich sehe, Du willst zu Nacht bleiben. Schlimm; alles voll bis unters Dach. Aber komm nur, ich weiß schon, was Du gern hast.“ Und dabei ging er voran und stieg, während Lehnert folgte, draußen am Giebel eine Leiter hinauf, die zu nächst bis an eine Lukenthür und durch diese hindurch nach dem Heuboden führte.

Lehnert machte sich’s hier bequem und suchte zu schlafen. Aber es war zu schwül und der Heugeruch zu stark. So trat er denn wieder bis an die Lukenthür heran und riß einen der beiden Flügel auf. Aber eben so rasch schloß er ihn wieder. Schräg über ihm stand die Mondsichel und sah herab auf ihn und fragte.

* * *

Bald nach Tagesanbruch war Lehnert auf. Alles schlief noch und nur das hübsche böhmische Mädchen, das er am Abend zuvor durch sein „Nein“ erzürnt hatte, stand im Hof und spaltete Holz. Sie schien ihn nicht sehen zu wollen. Er trat aber an sie heran und sagte: „Laß gut sein, Lissi. Du weißt, ich bin kein Spielverderber und weiß, was sich paßt. Und wenn einem ein hübsches Mädel, und nun gar eins wie Du, einen Kuß oder einen Tanz anbietet, da soll man nicht nein sagen. Das weiß ich so gut wie einer. Und hab’ ich Dir schon was abgeschlagen? Nun, siehst Du, Du lachst! Also laß gut sein! Ich konnte nicht, mir war so schwindlig und ich hätte von dem Bier nicht trinken sollen. Und nun mache mir einen Kaffee, hörst Du? Und vergiß nicht, wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Für die Berliner ist das andere gut genug.“

„Pst!“

„Ach, die schlafen ja noch.“ Und damit ging er auf einen Vorplatz zwischen Stall und Giebel und setzte sich in eine Gitterlaube, die an der windgeschützten Seite mit Winden spärlich umwachsen war.

Und nicht lange, so kam der Kaffee mit Brot und Butter und einem Cognac; denn Lissi kannte seine Gewohnheiten. „Auf Dein Wohl, Lissi! Und das nächste Mal tanz’ ich, bis ich umfalle.“ Und als er das sagte, streckte er die Hand nach ihr aus. Aber sie gab ihm einen Klaps und sagte: „Du denkst halt, jede Stund’ ist gut zum Brezelbacken. Aber da irrst, das is nit wahr. ,Wer nicht kommt zur rechten Zeit’ . . . Und jetzt ist nicht rechte Zeit und morgens ist nicht abends . . . Aber mein Gott, da klingelt es schon und ruft auch schon. Ich wette, das ist die dicke Madame, die gestern tanzte, wie wenn ihre Hochzeit wär’.“

Wirklich, es war drinnen im Hause lebendig geworden, und Lissi ging hinein und überließ Lehnert seinem Frühstück und seinen Betrachtungen, die nicht freundlich, aber auch nicht traurig waren. Gestern, als er hier ankam, war er in einer vollständigen Erschöpfung gewesen und das Geschehene hatte noch mit all seinem Graus auf ihm gelastet. Das war aber über Nacht anders geworden, vier Stunden festen Schlafs hatten ihm seine Sprungkraft und Energie zurückgegeben und ließen ihn jetzt das Behagen an einem gut besetzten Frühstückstische voll genießen, was alles in allem überhaupt kein Wunder nehmen konnte; denn wenn er schon wie so viele andere die Fähigkeit hatte, sich die Dinge, auch die schlimmsten, nach seinem Wunsch und Bedarf zurecht zu legen, so war noch im besonderen alles, was sich gestern abend ereignet hatte, so wunderbar glücklich für ihn verlaufen, daß selbst ein zu Trugschlüssen und Spiegelfechtereien minder geneigter Charakter als der seine Veranlassung gehabt hätte, sich über Gewissensskrupel einigermaßen hinwegzusetzen. Was er vorgehabt hatte, nun, darüber mochte sich streiten lassen, was sich aber thatsächlich ereignet hatte, war nichts als ein Akt der Nothwehr gewesen Opitz hatte den ersten Schuß thun wollen, und wenn dieser Schuß versagt und ihm das Spiel in die Hand gegeben hatte, so war das so recht ein Zeichen, das ihn in seinem Gemüth beruhigen [91] durfte. Das Frühere mit der Begegnung oder Nichtbegegnung und dem Gottesurtheil darin, das war etwas Ausgeklügeltes gewesen, jetzt aber war das Schicksal aus freien Stücken für ihn eingetreten und hatte gegen Opitz entschieden. Er seinerseits war nur Werkzeug gewesen, dessen sich die Vorsehung zur Abstrafung eines bösen Menschen bedient hatte.

Dies waren so die Vorstellungen, in denen er sich erging und die so stark waren, daß selbst die Stimme des Mitleids darin erstickte. Nur an die Frau dacht’ er mit Theilnahme. „Sie war immer gut gegen mich; aber sie wird sich trösten und nach Jahr und Tag dem vielleicht danken, der’s that und sie mit befreite.“

Und nun war sein Frühstück beendet und er empfahl sich und ging auf die Riesenbaude zu. Hier angekommen, bog er in den Riesengrund ein, sich berechnend, daß er um Zehn in Trautenau sein könne. Da, das mußt’ er, fand er Freundschaft und Anhang und konnte leicht weiter, fort in die Welt, und war dann keine Noth und Gefahr mehr. Aber mußt’ er denn fort? Um was war denn überhaupt alles geschehen? Doch nur, um nicht in die Welt hinaus zu müssen. Wenn er aber umgekehrt Platz machen wollte, dann konnte ja „der andere“ bleiben und die Leute weiter quälen. Nein, er durfte nicht gehen! Wenn er ging, war alles umsonst gewesen. So sann er auf seinem Wege hin und her, und als er bis Johannisbad gekommen war, war er entschlossen, den Weitermarsch bis Trautenau aufzugeben und in seine Wolfshauer Stellmacherei zurückzukehren. Es zog ihn mit einemmal wieder heim und ein seltsames Verlangen regte sich in ihm, Zeuge zu sein, wie nun alles kommen werde.

* * *

Der Abstieg war bequem gewesen, jetzt aber ging es wieder steil bergan und von Bequemlichkeit war keine Rede mehr. Indessen er war ein guter Steiger und schon um Vier war er wieder auf dem Koppenkamm und um Sechs in Wolfshau.

Die Mutter, die die Siebenhaarsche Predigt unten in Arnsdorf nicht versäumt hatte, stand am Herd und hielt just einen Bunzlauer Kaffeetopf und ein Stück Streußelkuchen in Händen, als Lehnert unter Kopfnicken eintrat.

„Guten Tag, Mutter!“

„Tag, Lehnert!“

„Weiter nichts, Mutter? Du bist doch sonst nicht so kurz. Nichts Neues? Nichts vorgefallen? Keine Menschenseele dagewesen? Der Streußel da kann doch nicht durch den Schornstein gekommen sein, wie der Klapperstorch oder der Gottseibeiuns.“

„Ach, rede doch nicht von dem, der kommt doch, der kommt auch so.“

„Durch die Thür, meinst Du?“

Sie nickte, that einen Zug und starrte dann wieder schweigend vor sich hin, ohne Lehnert anzusehen. Der schwieg auch. Endlich sagte sie: „Opitz ist noch nicht da.“

„So?“

„Die Frau war hier und weinte.“

„Warum?“

„Weil sie glaubt, daß ihm was passirt sein könne.“

Lehnert lachte. „Dann muß eine Förstersfrau jeden Tag weinen.“

„Und dann fragte sie nach Dir . . .“

„So, so. Und was sagtest Du?“

„Daß Du nach dem ,Waldhaus’ gewollt hättest und vom Waldhaus nach Arnsdorf . . . vielleicht von wegen dem Hof’ . . . zum Grafen. Aber ich wüßt’ es nicht genau.“

„Das ist recht, Mutter, daß Du das gesagt hast, daß Du gesagt hast, Du wüßtest es nicht genau. Das ist immer das beste, das mußt Du immer sagen. Und nun gieb mir einen Schluck von dem Kaffee da. Nein, laß lieber, ein Teller Milch ist mir besser. Ich bin verhungert und verdurstet. Seit heute früh keinen Bissen und keinen Tropfen.“

Beide standen auf, Lehnert um sich umzuziehen und die Gamaschen abzuthun, die Mutter, um ihm die Milch zu holen, die nach Landesbrauch in einer vom Ufer aus vorgebauten Steinhütte stand, durch welche die Lomnitz hindurch schoß und Kühle gab.

Als Lehnert wieder treppab kam, sah er, daß die Mutter ihm das Abendbrot vor dem Hause hergerichtet hatte, neben dem Rosenbusch, unter dessen überhängendem Gezweig er am liebsten saß. Drüben aber, in der Hausthür der Försterei, stand die gute Frau Opitz und sah abwechselnd nach dem Gehänge hinauf und dann wieder in die tiefroth untergehende Sonne.

„Nicht hier, Mutter!“

„Aber es ist doch Deine Lieblingsstelle!“

„Ja, sonst. Aber heute nicht.“

Und er hieß sie den Tisch mit anfassen und beide trugen ihn mit leichter Mühe durch den Flur, bis vor die Küchenthür. Da nahm er nun Platz und aß.

Als er damit geendigt hatte, stand er auf und ging wieder in die Vorderstube, in der jetzt völlige Dämmerung herrschte. Die Mutter war noch draußen, und so schritt er auf und ab und überlegte, was werden würde. Mit einemmal aber war es ihm, als würde die Klinke leis geöffnet und wieder ins Schloß gedrückt, und als er sich umsah, stand Christine vor ihm.

„Da, Lehnert!“ Und sie hielt ihm bei diesen Worten ein nach Art eines amtlichen Schreibens zweimal zusammengefaltetes Papier hin. Als er es auseinandergeschlagen und, ans Fenster tretend, einen Blick hineingeworfen hatte, sah er, daß es der Bericht war, in dem Opitz seinen Strafantrag gestellt hatte.

„Zerreiß’ es!“ sagte Christine. „Ich hab’ es gefunden. Es lag auf seinem Schreibtisch.“

„Aber er wird es suchen, wenn er nach Hause . . . wenn er wieder kommt.“

„Er kommt nicht wieder.“

Und damit war sie fort, und er sah nur, wie sie rasch über den Steg hinhuschte, wieder der Försterei zu.


11.


„Er kommt nicht wieder,“ hatte Christine gesagt; – sie konnte nicht wissen, was geschehen war, und sie wußt’ es doch! Daß er von ihr nichts zu befürchten habe, das bewies das Papier, das er in Händen hielt, und doch könnt’ er sich eines Gefühls banger Unruhe nicht entschlagen. Erst hatte die Mutter in Andeutungen gesprochen und nun Christine. Wenn er vor aller Welt der war, gegen den sich der Verdacht wie von selbst richten mußte, so war er verloren oder hatte doch auf lange hin einen schweren Stand. Er war müde von dem vielstündigen Bergauf und Bergab, aber seine Erregung war doch so stark, daß es ihn zu Hause nicht litt. Er mußte wieder hinaus, und die Frage war nur: „wohin?“

Am nächsten lag ihm Vater Brauner, in dessen Ausschank „Zur Rabenklippe“ die Holzknechte zu verkehren und sich bei einer Stonsdorfer oder einem Ingwer gütlich zu thun pflegten; aber das war keine Gesellschaft, die heute für ihn paßte. „Was macht Opitz?“ oder „ist Opitz noch immer gut bei Wege?“ Das waren Fragen, die sich hier in zurückliegender Zeit, und noch ganz vor kurzem, mehr als einmal und mitunter mit ganz besonderer Betonung an ihn gerichtet hatten, und er erschrak bei dem Gedanken, daß sie sich auch heute wieder an ihn richten könnten. Das sollte nicht sein, und so beschloß er denn, statt in die „Rabenklippe“ lieber ein paar tausend Schritte weiter bis zu Exners in die „Schneekoppe“ zu gehen und in der wohlbekannten niedrigen Gaststube mit Gebirgsführern und Sesselträgern oder vielleicht auch mit alten Kriegskameraden, was immer das beste war, eine Unterhaltung zu suchen. Denn er sehnte sich danach, eine Stimme außer seiner eigenen zu hören und von seiner Unruhe loszukommen. Er griff denn auch bald nach seiner Soldatenmütze, die neben dem Gewehr und dem alten Kalender am Riegel hing, und schritt auf Krummhübel zu. Halben Weges zwischen Brückenberg und der Obermühls trat er von dem tiefergelegenen Wolfshau her auf den eine lange Schräglinie bildenden Fahrweg und sah nun einerseits nach Kirche Wang hinauf und andererseits nach Dorf Krummhübel hinunter, dessen weiße Giebel, trotz der schon herrschenden Dämmerung, in aller Deutlichkeit aus den vereinzelten Baumgruppen hervorblinkten. Der am deutlichsten blinkende Giebel aber war der von Exners „Schneekoppe“, und das helle Licht, das er dicht über der Straße flimmern sah, kam aus eben der Gaststube, drin er sich gütlich thun und hören und sprechen und alles, was ihn quälte, nach Möglichkeit vergessen wollte. Zwischen ihm und Exner lag nur noch der Gerichtskretscham und das kleine katholische Kapellchen mit seinem Sparrenwerk und seinem rothgestrichenen Dache.

[92] Der Abend fiel rasch ein, und nur über Arnsdorf, tief unten im Thal, hing noch ein rothes Gewölk, vor dem der Schattenriß eines Kirchthurms aufragte. Rechts daneben zog sich ein langes schloßartiges, matt erleuchtetes Fabrikgebäude, dessen Fenster durch den Abendnebel hin gespenstisch flimmerten. Lehnert, der rüstig zuschritt, schickte sich eben an, die Fenster des obersten Stocks zu zählen, als er heftig zusammenschrak. Auf dem Kapellchen, an das er bis auf fünfzig Schritt heran war, begann es eben zu läuten und die zwischen dem Sparrenwerk hängende Glocke klang mit ihrem dünnen Tone hell und scharf durch die Luft. Es war dasselbe Läuten, das gestern, bald nach seiner Rast am Quell, vom Thale her zu der Kammhöhe hinaufgedrungen war, und unwillkürlich hielt er an und suchte, während er sich rückwärts wandte, die Stelle, drauf er gestern um eben diese Stunde gestanden hatte. Da war auch die Mondsichel wieder, und so schwach in diesem Augenblick ihr Licht war, so war es doch hell genug, den Weg am „Gehänge“ hin deutlich zu zeigen, auf dem er gestern um fast dieselbe Zeit emporgestiegen war. Und dort war die Stelle, wo der Seitenpfad, an dem Brunnen vorüber, in scharfer Krümmung abbog, und er mühte sich, ob er die nach der Hampelbaude hinüberführende Querlinie vielleicht verfolgen könne. Jetzt war sie da, die Linie, und jetzt wieder nicht, je nachdem die Phantasie mit ihm spielte, bis er mit einem Male einen Aufblitz und ein Rauchwölkchen sah und gleich danach den Widerhall eines Schusses durch die Berge rollen hörte.

Die Sinne vergingen ihm fast. Aber ein viel Erschütternderes harrte seiner im nächsten Augenblicke, denn ehe noch das Rollen von Schlucht zu Schlucht verhallen konnte, klang es deutlich vom Berge her zu Thal: „Hilfe!“

Lehnert hielt sich an dem das Kapellchen sammt seinem dazu gehörigen Schulhaus einfassenden Heckenzaun und horchte hinauf, ob sich der Ruf wiederholen würde. „Ja,“ „nein,“ und dann wieder „ja.“ Und von einer furchtbaren Angst geschüttelt, war er bald nur noch von dem einen Verlangen erfüllt, die Stimme von da oben nicht mehr zu hören, dem Hilferuf zu entfliehen. Aber wohin? Exner, das ganze Dorf, alles schien ihm noch im Bereich der Stimme zu liegen, im Bereich des Hilferufes da oben vom Gehänge her, und so lief er denn weiter bergab, um die Nacht in Arnsdorf oder wo’s sonst sei, nur weit, weit ab zu verbringen.

Er war schon halb bis nach Arnsdorf heran und wollte eben in ein Wäldchen einbiegen, das die Krummhübler das „Birkicht“ nennen, als er andern Sinnes wurde, plötzlich in seiner Flucht anhielt und sich auf einen der vielen Baumstämme setzte, die hier, am Waldsaume hin, aufgeschichtet lagen.

„Es geht nicht. Ich kann so nicht weiter. Er lebt, es war seine Stimme . . . Um Gottes Barmherzigkeit willen, vierundzwanzig Stunden . . . so viel tausend tausend Sekunden . . . Ich muß es anzeigen, daß ich einen Hilferuf gehört habe . . . bei Zoelfel oder Exner oder im Gerichtskretscham. Und sie müssen diese Nacht noch hinauf, diese Stunde noch.“

Und nun schwieg er, weil ihm mit einemmal der Gedanke kam, daß er sich, wenn er spräche, verrathen würde. Bald aber nahm er sein Vorhaben wieder auf.

„Nein, ich werde mich nicht verrathen. Gerade daß ich es sage, das wird mich retten und wird alle Welt glauben machen, daß ich schuldlos sei. Bin’s auch . . . Und wenn er mich erkannt hat? Er hat mich nicht erkannt. Und Vermuthung ist kein Beweis. Und wenn doch? Nun denn, dann mag mir das Messer an die Kehle gehen. Ich kann ihn nicht verkommen lassen in seiner Noth und seinem Blut.“

Und er wandte sich wieder und stieg die nach Krummhübel zurückführende Berglehne fast noch schneller hinauf, als er herabgekommen war, und es war noch nicht zehn Uhr, als er vor Exners „Schneckoppe“ hielt. Da wollt’ er hinein und sah durch die Fenster. Aber es waren zu viel Fremde da; so stieg er denn weiter hinauf, bis er an den Gerichtskretscham kam. Da war es stiller und nur Einheimische waren da, was ihm paßte. Vorher aber übersann er noch einmal in aller Vorsicht, was er sagen wolle. Da war denn das nächste, was ihm einfiel, daß er das Rufen nicht schon vor einer Stunde gehört haben dürfe, sondern in diesem Augenblick erst. Und nun trat er ein und machte Meldung und begrüßte Maywald und Neigenfink und den alten Gerichtsmann Klose, die sich eben zum Skat niedergesetzt hatten.

Aber keiner rührte sich und das Spiel ging weiter. „Grand mit vieren,“ sagte der alte Gerichtsmann. „Und nun komm, Lehnert, und sieh mit hinein, verstehst es ja, so was lernt man bei den Soldaten . . . Und gerufen hat es, sagst Du … Das sind Fremde … junge Leut’ … Heute früh kamen Breslauer hier durch, ein ganzes Rudel, Gymnasiasten, oder wohl gar welche von der Kunstschule. Das ist dann ein ewiges Singen und Rufen. Und das verdammte Schießen dazu . . . Soll eigentlich nicht sein . . . Und wenn Opitz ’mal einen packt, dann is er sein Terzerol tos oder auch seinen Revolver. Denn ohne Revolver geht es heutzutage nicht mehr . . . Du giebst, Maywald. Aber was Ordentliches . . . Dann is er sein Terzerol los, sag’ ich, und die Geldstrafe hat er dazu . . . Wetter, ist das ein Blatt! Aber das kommt von solchen Geschichten, da grault sich ’ne gute Karte . . . Nimm einen Stuhl und rücke ran, Lehnert, und hilf mir aus der Patsche!“

„Kann nicht, Gerichtsmann Klose,“ sagte Lehnert. „Ich war heute schon drüben und bin müde zum Auslöschen . . . Und Ihr meint also, es wäre nichts und man hätte keine Pflicht, hinaufzusteigen und nachzusehen? Von dem Schuß will ich nichts sagen, geschossen wird immer. Aber das Rufen. Es klang so, ja, wie sag’ ich, es klang so, wie wenn es was wäre.“

„Ja, wie wenn es was wäre,“ lachte Klose, während Maywald zustimmte, „was ‚sein‘ wird es wohl. Aber was? Ein Kommis, der seines Prinzipals Gelder zu früh einkassirt hat!“

Es war Lehnert nicht unlieb, die Skatherren, die zugleich zu den Dorfhonoratioren zählten (denn auch Neigenfink, der sich übrigens zurückhaltender verhielt, war Gerichtsmann), so leichthin sprechen zu hören. Es gab ihm einen Theil seiner Ruhe wieder. Sie haben am Ende doch recht. Und eigentlich kann’s auch nicht anders sein. Es ist schon zu lange her . . . Aber wenn es doch wäre . . . wenn es doch wäre . . . “

Draußen vor dem Kretscham stand ein Ackerwagen. Lehnert setzte sich auf die Deichsel und sah das Gehänge hinauf und horchte wieder mit gespanntem Ohr. Aber alles blieb still. So ging er denn zuletzt auf Wolfshau zu. Bei Frau Opitz war noch Licht, und als er vorüher ging, schlug Diana an. Sonst rührte sich nichts.

Und nun war er wieder auf dem Inselchen drüben und stieg in seine Kammer hinauf. Eine kleine Weile noch jagten sich allerlei Bilder und Gedanken durch seine Seele. Dann schlief er ein, fest und schwer und ohne Traum.


12.

Die Skatpartie blieb zurück, war aber nicht bestimmt, ungestört zu gutem Ende zu kommen, denn wenig mehr als eine halbe Stunde nach Lehnerts Aufbruch hörte man draußen ein Sprechen und Weinen, und ehe die Skatherren noch fragen konnten, was es sei, trat Frau Opitz ein, um drinnen in der Stube zu wiederholen, was sie schon draußen im Flur der Kretschamwirthin erzählt hatte. Alles in ihrer Rede drehte sich um den Mann und sein Ausbleiben. Opitz habe gestern spät nachmittags die Försterei verlassen und sei nach der Hampelbaude hinaufgestiegen, um oben im Wald den Holzschlägern den Wochenlohn auszuzahlen. Das sei nun über vierundzwanzig Stunden und noch sei er nicht zurück, weshalb sie fürchte, daß ihm etwas zugestoßen sei. All das wurde vorwiegend zu dem Aeltesten, zu Gerichtsmann Klose gesprochen, einem rüstigen Fünfziger, der, weil er gerad’ im Verluste war, keine Lust hatte, das Spiel unterbrochen zu sehen. Er suchte deshalb der heftig schluchzenden Frau nach Möglichkeit zuzureden und dabei, so weit es ging, ohne geradezu zu verletzen, einen leichten und heiteren Ton anzuschlagen. Opitz werde gute Gesellschaft und vielleicht sogar eine Skatpartie gefunden haben, so was käme vor, wie Frau Opitz ja jetzt mit eigenen Augen sähe. Solch Ausbleiben sei nicht schlimm. Alle Frauen ängstigten sich, wenn die Männer nicht pünktlich zu Hause seien, aber das kenne man schon, mit der ganzen Angst sei’s nicht weit her und sei eigentlich alles bloß, um den Mann, dem man nie recht traue, hinterher desto fester am Bändel zu haben. Er sprach noch eine gute Weile so weiter, unter beständigem Niederlegen und Wiederaufnehmen seiner Karten, und schien ernstlich gewillt, sich durch diese „Habereien“ der guten Frau nicht stören zu lassen. Als Frau Opitz aber nicht nachließ und in ihrem Bitten und Drängen [94] durch die zwei Mitspieler und zuletzt sogar durch die hinzugekommene Kretschamwirthin unterstützt wurde, gab er seinen Widerstand auf und sagte: „Gut denn, es kann am Ende so was sein, will’s nicht geradezu bestreiten. Ein Förster hat immer viel Feindschaft und Opitz nicht zum wenigsten. Und so wollen wir denn mit dem frühsten nach der Hampelbaude hinauf. Vorher aber ist nichts zu machen, trotzdem wir das bißchen Mondschein haben. Ich denk’ also, wir sind morgen in aller Frühe hier wieder beisammen, sagen wir um fünf, und nehmen dann mit uns, was wir von Mannschaften zu so früher Stunde, zur Hand haben können. Vor allem aber halten wir reinen Mund, daß die Fremden keinen Schreck kriegen und nicht etwa denken, unser altes Krummhübel sei über Nacht eine Mördergrube geworden.“

Alle waren einverstanden, und Frau Opitz, der die gutmüthige Kretschamwirthin eine von ihren Mägden als Begleitung mit nach Hause gab, stellte ihr Weinen und Schluchzen schließlich ein und beruhigte sich in dem Gefühl, daß, was es auch sein möge, der nächste Tag ihr jedenfalls Gewißheit bringen müsse. –

Auf dem Kapellchen läutete es zum ersten Mal, als man am anderen Morgen zwischen fünf und sechs vom Gerichtskretscham in einem starken Trupp aufbrach, denn es hatten sich ihrer erheblich mehr eingefunden, als anfänglich erwartet worden war. Außer den drei Herren vom Abend vorher, unter denen jetzt Gerichtsmann Klose den Skatspieler völlig abgestreift hatte, waren auch der Lehrer und ein junger Forstaspirant erschienen, findige Leute, die zu sehen und zu beobachten verstanden. Ebenso hatte sich ein Grenzaufseher, mit dem Gewehr am Bandelier, ihnen angeschlossen. Was sonst noch folgte, waren Führer und Dienstleute, mit allem ausgerüstet, was zu solcher Suche herkömmlich gehörte: Stricke, Leitern, Spaten und Aexte. Eine frische Brise kam von der Koppe her und erleichterte wenigstens einigermaßen das Steigen, das bei der trotz früher Stunde schon stechenden Sonne ziemlich beschwerlich fiel. Von Kirche Wang ab hatte man Waldesschatten, und als es unten im Thale sieben schlug, war man oben auf der Hampelbaude, wo zunächst Rast gemacht und nach Befund dessen, was man dort erfahren würde, der weitere Vormarsch verabredet werden sollte. Der Wirth wurde gerufen und bestätigte, daß Opitz, von den Holzschlägern kommend, am Sonnabend um die achte Stunde dagewesen sei und nach kurzem Aufenthalt seinen Weg nach der Riesenbaude zu genommen habe, vielleicht an den Teichen vorüber und dann über den Kamm hin, aber vielleicht auch den neuen schmalen Querweg entlang, der beim Quell und dem Steintrog in den großen Gehängeweg einmünde. Noch ein paar andere Fragen wurden gestellt, vor allem auch, wer sonst noch oben genächtigt habe, worauf der Wirth berichtete, daß nur Berliner oben gewesen seien und Lehnert Menz aus Wolfshau.

Dieser Name, wenn auch nur kurz hingeworfen, bewirkte doch, daß sich die Gerichtsmänner unter einander ansahen; aber kein Wort wurde laut, und nachdem man einen Imbiß genommen hatte, brach man wieder auf, um auf dem vom Wirthe bezeichneten schmalen Querpfade – denn daß Opitz auf die Teiche zugegangen sei, war nicht wahrscheinlich – den Weg nach dem Gehänge hin einzuschlagen. In einer Art Treiben ging man dabei vor, derart, daß der alte Gerichtsmann und drei, vier von den Gebirgsführern den eigentlichen Weg einhielten, während, was sonst noch verblieb, zu beiden Seiten des Weges ausschwärmte. Die Geduld einzelner – die hier oben, wo nur Kusseln standen, wieder arg von der Stichsonne zu leiden begannen – erschöpfte sich bereits, und schon hörte man, daß es eine nutzlose Quälerei sei, als Lehrer Lösche, der die rechte Seitenkolonne führte, plötzlich ein Volk Krähen auffliegen sah. Krähen! Das wäre an und für sich nichts Sonderbares gewesen, aber es waren ihrer zuviel, und so sagte denn Lösche: „Paßt Achtung, Kinder! Ich wette, da giebt es was.“ Und von einer starken Vorahnung erfüllt, daß sich ihm, auf zehn Schritt Entfernung, etwas Grausiges vor Augen stellen würde, schritt er jetzt langsam und zögernd weiter und suchte nach vorn hin mit seinen Blicken. Richtig, da lag jemand. Aber wer? War er es? Was man zunächst sah, war nur die Mütze, die das Gesicht halb zudeckte, daneben ein blinkender Gewehrlauf, alles andere barg sich noch hinter einem Busch, dessen blätterreiches Gezweigs den Todten wie hinter einem Schirm versteckte. Lösche wußte: noch drei Schritt, so mußte sich’s zeigen. Und sich einen Ruck gebend, trat er von links her um das Gezweige herum und sah nun den Todten ausgestreckt vor sich. Es war Opitz. Aber das Grauen, auf das sich Lösche gefaßt gemacht hatte, blieb aus und er empfing nur den Eindruck eines erschütternden Todesernstes. Wenn dieser Mann sich jahrelang durch mitleidslose Strenge vergangen hatte, so hatte sein Tod seine Strenge gesühnt und mehr noch die Art, wie er diesem Tod ins Auge gesehen und sich auf ihn vorbereitet hatte. Lösches Auge ging der Blutspur nach, die sich oben von dem Busch her, wo der Tobte jetzt lag, bis zu dem schmalen Querpfade hinabzog. Es war ersichtlich, daß sich der auf den Tod Getroffene nur mit höchster Anstrengung von dem kaum zehn Schritt entfernten Wege bis zu der ansteigenden Stelle hinaufgeschoben und hier, um gegen die Sonne oder vielleicht auch nachts gegen die Kälte geschützt zu sein, sich unter die Zweige des Busches gebettet hatte. Dann, als er sein herannahendes Ende gefühlt, hatte er sich zum Sterben zurecht gelegt, und so lag er nun da, die Jagdtasche unterm Kopf, das Gewehr links neben sich, die Hände gefaltet und im Antlitz die Ruhe des Todes, aber freilich auch die Spuren vorangegangenen Kampfes.

Inzwischen waren auch die anderen herangekommen, und da standen sie nun erschüttert und stumm. Zuletzt nahm Gerichtsmann Klose seine Kappe vom Kopf und sagte: „Beten wir!“ So verging eine Weile. Dann, als sich die Köpfe wieder bedeckt hatten, wurden auch einzelne Worte laut, und der Alte stellte nun zur Frage, wie man den Tobten am besten nach Wolfshau hinabschaffe. Einen Handwagen oder auch nur eine Karre von der Hampelbaude herbeizuholen, wurde, wegen zu weiter Entfernung, abgelehnt und statt besten beschlossen, zwei zusammengebundene Leitern als Tragbahre zu benutzen. Das geschah denn auch, und nun legte man den Todten hinauf und bedeckte sein Gesicht mit Zweigen desselben Busches, unter dem man ihn gefunden hatte. Gleich danach setzte sich der Zug in Bewegung und schritt auf den Punkt zu, wo der Querpfad in den breiten Gehängeweg einmündete. Hier endlich fand er Waldesschatten, und als man aus dem Quell getrunken und sich auf der Bank an der anderen Seite des Weges eine kleine Weile ausgeruht hatte, nahm man die Leiterbahre wieder auf und schritt das steile Gehänge weiter hinab. Die mit jeder Viertelstunde wachsende Gluth erschwerte den Abstieg, aber mit Hilfe häufigen Trägerwechsels war es doch möglich, in einem ziemlich raschen Marschtempo zu bleiben, und ehe es noch auf dem Kapellchen Mittag läutete, passierte man das Gatter und trat auf das mit Kusseln besetzte Waldvorland hinaus, darauf Lehnert zwei Tage zuvor den Schulkindern begegnet war und in ihren Gesang mit eingestimmt hatte. Die Straße lief von hier aus beinah’ geradlinig auf die Försterei zu; da man aber der armen Frau den Todten nicht unmittelbar vor Gesicht führen, sie vielmehr erst vorbereiten wollte, so bog man links in einen in mäßiger Schrägung wieder ansteigenden Querweg ein, der sich schließlich bis auf die hochgelegene Krummhübler Chaussee hinaufschlängelte. Die Stelle, wo der Querweg die Chaussee traf, hieß „der goldene Frieden“ und war ein hochgelegener Punkt, von dem aus man nicht nur das langgestreckte Dorf Krummhübel überblicken, sondern auch auf einem mäßig hohen Vorsprung den alten Gerichtskretscham deutlich erkennen konnte, zu dessen Häupten eben die Mittagssonne flimmerte. Das war das Ziel. Dort sollte der Todte zunächst niedergelegt und über alles weitere befunden werden.

Eine Viertelstunde später hatte man den Kretscham erreicht, aber nicht mehr allein. Alles, was in dem Oberdorfe wohnte, hatte sich angeschlossen und stand nun draußen und wartete der Dinge, die kommen würden. Am zahlreichsten waren natürlich die Wolfshauer erschienen, unter ihnen auch Lehnert. Er begrüßte diesen und jenen, und wiewohl ihn Blicke trafen, aus denen er einen Verdacht herauslesen konnte, so war doch niemand da, der ihm Wort oder Handschlag versagt hätte. Manche traten freilich bei Seit’, aber mehr um untereinander ihre Zustimmung zu dem Geschehenen, als ihren Abscheu davor auszusprechen.

„Er hat einen schweren Tod gehabt.“

„Und wir vorher ein schweres Leben.“

Gleich daneben stand eine zweite Gruppe, die noch leiser sprach.

„Wer’s ihm nur gegeben hat?“

Wer? Das is gleich. Ob sie’s ihm beweisen können, das is die Frage.“

[115] In der großen Stube des Gerichtskretschams hatte man den Todten auf eine Tischplatte gelegt und ihn bis hoch hinauf mit neu abgebrochenem Gezweige bedeckt; nur Brust und Kopf waren frei. Klose trat heran und hatte vor, mit der Protokollaufnahme zu beginnen. Aber der Marsch im Sonnenbrand war doch so beschwerlich gewesen, daß er davon Abstand nehmen und nicht bloß um der andern, sondern auch um seiner selbst willen ein kurzes Ausruhen in einer kühlen schattigen Rebenstube vorschlagen mußte, welche Pause dann freilich von der draußen harrenden Menge sofort dazu benutzt wurde, in den bis dahin abgesperrten Saal vorzudringen. Auch Lehnert war unter denen, die sich herzudrängten, blieb aber in Nähe der Thür und mied es, vor das Angesicht des Todten zu kommen.

In der kühlen schattigen Nebenstube hatte sich inzwischen alles zusammengefunden, was zur Obrigkeit gehörte, Fragen und Vermuthungen aller Art, wie sich denken läßt, waren ausgetauscht worden, und als schließlich auch einige Gerichtspersonen von Arnsdorf und Giersdorf her erschienen, trat Klose von der Rebenstube her wieder in den Saal und sagte: „Wir wollen nun anfangen. Ich werde Fragen stellen und drüber wegsehen, daß hier ihrer viele sind, die besser draußen wären und geduldig abgewartet hätten, ob wir ihrer Aussage vielleicht bedürfen werden. Zunächst aber geben wir dem Todten das Wort. Sein Blut verklagt seinen Mörder. Er hat aber auch gesprochen, als er noch bei Leben war, und seine letzten Worte halte ich hier in Händen.“

Und der alte Gerichtsmann zog ein Notizbuch aus der Tasche, das er unmittelbar nach Auffindung des Todten zu sich gesteckt und gleich danach, am ersten Rastplatz schon, einer flüchtigen Einsicht unterzogen hatte.

Dies ist Opitz’ Notizbuch,“ fuhr er fort. „Als Opitz wußte, daß er in aller Einsamkeit sterben müsse, hat er mit schwerer Hand seinen letzten Willen hier eingeschrieben. Alles nur kurz und abgerissen und Blutstropfen dazwischen.“

Alles drängte bei diesen Worten näher, und die zu hinterst standen, hoben sich auf die Fußspitzen, um kein Wort zu verlieren.

„Die Kräfte verlassen mich,“ so begann jetzt der alte Gerichtsmann aus Opitz’ Notizbuch vorzulesen. „Geschossen bin ich um die neunte Stunde . . . Wenn ich sterben sollte, eh’ ich gefunden werde, so wisse man, daß ich von einem Wilddiebe geschossen bin, der war ganz nahe mit Doppelflinte, wahrscheinlich ein Böhmischer, ziemlich groß in braunem Rock und Hut und falschem Bart .. . Eltern und Geschwister, lebet wohl, und Du, meine gute Frau, der ich viel abbitte, lebe wohl! Ich bitte den Herrn Grafen, daß er Euch versorge, da ich mein Blut in seinem Dienst vergossen habe . . . Lebet wohl; Gott sei mir gnädig! Betet für mich! Ich habe große Schmerzen. Guter Gott, erbarme Dich meiner. Herr Graf, sorge für die Meinigen, ich habe mein Blut für Dich vergossen . . . Ich schreie so sehr und habe mein Gewehr abgeschossen, daß man mich höre, aber kein Mensch hört mich. O Gott, erlöse mich! Betet für mich und denket nicht auf Rache . . . Gott vergebe meinem Mörder und erbarme sich meiner . . . Meine Leiden sind groß.“

Als Gerichtsmann Klose diese seine Vorlesung geschlossen und das Notizbuch wieder zu sich gesteckt hatte, ging ein Gemurmel durch den Saal. Es war das Gemurmel der Theilnahme, der Zustimmung, des Erschüttertseins. Opitz war wenig beliebt gewesen und unter denen, die da standen, Männer und Frauen, waren viele, die seinen Tod mehr als einmal gewünscht hatten; aber nach Anhörung dieser Worte regte sich doch das Mitleid. Und daß er so sehr für seine Frau bat, für dieselbe Frau, der er viel Herzeleid angethan hatte, der er nun aber auch abbat, das versöhnte mit ihm, und eine der Frauen sagte: „Wer das gedacht hätt’.“

Der alte Gerichtsmann unterbrach diese dem Todten so günstige Stimmung nicht, und erst als sich die Erregung gelegt hatte, nahm er die Verhandlung wieder auf: „Und nun frag’ ich nach dem Mörder! Wer war es? In dem Notizbuch heißt es, daß es ein Böhmischer war . . . Ich glaube nicht, daß es ein Böhmischer war; ich glaube, daß wir ihn hier auf unserer Seite suchen müssen und daß er, wenn wir alles sehen könnten, was sich klug verbirgt, daß er vielleicht in diesem Saale zu finden wäre.“

Während Klose so sprach, sah er absichtlich nur auf den Todten und vermied es, weil er nicht vor der Zeit den ganz bestimmten Ankläger machen wollte, nach der Stelle hinzusehen, wo Lehnert stand. Aber seine Vorsicht war nicht mehr von nöthen; inmitten der Aufregung, welche durch die Vorlesung der Notizbuchblätter hervorgerufen worden war, hatte sich Lehnert aus dem Saal entfernt, unbekümmert darum, ob sein Verschwinden auffallen werde oder nicht.


13.

Vom Gerichtskretscham aus bis zum „Goldenen Frieden“ war die Dorfstraße leer, und erst als Lehnert an dieser Stelle links einbiegen und auf dem mehrerwähnten Schlängelpfade nach dem tiefer gelegenen Wolfshau hinunter wollte, sah er Frau Opitz auf eben diesem Schlängelpfade herankommen und trat seitab in den Schatten eines hier stehenden Schuppens, um nicht gesehen zu werden. Frau Opitz sah ihn auch wirklich nicht und schritt ihrerseits auf den Gerichtskretscham zu, wo sie, wie man ihr in Wolfshau gesagt hatte, den Todten finden würde. Jeder war erschüttert, als sie hier in den Saal trat und dem Todten das Haar aus der Stirn strich und ihn küßte, und wenn sich schon vorher ein Stimmungsumschlag zu Gunsten Opitz’ gezeigt hatte, so vollends jetzt. Die Männer hielten wohl noch zurück, aber die verheiratheten Frauen fuhren mit dem Schürzenzipfel nach dem Auge, wenn sie nicht geradezu schluchzten und weinten. Einige drängten sich an die nun Verwitwete heran und baten, sie nach Hause begleiten zu dürfen, wobei sie hoffen mochten, noch ’was Besonderes zu hören. Die gute Frau war aber entweder zu schwach oder wollte sich nicht von dem Todten trennen, jedenfalls nahm sie statt der Anerbietungen ihrer Wolfshauer Nachbarsleute lieber das Anerbieten der Kretschamwirthin an und setzte sich zu dieser in die Küche. Das geschäftige Treiben hier that ihr wohl und zerstreute sie, denn sie hatte den Hausfrauensinn, der sich auch in diesem Augenblicke nicht verleugnete.

Drinnen im Saale war mittlerweile das Bild ein anderes geworden. Es gab nichts mehr zu hören und zu sehen, und so verliefen sich die bloß aus Neugier Herzugeströmten, und nur die, die wegen des Protokolls pflichtmäßig zu bleiben hatten, blieben noch und suchten sich über einige fragliche Punkte zu einigen. Die That selbst lag klar vor. Aber die Frage „wer“ blieb durchaus unentschieden und wurde durch Opitz’ Aufzeichnungen, der auf einen „Böhmischen“ gerathen hatte, mehr verwirrt als aufgeklärt.

„Es war kein Böhmischer,“ wiederholte Gerichtsmann Klose, der seinen ohnehin starken Verdacht gegen Lehnert durch das plötzliche Verschwinden desselben nur noch bestätigt sah, „es war kein Böhmischer, und wenn ich Bestimmung zu treffen hätte, so brächen wir in dieser Minute noch auf, um Lehnert Menz in Verhaft zu nehmen. Alles deutet auf ihn, auf ihn und keinen andern. Er hat Sonnabend sechs Uhr Wolfshau verlassen, ist das Gehänge hinaufgestiegen, und die Schulkinder haben ihn gesehen. Um acht Uhr muß er oben gewesen sein, um neun Uhr ist es geschehen, um zehn Uhr war er auf der Hampelbaude. Niemand anders ist im Wald oben betroffen worden. All das sagt genug. Zudem wissen wir, daß er noch von 1870 her einen Span mit Opitz hatte, und als vorhin alles, was draußen war, in den Saal drängte, hat er immer im Hintergründe gestanden, statt mit in vorderster Reihe zu stehen, wie doch sonst wohl seine Art ist; und als das Notizbuch von mir vorgezeigt und sein Inhalt verlesen wurde, da hat er’s nicht ertragen können und ist davongegangen. Das alles hat mir den Beweis gegeben. Und ich wiederhole, der, der diesen Mord auf seine Seele geladen hat, ist kein anderer als Lehnert Menz.“

Die Mehrzahl stimmte zu. Nur der jüngere Gerichtsmann, der in einer Art Eifersucht gegen den alten Klose war, unterhielt allerlei Zweifel, oder gab es wenigstens vor, und brachte diese Zweifel auch zum Ausdruck. Alles, was eben gesagt worden, sei, seiner Ansicht nach, viel zu schwach, um darauf hin eine Verhaftung vornehmen zu können. Es lasse sich schlechterdings nicht sagen, niemand anders sei oben im Gebirge gewesen, im Gegentheil, man wisse nie, wer oben gewesen und wer nicht. Lehnert [116] Menz sei gescheit und umsichtig, und gerade, daß er auf der Hampelbaude vorgesprochen und genächtigt habe, das beweise sein gutes Gewissen. Auch daß er sich hier im Saal immer an der Thür gehalten und die Vorlesung der letzten Worte kaum abgewartet habe, spreche nicht so sehr gegen ihn, als es scheine, wohl aber spreche das für ihn, daß er der erste gewesen sei, der auf Hilfe gedrungen habe. Ja, rasche Hilfe, das sei das einzig Richtige gewesen, und er für seine Person beklage jetzt aufrichtig, daß man nicht gleich gestern abend diese Hilfe geleistet habe. „Mondschein war. Und vielleicht hätten wir ihn um Mitternacht noch am Leben gefunden.“

Auch diese Rede wurde beifällig angenommen, was den alten Klose sichtlich verstimmte, und weil man sich, wie das so leicht geschieht, infolge dieser immer persönlicher werdenden Fehde nicht recht einigen konnte, stand man eben auf dem Punkt, die Frage nach der Täterschaft vorläufig wenigstens ganz fallen zu lassen, als der Grenzaufseher und gleich nach ihm der junge Forstgehilfe, die man beide zu weiterer Nachforschung an Ort und Stelle zurückgelassen hatte, voll großer Aufregung eintraten. Sie waren erschöpft, denn es war immer schwüler geworden; trotzdem ließ sich unschwer von ihrer Stirn lesen, daß sie gute Botschaft brachten und ihr Suchen nach einem Anhaltspunkte nicht vergeblich gewesen war.

„Nun, Ihr Herren,“ empfing sie der alte Klose mit der ihm eigenen Gemüthsruhe. „Was bringt Ihr? Aber erst einen Cognac und dann Euren Bericht. Eine Bärenhitze! Maywald, wir wollen Thür und Fenster aufmachen. So! Nun herangerückt! Und nun, Ihr Herren, was giebt es?“

Der Grenzaufseher, welcher der ältere war, nahm zunächst das Wort und erzählte mit vieler Anschaulichkeit, wie sie, nach Ausmessen der Fußspuren – denn ’was anderes habe sich nicht finden lassen wollen – nahe dran gewesen seien, unverrichteter Sache wieder umzukehren, als sein Kamerad, und hierbei wies er auf den jungen Forstgehilfen, eines angebrannten Papierstückchens ansichtig geworden sei, das an der abgestochenen schmalen Lehmwand des Weges geklebt habe. Dies Papierstückchen sei, wie sie gleich vermuthet, ein Schußpfropfen gewesen, was sie denn bestimmt habe, dasselbe sorglich auseinander zu fallen und zu glätten. Hier sei es und könne vielleicht zur Entdeckung des Thäters führen; denn es sei, wie leicht zu sehen, kein gewöhnliches Stück Zeitungspapier, sondern ein Stück von einem alten Kalender, und der Monat sei noch halb und die Jahreszahl 1816 noch ganz deutlich zu lesen. Er glaube, daß das wichtig sei; denn in demselben Hause, drin man einen alten Kalender von 1816 finde, werde man muthmaßlich auch den Mörder zu suchen haben.

Alles war unter diesem Berichte des Grenzaufsehers in Aufregung gerathen, weil jeder fühlte, daß die nächste Stunde schon das Geheimniß aufklären müsse. Natürlich war eine Haussuchung nöthig, und zur Frage stand nur noch das eine, bei wem damit begonnen werden solle.

„Bei wem anfangen?“ fragte der Alte.

„Bei Lehnert Menz,“ antwortete der Forstgehilfe.

„Gut! Und wann?“

„In dieser Minute noch. Denn er hat viel Freundschaft hier herum, und erfährt er, was wir Vorhaben, oder wohl gar, wonach wir suchen, so wandert der Kalender in den Ofen oder er selber in die Welt. Er hat es schon lange vor.“

Alle waren einverstanden. Nur einige wenige blieben im Kretscham zurück, der Rest aber ging auf Wolfshau zu.

Bei der großen Hitze, die herrschte, zog man es vor, die ganz in greller Sonne liegende Chaussee zu vermeiden und lieber von dem hochgelegenen Kretscham aus gleich nach links hin bergab zu steigen, um hier, im Schatten der Berglehne, den Weg an der Kühlung gebenden Lomnitz hin zurückzulegen. Unterwegs wurden einige wieder unsicher und Zweifel ließen sich hören, die, wenn sie nicht geradezu von dem jüngeren Gerichtsmann ausgingen, so doch wenigstens durch eben diesen genährt wurden. Ein halbverbrannter Papierpfropfen sei gefunden worden, so viel stehe fest, aber dieser Papierpfropfen brauche keineswegs aus dem Gewehre des Wilddiebs zu stammen. Auch Opitz habe geschossen, wenn nicht im Kampf, worüber sich vielleicht streiten lasse, so habe er doch jedenfalls ein paar Noth- und Signalschüsse abgegeben, was aus seinen eigenen Aufzeichnungen hervorgehe. Solcher Aeußerungen wurden hinten im Zuge mehrere laut, aber an der Spitze der Kolonne, wo neben Klose der aus Erdmannsdorf herbeigekommene Gendarm Brey marschirte, hielt man an der einmal gefaßten Meinung fest und war nur einigermaßen überrascht, als man im Näherkommen an das Inselchen und seine Stellmacherei Lehnert Menz gewahr wurde, welcher unter der Thür stand und damit beschäftigt war, ein paar überhängende Rosenzweige mit Bast wieder zurück an den Stamm zu binden.

So wenigstens schien es. Er stand abgewandt und sah sich bei seiner Arbeit erst um, als er den Tritt der Herankommenden auf der kleinen Bohlenbrücke hörte. Daß er zusammenfuhr und sich verfärbte, sah niemand. Entschlossen ging er dem Trupp bis an den Brückensteg entgegen und begrüßte den alten Gerichtsmann.

„Ich weiß, Gerichtsmann Klose, weshalb Sie kommen.“ Dabei zog er den Hut und trat respektvoll bei Seite. Der Angeredete lächelte.

„Nun gut, Lehnert, wenn Ihr wißt, weshalb wir kommen, so werdet Ihr auch nicht erstaunt sein, wenn wir vorsichtig sind und Eure kleine Festung absperren und die Brückenstege besetzen. Ich will Euch und uns wünschen, daß sich schließlich alles als ‚nicht nöthig gewesen‘ herausstellen möge. Vorläufig aber muß ich Euch bitten, voranzugehen und dafür zu sorgen, daß wir Euch im Auge behalten. Im übrigen sollt Ihr, vor der Hand wenigstens, persönlich unbehelligt bleiben, denn es handelt sich nicht um Eure Person, sondern um eine Sache. Wir sind nämlich hier, um Euer Haus nach einem falschen Bart zu durchsuchen“

Der alte Klose sagte das so hin, um den unter Verdacht Stehenden auf eine falsche Fährte zu führen und dadurch sicher zu machen, was auch glückte. Lehnert stieg voran schreitend die Steintreppe hinan, während der Gerichtsmann und der junge Fachgehilfe folgten. Gendarm Brey aber postierte sich vor der Vorderthür und überwachte von dieser seiner Hochstellung aus die durch den anderen Trupp erfolgende Besetzung der beiden Brückenstege.

In der Stube begann inzwischen ein Wehklagen und Geschrei. Die alte Menz warf sich dem Gerichtsmann zu Füßen, küßte dem jungen Forstgehilfen die Hand und schwor und jammerte, daß sie unschuldig sei und von nichts wisse, und daß Lehnert auch unschuldig sei und ein frommes Gemüth habe, was ja der liebe Pastor Siedenhaar bestätigen könne, der ihn auf die Freischule geschickt, weil er immer die Sprüche so gut gelernt und immer neben der Orgel gestanden und am besten gesungen habe. Ja, so sei das Lehnertchen immer gewesen, ein frommes Gemüth und kränke keinen und keine Fliege nich an der Wand. Und was die Leute gesagt haben und was auch Opitz gesagt habe, – Gott hab’ ihn selig, denn er war ein engelsguter Mann, und nun gar erst die Frau, die gab all und jedem, – das sei nicht wahr und alles bloß gelogen, weil es so viel schlechte Menschen gebe, die einem nichts gönnen, und sie seien unschuldig. Und wenn sie vor Gottes Thron stünde und sie sollte es anders sagen, so könnte sie nicht anders sagen, als daß sie unschuldig seien und Lehnert auch, denn er sei immer ein frommes Kind gewesen, und Siebenhaar unten in Arnsdorf . . .

In diesem Augenblicke wurde der junge Forstgehilfe, während die Hände der Frau Menz die Kniee des alten Klose nach wie vor umklammert hielten, einiger an einer Bindfadenschlinge hängender Kalenderblätter gewahr und machte Miene, darauf zuzuschreiten. Lehnert, der mit klugem Auge jeder Bewegung gefolgt war, wußte, daß man ihn jetzt in Händen habe.

„Laß doch, Mutter!“ rief er dieser in erkünsteltem Zorne zu, während er die Knieende vom Boden aufriß, „was erniedrigst Du Dich? Ich will das nicht. Ich kann das nicht mit anseh’n.“

Und die kleine Frau heftig schüttelnd, schob er sie, scheinbar nur um dem Geschrei und Gewimmer ein Ende zu machen, aus die Thür und den Flur zu.

Der mittlerweile ganz an seine Fährte gebannte Forstgehilfe war, ohne für das, was sonst in der Stube vorging, einen Blick zu haben, an die vergilbten Blätter herangetreten und hob sie sammt dem Faden, daran sie hingen, vom Nagel. Und schon das erste, worauf sein Auge fiel, war das, wonach er suchte.

„Wir haben ihn!“ Und triumphirenden Auges an den alten Gerichtsmann herantretend, wies er auf die Jahreszahl oben rechts in der Ecke. „Wir haben ihn!“

Und unter diesen Worten eilte man nach dem Flur hinaus, um Lehnert, dessen Schuld nun klar war, in Verhaft zu nehmen. Aber wo war er? Die Alte lag draußen, in wirklicher oder erheuchelter Ohnmacht, jedenfalls unfähig oder unwillig, auf die stürmisch an sie sich richtenden Fragen Antwort zu geben. Wo war er?

Die Brückenstege waren nach wie vor besetzt, so mußt’ er [118] denn, wenn nicht ein Wunder geschehen war, im Hause selbst irgendwo verborgen sein. Und bis unter das Dach hin wurde nun jeder Winkel und Beischlag untersucht und die Suche bis in Schuppen und Milchkeller fortgesetzt. Man durchwühlte das Heu, die Hobelspäne, selbst in den Rauchfang stieg man hinauf und wurde nicht müde, das oberste zu unterst zu kehren. Alles umsonst. Die Alte wußte nichts. Er war fort.


14.

Sechs Jahre waren hin, und wieder war Sommer, als ein schlank aufgeschossener Mann von Mitte dreißig, der in seinem Aufzuge halb einem Cooperschen Trapper und halb einem Bret Harteschen Kaliforiner aus den Goldfeldern, den „Diggings“ glich, auf einem bequemen Waldpfade zu den Shawnee-Hills emporstieg, einem ausgedehnten, südlich vom Staate Kansas in den sogenannten „Indiair-Territories“ gelegenen Gebirgszuge. Er kam vom Fort Mac Culloch, das er schon tags vorher verlassen, und hoffte noch vor abend in dem an der andern Seite der Shawnee-Hills gelegenen Fort Holmes zu sein, an dessen Befehlshaber er einen Empfehlungsbrief hatte. Der Brief selbst aber lautete:

„. . . Dem Kommandierenden von Fort Holmes empfehle ich den Ueberbringer dieser Zeilen, Mr. Lionheart Menz, aus San Francisko, einen Preußen (aus Silesia) von Geburt, der bei Gelegenheit des letzten Eisenbahnunfalls nach Fort Mac Culloch gebracht und von uns in mehrwöchige Pflege genommen wurde. Er hatte einen Bruch des linken Oberarms erlitten. Mr. Lionheart Menz hat sich hier unser aller Herzen gewonnen. Er war, eh’ er nach San Francisko ging, mehrere Jahre lang in den Diggings, kam daselbst zu Vermögen und hatte vor, von San Francisko nach Portland und von Portland nach Shanghai zu gehen, um daselbst in ein Geschäft einzutreten, als der Zusammenbruch der Neu-Mexiko-Bank ihn fast um sein ganzes Vermögen brachte. Von neuem anzufangen, war er unlustig, und so hat er denn vor, es wieder als Zimmermann zu versuchen, am liebsten, seiner eigenen Angabe nach, in der Brettschneidebranche, weshalb er an den Mississippi will, wahrscheinlich nach St. Louis und, wenn er dort scheitert, nach Milwaukee, Wisconsin. Er ist, wie alle Deutschen, musikalisch, wovon er uns Proben gab, trotzdem ihm die ganze Zeit über nur die rechte Hand zur Verfügung war. Jetzt ist er vollkommen wieder hergestellt, und Ihr werdet zu Spiel und Tanz mehr von ihm haben als wir. Sein eigentliches Instrument ist die Zither, hierlandes wohl schwer zu beschaffen, aber er knipst auch auf der Violine, meistens mit einer Federspule, was allemal eine vorzügliche Wirkung macht. Er hat den Wunsch ausgesprochen, seine Weiterreise, zunächst wenigstens, zu Fuß machen zu dürfen, weil er sich nach so vielen Wochen von Unthätigkeit nach Bewegung und Anspannung sehnt. Wir haben seinem Wunsche gern willfahrt und ihm zwei von unseren Cherokeeleuten als Führer und Träger mitgegeben. Unsere Bitte an Euch geht nun dahin, ihm in Fort Holmes gastlich begegnen zu wollen, mit jenem Entgegenkommen, das Ihr immer übt und das sich in diesem Falle doppelt belohnen wird. Er ist nämlich, von seiner Musik ganz abgesehen, über deutsche Zustände gut unterrichtet, war Anno Siebzig in der Nähe des deutschen Kronprinzen und hat den Einzug in Paris unter Bismarcks Augen mitgemacht. Daß seine Stellung in jenen Tagen eine hervorragende gewesen sei, wird sich kaum annehmen lassen, aber er hat doch den Vorzug, von allem damals Erlebten erzählen zu können. Ich empfehle mich Eurer kameradschaftlichen Geneigtheit.

Henry Wood, Kommandant von Fort Mac Culloch.“

So der Brief, der das, was Lehnert in den letzten sechs Jahren erlebt hatte, kurz erzählte. Ja, so war es gewesen: ein Vermögen war rascher hingeschwunden, als er es erworben hatte. Im übrigen war die Nachricht von dem Bankrott der Neu-Mexiko-Bank, so unvorbereitet sie ihn traf, ohne tiefere Bewegung von ihm aufgenommen worden, weil ihn dieser beinahe völlige Vermögensverlust rasch und mit einem Schlag einem im Lauf des letzten halben Jahres in San Francisko geführten Spekulationsleben entriß, das ihm eigentlich schon widerstand, während er es noch mitmachte. Ja, er sehnte sich aufrichtig danach, an die Stelle des mit deutschen und schweizerischen und vielfach auch mit französischen Abenteurern in den Diggings verbrachten Lebens und des schlimmern in der kalifornischen Hauptstadt wieder ein Leben voll Arbeit treten zu lassen, und die Reise nach dem Osten erschien ihm als der erste Schritt dazu. Selbst der Eisenbahnunfall, der ihn traf, war nicht dazu angethan, ihn anderen Sinnes zu machen. Im Gegentheil, die stillen Wochen in Fort Mac Culloch hatten ihn in diesen seinen Anschauungen nur noch gefestigt, und es war unter einem lange nicht gefühlten Behagen, daß er jetzt frisch und rüstig die Shawnee-Hills hinaufstieg, auf kaum fünfzig Schritt die beiden Cherokees vor sich, die seinen Koffer an einer über ihre Schultern gelegten Stange trugen. Von Zeit zu Zeit sahen sie sich nach ihm um, und ihr freundliches Grinsen, wenn er nach diesem oder jenem fragte, steigerte nur noch die Heiterkeit seiner Seele.

Gegen mittag hatten alle drei, nach mehrmaliger Rast, den Kamm des ziemlich hohen Gebirgszuges erreicht, und Lehnert sah nun weit und frei nach Norden hin. Alles, was da vor ihm lag, war ein wohl an sieben Meilen breites, von der von Galveston kommenden Bahn durchschnittenes Querthal, an dessen entgegengesetzter Seite das Land allmählich wieder anstieg, bis es abermals einen ziemlich hohen, dem diesseitigen Zuge der Shawnee-Hills entsprechenden Bergzug bildete. Dazwischen war wenig Leben. Von den Ortschaften an der Bahn hin waren nur die weiter entfernten sichtbar: Station Darlington und Station Gibson (letztere schon ganz drüben), während sich die verhältnißmäßig nahe gelegene Station Holmes sammt ihrem gleichnamigen Fort verbergen zu wollen schien. Erst als Lehnert die beiden Indianer herbeirief und nach dem Fort fragte, gaben sie seinem Auge die nöthige Richtung, und nun sah er (die Station blieb versteckt) wenigstens die vier gekupferten Thürmchen von Fort Holmes deutlich in der hellen Sonne blinken.

Und ehe noch sechs Uhr heran war, hatte sich Fort Holmes in aller Gastlichkeit aufgethan, trotzdem der mitgebrachte Empfehlungsbrief, und zwar infolge zufälliger Abwesenheit des Kommandanten von Fort Holmes, noch gar nicht seine Schuldigkeit hatte thun können. Als nun aber zwei Stunden später der Kommandierende wieder daheim war und den ausführlichen Brief seines Kameraden Henry Wood von Fort Mac Culloch gelesen hatte, steigerte sich das Entgegenkommen noch um ein Erhebliches, und Aufforderungen von beinah’ dringlicher Natur ergingen an Lehnert, auch in Fort Holmes eine längere Rast nehmen zu wollen. Lehnert aber, den ein ernstliches Verlangen erfüllte, dem vielwöchigen Nichtsthun ein Ende zu machen, blieb nur bis über den zweiten Tag. Am Morgen des dritten nahm er Abschied und schritt vom Fort aus auf das gleichnamige Stationsgebäude zu, das in kaum halbstündiger Entfernung gerade da, wo der Schienenweg aus dem Gebirge trat, in einer halbmondförmigen Ausbiegung am Saum eines Ahornwäldchens lag.

Die kleine Bahnhofsuhr von Station Holmes zeigte neun Uhr früh, als Lehnert daselbst eintraf. In einer Viertelstunde mußte der von Galveston nach dem Norden führende Zug da sein, er kam aber mit erheblicher Verspätung, so daß Lehnert und die wenigen Personen, die mit ihm auf dem Bahnsteige warteten, sich beim Einsteigen beeilen mußten. Die Wagen waren nur schwach besetzt und in demjenigen, in welchem sich’s Lehnert alsbald bequem zu machen suchte, befand sich nur ein einziger Mitreisender, ein junger Mann von achtzehn Jahren, der, wiewohl einigermaßen abweichend von der Mode gekleidet, trotzdem leicht erkennen ließ, daß er einem guten Hause zugehörte. Seine Züge verriethen den Deutschen, während andererseits die Sicherheit und Ruhe seiner Haltung mit gleicher Bestimmtheit zeigte, daß er, wenn auch vielleicht nicht in Amerika geboren, so doch jedenfalls amerikanisch geschult sei. Die Gegend schien er zu kennen. Er las, in die Ecke gedrückt, eine Zeitung und hatte den linken Arm auf eine Ledertasche gestützt, in deren Messingschild, wenn nicht alles täuschte, der Name des jungen Reisenden eingraviert war. Lehnert suchte denn auch das Eingravierte zu lesen, was ihm unschwer glückte. „Tobias Hornbostel“ stand in oberster Reihe, dicht darunter aber in etwas kleinerer Schrift: „Nogat-Ehre, Station Darlington, Indian-Territory.“ Das war beinah’ eine Biographie, mindestens eine volle Adresse. In Lehnert stieg, als er Namen und Ortsangaben entziffert hatte, eine alte Erinnerung auf, und wenn er schon vorher den Wunsch einer Gesprächsanknüpfung gehabt hatte, so steigerte sich dieser Wunsch jetzt bis zu festem Entschluß. Er wollte nur warten, bis der Mitreisende das Zeitungsblatt aus der Hand gelegt haben würde. Das war nun geschehen und Lehnert sagte: „Ihr seid ein Deutscher.“

Der, an den die Frage sich richtete, bejahte mit vieler Freundlichkeit und fragte dann seinerseits, woran er ihn erkannt habe.

„Nichts leichter als das,“ sagte Lehnert. „Du hast das [119] deutscheste Gesicht, das ich all mein Lebtag gesehen habe. Lache nur! Und siehst dabei so klar aus und so gut. Du gefällst mir.“

„Du nennst mich Du?“

„Und Du mich auch,“ fuhr Lehnert fort, „was mir nur beweist, daß ich recht habe. Du bist nicht bloß ein Deutscher, Du bist auch ein Mennonit. Und die Mennoniten nennen sich, glaub’ ich, ,Du’, ganz so wie die Quäker.“

„Daß ich nicht wüßte. Jedenfalls nicht immer.“

„Aber doch oft. Und wenn sie Tobias Hornbostel heißen, dann ganz gewiß. Nicht wahr?“

„Ja, dann gewiß,“ antwortete Tobias und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich sehe, Du hast gute Augen und hast Namen und Ort auf dem Messingschilde gelesen. Und aus ,Nogat-Ehre‘ hast Du den Schluß gezogen, daß ich ein Mennonit sein müsse.“

„Freilich. Aber Du triffst es nur halb. Schon Dein Name Hornbostel hätte mir alles gesagt, auch wenn ich den Ortsnamen Nogat-Ehre gar nicht gelesen hätte. Vor sechs Jahren, als ich eben herübergekommen, war ich in Dakota, wo sie damals die Schwellen und Schienen für die Nord-Pacific-Bahn legten, und in einem Dorfe, das uns wegen seiner Tieflage viel zu schaffen machte – wenn ich nicht irre, nannten sie’s Dirschau –, in eben diesem Dorfe waren Mennoniten, und der Oberste der Gemeinde hieß Hornbostel, Obadja Hornbostel, mir noch deutlich in Erinnerung, weil wir, verzeih’, über den Namen oft scherzten. Und ich weiß auch, daß die Rede davon war, in Obadja Hornbostels Farm einzutreten, wo’s uns jedenfalls besser ergangen wär’, als in unserem fiebrigen Sumpfloch. Aber ich hatte damals noch die Sehnsucht nach den Diggings hin, weil ich ein Narr war und reich werden wollte. Sonst hält’ ich’s wahrhaftig auf der Stelle versucht . . . Obadja Hornbostel, ein hübscher, aber etwas sonderbarer Name.“

„Das war mein Vater.“

Lehnert erschrak fast. „Aber das war ja doch in Dakota, neunhundert englische Meilen von hier.“

„Und ist doch so, wie ich sage. Wir waren erst in Dakota, da bin ich auch geboren, und meine Schwester Ruth auch. Und unsere Mutter ist da begraben. Und wir dachten auch in Dakota zu bleiben. Als aber ein Streit mit der Behörde kam und die klugen Herren, die man uns nach Dakota schickte, so thaten, als ob wir Mormonen seien, oder doch nicht viel anders, da machte der Vater kurzen Prozeß und zog aus wie Abraham, und die ganze Kolonie mit ihm, und diesen Herbst werden es fünf Jahre, daß wir hier sind und eine neue Heimath haben, in der man uns, bis jetzt wenigstens, nicht gestört hat. Erst sollt’ es wieder Dirschau heißen, so wenigstens wollt’ es der Vater, aber schließlich gab er es auf und nannt’ es wie die Gemeinde wollte. Und so wohnen wir denn in ,Nogat-Ehre‘.“

Lehnert sah nachsinnend in die Landschaft hinaus. Erst nach einer Weile nahm er das Gespräch wieder auf und sagte: „Glaubst Du, daß Dein Vater mich brauchen kann?“

Tobias schwieg.

„Du schweigst. Und ich sehe daraus, Ihr seid sehr wählerisch geworden seit Dakota.“

„Nein. Das nicht. Ich überlege nur, wie’s wohl ginge.“

„Das soll Euch keine Sorge machen. Ich habe von Kind auf Schwielen an meinen Händen gehabt und wenn ich sie hatte, war mir immer am wohlsten. Ich will Deinem Vater in der Wirthschaft helfen, pflügen und graben, wenn es sein muß, und das Vieh austreiben. Ich weiß mit Axt und Säge Bescheid und kann Uhren reparieren und Dach decken, mit Schindel und mit Stroh, und einen Stollen in den Berg schlagen. Und ich kann auch die Schreiberei besorgen und werde mich überhaupt schon nützlich machen.“

Toby nickte. Als aber Lehnert gleich danach in Erfahrung brachte, daß man in weniger als einer halben Stunde schon auf Station Darlington eintreffen werde, ließ er das Thema, das er vorläufig als erledigt ansah, fallen und sprach statt dessen von Utah und den Heiligen am Salzsee und zuletzt auch von Kalifornien.

„Kennst Du Kalifornien?“ fragte Toby.

„Nur zu gut! Was ich in vier Jahren in den Diggings erworben, bin ich in vier Monaten in San Francisko wieder los geworden. Aber es ist gut so. Ich habe nie am Gelde gehangen und will nur frei sein. Ist Dein Vater streng? Ein großer Befehlshaber?“

„Er befiehlt nie. Er sagt nur: ,Ich denke, wir machen das so.‘“

Lehnert lachte: „O, das kenn’ ich, das ist die fromme Form, aber es läuft auf dasselbe hinaus. Uebrigens ist’s mir gleich. Wo Verstand befiehlt, ist der Gehorsam leicht. Bloß der Befehl rein als Befehl, bloß hart und grausam, da kann ich nicht mit, das kann ich nicht aushalten.“

Toby sah ihn groß an. „Das ist recht, was Du da sagst. So denk’ ich auch und so denken wir alle. Und wenn Du so bist, da bin ich auch sicher, Du wirst dem Vater gefallen. Er hat es gern, wenn man frei spricht und eine Meinung hat. Aber eine Form muß es haben, darauf hält er.“

Unter diesem Gespräche hatte man Darlington erreicht, und beide stiegen aus. Ein kleines Ponygefährt war schon vorher bis dicht an das Stationsgebäude herangefahren und ein junges Mädchen von kaum sechzehn Jahren hielt die Zügel in Händen. „Grüß Dich Gott, Ruth!“ rief Tobias schon von weitem. Ein listig dreinschauender junger Cherokee, der den Dienst auf der Station hatte, stand neben dem Gefährt und wartete. Diesem warf das junge Mädchen mit großer Geschicklichkeit die Zügel zu, sprang vom Wagen und war im nächsten Augenblick in herzlichem Gespräch mit ihrem Bruder. Dies Gespräch aber drehte sich um Lehnert und ob man ihn nicht sofort nach Nogat-Ehre mit hinausnehmen solle, was die Schwester von ihrem Bruder Toby zu fordern schien. Und in der That trat dieser noch einmal an Lehnert heran und sprach in dem Sinne, wie’s Ruth gewollt hatte. Lehnert aber wollte, daß Toby erst bei seinem Vater anfrage, und so lehnte er es ab, sofort mitzugehen. Er werde die Nacht im Stationshause zubringen und am anderen Morgen auf die Farm hinauskommen. So sei’s am besten und Toby solle nur vorher schon für ihn sprechen und nichts von dem vergessen, was er ihm gesagt habe.

Damit trennte man sich, und eine Minute später rollte das Ponygefährt wieder in die Landschaft hinein. Toby fuhr jetzt, während Ruth den Arm um des Bruders Schulter gelegt hatte. Der blaue Schleier flog und an einer Biegung des Weges sahen sich beide noch einmal um und grüßten.

„Unschuld . . . “ sagte Lehnert. „Wer Dich hat, hat das Glück.“


15.

Am andern Morgen war Lehnert früh auf. Die Luft war frisch und steigerte das Wohlgefühl, das ihm ein guter und auskömmlicher Schlaf gegeben hatte; trotzdem aber war seine Zuversicht dahin und einem starken Zweifel gewichen, dem Zweifel, ob er, trotz seiner Unterredung mit Tobias, den Schritt auch thun und sich in Nogat-Ehre melden solle. Wie war sein Leben verlaufen? Unter Abenteuer und Gewaltthätigkeit und unter Auflehnung gegen Ordnung und Gesetz. Und er wollte sich bei den Mennoniten verdingen? Ja, wer waren denn die Mennoniten? Damals, als er noch in Dakota lag und abends beim Gin immer nur ein Witzeln über die Mennoniten hörte, die für reich galten und weiter nichts, da hätt’ es vielleicht gepaßt, weil er’s nicht besser wußte. Jetzt aber wußte er, daß es fromme Leute seien, fleißig und wahrheitsliebend und Feinde von Eid und Krieg, und in solche Friedensstätte wollt’ er einbrechen? Das durft’ er nicht; er gehörte nicht dahin, er war eine Störung, und wenn er keine Störung war und den Frieden der Friedfertigen nicht trübte, war er seinerseits der Mann, den Frieden, den er da vorfand, auch nur tragen zu können? Lag es nicht so, daß der Krieg sein einzig Stück glücklich Leben gewesen war? Und was verwarf der Mennonit mehr als den Krieg?

So sinnend, sah er auf das Bahngeleise, das auf kaum zehn Schritt Entfernung hart an ihm vorüber nach Norden führte. War es nicht besser, diesem eisern vorgeschriebenen Wege, wie er’s ursprünglich gewollt hatte, zu folgen?

Er überlegte noch, als er schräg neben der Bahn ein zierliches kleines Fuhrwerk über die Felder kommen sah, und ein zweiter rascher Blick war ausreichend, ihn erkennen zu lassen, wer die Herankommenden seien. Es waren die Geschwister, die gestern auf demselben Feldwege die Heimfahrt nach Nogat-Ehre gemacht hatten, und Ruths Schleier, der auch heute wieder wehte, nahm ihm den letzten Zweifel. Und mit diesem Zweifel fielen auch alle die Bedenken, die seit Stunden auf ihm gelastet hatten, wieder von ihm ab und es stand wieder fest in seiner Seele, daß er’s bei den Mennoniten versuchen müsse. Freudig erhob er sich und ging rasch auf den kleinen Wagen zu, der, eben die Schienen kreuzend, [122] mit geschickter Biegung auf den Hof des Stationsgebäudes fuhr. Derselbe junge Cherokee, der schon gestern bei Lehnerts Ankunft bereit gestanden hatte, sprang auch heute wieder dienstfertig hinzu, Tobias aber gab statt seiner der Schwester die Zügel in die Hand, sprang dann ab und begrüßte sich mit Lehnert. „Alles in Ordnung!“ sagte er. „Ich habe mit dem Vater gesprochen und es ist nun an Dir, in unsere Farm einzutreten und sein Hausmeier zu werden. Ob erster oder zweiter, wird sich zeigen. Er ist froh, einen Deutschen mehr in seinem Hause zu haben. Er sagte, die Deutschen seien die besten, auch wenn sie, verzeih, nichts taugten. Und nun erlaube mir, nachzuholen, was ich gestern versäumt habe, Dir meine Schwester Ruth vorzustellen; steig’ auf und setz Dich neben sie. Oder noch besser, wir setzen uns zwei beide auf den Rücksitz und Ruth kutschiert. Sie fährt nämlich wie ein Fahrer, ein Wort, das ich einem Landsmann von Dir verdanke.“

Während Toby noch weiter plauderte, lenkte das Wägelchen in den Feldweg ein, und die Bahn in immer weiter werdendem Abstande neben sich, ging es zwischen den Maisfeldern hin, deren hoher Stand den Wagen sammt seinen Ponies überragte. Schließlich war man aus den Maisfeldern heraus und gelber Raps lag vor ihnen, dessen Duft der Wind ihnen zutrug. Und dazu klangen die Glöckchen, wenn die Shettländer ihre langen Mähnen schlugen, um sich der Bremsen zu erwehren. Lehnert aber sog das alles begierig ein, und es war ihm, als flög er und als wären es alte Zeiten und als thäten sich Heimath und Glück noch einmal vor ihm auf.

„Ist das alles Euer?“ frug er und wies auf die Fruchtfelder links und rechts.

„Ja,“ sagte Toby, „das heißt, es ist alles Mennonitenland, alles Nogat-Ehre. Was aber dem Vater persönlich gehört, unsere Farm, das liegt nach der anderen Seite zu, das sollst Du morgen sehen, da steht es noch besser und der Klee geht bis über die Wagenräder. Du mußt nämlich wissen, der Vater ist ein großer Farmer und Landmann und liest alle Zeitungen und Zeitschriften, und was die Gelehrten anrathen, das schafft er an und scheut kein Geld. Nicht wahr, Ruth?“

Ruth nickte langsam und gravitätisch, ohne sich nach ihnen umzusehen, und Lehnert sah aus der halb komischen Art, in der diese Zustimmung erfolgte, daß Obadja zu den Neuerungsschwärmern gehören müsse. Ueberhaupt könnt’ er wahrnehmen, daß das Gemisch von Offenheit und Heiterkeit, das ihn schon an dem Bruder so angezogen hatte, bei der Schwester noch stärker vertreten war. Von Ernst und Schwerfälligkeit keine Spur; ihr Frohsinn war von jener entzückenden Art, wie die kindlich Gläubigen ihn so oft haben, die nicht anders wissen, als daß Gottes gütige Vaterhand sie jeden Augenblick hält und trägt und schützt, – ein beseligendes Gefühl immer abwesender Gefahr.

Eine kleine Pause war eingetreten, und Toby, dem daran lag, das so glücklich eingefädelte Gespräch auch fortgesetzt zu sehen, nahm es an alter Stelle wieder auf und sagte: „Ja, kein Geld und keine Müh’. Nichts scheut er. Und das alles bei seinen hohen Jahren.“

„Ist er denn schon so alt?“ fragte Lehnert. „Ihr seid ja doch beide noch so jung.“

„Dreiundsiebzig,“ lachte Ruth.

„Da muß er sehr spät geheirathet haben.“

Jetzt verdoppelte sich das Lachen. Aber Toby, der wohl fühlte, daß das Lachen Lehnert verlegen machen müsse, gab nun Aufklärung und erzählte, daß der Vater dreimal verheirathet gewesen sei, so daß sie viele Halbgeschwister hätten. Die Kinder der ersten Ehe seien nach Preußen, nach Danzig und Dirschau, zurückgegangen, die der zweiten lebten in Dakota, und sie beide, seien die jüngsten. Ihr ältester Halbbruder sei schon über vierzig Jahre alt und voriges Jahr zum Besuch in Nogat-Ehre gewesen.

In diesem Augenblicke stieg der Boden ein wenig an, und als man oben war, wurde in kleiner Entfernung eine blinkende, langgestreckte, nur hier und da von hohen Pappeln überragte Häuserreihe sichtbar, auf die Ruth jetzt mit der Peitschenspitze hindeutete. „Das ist Nogat-Ehre. Siehst Du’s? In einer Viertelstunde sind wir da. Das letzte Gehöft da, zwischen den zwei Pappeln, das ist unser Haus. Und dann kannst Du sehen, wie wir leben. Es wird Dir schon gefallen. Du siehst so recht aus, als ob Du glücklich und zufrieden sein könntest. Aber ich spreche so, wie wenn wir Dich schon hätten. Und wir haben Dich doch noch lange nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal Deinen Namen . . . Toby, warum hast Du mir seinen Namen nicht genannt?“

Toby lachte. „Weil ich ihn selber noch nicht weiß. Und der Vater hat auch gar nicht danach gefragt. Aber nun wird es freilich Zeit damit, wenn wir nicht mit einem Namenlosen in Nogat-Ehre einfahren wollen.“

„Ich heiße Lehnert Menz.“

„Ein hübscher Name,“ sagte Toby.

Ruth nickte zustimmend. Aber gleich danach schien sie wieder wie wankend und schwankend zu werden und setzte hinzu: „Ja, hübsch. Aber was ist Lehnert? Ist es ein Kalendername?“

„Freilich ist er das. Und Du solltest ihn kennen. Lehnert ist Lienhardt. ,Lienhardt und Gertrud‘ wirst Du doch noch nicht ganz vergessen haben.“

„Nein, gewiß nicht. Es war die schönste Geschichte, die wir als Kinder gelesen haben. Und der Vater kam oft dazu, wenn die Mutter sie vorlas, und wenn Lienhardt und Lehnert ein und dasselbe sind, dann gefällst Du mir noch besser. Und wenn Du so bist wie Lienhardt, denn ich weiß noch, daß er gut war, da wollen wir gute Freunde werden.“


16.

Als Ruth noch sprach, fuhr man über einen Brückenbogen und lenkte jenseit desselben in einen breiten, mit jungen Akazien besetzten Weg ein, zu dessen einer Seite ein von den Bergen kommender Bach schäumte, während sich an der anderen Seite die Gehöfte der Mennonitenkolonie hinzogen. Man war in Nogat-Ehre. So viel Lehnert während der Fahrt durch die lange Dorfstraße wahrnehmen konnte, waren die Gehöfte von ziemlich gleichem Aussehen und bestanden aus einem einstöckigen Fachwerkwohnhaus, das mit breiter Front auf die Straße blickte, während die großen Stallgebäude quer standen und mit ihren Giebeln auf die Straße sahen. Einige hatten vor ihrer Thür eine mit Geisblatt und Pfeifenkraut umsponnene Gitterlaube, von der aus vier oder fünf Steinstufen zunächst auf den Akazienweg und dann bis zum Bach hinabführten, allen Häusern gemeinsam aber war ein von einem Staketenzaun eingefaßter Vorgarten, in dem zwischen Taxus- und Buchsbaumrabatten einige wenige Georginen, meist aber Malven und Sonnenblumen standen, ganz als ob es Gärten aus der Nogat- und Weichselniederung wären.

Lehnert ging das Herz auf beim Anblick der einfachen Anlagen, die den aus Deutschland mitgebrachten Gartentypus mit so viel Vorliebe pflegten, und wandte sich eben, um eine große Glaskugel und ein bemaltes Bienenhaus noch einmal flüchtig zu mustern, als das Ponygefährt auf einen ansteigenden und fast eine Rampe bildenden Kiesweg hinauflenkte und nun vor dem Schwellstein eines nüchtern wirkenden, weitschichtigen Hauses hielt, das zum Unterschiede von den anderen ohne Staketenzaun und Vorgarten war und durch seine Stille, die hohen Fenster und ein paar gothische Holzverzierungen an ein halb kirchliches Gebäude gemahnte.

„Hier sind wir,“ sagte Toby, nahm seiner Schwester die Zügel aus der Hand und wartete, bis ein Knecht (auch hier ein junger Cherokee) vom Hof her erschien, dem er das Gespann über geben konnte. Dann traten alle drei in ein bis hoch hinauf mit Holz verkleidetes Treppenhaus, das durch die ganze Tiefe des Hauses lief. Als man bis an die geradlinig aufsteigende Treppe gekommen war, gab Ruth dem Lehnert zum Abschiede die Hand, wandte sich aber auf der dritten Stufe noch einmal und sagte: „Die Hauptsache nicht zu vergessen, Gott segne Deinen Aus- und Eingang.“ Und nun erst eilte sie rasch ihrer im Oberstock gelegenen Wohnung zu. Toby mußte lächeln, als er sah, wie Lehnert der Erscheinung nachblickte. Dann nahm er seinerseits Lehnerts Arm und sagte: „Nun komm, daß ich Dich zu dem Vater führe!“

Das einen großen Flur bildende Treppenhaus hatte zu beiden Seiten Bänke, sonst war es ein leerer Raum, der, mit Ausnahme des Frontportals, nichts als drei Thüren zeigte, von denen eine kleinere nach dem Hof hinaus ging, während zwei hohe Doppelthüren in die neben dem Treppenhause gelegenen Haupträumlichkeiten führten. Beide Doppelthüren standen in diesem Augenblick offen und gestatteten einen Blick nach rechts hin in einen Betsaal, nach links hin in eine hochgewölbte Halle. Diese Halle – von mächtiger Wirkung, trotzdem sie von kleineren Verhältnissen als der Betsaal war – mußte von jedem, der in Obadjas Wohn- und Arbeitszimmer wollte, durchschritten werden. Auch hier übrigens, in dieser geräumigen Halle, gab sich, ganz so wie draußen im [123] Flur, alles aufs einfachste: nur ein schwerer Eichentisch, um den einige Stühle standen, zog sich durch den nahezu schmucklosen und nur mit einem Geweihkronleuchter ausstaffierten Fest- und Speiseraum, dem ein großer, an der einen Schmalseite befindlicher Silber- und Geschirrschrank zugleich als Anrichtetisch diente. Des weiteren aber lief, quer durch den Raum hin, eine Matte von Kokosfaser auf eine kleine Thür zu, deren gobelinartigen Vorhang Toby jetzt zurückschlug. Und nun ließ er Lehnert Vorgehen und folgte.

Wenn das Treppenhaus schattig und die Halle beinah’ dunkel gewesen war, so war hier alles hell, denn ein breiter Lichtstreifen fiel durch ein Giebelfenster von beträchtlicher Höhe; neben dem Fenster aber und von seinem Lichte halb umschienen, saß Obadja bei der Korrespondenz, die, sorglich von ihm unterhalten, nach den verschiedensten Theilen der Union, besonders aber nach Kansas und Dakota ging. Als er hörte, daß jemand eingetreten war, wandt’ er sich, indem er den Stuhl drehte, der Thür zu, blieb aber sitzen.

„Lieber Vater,“ sagte Toby, „hier bring’ ich Dir Mister Lehnert Menz.“

„Lehnert Menz?“ wiederholte ruhig und freundlich der Alte. „Hab’ ich recht verstanden?“

„Zu Befehl!“ sagte Lehnert.

Obadja lächelte, weil er sich aus lang zurückliegenden Zeiten her dieser militärischen Form der Bejahung erinnerte. „Nun, Mister Lehnert,“ fuhr er fort, „Ihr wollt es also mit uns versuchen? Toby hat mir davon erzählt. Und hat mir auch erzählt, daß sich unsere Wege vor Jahren schon einmal gekreuzt haben. Nehmt einen Stuhl, bitt’ ich, und rückt hier heran und setzt Euch ins Licht, daß ich Euch besser sehen kann. Es geht noch mit allem sonst, des Barmherzigen Gnade sei dafür gepriesen, aber mit dem Sehen will es nicht recht mehr. Und ich sehe doch jedem gern ins Auge. Das Auge sagt noch mehr als die Stimme.“

Lehnert that, wie ihm geheißen, und erwartete nun, daß ein Fragen und Katechifieren beginnen werde, ja mehr, es lag ihm daran, es war geradezu sein Wunsch. All die Zeit über hatte seine That auf seiner Seele gelastet, und er sehnte sich danach, alles herunter zu beichten und in dieser Beichte Trost und Erleichterung zu finden. Aber von dieser Erwartung erfüllte sich nichts und wenn ihm auch nicht entging, daß Obadja, wie zufällig, seine Hand nahm und ihn dann von der Seite her ansah, so könnt’ ihm doch noch weniger entgehen, daß jede unmittelbare Frage nach Leben und Vergangenheit mit Absicht vermieden wurde.

„Ich höre von meinem Sohne Toby,“ nahm Obadja nach einer Weile wieder das Wort, „daß Ihr ein Preuße seid, also, meiner Geburt nach, ein Landsmann von mir und jedenfalls ein Landsmann meiner zwei ältesten Sohne, die diesem neuen Lande wieder den Rücken gekehrt haben und lieber drüben sind als hier. Und vielleicht haben sie recht gethan. Denn die Freiheit, deren wir uns hier rühmen und freuen, ist ein zweischneidig Schwert und die Gewaltherrschaft der Massen und das ewige Schwanken in dem, was gilt, erfüllen uns, so sehr ich die Freiheit liebe, mit einer Unruhe, die man da nicht kennt, wo feste Gewalten bestehen. Ordnung und Arbeit, worauf es ankommt, die sind in dem Lande drüben, drin wir beide geboren wurden, recht eigentlich zu Haus, und um dieser Tugenden und vor allem auch um der Nüchternheit willen sind mir die Preußen die liebsten und sind mir die nutzbarsten Mitarbeiter an meinem Werk.“

Hier unterbrach sich Obadja, wie sich Prediger in ihrer Predigt unterbrechen, um nach einiger Zeit einen neuen Anlauf zu nehmen, und Lehnert schwieg, weil er fühlte, daß jetzt ein Uebergang kommen müsse. Und der kam denn auch wirklich.

„Die nutzbarsten Mitarbeiter,“ wiederholte Obadja. „Und das gilt auch von dem guten Mister Kaulbars, der jetzt meiner gesammten Wirtschaft als ein Verwalter und Hausmeier vorsteht. Er ist ein ehrlicher Mann, ohne Lug und Trug, ein treuer Arbeiter und prompt in der Erfüllung seiner Pflichten und hat, was ihn meinem Herzen am nächsten stellt, die rechte Freud’ und Lust an dem Segen Gottes als solchem, und eine Ernte zu Grunde gehen zu sehen, das wurmt ihn und quält ihn, auch wenn jeder Halm versichert ist. Es ist ihm nicht um den Gewinn bloß, es ist ihm um den Segen, den er nicht missen will. Ja, so ist dieser Mister Kaulbars, den ich, so lang ich noch in der Arbeit steh’, in Ehren zu halten gedenke. Aber Euer Landsmann ist ein Eigensinn und ein Besserwisser, der sich dem neuen Lande, drin er nun lebt, nicht anbequemen und alles nach der Weise seiner alten Heimath anordnen und regeln will. Er gehorcht wohl, weil er im Gehorsam erzogen ist, aber es ist ein todter Gehorsam, und ein todter Gehorsam ist unfruchtbar, nicht bloß in Herz und Seele, sondern auch auf dem Arbeitsfelde draußen, und so schädigt er mich, ohne es zu wollen, und mindert mein Gut. Dem will ich abhelfen, da will ich Wandel schaffen, und dessen verseh’ ich mich von Euch. Ich hab’ in Eurem Auge gelesen und ich kenne Euch nun: Ihr habt einen Ehrgeiz und es lastet was auf Eurer Seele, das hat Euch bis diese Stunde durch die Welt getrieben und ich sehe das Zeichen auf Eurer Stirn. Aber ich weiß auch, daß Ihr ein tapferes Herz habt und einen Edelsinn, der sich nicht verleugnet, wo Liebe ihn pflegt. Und diese Liebe soll Euch werden. Getröstet Euch dessen. Keiner, der unter dieses Dach getreten, ist ungetröstet von dannen gegangen. Im Namen dessen, der die Liebe war, ruf’ ich Euch zu: ‚Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Lehnert Menz, Deine Last soll von Dir genommen werden. Ich segne Dich . . . ‘“

Und Lehnert fühlte, während er den Kopf neigte, wie die Hand Obadjas seinen Scheitel berührte.


17.

Nebenan, in der großen Halle, war inzwischen für Lehnert ein Frühstück aufgestellt worden, und zwar durch Frau Rosalie Kaulbars in Person, die nicht nur alles Nöthige selbst herzugetragen, sondern dem eingerichteten Frühstückstisch auch noch eine der preußisch-heimischen Art entsprechende Ausschmückung gegeben hatte. So kam es, daß sich, um gleich die Hauptsache zu nennen, um die Kufe mit saurer Milch ein blühender Lindenzweig legte. Eier in der Schale sammt Schinken vervollständigten das einfache Mahl, dem Frau Kaulbars anfänglich, einigermaßen aus der Rolle fallend, auch noch eine halbe Wassermelone beigegeben hatte, bis der zufällig anwesende Mister Kaulbars gegen solche Zusammenstellung Verwahrung eingelegt hatte. „Was denkst Du denn eigentlich, Röse? Soll er hier gleich mit Kullern und Schneiden anfangen?“

Als Lehnert aus Obadjas Zimmer trat, hatte sich das Ehepaar, um nicht neugierig zu scheinen, aus der Halle in die Wirthschaftsräume des abgetrennt stehenden Quergebäudes zurückgezogen. Statt ihrer waren Ruth und Toby da, mit ihnen Uncas, ein wundervoller, schwarz- und weißgefleckter Neufundländer, der seine Herrin Ruth auf Schritt und Tritt zu begleiten pflegte.

„Stören wir Dich, wenn wir uns zu Dir setzen?“ fragte Toby, indem er Lehnert an die Schmalseite des Tisches führte, wo gedeckt war.

Lehnert suchte nach einer Antwort, aber er fand sie nicht. Das war mehr Liebe, als er sich in seinem ganzen dreiunddreißigjährigen Leben zusammenrechnen konnte. Er legte die Hand auf die Stuhllehne, drin ein Kleeblatt eingeschnitten war, und faltete die Hände zum ersten Male seit vielen Jahren.

Die Geschwister schwiegen und sahen ihm bewegt zu. Als sie aber wahrnahmen, daß er sich wieder gesammelt hatte, sagte Toby: „Nun also, Lehnert, wir bleiben und leisten Dir Gesellschaft. Sieh nur, Uncas schließt auch Freundschaft mit Dir. Nicht wahr, Ruth, das bedeutet was? Er hält nicht gleich zu jedem.“

Lehnert nahm, von der Milch und brach dann, um sie sich vorzustecken, einige Blüthen von dem Lindenzweig ab, und Ruth sah wohl, daß ihn dieser Zweig ganz besonders erfreut hatte.

„Das dankst Du dem Mister Kaulhars und seiner Frau,“ sagte Ruth. „Die sagten, das, sei so Sitte drüben. Und da habe ich den Zweig gepflückt und um die Milchkufe gelegt, aber die Wahrheit zu gestehen, mit halber Freude. Denn die Kaulbarse, besonders er, wollen alles preußisch machen, und wenn ich denke, daß Du auch ein Landsmann von ihnen bist, so beschleicht mich eine kleine Furcht, daß wir hier eine preußische Kolonie werden.“

„Das hat gute Wege,“ lachte Lehnert, „ich habe das Alte drüben gelassen.“

Sie plauderten noch ein Stückchen weiter über die Anhänglichkeit an die alte Heimath, die jeden bewußt oder unbewußt dahin leite, auch in der Fremde nach den vertrauten Formen und Gebräuchen der Heimath zu streben.

Als Lehnert mittlerweile sein Mahl beendet hatte, wandte sich Ruth an den Bruder und sagte: „Nun aber ist es Zeit, Toby, daß wir Mister Lehnert auf sein Zimmer führen.“

Alle drei stiegen treppauf, wobei Toby führte.

Der Oberstock war von ganz anderer Einrichtung, als das [124] im wesentlichen nur aus Treppenhaus, Betsaal und Halle bestehende Erdgeschoß, und wenn dieses letztere, mit Ausnahme von Obadjas Wohnzimmer, lediglich kirchlichen oder gelegentlich gesellschaftlichen Zwecken diente, so gehörte das, was eine Treppe hoch lag, dem häuslichen Leben, der Gemütlichkeit, der Familie. Beide Hälften des Oberstockes, zwischen denen ein großer quadratischer Flur lag, waren durch einen schmalen Mittelgang wieder in eine Reihe Vorder- und Hinterzimmer geteilt, von denen alle linksseitigen von Ruth, Toby und ihrer alten polnischen Dienerin Maruschka bewohnt wurden, während alles an der entgegengesetzten Seite Gelegene die Gast- und Fremdenzimmer umschloß. Eines derselben war für Lehnert bestimmt morden und lag dem Zimmer gegenüber, das von Monsieur L´Hermite bewohnt wurde.

Als man oben war, ging Ruth, sich verabschiedend, nach links hin den Gang, hinunter, während Toby Lehnerts Hand nahm und ihn nach der anderen Seite hin auf einen in Dämmerlicht liegenden Korridor zuführte. Nur am Ende desselben war ein Lichtschein. Dieser kam aus Monsieur L´Hermites Zimmer, das meist offen stand und dem Korridor nicht bloß einiges von seiner Helle, sondern, nicht eben zur Freude der anderen Hausbewohner, auch viel von dem „Korporal“ mittheilte, der beständig darin geraucht wurde. Lehnert warf, als er bis heran war, einen Blick in das Zimmer hinein und sah einen hageren Mann von Mitte der fünfziger, mit Zwickelbart und Käppi, der, an einem Schraubstock beschäftigt, eben in scharfem Profile sichtbar wurde. Auch L´Hermite sah von der Arbeit auf und schob das Käppi nach hinten, was einen Gruß bedeuten, aber auch bloße Neugier sein konnte. Weiter darüber nachzudenken, verbot sich, denn Toby hatte die gerade gegenübergelegene Thür geöffnet und trat ein, während Lehnert folgte.



[144] „Das ist nun also Dein Heim, Lehnert, das Dir eine Friedensstätte werden möge!“ sagte Toby. „So soll ich Dir im Auftrage des Vaters sagen. Er hat dies Zimmer für Dich ausgesucht, weil er meint, die Berge drüben würden Dich freuen.“

„Das werden sie; danke Deinem Vater dafür! Und nun sage mir, wie hab’ ich mich drüben zu meinem Nachbar zu stellen? Er ist ein Franzose?“

Ja. Von Geburt. Aber es ist sein nicht geringer Stolz und wie Du bald erfahren wirst, auch sein Lieblingsthema, die nationalen Vorurtheile hinter sich zu haben. Er war ein Mitglied der Kommune, ja mehr, ein Führer derselben, und hat den Erzbischof von Paris erschießen lassen und sollte dann später selbst erschossen werden. Nur durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon. All das sind Dinge, wovon ich Dir, wenn er’s nicht selber thut, ein andermal erzählen werde. Heute nur das noch, daß er Deinen Frieden nicht stören wird, höchstens Deine nächtliche Ruhe. Denn er ist ein unruhiger Geist, den mitunter die Lust anwandelt, ein paar Stunden in der Nacht zu plaudern. Vielleicht ist es auch sein Gewissen, was ihn wach halt. Und dann wankt er durch das Haus und weckt jeden und einmal war er selbst bei [146] dem Vater. Und dann spricht er wie irr und deklamiert lange Gedichte vom Menschengeist, der seine letzten Fesseln abwerfen müsse.“

„So nehmt Ihr ihn also einfach als einen Irren?“

„O nein, durchaus nicht; er ist nicht irr, im Gegentheil, er ist grundgescheit und kann alles und weiß alles. Er ist nur ein Fanatiker und thut das Aeußerste, sonst aber ist er wie ein Kind. Er ist der Friedliebendste von uns allen und er ist rührend, wenn er Ruth sieht. Dann verklärt sich sein Gesicht und ich glaube, wenn sie’s befühle, so ging er nach Neu-Caledonien und Numea zurück. Von da floh er nämlich und kam bis hierher. Aber was sprech’ ich nur von Monsieur L’Hermite! Du wirst ihn kennen lernen, und unter allen Umständen ist er kein Gesprächsstoff für Deinen Einzug an dieser Stelle. Denn es ist Blut an seinen Händen, ungesühntes Blut.“

Lehnert brannte der Boden unter den Füßen, als Toby so sprach, und es war ihm, als ob er fliehen müsse. Toby aber, völlig ahnungslos, welche Wirkung seine harmlos hingesprochenen Worte hervorgerufen hatten, trat in diesem Augenblick an ein mit allerhand Matten und Kissen belegtes, zugleich als Sofa dienendes Bambusgestell und sagte, während er auf zwei darüber aufgehängte Bildchen in schwarzem Rahmen hinwies: „Das ist der Remter in Marienburg . . . Und das hier ist Kloster Oliva. Kennst Du sie? Sie sind das einzige Preußische, was wir noch von alter Zeit her im Hause haben.“

Es war nicht ohne Verlegenheit, daß Lehnert Namen und Dinge nennen hörte, die jenseit seiner Kenntniß lagen, es blieb ihm aber erspart, diese Nichtkenntniß gestehen zu müssen, denn Toby brach ab, ohne auf Antwort zu warten, und verließ das Zimmer. Als er schon draußen war, wandt’ er sich noch einmal zurück und sagte:, „Ich hoffe, daß nichts fehlt. Wenn aber etwas fehlen sollte, hier ist der Knopf, auf den Du drücken mußt; es ist eine Drahtleitung, die wir Monsieur L’Hermite verdanken. Monsieur L’Hermite ist nämlich ein Erfindergenie; nun, Du wirst ihn ja kennen lernen. Und nun Gott befohlen!“

Jetzt war Lehnert allein, ein Augenblick, nach dem er sich gesehnt hatte. Benommen von der Fülle von Eindrücken, die diese wenigen Stunden ihm gebracht hatten, ging er auf das mit Matten und Kissen überdeckte Lager zu, streckte sich nieder und schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, um die Bilder seiner Seele desto deutlicher vor Augen zu haben. Da war der Alte, lächelnd, vornehm überlegen. Dann trat Monsieur L’Hermite vor ihn hin, das Käppi zurückgeschoben und das Gesicht über den Schraubstock gebeugt. Und dann wieder sah er Ruths halb noch kindliche Gestalt und ein Gefühl unendlicher Sehnsucht ergriff ihn. Wonach? Nach einer ihm verloren gegangenen Welt?

Er stand auf und hielt in dem Zimmer Umschau. Schlicht und sauber war alles. Alle Stühle von Bambus, sogar der Schaukelstuhl am Fenster, und am Pfeiler daneben zwei Stiche: Washington und General Grant. Sonst nur noch ein Bett und ein Tisch und eine Bibel darauf. Und er nahm die Bibel, und der Gedanke kam ihm, er wollte sein Schicksal darin lesen und ob er den Frieden finden würde. Und nun schlug er auf: es war ein Psalm, und er las: „Zähle meine Flucht, fasse meine Thränen, ohne Zweifel, Du zählst sie. Was können mir die Menschen thun? Ich hoffe, auf Dich, Du hast meine Seele vom Tode gerettet.“ Er war tief ergriffen und Thränen entstürzten seinem Auge. Dann schritt er auf das Fenster zu, öffnete beide Flügel und sah hinaus. Greifbar nah’, so wenigstens erschien es ihm, zog sich das bis auf den Kamm hinauf mit Tannen und allen Arten von Nadelholz bestandene Gebirge, dazwischen aber schlängelte sich ein Weg hernieder und wo der Weg ins Thal mündete, stand ein weißes Haus, zerfallen und ohne Dach, vordem ein Fort, das Fort O’Brien. Darüber lag der blaue Himmel und ein heller Wolkenstreifen zog den Kamm entlang, den an dieser Stelle nur ein einziges mächtiges Felsenstück überragte.

„Das ist der Mittagsstein.“

Und dann sah er wieder hinaus und suchte hinauf, ob er nicht noch andere Punkte zur Vergleichung und Erinnerung fände. Zuletzt aber ruhte sein Blick immer wieder bei dem weißen Haus unten am Abhang aus und eine Stimme rief ihm zu, daß sich seine Geschicke dort erfüllen würden.

Aber die Stimme sagte nicht, ob zu Glück oder Unglück.


18.

Anderthalb Wochen waren um und Lehnert hatte sich eingelebt. Er sah kein Regieren und einfach ein Geist der Ordnung und Liebe sorgte dafür, daß alles nach Art eines Uhrwerks ging. Der Tag begann mit einer Andacht, die der Alte klug genug war, wenigstens als Regel knapp und kurz einzurichten, weil er sich sagte, daß Ermüdung der Tod aller Erbauung sei. Gewöhnlich las er einen Psalm oder etwas aus der Patriarchengeschichte, wenn er nicht vorzog, an mehr oder weniger wichtige Tagesereignisse mit Spruch und Betrachtung anzuknüpfen. War dann unmittelbar nach der Andacht das Frühstück eingenommen, so gab er persönlich die Weisungen für den Tag, was er, gestützt auf eine genaue Kenntniß seines Grund und Bodens und andererseits auch mit Hilfe der ihm am Abend vorher durch Toby oder Kaulbars oder Lehnert erstatteten Berichte, sehr wohl konnte. Begegnungen um die Mittagsstunde fielen aus, weil ein guter Imbiß entweder gleich mitgenommen oder auf die Felder hinaus geschickt wurde, was denn zur Folge hatte, daß man sich erst um sieben Uhr abends zum zweiten Male zu gemeinschaftlicher Mahlzeit versammelte, woran sich dann der Abendsegen und eine kurze Plauderei schloß. Bald danach zog man sich zurück, denn der Tag begann früh wieder.

Es war kein herzlicher, aber doch ein unausgesetzt friedlicher Verkehr, in dem man lebte, was Lehnert um so mehr Wunder nahm, als die bunte Menschenmasse, daraus sich das Hauswesen von Nogat-Ehre zusammensetzte, nicht einmal durch das Band gemeinsamer kirchlicher Anschauungen zusammengehalten wurde. Die Kaulbarse, Vollblutmärker, hielten zu Luther, Maruschka, die Polin, war katholisch und fuhr alle Jahre zweimal zur Beichte nach Denver, und L’Hermite war schlechtweg Atheist, so daß von der ganzen Obadjaschen Hausgenossenschaft, selbstverständlich mit Ausnahme der eigentlichen Familie, nur die dienenden Cherokee- und Arapahoindianer, Männer und Frauen, zur „Gemeinde“ gehörten, in die sie, nach zuvor empfangenem Unterrichte, meist mit zwanzig bis vierundzwanzig Jahren einzutreten pflegten. Wenn Lehnert das alles überdachte, sah er sich dadurch mehr als einmal an einen nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten in San Francisko erinnert, drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze sammt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammengewohnt hatten. „Eine glückliche Familie“ stand als Aufschrift darüber, und wenn Lehnert so beim Frühstück und Abendessen den langen Tisch musterte, kam ihm der Schaukasten immer wieder in den Sinn und er sprach dann wohl leise vor sich hin: „Eine glückliche Familie!“ Sann er dann aber weiter nach, wodurch dies Wunder bewirkt werde, so fand er keine andere Erklärung als den „Hausgeist“, als Obadja, der das Friedensevangelium nicht bloß predigte, sondern in seiner Erscheinung und seinem Thun auch verkörperte.

Die Folge davon war ein Gefühl immer wachsender Verehrung und Dankbarkeit auf seiten Lehnerts. Wer so wahr und aufrichtig dies Gefühl war, so kam er demohnerachtet zu keiner rechten Freudigkeit. Er fühlte sich vereinsamt und brachte sich’s gelegentlich zu geradezu schmerzlichem Bewußtsein, daß er in seinen schwersten und schlimmsten Tagen, ja vor Jahr und Tag noch bei den zweifelhaften Leuten am Sakramente, heiterer und fast auch glücklicher gewesen sei, als hier unter den Bekehrten und Nichtbekehrten von Nogat-Ehre. Friede und Freundlichkeit waren da, aber was er mehr und mehr vermißte, war Verkehr und Vertraulichkeit. Obadja, mit all seinen Vorzügen, war doch unnahbar, die Geschwister zu jung, Maruschka zu kindisch und Monsieur L’Hermite zu zurückhaltend und zu ablehnend.

Bei diesem Befunde verblieben ihm nur seine Landsleute, die beiden Kaulbarse, und das war hart, weil ihre Nüchternheit keine Grenzen kannte. Dennoch, so nüchtern sie waren und in so lächerlich wichtiger Weise sie sich mit ihrer Lieblingswendung „mein Mann sagt auch“ oder „meine Frau sagt auch“ auf einander zu berufen pflegten, Berufungen, von denen aus ein weiterer Appell nicht wohl mehr möglich war – dennoch sah Lehnert ein, daß er, in Ermanglung von etwas Besserem, durchaus bemüht sein müsse, mit ihnen auf einem möglichst guten Fuße zu leben und das um so mehr, als ihn beide die Thatsache nicht entgelten ließen, daß ihre Machtstellung, das Mindeste zu sagen, durch sein Eintreten [147] in die Wirthschaft halbiert worden war. Und so verging denn kein Tag, an dem er nicht an der Seite von Kaulbars den Versuch einer ’mal flüchtigeren, ’mal eingehenderen Unterhaltung über Nahes und Fernes, über Wirthschaftliches und Persönliches gemacht hätte.

Kaulbars’ Lieblingsthema war es, mit seiner ganzen zur Schau getragenen Ueberlegenheit den Amerikanern ihre Sünden und Mangelhaftigkeiten vorzuhalten.

Eines Tages war es ein Gespräch über Ruth und Toby, von dem aus die Brücke zu diesem Lieblingsthema mit gewohnter Geschicklichkeit geschlagen wurde.

„Die beiden Kinder sind doch der Sonnenschein von Nogat-Ehre,“ sagte Lehnert. „Ueber Ruth ist gar nicht zu streiten; ich kann sie nicht sehen, ohne an die Lilien auf dem Felde zu denken. Aber auch Toby, wie brav und wie gescheit ist er, und wie gewandt! Wenn Obadja heute stirbt, was Gott verhüten wolle, so nimmt er die Wirthschaft in die Hand.“

„Ja, das thut er, die Einbildung dazu hat er, die haben sie hier alle. Kaum ist einer trocken hinter den Ohren, oder auch noch nich ’mal, so wird er ein Reverend oder ein Magistrate, oder sie schicken ihn als Gesandten nach der Türkei . . . Na, für die Türken mag es gehen. Un’ is nu gar ein bißchen Krieg in der Luft und soll es gegen Texas losgehen oder Utah oder gegen Mexiko, na, denn hast Du nich gesehen, denn backen sie die Generale und Obersten wie die Semmeln. Und wer heute noch ein Advokat is oder ein Chemist oder ein Lieferant, der is morgen ein Oberst, und nu geht’s ans Schlachtenschlagen. Und denn fahren sie los und singen Jankee-Doodle und thun, als ob sie wenigstens die Welt erobern wollten, und so lange sie die Schienen unter den Beinen haben, so lange geht es. Aber wenn nu das Marschieren anfängt und das erste Camp kommt oder das erste Bivouac, ja, du himmlischer Vater, da haben wir denn die Bescherung: Da is nichts da, da fehlt die Verpflegung und das Gehungre geht los und wenn sie vierzehn Tage lang im Modder gelegen und noch keinen Feind gesehen haben, dann fallen ihnen die Stiebel vom Leibe und keine Naht hält mehr, und wenn sie dann den Feind zu sehen kriegen, dann platzen die Flinten oder gehen gar nicht los, weil das Pulver nichts taugt oder die Patrone nicht paßt. Und warum is es so? Weil es alles bloß Spielerei is und kein Ernst nich, und Ernst is bloß, daß der Lieferant sein Geld kriegt für die Tornister, die immer drücken, und für seine Mäntel von Löschpapier. Ich habe welche gesehen . . . “

Lehnert wollte widersprechen, aber Kaulbars litt es nicht und fuhr in gleich überlegenem Tone fort: „Ich habe welche gesehen, sag’ ich, die wie Zunder vom Leibe fielen. Und warum? Weil alles Geschäft is, und wo alles Geschäft is, is alles Schwindel. Und wenn ich nu frage: ,Warum is es alles Schwindel?’ so kann ich bloß sagen, ’weil sie nichts kennen als Geld und nichts wollen als Geld und nichts anbeten als Geld und weil sie keinen richtigen Gott haben. Und woran liegt es? Weil sie verloddert sind. Und warum sind sie verloddert? Weil sie nicht dienen. Und der Toby hat auch nicht gedient und von Strammheit und richtiger Propreté ist keine Rede nich. Blaue Krawatte trägt er und hat ’ne schlappe Haltung, aber ein blauer Shlips is nicht Proprete, und eine lange Stakete, die hin und her schwankt und immer schlenkert, weil kein Rückgrat drin is, is nich Strammheit.“

Hier hatte sich Kaulbars vorläufig erschöpft und Lehnert fand Gelegenheit, einzuwerfen: „Ich bin überrascht, Mister Kaulbars, Sie so streng zu sehen. Als hier der große Krieg war, Anno 63, da waren wir beide noch drüben und haben beide nichts gehört und nichts gesehen, und was wir nachher, als wir ’rüber kamen, gehört haben, nu hören Sie, Mister Kaulbars, da muß man doch Respekt haben vor dem, wie’s damals hergegangen ist; sie haben sich geschlagen wie die besten Truppen und sind auch richtig verpflegt worden und war keine Rede von vor Hunger sterben. Und so mein’ ich denn, es kann nicht alles bloß Schwindel sein.“

„Es is Schwindel, sag’ ich, und wer gedient hat . . . “

„Ich habe auch gedient, Mister Kaulbars.“

Kaulbars lächelte. „Wobei denn?“

„Bei den Görlitzer Jägern.“

„Na, hören Sie, mit die Jäger, das is immer bloß so so. Das is nich Fisch und nich Vogel und geht eigentlich immer bloß auf Jagd und wilddiebt ein bißchen und is kein richtiger Soldat nich. Ich habe bei die Vierundzwanziger gestanden, Hauptmann von Goerschen, fünfte Compagnie. Haben Sie von dem ’mal gehört? Ich meine von Goerschen. Das heißt, es gab eigentlich zwei Goerschens, einer hieß Franz, der war auch ganz gut, aber unserer hieß Otto und wir nannten ihn ‚unseren Otto’ und war schon mit bei Düppel, Schanze drei. Ich sag’ Ihnen, die Schanze war weg wie Schnupftabak. Ja, so sind die Vierundzwanziger, Ruppin und Havelberg, und Rathenow und die ‚Zietenschen‘, das gehört eigentlich auch noch mit dazu. Hören Sie, die Görlitzer mögen ja so weit ganz gut sein, man soll nicht streiten und soll nich nein sagen, wenn man’s nich weiß. Aber das sag’ ich Ihnen, Mister Lehnert, aufs Dienen kommt es an und jeder muß ’mal Rekrut gewesen sein und muß die Honneurs gelernt haben und muß die Signale gelernt haben. Und das is gewiß, wenn der Hornist blies und war das Signal von der fünften Compagnie, da gab es ein Ohrenspitzen wie ’n Kavalleriepferd und mitten im Schlaf. Und wenn dann der alte Oberst von Unruh mit seiner Krähstimme kommandierte: .Präsentiert das Gewehr’, und dann der Prinz, unser Prinz, die Front abschritt und die Spielleute spielten und wir mit .Augen rechts’ dastanden wie die Puppen, und ich sag’ Ihnen, Lehnert, was für Puppen! – ja, das hätten Sie sehen sollen, das hatte so seine Art, das war ein Vergnügen, und wenn der Prinz dann sagte: ,Ja, das sind meine Vierundzwanziger; Kinder, wenn ich Soldaten sehen will, dann seh’ ich mir die Vierundzwanziger an. Es lebe der Kaiser!’ ja, Mister Lehnert, das war was, das kommt vons Dienen und vons Gehorchenkönnen und von der Strammheit und der Propreté, und wenn Sie die ganzen achtunddreißig ‚States‘ umstülpen und hier unser Indianterritory mit dazu und alle Mennoniten und den alten Obadja auch, so was fällt nich ’raus un’ kann auch nich ’rausfallen, weil’s nich drin is und weil alles Schwindel is . . . Und Miß Ruth, nu ja, Miß Ruth ist ein hübsches Ding, geb’ ich zu, meinetwegen, und Mister Toby guckt in die Welt wie die Maus aus der Heede. Hübsch sind sie und gewaschen und haben so was wie Prinz und Prinzessin. Aber, bei Lichte besehen, das ist eben der Unsinn. Wer kein Prinz is, darf auch nicht wie ’n Prinz aussehen. Prinz Friedrich Karl, der durfte, der war einer. Aber Toby? Toby weiß alles am besten und is doch bloß noch ein Quack. Aber das is hier alles eins, und mit zwanzig ist er bei der Gesandtschaft in Japan und mit vierundzwanzig ist er Oberpriester in Nogat-Ehre. Denn der Alte wird klapprig und ewig kann er doch nicht leben und wenn er auch so fromm wäre wie Abraham oder wie Hiob.“


19.

So verliefen die Gespräche, welche die beiden preußischen „Kameraden“, wenn sie morgens auf die Felder hinausritten, miteinander führten, Gespräche, die Lehnert nur zu deutlich zeigten, daß mit dem guten Kaulbars (und mit der Frau lag es nicht viel besser) Wohl ein friedlicher, aber kein freundschaftlicher Verkehr möglich sei.

Und so würde denn das Gefühl von Vereinsamung, das ihn sehr bald nach seinem Erscheinen in Nogat-Ehre zu quälen begann, sehr wahrscheinlich in einem beständigen Wachsen geblieben sein, wenn ihm nicht der anfangs mit so viel Mißtrauen und Abneigung angesehene Monsieur Camille L’Hermite mit jedem Tage theurer geworden wäre. Monsieur L’Hermite hatte nichts von der selbstgefälligen Enge, darin sich beide Kaulbarse gefielen, und so kam es, daß sich für Lehnert mit dem „lieben Landesfeinde“ – „mon cher ennemi“, wie Monsieur L’Hermite sagte – nach und nach ein Verhältniß anbahnte, das ihm der deutsche Landsmann nicht gewähren konnte.

Den ersten Anstoß zu dieser Wendung gab ein ganz kleiner Vorfall, der sich schon während der ersten Wochen ereignete. Wenn von Tisch aufgestanden und nach kurzem und meist die Wirthschaft betreffendem Gespräche der Rückzug in die Zimmer des oberen Stocks angetreten wurde, schloß sich Lehnert diesem Rückzug nicht immer an, sondern zog es mitunter vor, in einer jenseit der Akazienallee gelegenen Garten- und Parkanlage, darin sich auch die von Obadja aus großen Feldsteinen aufgeführte Familiengruft befand, noch eine halbe Stunde lang auf und ab zu gehen, wobei Ruths Neufundländer ihn meistens begleitete. Stieg er dann, wenn’s dunkel geworden war, auch seinerseits die Treppe hinauf, [148] so klang regelmäßig vom linken Korridor ein Choral herüber oder ein geistliches Lied: Ruth sang und Toby begleitete. Was aber Lehnerts Gemüth mehr noch als dieser Gesang in Anspruch nahm, war, daß er mal auf mal, wenn er an Monsieur L’Hermites Zimmer vorüber kam, in aller Deutlichkeit hören konnte, wie dieser die Thür leis ins Schloß drückte, ganz so, wie wenn er’s verbergen wollte, dem Gesange Ruths gelauscht zu haben. Einmal aber traf es sich, daß L’Hermite, trotz aller Vorsicht, auf seinem Lauscherposten von Lehnert doch überrascht und dadurch in eine kleine augenblickliche Verlegenheit versetzt wurde. Seine französisch gute Laune half ihm aber rasch darüber hin und sein Käppi zurückschiebend, wie seine Gewohnheit bei jeder Ansprache war, trat er an Lehnert heran und sagte, während er nach dem linken Korridor hinüber deutete: „Nicht übel! Nicht wahr?“ Und als Lehnert nickte, nahm er dessen Arm und sagte: „Bitte, treten Sie ein, mein lieber Feind!“

Lehnert folgte denn auch der freundlichen Aufforderung und nahm in einem Schaukelstuhle Platz, während sich L’Hermite mit übereinandergeschlagenen Beinen auf den durch eine grüne Schirmlampe nur mäßig erleuchteten Arbeitstisch setzte. Die mäßige Beleuchtung war denn auch Ursache, daß viele Stellen des Zimmers, der eigentlichen Ecken und Winkel ganz zu geschweigen, in einem Halbdunkel verblieben; aber sie gab immer noch Licht genug, um den Umschau haltenden Lehnert erkennen zu lassen, daß der ganze Raum ein merkwürdiges und sehr unordentliches Durcheinander von Schlosserwerkstatt und chemischem Laboratorium, von physikalischem Kabinett und Mineraliensammlung war. Das Chemische herrschte vor, im übrigen aber lief der Gesammteindruck darauf hinaus, daß es nichts auf der Welt gäbe, was hier nicht entdeckt und erfunden werden könnte. Welchem Zweck das alles diente, gab zu denken, und Lehnert, der immerhin einiges von L’Hermites Vergangenheit in Erfahrung gebracht hatte, würde beim Anblick all dieser Kolben und Retorten sicherlich auf einige für Europa bestimmte Nihilistenbomben gerathen haben, wenn nicht Nogat-Ehre so ganz den Stempel des Friedens getragen und Obadja selbst bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit einer besonderen Vorliebe von Monsieur L’Hermite gesprochen hätte.

Lehnerts Verweilen an diesem ersten Besuchsabend war nur von kurzer Dauer gewesen, aber es hatte doch ausgereicht, beide einander zu nähern und in weiterer Folge sogar regelmäßige Zusammenkünfte herbeizuführen. An jedem dritten Tage, wobei zwischen hüben und drüben gewechselt wurde, traf man sich zu ziemlich später Stunde und plauderte dann bis Mitternacht. Das war die Regel, die, wenn Lehnert Wirth war, streng galt. An den L’Hermite-Abenden aber – an denen, außer einigen anderen Verpflegungsfinessen, auch ein in Galveston erstandener und mit Cognac und Absynthflaschen reichlich ausgestatteter Rosenholzkasten eine Rolle spielte – ging ihr Geplauder gelegentlich bis über die zwölfte Stunde hinaus. Obadja wußte von diesem Rosenholzkasten und daß ihm, vor allem von L’Hermite selbst, fleißig zugesprochen würde, was er, wie sich denken läßt, mißbilligte; trotzdem ließ er es geschehen, einmal weil ihm alles Erziehen, wenn es sich nicht von selbst machte, zuwider war und fast mehr noch, weil er sich nicht das Recht zuschrieb, die Lebensgewohnheiten eines Mannes zu regeln, der, wenn auch ein Flüchtling, so doch immerhin ein unbeanstandeter Gast und auch eine Person von praktischer Bedeutung für Nogat-Ehre war. Und so störte denn niemand diese Zusammenkünfte, die bald beider Freunde besondere Lust und Freude wurden.

Nur eines, was übrigens die Freude nicht minderte, fiel Lehnert bei diesen abendlichen Zusammenkünften auf, und das war die Zurückhaltung, mit der L’Hermite seine „große Zeit“, seine historische Vergangenheit behandelte. Nicht als ob er Lust bezeigt hätte, sich von ihr loszusagen, durchaus nicht, er vermied nur einfach, ohne Veranlassung davon zu sprechen, und beschränkte sich, wenn diese Veranlassung eintrat, auf das unbedingt Nöthigste. Der furchtbare Ernst der Scene, darin er mitgespielt hatte, war ihm gegenwärtig und ein feines ästhetisches Gefühl, das ihn überhaupt auszeichnete, hielt ihn ab, von einem Hergange zu sprechen, dessen Erwähnung, wenn es die Verhältnisse nicht geradezu geboten, entweder renommistisch oder cynisch berühren mußte. Als Lehnert erst klar darin sah, stimmte er seinem Flurgenossen zu, vorher aber war er doch wochenlang von dem Verlangen erfüllt, über den interessanten Hergang Ausführlicheres zu hören, und schwankte nur, nach welchem Plane er Verfahren solle, um seine Neugier zu befriedigen. Schließlich entschied er sich dafür, auf einem Umwege vorzugehen und das Gespräch zunächst auf die langen Einschließungstage von Paris zu lenken. Es seien langweilige Tage gewesen, auch für sie draußen, und das Zerstreuliche hab’ erst eigentlich begonnen, als die Franzosen untereinander ins Scharmützeln gerathen seien, die Versailler gegen die Pariser. Da haben er und seine Kameraden oft viele Stunden lang auf dem Höhenzuge zwischen St. Germain und St. Denis gestanden und dem Kriege wie einem richtigen Kriegsschauspiel zugesehen. Und einmal hab’ er ganz deutlich beobachten können, wie die Parisischen durch eine geschickte Bewegung über die Brücke von Asnisres alles, was von Regierungstruppen in der großen Seine-Schleife gestanden, abgeschnitten hätten. Aber das sei freilich auch der letzte Sieg gewesen und schon am nächsten Tage sei der Triumphbogen von dem von St. Cloud vorgehenden Bataillone erstürmt worden. Und wenn er sich vergegenwärtige, was er bei der Gelegenheit alles gesehen habe, so begreif’ er nur zu gut, was seitens der Kommunarden geschehen sei, und könne von Grausamkeit keine Rede sein.

Monsieur L’Hermite hatte, während Lehnert so sprach, still vor sich hingeblickt und eine Cigarette gedreht und erst nach einer Weile das Wort genommen. Es sei so, wie Lehnert sage. „Die Sache da draußen am Trocadero war kein Spaß und darauf hin wurden die Geiseln erschossen . . . Und der letzte war der Erzbischof . . . Ich übernahm selber das Kommando . . . Er ist gestorben wie ein Held!“

Lehnert sog jedes Wort ein, als L’Hermite so sprach, und glaubte, jetzt sei der Augenblick für vertrauliche Mittheilungen gekommen. Aber er sah sich abermals getäuscht, und sein Wissen blieb im wesentlichen auf dem Punkt, auf dem es schon vorher gestanden hatte.

Nicht viel besser erging es ihm, als er auf einem ähnlichen Umwege den Versuch machte, näheres über seines Flurgenossen Flucht aus Numea, wohin dieser deportiert worden war, herauszuholen. L’Hermite wiegte den Kopf hin und her und sagte dann, während er, um damit zu spielen, eine große Feile vom Arbeitstische nahm: „Es machte sich schnell. Wir waren unser drei, die’s wagten, weil wir gut schwimmen konnten, und schwammen denn auch wirklich, trotz Brandung, auf ein Schiff zu, von dem wir wußten, daß der Kapitän mit unserer Sache sei. Meinen beiden Kameraden aber ging die Kraft aus; ich für mein Theil konnte noch gerad’ ein Tau fassen, das mir von Deck aus zugeworfen wurde. Das ergriff ich denn auch und eine Minute später zogen sie mich an Bord. In derselben Stunde noch ging’s nach Portland. Und da war ich frei. Das andere wißt Ihr; Ihr kommt ja auch von San Francisko her. Ist eins wie das andere.“

So knapp waren Monsieur L’Hermites Erzählungen, wenn es seine historische Zeit galt, aber desto mittheilsamer war er, wenn er auf seine mit Technik und Mechanik und vor allem mit dem Bergwerkswesen in Zusammenhang stehenden Pläne zu sprechen kam. War er doch vor allem ein Entdecker und Erfinder, und wenn er auch unzweifelhaft an seiner kommunistischen „Idee“ mit einem stillen Fanatismus festhielt, so gab es doch eins, was in seinen Augen der „Idee“ gleich kam, das war das „Projekt“. Ja, er war vielleicht über alles andere hinaus seiner ganzen Natur nach nichts als ein Projektenmacher, und was er die „Durchführung seiner Idee“ nannte, war eigentlich auch nur Projekt und hätt’ ihn, wenn es anders gewesen wäre, schwerlich in seinem Gemüthe derart ergriffen, wie’s jetzt thatsächlich der Fall war. Er hielt Lesseps für den größten Mann des Jahrhunderts, und Isthmusdurchstechung oder eine Tunneleisenbahn unter dem Kanal zwischen England und Frankreich hin, Ausschöpfung der Zuydersee und Füllung der Saharawüste mit Oceanwasser waren Dinge, die seiner Seele mindestens so hoch standen, vielleicht noch höher als der Sieg der Kommune.

* * *

Es war in einer Nacht nach einem solchen Gespräch mit L’Hermite. Lehnert schlief noch nicht lang, als ein Klopfen ihn weckte. Wer es sein könne, war ihm kaum zweifelhaft, und erging auf die Thür zu und öffnete. Wirklich, es war L’Hermite, nur in Pantoffeln und weitem Beinkleid und sein Käppi wie gewöhnlich im Nacken. In der Linken hielt“ er einen Leuchter, drin ein Lichtstümpfchen, mit einem Dieb am Docht, steckte, das ein rußigqualmendes, flackerndes Flämmchen gab. Das Groteske ging unter in dem Schmerzlichen der Erscheinung. Er mühte sich, [150] überlegen drein zu schauen, und schien über sich und die Welt lachen zu wollen, aber ein mächtigeres Gefühl hielt seinen Spott im Bann, und er sah aus wie der Tod auf der Maskerade, der tanzen will. Endlich nahm er Platz, während Lehnert sich ihm gegenüber setzte.

„Ihr könnt nicht schlafen, Monsieur L’Hermite. Was giebt es?“

„Es sah wer in mein Fenster.“

Wer?“

„Ich sah ihn nicht. Aber er hielt ein Kreuz vor der Brust.“

„Das war das Fensterkreuz und der Mondschein dahinter.“

L’Hermite lächelte. Lehnert aber, der das Grauen, das ihn mit erfaßt hatte, dem Freunde wie sich selber wegreden wollte, suchte bei seinem zwangsweis angeschlagenen Heiterkeitstone zu beharren und sagte: „Sinnestäuschung, Monsieur L’Hermite! Wer Euch ins Fenster sehen will, muß von unten her eine Leiter anlegen.“

„Oder von oben!“

Er sprach das so, daß Lehnert verstummte. Und nun saßen sie sich einander gegenüber und zwischen ihnen schwebte das Licht, dessen Flackerschein von dem Spiegelchen zurückgeworfen wurde.

So verging eine Weile. Dann sagte Lehnert: „Es giebt eine Himmelsleiter und die Engel steigen hernieder, so steht geschrieben . . . Und vielleicht auch die des Gerichts. Glaubt Ihr solche Dinge?“

„Nein! Aber das Märchen hat nun mal Gewalt über uns, das Eiapopeia, das uns schon von der Wiege her gesungen wird. Da liegt es. Wir zittern vor dem Spuk und haben kein Mark in der Seele.“

Lehnert schwieg. Endlich sagte er: „Monsieur L’Hermite, drüben ist der Mond und der Mond ist nicht jedermanns Sache. Bleibt hier, legt Euch auf das Ruhebett!“

L’Hermite aber erhob sich wieder von seinem Platz, legte seine Hand auf Lehnerts Schulter und sagte: „Nein, wir wollen lieber in die Kapelle gehen; ich will da das Kreuz vom Altar nehmen und es Hochhalten und den Geist anrufen. Denn der Geist ist die Idee. Die Kapelle soll ’mal etwas anderes hören, als die Geschichte von Pharaos Traum und den ewigen sieben Kühen. Obadja persönlich ist eine fette Kuh, aber seine Predigt ist eine magere. Kommt! Ich will sein Tabernakel in einen Tempel der Idee verwandeln und will bloß vor zweien sprechen, vor Euch und dem Mond. Das ist nur genug.“ –

Es war nicht leicht, Monsieur L’Hermite von seinem Vorhaben ab- und in sein Zimmer zurückzubringen. Endlich gelang es, und nachdem Lehnert, des noch immer draußenstehenden Mondes halber, die Läden des einen Fensters geschlossen hatte, ging er in sein eigenes Zimmer zurück, um hier wieder sein Lager aufzusuchen. Er war nun selber Zeuge gewesen von der gelegentlichen Geistesgestörtheit L’Hermites, von der er schon gehört hatte. „Wenn es nicht sein Gewissen ist“, hatte Toby damals hinzugesetzt. Und Lehnert wiederholte jetzt Tobys damalige Worte.

Der andere Tag war ein Sonntag. Lehnert erschien zur Morgenandacht, beurlaubte sich aber gleich danach für den ganzen Tag, um ins Gebirge zu reiten, in die Ozark-Mountains, deren viele Meilen langen Zug er nun seit einer Reihe von Wochen in beinah’ nächster Nähe vor sich sah, ohne daß es ihm bisher möglich gewesen wäre, sie zu besuchen. Die Woche gehörte der Arbeit und der Sonntag der Betrachtung und Ruhe, worauf Obadja mit einer ihm sonst nicht eigenen Strenge hielt. Ausnahmen waren aber statthaft, und Lehnerts musterhafte Innehaltung aller Hausgesetze während seiner jetzt mehr als zweimonatigen Anwesenheit in Nogat-Ehre ließ es Obadja nicht schwer fallen, heute einen solchen Ausnahmefall eintreten zu lassen.

Es war der zweite September, und als Lehnert eben eine leis ansteigende Ebereschenallee hinauf ritt – er hatte sich für einen kleinen Umweg entschieden – entsann er sich mit einer gewissen Freudigkeit, daß es der Sedantag war. Er versenkte sich wieder in die Vorgänge von damals und sah wieder den Angriff der Chasseurs d’Afrique und wie die Säbel und rothen Käppis der attakierenden Schimmelschwadron in der Sonne blitzten.

Solche Bilder vor der Seele, ritt er weiter, allmählich aber bog die Ebereschenallee wieder nach links ein und ging in einen Birkenweg über, der sich alsbald in geringer Entfernung von dem in Trümmern liegenden Fort O’Brien ins Gebirge hineinzog. Als er in Höhe dieser Stelle war, stieg er ab und band sein Pferd an einen Baum, um, eh’ er weiter ritt, erst dem merkwürdigen Trümmerhaufen, auf den sich, von seinem Fenster aus, sein Auge manches liebe Mal gerichtet hatte, seinen Besuch zu machen. Fort O’Brien war vor kaum mehr als zwanzig Jahren in einem der vielen kleinen Kämpfe mit den Indianern von diesen erstürmt und zerstört worden, wobei Dach und Inneres gänzlich verbrannt, der Wallgang aber sammt seinen Palissaden und vor allem ein an einer Ecke stehender abgeflachter Steinthurm in leidlich gutem Zustände verblieben waren. Lehnert kroch, als er das Fort erreicht hatte, überall umher, erstieg den Thurm auf einer noch wohlerhaltenen Wendeltreppe und sah nun zurück nach Nogat-Ehre hin. Die Entfernung war ziemlich bedeutend, aber die wundervolle Klarheit der Luft ließ ihn alles aufs bestimmteste erkennen. Das Eckfenster zur Linken, das war das seine, und das an der anderen Ecke, da wohnte Ruth. Es war ihm, als sah’ er sie, und indem er ihrer gedachte, gedacht’ er auch schon des Augenblicks der Rückkehr und sah sich die Treppe hinaufsteigen und vernahm andächtig den Choral, den sie mit klarer Kinderstimme sang. Und nun bog er in den Korridor ein und hörte wieder deutlich, wie die Thür ins Schloß fiel, und wie sich Monsieur L’Hermite wie herkömmlich von seinem Lauscherposten zurückzog. Und während er das alles im Geiste vorwegnahm, trat er, sich wieder erinnernd, wo er war, an die Brüstung des alten Thurmes heran und pflückte, sich bückend, allerlei kleine Blumen, die hier aus dem zerbröckelten Gestein reichlich aufsproßten, und band einen Strauß, den er mitnehmen und Ruth überreichen wollte.

Das Pferd nagte noch ruhig an den Birkenzweigen, als er nach einer Weile zurückkam, um wieder in den Sattel zu steigen. Der Weg aber, der immer steiler anstieg, erschien ihm jetzt mehr und mehr wie die Krummhübler Straße zwischen dem „Goldenen Frieden“ und dem „Waldhaus“, und der Gebirgsbach, der da neben ihm schäumte, das war die Lomnitz, die vom Mittagsstein und den Teichen herunter kam. Und unwillkürlich sah er auch nach dem Inselchen aus und ob er das Haus sähe, sein Haus, mit den zwei Brückenstegen und dem Schindeldach und dem sich am Haus hin und dann bis aufs Dach hinaufrankenden gelben Rosenstrauch. Er sah aber nichts als Tannen und wieder Tannen und dann und wann eine Lichtung, und dabei wurde der Weg immer enger und steiler, bis zuletzt ein Quell kam, der aus einer niedrigen, aber senkrechten Felswand sprang und dicht darunter in einen aus vier mächtigen Steinen gebildeten Kessel fiel. Und an dem Kessel hin lief ein Pfad und dahinter kam ein Moorstreifen, und verdorrtes Gras und Huflattich . . . Und dann kam ein Kussetgebüsch . . . Und da lag wer . . .

Und Lehnert hielt an und fuhr mit der Hand über Stirn und Auge, wie wenn er das Bild verscheuchen wollte. Aber es wich nicht. Und zuletzt gab er dem Pferde die Sporen und ritt, so rasch es der Weg zuließ, immer Höher bergan.

Nur einmal noch sah er nach der Stelle zurück.

„Das ist der, der bei L’Hermite ins Fenster sah.“


20.

Mitte September war herangekommen. Die Ernte war herein und es traten Tage der Ruhe ein für Lehnert. Nicht so für Obadja; denn ihm brachte der Herbst das große Fest der Fußwaschung, welches die Gemeinde der Mennoniten alljährlich um diese Zeit zu feiern Pflegte. Aus weitem Umkreise kamen die Lehrer und Prediger, und mit ihnen viele bekehrte Rothhäute, Männer und Frauen, die während des Festes in die Gemeinde der „Taufgesinnten“ ausgenommen werden sollten. In dem großen Betsaal zu Nogat-Ehre waren überall Laub- und Blumengewinde gezogen, am reichsten an der dem Eingang gegenüberliegenden Empore, auf welcher Ruth mit dem Chore der Mennonitentöchter ihren Platz hatte.

Die feierliche Taufhandlung war vorüber und Obadja war von dem Taufbecken wieder an den Altar getreten, um die eigentliche Predigt zu halten, die – wie gewöhnlich bei diesen Jahresfesten – die Hauptunterscheidungspunkte der mennonitischen Lehre betonen sollte. Der Text aber, den er seiner Predigt zu Grunde gelegt hatte, war der: „Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen“ und daneben der andere Spruch: „Die Rache ist mein, spricht der Herr“. Er sah, als er diese Worte sprach, zu Lehnert hinüber, der sein Auge vor dem ruhigen Blicke des Alten senkte. Dann aber wandte sich dieser der Auslegung seiner Textesworte zu und [151] }stellte die Bilder kriegerischen und friedlichen Lebens einander gegenüber. Alles Blut, das flösse, flösse zum Unheil, und nur einmal sei Blut zum Heil geflossen, freilich nicht zum Heile derer, die’s vergossen, wohl aber zum Heile der Menschheit, um deretwillen es floß. Alles andere Blutvergießen aber sei Sünde, zumeist wenn es flösse der Rache des einzelnen zu Liebe. Das führe zu sicherem Untergang und Verderben. Aber auch der große Krieg sei Sünde, auch das Blutvergießen um Land und Herrscher und selbst um des Glaubens und der Freiheit willen. Und so hab’ er denn auch in diesem gesegneten Lande den Krieg beklagt, den Nord und Süd um die Frage der Befreiung ihrer schwarzen Brüder geführt hätten, so sehr er dieser Befreiung selbst entgegengejubelt habe, Fortschritt und Freiheit sollten freilich ihren Einzug halten in die Welt, aber auf einer Palmenstraße, nicht auf einer Straße, da die Kriegsknechte zu beiden Seiten am Wege stehen. Absage dem Krieg, das sei die Lehre der Taufgesinnten. „Und so höret denn zum Schluß: Uebermuth macht Krieg, Demuth macht Frieden. Und der Frieden im Gemüth ist das Glück und die Vorbereitung zum ewigen Heil. Selig sind die Friedfertigen, selig sind, die reines Herzens sind. Die Rache ist mein, spricht der Herr.“

Obadja schwieg jetzt, und im Augenblick, als er die Stufen verließ, klangen von der Mittelempore her die Töne eines Chorals.

Es war Ruth, deren Stimme mit wunderbarer Klarheit durch den Saal drang, während die jungen sie umstehenden Mädchen die Palmenzweige, die sie in ihren Händen trugen, immer Höher über ihr emporhielten. Lehnert sah hinauf, zitternd vor innerster Bewegung, und wollte die Friedensstätte meiden, die seine Stätte nicht mehr war. Aber eh’ er sich erheben konnte, da war der letzte Vers zu Ende und Ruth trat, fast verdeckt von den über sie gehaltenen Zweigen, in den Hintergrund der Empore zurück.

L’Hermite, der trotz seiner abweichenden Ansichten dieser Feier mit großem Eifer folgte, wurde nicht müde, stille Zeichen des Beifalls zu geben und huldigend hinauf zu grüßen, aber ehe er noch einen Gegengruß eintauschen konnte, vernahm er unmittelbar neben sich einen schweren Fall und sah, sich wendend, daß Lehnert, wie vom Schlage getroffen, zusammengebrochen war.

Alles drängte herzu, Marnschka und Toby und zuletzt auch Obadja und Ruth.

„Er ist todt.“

„Nein, erlebt,“ sagte Ruth im festen Glauben ihres Herzens.

Und ihr Auge leuchtete, als sie so sprach.

Am andern Tage aber wurde Lehnert, nach voraufgegangener Beichte, selbst in die Gemeinde der Taufgesinnten ausgenommen.

* * *

Tobias und Ruth hatten von Anfang an eine Liebe zu Lehnert gehabt, die sich jetzt, nachdem er ein Mitglied der Gemeinde geworden war, unbefangener zeigen durfte, was dann selbstverständlich auch das Vertrauen auf Lehnerts Seite steigerte, so weit, daß es allmählich zur Vertraulichkeit wurde. L’Hermite, ganz unkleinlich und jedenfalls frei von jeder Eifersuchtsregung, hatte seine Freude daran, und so begann denn bei beiden ein Wetteifer nicht nur in ihrer Liebe zu den Geschwistern, sondern auch in der Erfüllung aller Wünsche, die Ruth und Toby hegten. Ja, die beiden sonderbaren Schwärmer, von denen der eine den Erzbischof von Paris und der andere den Förster Opitz auf dem Gewissen hatte, kannten nichts Schöneres, als für Miß Ruth zu denken und zu arbeiten, und fühlten sich belohnt, wenn sie lachte, nickte, dankte.

Der gemeinsamen Abende Lehnerts und L’Hermites wurden in natürlicher Folge davon immer weniger und an ihre Stelle traten Familienabende, zu deren Abhaltung man sich auf Ruths Zimmer versammelte. L’Hermite, so sehr er sich dieser Abende freute, kam freilich seinerseits nur selten und immer nur auf besondere Aufforderung, desto häufiger aber stieg der Alte die Treppe hinauf und mit herzlicher Genugthuung erzählten alsbald die Kinder, daß der Vater, seit der Mutter Tode, kaum jemals in ihrer Mitte so fröhlich und guter Dinge gewesen sei wie gerade jetzt.

Musikabende wechselten mit Leseabenden, und an einem der letzteren kam Pestalozzis „Lienhardt und Gertrud“ an die Reihe. Die Geschichte zog bald Alt und Jung ins Interesse, voran in lebhafter Theilnahme stand aber Lehnert, vielleicht weil er aus vielem, was da erzählt wurde, seine eigene Lebensgeschichte heraushörte. Lienhardt, das war er selbst, und der böse Vogt, der den armen Lienhardt quält und zum Schlechten verführt, das war Opitz. Er wollte immer mehr hören und war beinahe mißgestimmt, als man auf Obadjas Geheiß plötzlich abbrach und die Vorlesung bis auf den andern Abend vertagte. Wenigstens das nächste Kapitel, das sich „Niedriger Eigennutz“ betitelte, hätt’ er gern noch kennen gelernt, und so nahm er denn, als man sich bald danach zurückzog, das von Ruth auf einen Ecktisch gelegte Buch zur Befriedigung seiner Neugier mit in sein Zimmer hinüber und las bis Mitternacht. Dann schritt er noch eine Zeitlang auf und ab, um seiner Aufregung Herr zu werden, und öffnete dabei das Fenster und lehnte hinaus und sah nach dem in klaren Umrissen daliegenden Gebirge hinüber. Darüber flimmerten die Sterne. Ihm war es, als erblick’ er die Leiter, von der L’Hermite, in jener Mond- und Spuknacht gesprochen hatte, nur mit dem Unterschiede, daß er statt ihn ängstigender Schatten Engel und Lichtgestalten auf- und niedersteigen sah. Und nun schloß er das Fenster wieder und sah Ruth, wie sie drüben in halber Beleuchtung gesessen und in den Lesepausen des Vaters Hand gestreichelt hatte.

„Ja, wer so geboren wird, wen das Leben so wiegt und trägt . . . Armer Mensch, ich, arm und elend und verloren, wenn Gott nicht ein Wunder thut . . . Aber wie’s auch komme, doch gut, daß ich das alles noch erlebt . . . Und wenn er ein Wunder thäte! Hah’ ich es verwirkt? Ist ein Wunder unmöglich? Nie, sonst wär’ es kein Wunder.“

Und er lebte sich in diese Vorstellung ein und legte sich’s zurecht und sah wieder heiter in die Zukunft. Unklare, verschwimmende Bilder von Besitz und Glück und Ruhe stiegen vor ihm auf.


21.

So verstrich die Zeit bis Weihnachten, und ehe man sich’s versah, war der heilige Abend da. Die Bescherung für die Hausgenossen Obadjas und für die Mennonitenkinder war vorüber, und unter den Klängen von Obadjas Lieblingslied

„Valet will ich Dir geben.
Du arge falsche Welt“

waren die Kinder mit den Lehrern hinausgezogen aus der großen Halle, sich in die benachbarten Farmen zu vertheilen, wo sie für die Nacht Unterkommen finden sollten. Die Hausangehörigen blieben noch beisammen, in traulichem Gespräche um den Kamin gruppirt.

„Hast Du das Lied gekannt, das die Kinder sangen?“ fragte Obadja, zu Lehnert gewendet.

Ja, sagte Lehnert, er hab’ es gekannt, denn es habe dem Liederschätze seiner heimathlichen Dorfkirche mit angehört.

„Dann weißt Du auch wohl, von wem es ist?“

„Nein.“

„Aber das solltest Du doch. Es ist ein Landsmann von Dir, der es gedichtet hat, er hieß Valerius Herberger. Ihr Schlesier seid überhaupt bevorzugt in solchen Stücken, und ich möchte wohl, ich könnte von meiner alten heimischen Weichsel- und Nogatgegend dasselbe sagen. Wir sind arm und Ihr seid reich. Da habt Ihr den herrlichen Mann, den Zinzendorf, denn die Sachsen und Lausitzer sind schon wie halbe Schlesier, und da habt Ihr den herrlichen Paul Flemming und vor allem auch den Opitz.“

Lehnert verfärbte sich.

Als er aber sah, daß der Name voll Unbefangenheit gesprochen worden war, kam er rasch wieder zu sich und folgte mit scharfem Ohr, während Obadja fortfuhr: „Und zu diesen Erwählten unter Euch, die nun dastehen als eine Säule der neuen Kirche, zählt auch der Valerius Herberger, und wie sein Glaube in seinen Liedern lebt, so lebt er auch in seinen Werken. Und ich beuge mich vor diesem Manne. Kein Märtyrer, im Sinne der alten Kirche, hat er doch dem Tode Tag um Tag ins Auge gesehen. Er war Prediger in Fraustadt in Schlesien und in neun Wochen starb die Stadt aus, denn der schwarze Tod ging in ihr um. Mehr als dreihundert hat er persönlich unter Schulgesang mit bestatten helfen und doch blieb er bis zu Ende ohne Furcht. Manche Leiche begrub er mit dem Todtengräber ganz allein. Er ging voran und sang; der Todtengräber aber führte ihm die Leiche auf einem Karren nach, an dem ein Glöckchen hing, damit die Leute der Begegnung ausweichen konnten. Sein Trost war: wer Gott im Herzen und ein gut Gebet und’ einen ordentlichen Beruf hat und den Vorwitz meidet, dem kann der Teufel nicht ankommen und die Seuche noch weniger.“

[154] „Ah, das ist schön,“ sagte Ruth. Obadja aber nickte Ruth zu und fuhr dann fort: „Und als die Seuche fort und aus dem Lande war, da schrieb er: ‚es war all die Zeit über, als ob ein Engel mit dem Schwert mein Haus vertheidigt hätte, so daß mir kein Leid widerfahren durfte.‘ Und während dieser Zeit war es auch, daß er das schöne Lied dichtete, das, wie’s ihn aufrichtete, seitdem so viel tausend andere mit aufgerichtet hat.“

Die Lichter am Baum waren schon lange vorher gelöscht worden. Auch im Kamin fiel das Feuer zusammen und glühte nur noch dunkel. Aber die goldnen Nüsse blinkten in dem tiefen Licht nur um so goldner und der Christengel schwebte darüber.

„Ich denke, wir trennen uns,“ sagte Obadja. „Ruth, singe mir noch einmal die erste Strophe. Das soll heute mein Nachtgebet sein.“

Ruth that, wie ihr geboten.

Dann nahm Obadja das zunächststehende Licht, grüßte die noch Versammelten und ging auf sein Zimmer zu.

Auch die andern erhoben sich. In Lehnert aber reifte in dieser Nacht ein Entschluß, mit dem er seit Wochen und Monaten gerungen. Unter den überwältigenden Eindrücken der Feier, während der Ton von Ruths Gesang noch fortklang in seinem Ohre, drang es in ihm durch: es muß ein Ende gemacht werden, so oder so!

* * *

In der Halle war es um die Mittagszeit des folgenden Festtages leer und still. Die Indianerkinder hatten nach dem Frühgottesdienst die Erlaubniß bekommen, die Geschenke, die sie am Abend zuvor erhalten, von der großen Tafel wegzunehmen, und waren fröhlich lärmend nach ihren Dörfern abgezogen. Nur der Weihnachtsbaum ragte in dem Dämmerlichte – der Tag war trüb und grau – empor und erzählte von den glücklichen Stunden, die an ihm vorübergerauscht waren.

Obadja hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und eine halbe Stunde später erschien Ruth, um ihm das Frühstück zu bringen, das er um diese Zeit zu nehmen Pflegte. Sie setzte das Tablett vor ihn hin und wollte wieder gehen, aber er hielt sie fest.

„Du bist so still, Ruth. Hast Du mir nichts zu sagen?“

„Nein. Oder doch nur das eine, das Du längst weißt, daß ich glücklich bin und Dich liebe.“

„Und bist Du glücklich?“

„Ja.“

Sie sagte das mit einem Ton, der jeden Zweifel ausschloß. Und dann küßte sie seine Hand und verließ das Zimmer.

Sie wollte an dem Weihnachtsbaum vorüber die Halle durchschreiten, fuhr aber zusammen, als ihr Lehnert, den der Baum bis dahin verdeckt hatte, plötzlich entgegen trat. Indessen es währte nicht lang; im nächsten Augenblicke lachte sie wieder. „Lehnert, Du hier? Du schleichst ja wie durch den Forst.“

Sie wußte nicht, wie das Wort ihn traf, und setzte scherzhaft und in wiedergewonnener guter Laune hinzu: „Du darfst nicht vorher die goldnen Nüsse zählen; dazu ist Zeit heut abend, wenn wir den Baum plündern.“

Lehnert versprach alles und fragte dann, ob der Vater in seinem Zimmer sei.

„Willst Du zu dem?“

„Ja.“

„Und das heut am Weihnachtstag und gleich nach der Predigt? Ei, das muß etwas Großes sein.“

„Ist es auch. Ich will ihn um etwas bitten. Und höre, Ruth, dabei fällt mir ein, Du könntest mir Glück dazu wünschen.“

„Wenn es etwas Gutes ist.“

„Ich glaube, daß es etwas Gutes ist.“

„Nun, dann von ganzem Herzen!“

Sie gab ihm die Hand, und während sie nach links hin und weit um den Tisch herum, auf den offenstehenden Flur zuschritt, ging Lehnert auf Obadjas Zimmer zu, von dessen Thür er den Vorhang zurückschlug.

Obadja saß an seinem Arbeitstisch, genau wie damals, als Lehnert zum ersten Male hier eintrat, und ganz wie damals gab er sich und seinem Stuhl eine rasche halbe Wendung und sagte: „Nun, Lehnert, was bringst Du? Nimm Platz!“

Lehnert setzte sich auch wirklich, schwieg aber befangen. Endlich war er seiner Verlegenheit Herr und begann damit, ihm für das zu danken, was er gestern abend über den Valerius Herberger gesagt habe. Das hab’ ihn die ganze Nacht nicht schlafen lassen. Er fühle, daß das das rechte Leben sei: sich, mit Gott im Herzen, vor dem Tode nicht zu fürchten. Und solches Leben zu führen, das sei so recht seine Sehnsucht. Und wenn ihn der Teufel der Eitelkeit und Selbstgerechtigkeit nicht verblende, so möcht’ er wohl sagen dürfen, er glaube, daß er nicht bloß die Sehnsucht, sondern auch die Kraft dazu habe.“

„Glaub’s, Lehnert, glaub’s . . . Aber Du wolltest mir etwas anderes sagen.“

„Ja,“ bestätigte Lehnert, „das wollt’ ich. Und wenn es vermessen und hoffnungslos ist, was ich sagen werde, dann will ich fort und zwar lieber heut wie morgen.“

Und nun hielt er inne, gewärtig dessen, was Obadja sagen würde.

Der aber schwieg beharrlich und schien nur durch Blick und Handbewegung andeuten zu wollen, daß Lehnert weiter sprechen möge. Da fiel denn auch alle Furcht von ihm ab und er ließ sein Herz nicht bloß reden, sondern ihm alle Zügel schießen. Er liebe Ruth. Er wisse wohl, daß er ein schlechter Mensch und des Glückes, das er begehre, durchaus unwürdig sei. Selbstgerecht und gewaltthätig sein, das seien die Fehler seiner Jugend gewesen und die Wurzeln des Verbrechens, um dessentwillen er seine Heimath habe meiden müssen, aber er glaube sagen zu dürfen, das alles liege jetzt weit zurück, und seit dem Tage, der seine Bekehrung gebracht, steh’ es fest in ihm, daß die Reinheit und der Friede des Herzens das einzige Heil seien. Das Lied, das damals gesungen worden sei, das hab’ ihn bekehrt und wenn nicht das Lied, so die Stimme.

„Und wenn nicht die Stimme, so Ruth,“ lächelte Obadja. Aber Lehnert sah es nicht. Er hörte nur heraus, was freundlich darin klang, und wiederholte mit Unbefangenheit: „Ja, Ruth! Sie ist es, der ich alles schulde, und sie wird mir auch dann noch das Glück bedeuten, wenn ich es in diesem Augenblicke für immer hinschwinden sehe. In Noth und Armuth und in noch Schlimmerem bin ich großgezogen worden. Das heimathliche Haus hat nichts für mich gethan und die Schule nicht viel, und alles, was ich bin, das hat zu Gutem und Schlimmem das Leben aus mir gemacht. Ich sehe hinauf zu Ruth. Aber meine Liebe ist groß und gleich groß mein Wille, sie glücklich zu machen. Mein, Wille und hoffentlich auch meine Kraft.“

Und nun sah er Obadja fest an und erwartete sein Urtheil. Der Alte schwieg aber und begegnete seinem Blicke mit nichts als freundlicher Ruhe. Dann erhob er sich, ging auf Lehnert zu und sagte: „Weiß Ruth davon?“

„Nein.“

„Nun, dann gedulde Dich, Lehnert! Es ist Rahel, um die Du wirbst . . . Ich werde Dir Antwort sagen.“


22.

„Gedulde Dich! Ich werde Dir Antwort sagen.“ Hundert mal wiederholte sich’s Lehnert, und als Obadja am andern Morgen die Andacht gehalten und wie herkömmlich ein Bibelkapitel gelesen hatte, hoffte Lehnert, daß nun das Wort, das über sein Leben entscheiden sollte, gesprochen werden würde. Aber das Wort blieb aus und er verzehrte sich tagelang darüber, daß es ausblieb. Er wurde wie krank im Gemüth und mied es nach Möglichkeit, mit Ruth und mehr noch mit Obadja zusammenzutreffen. Als aber, ohne daß ein Wort laut geworden wäre, das neue Jahr angebrochen war, war er entschlossen, mit dem Elend ein Ende zu machen und sich wieder in sein altes Leben zurückzufinden.

Das wär’ ihm nun freilich einfach unmöglich gewesen, wenn die Haltung Obadjas irgend etwas gezeigt hätte, was auf Mißstimmung oder gar auf Uebelwollen und Ablehnung hätte gedeutet werden können. Aber eher das Gegentheil war der Fall. Keine Begegnung verging, ohne daß Lehnert einen freundlichen Blick erhascht hätte, was noch wuchs, als Obadja sich überzeugte, daß in der That keine Heimlichkeiten zwischen den jungen Leuten bestanden und Ruth ohne jede Ahnung von dem Schritte war, den Lehnert gethan hatte. So kehrte denn ein gewisser Zustand der Ruhe, wenigstens äußerlich, zurück, und wenn Lehnert jetzt, was nur zu oft geschah, seines Weihnachtzwiegespräches mit Obadja gedachte, so hielt er sich immer nur das eine vor, daß der Alte hinzugesetzt hatte: „es ist Rahel, um die Du wirbst.“ Das war, das sah er jetzt ein, mit gutem Bedachte gesagt worden [155] und jedenfalls zu dem Zweck, ihn wissen zu lassen, daß es einer langen Probezeit bedürfe.

Ja, der frühere Zustand der Ruhe kehrte zurück, und als der Winter auf die Neige ging und der Frühling anbrach, wurden auch die Feldarbeiten im ganzen Umfange wieder ausgenommen. Ueberall gab es ein Pflügen und Säen, und Lehnert war bei Beaufsichtigung der Arbeit oft bis halben Wegs nach Darlington oder auch, nach der andern Seite hin, bis an den Abhang der Berge hinaus. Auch Toby war mit Uncas viel draußen, um auf Hühner zu jagen, welche Form der Jagd der Alte, trotz grundsätzlicher Bedenken, gelten ließ, ja geradezu begünstigte, da zu seinen kleinen Schwächen auch die gehörte, den Freuden der Tafel nicht abgestorben und besonders in Bezug auf Bekassinen ein Feinschmecker zu sein.

Eine dieser Jagden auf Hühner hatte sich an einem schönen Märztage bis an eine fast schon zu Füßen von Fort O’Brien gelegene Sumpfstrecke gezogen, und Toby, gegen abend mit reicher Ausbeute heimkehrend, zeigte sich entzückt von dem landschaftlichen Anblick, den er kurz vor Beendigung seines Jagdausfluges von dem Wallgange des halbverfallenen Forts aus gehabt habe; der ganze Hügelabhang habe ihm den Anblick eines großen Blumengartens gewährt, viel, viel schöner als irgend etwas derart, was er je gesehen habe, denn in beinahe felderartigen Streifen sei die ganze Schrägung mit Frühlingsblumen überdeckt gewesen. Ruth, anfänglich ungläubig, war endlich doch von seiner Begeisterung mit hingerissen worden und hatte bei dem abschließenden Vorschläge, am andern Nachmittag eine Partie hinaus zu machen und auf der von Palissaden umstellten Bastion ein Picknick abzuhalten, ihre alte Dienerin Maruschka wie selig am Arm genommen und war mit ihr durch die Stube getanzt. Zugleich aber hatte sie sich vorsorglich erboten, den Vater nicht bloß zur Zustimmung, sondern selbst zur Theilnahme bewegen zu wollen, was ihr, wie sie wohl wußte, nicht schwer werden konnte, da sie seine Pläne kannte, das Fort von der Regierung zu kaufen und nach erfolgtem Ausbau zum Mittelpunkt eines neuen Vorwerks zu machen. Ein solcher Ausflug aber, so rechnete sie, würde ihm erwünschte Gelegenheit bieten, die ganze Sache mit unbefangenem Auge nochmals zu prüfen.

Und siehe da, Ruth hatte sich nicht verrechnet. Obadja war auf alles mit bemerkenswerther Freudigkeit eingegangen, und so ward denn die zweite Nachmittagsstunde des folgenden Tages für den Ausflug nach Fort O’Brien festgesetzt.

In zwei Wagen fuhr man hinaus und fand die mit den Eßvorräthen vorausgefahrenen Kaulbarse bereits am Eingang in die Bergschlucht vor, an einer geschützten Stelle, von der aus eine links einbiegende Steintreppe beinahe unmittelbar bis nach Fort O’Brien hinaufführte. Man begrüßte sich herzlich, und als man, oben angelangt, an ein Auspacken der seitens der Kaulbarse mitgebrachten Körbe ging, überzeugte man sich, daß dieselben in ausgiebigster Weise für das leibliche Wohl vorgesorgt hatten. Topf- und Blechkuchen, Mohnstrietzel und Marineladentöpfe stiegen in großen Mengen aus der Tiefe der beiden Körbe herauf.

„Aber nun ein Feuer,“ sagte Toby. „Wir können nicht die Verwegenheit haben, uns trocken durch diesen Kuchenberg hindurch essen zu wollen; daran würde selbst Maruschka scheitern. Also Kaffee, viel Kaffee, sonst sind wir verloren, und hier unter dieser Ahornplatane, die nicht bloß Schatten giebt, sondern auch warm und behaglich unterm Winde liegt, hier wollen wir das Feuer machen. Ich denke, wir holen uns alte Bretter aus dem Fort, das Jungholz hier herum ist noch zu naß, und wenn wir keine Bretter finden, nun, so brechen wir einen Pfahl heraus, sind ihrer ja die Menge vorhanden, und auf Vernichtung von Staatseigenthum werden wir wohl nicht verklagt werden.“

Und so sprechend, trat er an die mit spitzen Pfählen dicht umstellte Brüstung des alten Wallganges heran und versuchte mit aller Anstrengung, eine der Palissaden herauszuwuchten; Ruth wollte ihm behilflich sein und mühte sich, einen ziemlich großen Stein loszumachen, der dicht neben eben diesem Palissadenpfahl eingebettet lag. Ihre kleinen Hände waren aber zu schwach, und so sprang denn Lehnert herzu, um ihr bei dem Lockern des Steins nach Möglichkeit behilflich zu sein. Und es gelang auch. Aber im selben Augenblicke, wo der Stein sich löste, fuhr eine Kreuzotter darunter hervor, biß Ruth in das Handgelenk und war dann im Nu die Palissade hinab und in dem Blumengewirr verschwunden.

Mit einem Schrei sank Ruth in die Kniee und sagte mit unaussprechlich trauriger Stimme: „Nun muß ich sterben.“

Aber kaum daß sie diese Worte gesprochen hatte, warf sich Lehnert neben sie nieder, ergriff ihre Hand und sog mit leidenschaftlicher Gewalt und ehe sie’s hindern konnte, das Gift aus der Wunde.

Das Ganze war wie ein Blitz; Gefahr und Rettung nur ein Augenblick. Ruth aber verblieb in ihrer knieenden Stellung und sagte: „Nun stirbst Du.“

„Nein, Ruth, nein! Und wenn . .. Was liegt an mir?“


23.

Lehnert wurde tags darauf von einem heftigen Fieber befallen und alle fürchteten für sein Leben. Ruth und Maruschka waren in Thränen und L’Hermite wetterte durch das Haus hin und hielt Reden. Jeder klagte, selbst Martin Kaulbars, der freilich seiner glücklichen Beanlagung nach nicht umhin konnte, seiner Klage zugleich etwas von einer Anklage zu geben, „Das Gift auslutschen, sei der reine Unsinn und sollte bloß so was sein; ausbrennen, das sei das Richtige, das wisse jedes Kind, und das wäre auch für Miß Ruth das Beste gewesen und für den guten Schlesier auch. Nu wert’ er wohl dran glauben müssen. Und ob Miß Ruth durchkäme, das wär auch noch so so. Aber das käme davon, wenn man von nichts wisse und in allem zurück sei.“

Zum Glück kam es anders und alle Herzensnoth Ruths und alle Neunmalweisheit Martin Kaulbars’ erwiesen sich als ungerechtfertigt. Das Fieber, das Lehnert heimsuchte, hatte mit denn Gift nichts zu schaffen und war einfach eine Folge großer Aufregung und hinzugetretener Erkältung, so daß am dritten Tage schon der aus der Nachbarschaft von Fort Mac Culloch herbeigerufene Doktor Morrison die Versicherung einer vollständigen Genesung geben und selbstverständlich an dem Fest- und Freudenmahl, das Obadja denselben Abend noch veranstaltete, theilnehmen konnte.

Lehnert war sehr glücklich und empfing, als nun alle Sorgen abgethan waren, noch einmal die Danksagungen der Familie. Sein Glück wuchs aber noch, als am andern Morgen Obadja das Gebet sprach, worin es mit besonderer Betonung hieß, daß die Liebe der einzige Lohn für treues Dienen sei. Und gleich danach nahm der Alte die Bibel und las: „Und Jakob gewann die Rahel lieb und sprach: Ich will Dir sieben Jahre um Rahel dienen. Und Laban antwortete: Es ist besser, ich gehe sie Dir, denn einem andern. Also dienete Jakob um Rahel sieben Jahr und däuchten ihn, als wären es einzelne Tage, so lieb hatte er sie.“

Ruth erröthete. Denn ohne daß ein Wort zwischen ihr und Obadja gesprochen worden wäre, wußte sie doch Mir zu wohl, daß der Vater in ihrem Herzen gelesen hatte.

Ja, Lehnert war glücklich, und nur eines war es, was ihm fehlte: sich über sein Glück aussprechen zu können. Er fühlte, so widerstrebend er sich dies auch eingestand, noch kein Recht dazu, denn das Wort, das ihm Obadja verheißen hatte, war noch immer ungesprochen geblieben, und so hielt er es denn einfach für seine Pflicht, in Zurückhaltung und Schweigen zu verharren.

Vielleicht, daß er trotz dieses starken Gefühls von dem, was sich vorläufig einzig und allein für ihn zieme, sein Schweigen dennoch durchbrochen hätte, wenn ihm L’Hermite, sein treuer Gefährte, mit mehr Neugier entgegengekommen wäre. Dieser vermied es aber offenbar, irgend eine Frage zu thun, ja zeigte sich geradezu sorglich beflissen, einem Gespräch über Ruth und Lehnert und ihr Verhältniß zu einander aus dem Wege zu gehen. Lehnert zerbrach sich den Kopf darüber, und zu der Pein des Schweigenmüssens gesellte sich auch noch die Frage, warum L’Hermite seinerseits jede Frage vermeide. Von Neid oder Eifersüchtelei konnte keine Rede sein, das lag nicht in L’Hermites Charakter oder war etwas längst Ueberwundenes, und wenn dieser, wie ganz augenscheinlich, der Liebe seines Freundes Lehnert zu Ruth trotzdem nicht froh wurde, so mußte ’was anderes vorliegen. Das Unbehagen, das Lehnert über diese Wahrnehmung empfand, war so groß, daß er schließlich, allen entgegenstehenden Selbstgelöbnissen zum Trotz, doch den Entschluß faßte, sich bei nächster Gelegenheit Gewißheit darüber verschaffen zu wollen.

Diese Gelegenheit bot sich denn auch bald. Es war ein Musikabend gewesen und Ruth hatte Lehnerts und auch L’Hermites Wunsch nachgegeben und ganz zum Schlusse noch einmal das Lied vorgetragen, das sie während der Septemberfesttage so schön und für Lehnert so entscheidungsvoll gesungen hatte. Dieser [156] war denn auch, ähnlich wie damals, von den Liebesworten und mehr noch von Ruths Stimme ergriffen worden und hatte Thränen im Auge, als das Lied schwieg. Auch L’Hermite war bewegt, und beide, wie wenn sie gewillt gewesen wären, sich den Eindruck nicht stören zu lasten, brachen früher als gewöhnlich auf und gingen in ihren Korridor hinüber. Einen Augenblick schwankten sie hier, wohin sich wenden, aber L’Hermites Zimmer, überhaupt das bevorzugtere, ward es auch heut, und nach rechts hin eintretend, nahmen beide Platz, Lehnert auf einem Schaukelstuhl, L’Hermite wie gewöhnlich mit untergeschlagenen Beinen auf seinem Arbeitstisch, den Schraubstock neben sich.

„Nun,“ sagte L’Hermite, während er eine kleine Eisenstange aus dem Schraubstock herauszog und damit zu spielen begann, „Lehnert, was giebt’s? Ich glaube, Ihr wollt mir etwas sagen.“

„Ja, seit lange schon.“

„Nun denn.“

„Ich liebe Ruth.“

L’Hermite lächelte. „Wer nicht?“

„Ah, ich versteh’. . . Ihr findet es anmaßlich“ – L’Hermite schüttelte den Kopf – „oder vielleicht ein Unrecht.“

„Weder das eine noch das andere.“

„Oder Ihr meint, sie liebe mich nicht?“

„Im Gegentheil.“

„Nun, was dann?“

„Mein lieber Lehnert,“ sagte L’Hermite und setzte sich in eine Art Positur, „Ihr wißt, daß ich nicht viel glaube. Aber ich glaube an Eines, an ein Fatum. Und weil es ein Fatum giebt, geht alles seinen Gang, dunkel und räthselvoll, und nur mitunter blitzt ein Licht auf und läßt uns gerade so viel sehen, um dem Ewigen und Räthselhaften, oder wie sonst Ihr’s nennen wollt, seine Launen und Gesetze abzulauschen.“

„Nun?“

„Und ein solches Gesetz ist es auch: wenn man erst ’mal heraus ist, kommt man nicht wieder hinein. Und da hilft kein Hoherpriester und kein Prophet, und wenn es Obadja selber wäre, gleichviel ob der alte oder der neue. Das Fatum ist eben stärker, und es ist das beste, lieber Lehnert, Ihr lebt Euch mit diesen, Gedanken ein. Ich Hab’ es gethan. Und wenn Euch das glückt, so werdet Ihr wenigstens Eines davon haben, dasselbe, was ich davon gehabt habe: das Glück der Einsamkeit. Und Ihr steht dann von Stund an über dieser armen Komödie, die Welt und Leben heißt.“

Lehnert starrte ihn an.

L’Hermite aber, dessen Bewegungen immer nervöser wurden, fuhr fort: „Gebt Ruth auf! Ihr kriegt sie nicht. Und wenn morgen die Hochzeit sein soll und die gute Frau Kaulbars so viel Kringel und Krausgebackenes bäckt, daß der Fettgeruch bis ans Ende der Welt zieht – ich sag’ Euch, Lehnert, Ihr kriegt sie doch nicht, Ihr fallt todt vorm Altar nieder. Und wenn nicht Ihr, so Ruth. Glaubt mir, es soll nicht sein. Es ist da so was Merkwürdiges in der Weltordnung, und Leute wie wir – Pardon, ich sage mit Vorbedacht, wie wir – die nimmt das Schicksal unter die Räder seines Wagens und zermalmt sie, wenn sie glücklicher sein wollen, als sie noch dürfen.“

[180]
24.

Lehnert war, als er nach L’Hermites Worten in sein Zimmer zurückkehrte, wie vom Blitz getroffen, doppelt, weil er sich wenn auch mit Widerstreben gestand, aus dem Munde L’Hermites nur das gehört zu haben, was ihm eine innere Stimme selber schon zugerufen hatte. Was unheimlich seinen Freund umschlich, umschlich auch ihn, immer wieder war es da. Warum war er so miterschüttert gewesen, als der mit dem Kreuz auf der Brust in jener Nacht bei L’Hermite ins Fenster gesehen hatte, und warum lag da wer am Weg, als er am Tage danach von Fort O’Brien aus zum ersten Mal ins Gebirge hinaufritt? Sinnestäuschung? Nein. Gewissen! Es half nicht Reue, nicht Beichte; was geschehen war, war geschehen, und im selben Augenblicke, wo nur noch ein Schritt, ein einziger, ihn von seinem Glücke zu trennen schien, sah er, daß dieser Schritt ein Abgrund war.

Er konnte keine Ruhe finden und zermarterte sein Gehirn mit dem, was kommen müsse. So verging ihm die Nacht und erst gegen Morgen schlief er ein.

Nicht lange schlief er. Aber so kurz der Schlaf gewesen war, so war es doch, als wären ihm Kraft und Muth zu gutem Theile zurückgekehrt, und als er das Fenster aufstieß und Frühlingsluft und Morgensonne hereindrangen, lösten sich die Vorstellungen, die sich während der Nacht, als wären es Gespenster, seiner Seele bemächtigt hatten, auf wie die Nebel, die drüben am Gebirge hinzogen. Eine Schuld lag auf ihm: aber hieß es nicht in dem Gebet, das Christus selbst uns gelehrt, „und vergieb uns unsere Schuld“? Und wenn Christus so gelehrt und geboten hatte, so mußte doch auch eine Möglichkeit der Erhörung sein und bei rechter Demuth und Zerknirschung auch wohl eine Gewißheit. So sann er weiter, und als er sich’s zurecht gelegt und bei der Morgenandacht das Auge des Alten so fest und freundlich wie nur je zuvor auf sich ruhen gefühlt hatte, war alles, womit L’Hermite ihn – und was schwerer war, er sich selber – geängstigt hatte, besiegt und verschwunden.

L’Hermite, der wohl sah, was in der Seele seines Freundes vorging, vermied es, auf seine düstere Prophezeiung zurückzukommen, ja er schlug umgekehrt, als sie wieder einmal bei einander saßen, einen halb heiteren Ton an, der darauf aus war, die Wirkung seiner Worte wieder abzuschwächen. Und so gut Lehnert einsah, daß das alles nur geschah, um ihn zu beruhigen, so trug es trotzdem nicht wenig dazu bei, seine Hoffnungen neu zu beleben.

[182] Auch Obadjas wachsend freundliche Gesinnung gab ihm viel von seiner alten Freudigkeit und Frische zurück; was aber dies Gefühl der Frische vielleicht am meisten belebte, das war, daß sich Tobys in letzter Zeit eine wahre Jagdleidenschaft bemächtigt hatte, zu deren Befriedigung, wie sich denken läßt, niemand geeigneter erschien als Lehnert, der die Tugenden eines guten Schützen mit denen eines erfahrenen Bergsteigers in sich vereinigte. Dies letztere war die Hauptsache. Denn von einem bequemen Absuchen wie früher an den niedrig gelegenen Sümpfen und Teichen hin war schon lange keine Rede mehr, vielmehr ging es bei jeder sich bietenden Gelegenheit hoch ins Gebirge hinein, und Weihen und Bussarde wegschießen, oder auch wohl einen Bartgeier beschleichen, das war jetzt das Jagdvergnügen, nach dem Toby dürstete.

Der Alte mißbilligte das und würde dagegen eingeschritten sein, wenn er nicht Tobys Charakter gekannt hätte, der alles mit Feuereifer angriff, aber nur um es nach kurzer Zeit wieder fallen zu lassen. Hierin fand er seine Beruhigung und ließ es geschehen, wenn Lehnert Toby auf seinen Ausflügen begleitete.

So war Ende Mai gekommen und Toby verlangte danach, einen Steinadler zu schießen, der – er wußte genau die Stelle, wo – hoch im Gebirge nistete. Dann aber wollt’ er zu dem Neste hinaufklettern und die zwei Jungen ausnehmen und großziehen, um sie dem Zoologischen Garten in Galveston zum Geschenk zu machen. Bei seiner letzten Anwesenheit daselbst war er nämlich eitel und unvorsichtig genug gewesen, dem Vorstande des Gartens ein solches Versprechen zu machen, und hielt nun die Durchführung für Ehrensache, worin er sich sogar von seiten Ruths bestärkt sah.

Es war am letzten Tag des Monats, daß sich Toby zu diesem Fange rüstete. Lehnert, der ins Feld mußte, konnte nicht mit, weshalb – wie schon bei früheren Gelegenheiten – ein jünger Arapahoindianer für ihn eintrat, der ein besonderer Liebling von Ruth und Toby war. Er hieß Short-arm, d. h. „Kurzarm“, weil er, infolge eines Armbruchs, einen etwas zu kurzen Arm hatte.

Beide, Toby und Shortarm, waren sehr früh, schon bald nach Mitternacht, aufgebrochen und hofften, mit Sonnenaufgang oben und spätestens um Mittag in Nogat-Ehre zurück zu sein. Aber die vierte Stunde war schon heran, ohne daß sich Toby gemeldet hätte. L’Hermite, von Ruth und Maruschka, die sich zu ängstigen begannen, ins Vertrauen gezogen, ging in Lehnerts Zimmer hinüber, um von dort aus nach dem Gebirge hin Ausschau zu halten, aber, so klar der Tag war, auf der ganzen zwischenliegenden Strecke war zunächst für ihn niemand sichtbar, bis er nach einer Weite Lehnerts gewahr wurde. Er kam von einem zu Nogat-Ehre gehörenden Vorwerk zurückgeritten, auf denn derzeit die Kaulbarse ihren Aufenthalt hatten. Die Sonne, die stark blendete, ließ den ruhig Herantrottenden anfänglich bei seinem Aufblick nicht viel erkennen, als er aber eine Weile danach den mit seinem Käppi winkenden L’Hermite deutlich bemerkte, wurd’ er stutzig und setzte sich, während er seinem Pferde die Sporen gab in einen rascheren Trab. Und nun war er heran und erfuhr von dem in der Flurhalle seiner bereits harrenden Freunde, daß man Tobys halber in Sorge sei. Sie sprachen noch, als auch Odadja hinzutrat und seiner Unruhe, der er bis dahin nicht hatte nachgeben wollen, den allerlebhaftesten Ausdruck gab. Die Wanduhr schlug halb halb fünf. Auch Ruth und Maruschka waren die Treppe herabgekommen und die gute Alte weinte heftig. Sonst schwieg alles und doch war es eine Scene voll immer wachsender Aufregung. Lehnert fuhr überlegend mit der Hand über die Stirn, L’Hermite pfiff und Obadja richtete sein Auge nach oben. Zwischen ihnen hin und her aber lief Uncas und winselte, und wenn er vor Lehnert stand, setzte er sich und sah ihn an und schien zu fragen: „Wo ist Toby?“ Das kluge Thier wußte: der allein kann helfen: Ihr anderen seid nichts.

In diesem Augenblicke that Ruth einen Schrei; Shortarm war die Rampe heraufgekommen, athemlos, und auf Obadja zustürzend, warf er sich vor dem Alten auf die Kniee und sagte: „Master Toby . . . “

„Ist todt?“

„Nein! Er hat sich verirrt. Wir verloren uns. Ich konnte ihn nicht mehr finden.“

Und nun erzählte er mit zitternder Stimme, daß Toby, dicht neben dem „Look-out“, dem höchsten der Berggipfel, auf einige dort auf dem Grat zusammengewürfelte Steintrümmer hinaufgestiegen, aber nach einer halben Stunde und länger noch immer nicht zurückgekommen sei. Auch kein Hilferuf. Nichts. Da sei er selber hinaufgeklettert. Aber kein Toby da. Todt könn’ er nicht sein. Denn es sei nicht hoch gewesen und keine Gefahr. Aber er sei weg. Er müsse sich in den Felsen oder weiter unten im Walde verirrt haben.

Obadja rang nach Fassung. Seine Tage waren gezählt. Wenn das der Ausgang war, daß ihm Gott den Jungen nahm, den Erben, für den er gelebt hatte . . . Und sonst so ruhig und überlegen, war er jetzt wie rathlos und schritt auf und ab. „Ich will beten,“ sprach er vor sich hin. „Aber Gebete . . . Gott will nicht bloß Gebete . . . Wir sollen auch thun, mitthun. So will es Gott. Dann hilft er . . . Lehnert . . . Alles, alles.“

Und dabei nahm er Lehnerts Hand.

Und über Lehnerts Züge flog es wie ein Glanz von Glück und er fühlte deutlich, der Tag, der über ihn entscheiden müsse, sei nun gekommen. Er ging auf Shortarm zu, riß ihm Gewehr und Jagdtasche von der Schulter und sagte: „Komm, Uncas!“

Und vor Freude heulend, sprang das schöne Thier in die Höh’ und folgte dem voranschreitenden Lehnert.


25.

Lehnert ging in starken, Schritt auf das Vorwerk zu, bog aber, eh’ er heran war, nach rechts hin in einen Querpfad ein, der ins Gebirge hinauf stieg. Oben wollt’ er dann den Kamm entlang gehen und von den höchsten Punkten aus Umschau halten. Er war von einem festen Vertrauen erfüllt, daß er Toby finden würde, wenn nicht unterwegs, so doch in Nähe der weit vorspringenden Felspartie, die wegen der mit Vorliebe darauf nistenden Adler schon von alter Zeit her den Namen „Eagle’s Point“, „Adlerspitze“ führte. Jeder Punkt an dieser Stelle war ihm, nach den vielen gemeinschaftlichen Jagdausflügen der letzten Monate, ziemlich genau bekannt; was aber sein Vertrauen noch stärkte, war der Umstand, daß etwa tausend Schritt von Eagle’s Point entfernt ein noch höherer Kegel aufragte, der erwähnte „Look-out“, der nicht bloß wundervolle Fernblicke, sondern einen genauen und leichten Einblick in die nächstgelegenen Felspartieen, am besten aber in die von Eagle’s Point gewährte. Vom Look out aus mußt’ er Toby sehen oder ihn anrufen können, denn dieselbe klare Lust, die das Sehen erleichterte, trug auch den Schall fort.

Es war um die siebente Stunde, daß er an der Stelle hielt, wo der Look-out-Kegel erst in einer mäßigen Schrägung, dann aber einen Knick, eine Stufe machend, in beinah senkrechter Steile anstieg. Am Fuße der gesammten Felsmasse, Sockel wie Spitze, sprang ein Quell und fiel in einen ausgehöhlten Stein. Und hier bückte sich Lehnert, um zu trinken, und stieg dann den unteren Absatz bis zu dem Einknick hinauf. Er war müde geworden und hätte hier gern eine kleine Weile gerastet, um neue Kraft zu sammeln; aber die Sonne stand schon tief, und so war denn keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er noch mit Hilfe des Tageslichts einen leidlich guten Einblick in die Spalten und Klüfte haben wollte. So warf er denn nur die Jagdtasche bei Seite, die ihm beim Klettern bloß hinderlich gewesen wäre, und stieg höher hinauf. Uncas wollte mit. Es war aber zu steil und zu glatt für ihn und, unglücklich, Lehnert nicht folgen zu können, blieb er auf dem breiten Rande, den der Einknick bildete, zurück und legte sich neben die Jagdtasche. Daß er etwas zu hüten hatte, schien ihm ein Trost.

Der Aufstieg ging besser, als Lehnert erwartet hatte. Die Steile zeigte sich freilich beträchtlich, aber überall waren Spalten und Risse, die dem Fuß einen Halt gaben, und an mehr als einer Stelle stand Zwergholz und hier und da selbst ein Busch, daran der Kletternde sich halten und mit nicht allzuviel Schwierigkeit hinaufziehen konnte. Die ganze Höhe betrug keine hundert Fuß, und ehe fünf Minuten um waren, war Lehnert oben und genoß eines wundervollen Umblicks. Zur Linken, unmittelbar über dem Kamm, stand der Sonnenball und goß seine Gluth derart über die ganze lange Berglinie hin ans, daß beide Seiten des Kamms in einem hellen Lichte lagen. Weiter abwärts freilich herrschte schon Dämmerung, was übrigens nicht hinderte, daß Lehnert die weite Thalmulde, bis zu den Shawnee-Hills hin, überblicken konnte. Das da drüben mußte Fort Holmes sein und die vereinzelt aufblinkenden Lichter im Thal bezeichnetn die Linie, wo die Bahn lief. Und zuletzt weilte sein Blick auf Nogat-Ehre. Da lag es. Das erste Haus, das war Obadjas, da wohnte Ruth und er grüßte hinüber. Ja, einen Augenblick vergaß er fast, um was er hier war, und erst als er sich’s wieder vor die Seele [183] gestellt hatte, rief er Tobys Namen. Aber nur das Echo antwortete. So vergingen Minuten. Alles blieb still. Das über den Kamm hin ausgebreitete Licht erlosch und Lehnert fühlte, daß es keinen Sinn mehr habe, auf seiner Felsenhöhe zu verweilen. Und so wollt’ er denn rasch wieder hinab, um wenigstens vor Beginn völliger Dunkelheit noch bis Eagle’s Point zu kommen, wo, wenn das Rufen vergeblich blieb, Uncas ihm Beistand leisten und in dem Gestrüpp umhersuchen konnte. Fand er ihn nicht – und seine frühere Zuversicht hatte ihn zu nicht kleinem Theil verlassen – so wollt’ er nach dem Vorwerk zurück und am andern Morgen von dort aus das Suchen erneuern.

Er hatte sich die Stelle gemerkt, wo er aufgestiegen war, und an eben dieser Stelle wollt’ er auch – schon der ziemlich vielen Sträucher und Zwergbüsche halber – wieder zurück. Die waren ihm eine Hilfe, wenn er ins Gleiten und Glitschen kam. Zwei-, dreimal hatte er beim Ausrutschen zufassen und sich halten können; auch der Gewehrkolben kam ihm mehr als einmal zu paß, und bis zu der Stelle hin, wo Uncas die Jagdtasche bewachte, waren keine dreißig Fuß mehr. Auch die Steile war hier geringer, und so gab Lehnert denn die Vorsicht auf, die er bis dahin geübt hatte. Aber nicht zu seinem Heil. Denn mit einemmal kam er in ein halbes Stürzen, und weil zufällig kein Strauch mehr da war, dran er sich klammern konnte, schoß er wie von einer Rutschbahn mit aller Gewalt auf den Plateaurand nieder und mußte froh sein, unterwegs auf eine stumpfe Steinkante zu stoßen, die den Sturz einigermaßen aufhielt. In der That war die Erschütterung, als er auf dem Plateaurand ankam, nicht allzu groß, ebenso wenig empfand er einen Schmerz, und so stand er denn auf dem Punkt, zu dem Stein des Anstoßes, der den jähen Absturz gehemmt hatte, sich aufrichtig zu beglückwünschen, als er bei dem Versuche sich aufzurichten erkennen mußte, daß der Stein des Anstoßes wohl geholfen, aber doch noch mehr geschadet habe. Der Hüftknochen mußte ihm, als er mit der Hüfte gegen den Stein fuhr, aus dem Gelenk gesprungen sein. Er erhob sich mit äußerster Anstrengung, aber nur um im selben Augenblick wieder zusammenzubrechen. Jetzt kamen auch Schmerzen, begleitet von einer schweren Ohnmacht, und als er nach einiger Zeit – er wußte nicht, nach wie langer – wieder erwachte, standen schon die Sterne am Himmel.

Ueber sich die Sterne und unten die Lichter von Nogat-Ehre, sonst alles dunkel um ihn her. Dazu kam ein Frösteln. Er hing sich mühsam die neben ihm liegende Jagdtasche um und schob sich seitwärts bis an eine Stelle, wo ein Erlenbusch stand, verkrüppelt, mit halb am Boden ausgestrecktem Gezweig. Unter dies Gezweige kroch er. Es gab Schutz gegen den Nachtwind; Uncas legte sich neben ihn und als Mitternacht heran war, schlief Lehnert ein.

Er schlief mehrere Stunden und die Sonne stand schon über dem Horizont, als er aufwachte. Die Schmerzen hatten nachgelassen, aber das Bewußtsein seiner Lage packte ihn jetzt mit doppelter Gewalt. Gewiß, daß man im Laufe des Tages nach ihm suchen werde. Gewiß, gewiß! Und sie würden ihn auch finden. Aber wann? Bis dahin war es vielleicht um ihn geschehen. „Und wenn es so kommen soll, wenn kein Entrinnen, dann, Du Vater im Himmel, mach’ es rasch, laß es rasch vorüber sein!“

Das war das Morgengebet, mit dem er seinen Tag einleitete.

Die Sonne zog herauf, immer höher, und als es Mittag war, meldete sich Hunger und bald auch ein brennender Durst. Er durchsuchte die Jagdtasche nach etwas, das ihn erfrischen mochte, aber er fand nichts als etwas Brot, das ihm widerstand. Und so warf er’s dem Hunde hin. Der aber winselte nur und kroch wieder zu Lehnert heran und leckte ihm die Hand.

Lehnert freute sich dieses Liebeszeichens und streichelte das schöne Thier. Und mit eins schoß es ihm. durch den Kopf: „Uncas, Du kannst mich retten, Du bist klug. Und nun höre gut zu! Sieh, wenn Du jetzt nach Hause trabst, zu Ruth, zu Miß Ruth, hörst Du, dann kannst Du sie Hierher führen, und dann finden sie mich und dann retten sie mich. Und nun auf!“

Uncas hatte jedes Wort verstanden, aber er schüttelte nur den Behang und streckte sich still wieder nieder und sah Lehnert an. Und dieser las aus dem treuen Auge mit Schrecken heraus: ich bleibe.

„Geh, Uncas! Lauf! Fort!“

Und als alles nichts half, nahm er das Gewehr und stieß nach ihm. Und bald danach erhob sich Uncas auch wirklich und trabte langsam und ohne sich umzusehen den unteren und verhältnismäßig wenig steilen Theil der Felspartie hinab. Lehnert sah ihm nach und ein Hoffnungsschimmer umleuchtete seine Stirn. Aber keine Viertelstunde, so war der Hund wieder da. Er war nur bis an den Quell gegangen und hatte getrunken, und kaum wieder frisch, war er auch frisch wieder in seiner Pflicht und seinem Vorhaben. Und kurzum, da war er wieder.

„Es soll sein,“ sagte Lehnert, über den plötzlich eine volle Ergebung in sein Schicksal kam. „Es ist Gottes, Wille . . . Komm, Uncas . . . Es ist mir eine schöne Lehre: Treue . . . thun, was recht ist . . . aushalten.“

Und er verfiel alsbald in ein fieberhaftes Träumen und wurde erst wieder wach, als ein Läuten aus dem Thale herauf drang. Es war die Glocke, die sonst zum Gottesdienst läutete. „Sie wollen mir ein Zeichen geben. Und ich will ihnen antworten, so gut ich kann.“

Und dabei nahm er das neben ihm liegende Gewehr und schoß, und der Rauch zog am Gebirge hin und das Echo trug den Schall immer weiter und weiter und vielleicht bis hinunter zu Thal. Er horchte nach, bis es verklang. Und nun schwieg es und im selben Augenblick war es ihm, als höre er von weit her einen Ruf: „Hilfe.“

Wessen Stimme war das?

Er richtete sich auf und horchte noch einmal hinüber und einen Augenblick überkam ihn der Gedanke, daß es Toby sein könnte.

„Nein, es war ein anderer, der rief . . . Gut . - Ich bin fertig . . . Ich komme.“

Und nun fiel er mit dem Kopf auf das Lager zurück, das er sich gemacht hatte.


26.

Zwischen den Feldern hin huschte ’was. Was es war, war nicht deutlich erkennbar, das Korn stand zu hoch, und die Dämmerung war noch zu dicht. Aber jetzt kam ein gemähter Wiesengrund, der ganz zuletzt zwischen den Maisfeldern und dem Dorfe lag, und nun ließ sich’s erkennen, daß es Uncas war, der in Sprüngen auf Nogat-Ehre zujagte. Nur noch das Stück Parkland und die Brücke war zu durchlaufen. Und nun war er heran und gab einen lauten Blaff, zwei-, dreimal, und sprang dann an dem Erdgeschoß in die Höh’ und kratzte an den Läden, die das Fenster von Obadjas Zimmer schlossen.

Obadja stand auf und warf einen Pelzrock über, den zu tragen er sich in den langen Wintertagen von Dakota gewöhnt hatte. Dann ging er hinaus auf den Flur, den Hund einzulassen. Wer Uncas sprang ihm schon entgegen, weil L’Hermite – der sich für alle Fälle halb angekleidet aufs Bett geworfen hatte – schneller als Obadja zur Hand gewesen war. Gleich danach kamen auch Ruth und Maruschka die Treppe herab, und mit ihnen Toby; Toby, der noch am selben Abend, wo Lehnert auf die Suche nach ihm ausgezogen, wohl und munter und völlig unverletzt heimgekommen war. Und ein wunderlicher Anblick war es, den die Halle jetzt bot. Front- und Hofthür standen offen und von beiden Seiten her fiel ein fahles Dämmerlicht herein, während das Licht in der herahhängenden Flurlampe zu verschweelen begann. Uncas lief hin und her und sprang empor und beschäftigte sich vor allem mit Ruth, an deren Kleid er zerrte, wie um zu zeigen, daß sie folgen solle.

Jeder wußte, was geschehen, und war erschüttert. Am meisten Toby, der, wenn auch schuldlos, die Veranlassung von all dem war, was jetzt auf jedem lastete.

Obadja faßte sich zuerst und gab, als er sah, daß Uncas, wie um die einzuschlagende Richtung anzugeben, immer wieder auf die Steindrucke zulief, kurze Weisungen für das, was zunächst zu thun sei.

Toby solle mit Shortarm und einem andern Indianer, Yellow Cat, von dem bekannt war, daß er wie eine Katze klettere, zunächst nach dem Vorwerk ausbrechen und dort die weitere Führung an Kaulbars abtreten. Er, Obadja, so sehr er es wünsche, könne sich dem Zuge nicht anschließen, das würde nur Hindernisse schaffen. Und keine fünf Minuten mehr, so brach denn auch Toby mit den zwei Gefährten auf, während Uncas abwechselnd vorantrabte und dann wieder an Tobys Seite war. Man sah dem Hunde an, wie er seine Freude bezeigte, daß man ihn endlich verstanden.

Es war vier Uhr und die Sonne stieg eben herauf, als Toby auf dem Vorwerk eintraf. Das Ehepaar Kaulbars war schon auf und nahm eben seinen Morgenkaffee.

[186] Vorherbestimmte Tagesarbeit unterbrechen, das kannte bei Kaulbars in erster Reihe nur Verstimmung wecken, weil er ganz und gar zu jenen ausgesprochenen Bauer- und Landwirthsnaturen gehörte, die, wenn ihnen Vater und Mutter während der Ernte sterben, zunächst nur unter dem Gefühl stehen: Vater und Mutter hätten sich auch eine bessere Zeit aussuchen können. Als indessen dies erste selbstische Gefühl in unserem Kaulbars erst überwunden war, war er nicht bloß gutwillig, sondern vor allem auch umsichtig in all seinen Anordnungen und wählte neben allerlei Rettungssachen, die man muthmaßlich brauchen würde, zugleich drei seiner besten Leute zur Verstärkung des nun von ihm zu führenden Zuges aus. Auch eine Leiter sammt einer Schütte Stroh nahm er mit, weil er der bestimmten Ansicht war, daß der Verunglückte, verwundet oder nicht, noch am Leben sein müsse; dreißig Stunden könne man’s aushalten, und Tobys Bemerkung, daß Uncas ihn sicher erst verlassen habe, als es mit ihm vorbei gewesen, wollt’ er nicht gelten lassen. Der Hund sei klug, aber doch bloß eine unvernünftige Kreatur. „Und reden kann er nicht.“

Es war gegen sechs Uhr, als man oben war und eine kurze Rast nahm. Uncas jagte beständig hin und her, so lange die Rast dauerte, immer auf denselben Punkt zu, so daß Toby nun in aller Bestimmtheit wußte, wohin man die Schritte zu richten habe.

„Er ist auf den Look-out hinaufgestiegen, um nach mir auszusehen. Und bei dem Aufstieg ist er verunglückt.“

Auf den Look-out also schritten sie zu, Kaulbars voran. Und nur noch wenige Minuten, so waren sie bis an den Fuß der Felspartie gekommen und tranken hier aus dem Quell – denn es war, trotz früher Stunde, schon heiß – und stiegen nun höher hinauf bis auf den Einknick, von dem aus der eigentliche Kegel anhob.

Und nun hatte man die Stufe glücklich erreicht und schritt um den mäßig breiten Rand, den sie bildete, herum. Das erste, was man sah, war der Brotrest, den Lehnert auf ein paar Schritt Entfernung dem Hunde zugeworfen, den dieser aber nicht berührt hatte.

„Hier müssen wir ihn finden,“ sagte Toby, und die Zweige des am Fuße des Kegels festeingewurzelten Gebüsches zurückschlagend, sah er den, dem die Suche galt. Unwillkürlich ließ er das Gezweig, das er in Händen hielt, wieder zurückfahren und seine Augen füllten sich mit Thränen. Könnt’ es anders sein? Der da lag, war gestorben um ihn, um seinetwillen. Und er sprach ein kurzes Gebet, während die andern noch zurückstanden. Nun näherte sich auch Shortarm und brach die weitvorgestreckten Zweige fort, und nun traten alle heran und schlossen einen Halbkreis und blickten auf den Todten. Er sah ernst aus, aber nicht von Schmerzen verzerrt oder entstellt, und hatte die Jagdtasche unter dem Kopf; – neben ihm lag das Gewehr, und ein kurzes Jagdmesser, das er noch in seiner letzten Stunde gebraucht haben mußte, war mit der Klinge in den Sand gestoßen. Sein Rock war halb geöffnet und man sah ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt, das er in die Rocköffnung wie in eine Brusttasche gesteckt hatte. Darunter ruhte seine linke Hand, auf deren Oberfläche man geronnenes Blut sah, aber nur wenig, wie von einem kleinen Riß mit dem Messer. Und nun bückte sich Toby, um das Zeitungsblatt zu nehmen, auf das der Todte, wie’s schien, in seiner letzten Stunde seine letzten Worte geschrieben hatte. Zwischen den Fingern der rechten Hand hielt er noch ein zugespitztes Holzstäbchen.


27.

Am zweiten Tage danach saß Obadja an seinem Arbeitstisch und schloß einen längeren Brief mit der geschnörkelten Aufschrift: An den Kirchen- und Gemeindevorstand zu Wolfshau bei Krummhübel in Schlesien, (Prussia.)

Der Brief selbst aber lautete:

„Dem verehrlichen Kirchen- und Gemeindevorstande zu Wolfshau (Krummhübel) habe ich in Nachstehendem die Pflicht, das Hinscheiden ihres Ortsangehörigen Lehnert Menz bekannt zu geben Er starb hier am 1. Juni d. J. und wurde den 4. in unserer Familiengruft zu seiner letzten Ruhe bestattet. Ueber sein Vorleben und seine Schuld war ich durch ihn selbst unterrichtet, aber ebenso war ich, von dem Tage seines Eintritts in unser Haus an, auch ein Zeuge seiner Reue. Seine Tüchtigkeit bei der Arbeit, seine kleinen gesellschaftlichen Gaben, seine Demuth und Bescheidenheit, wohl erst durch den Gang seines Lebens erworben, vor allem aber seine gute Sitte machten ihn zum Liebling unseres Hauses, und es war beschlossen, ihn, noch im Laufe dieses Sommers, meiner Familie näher zu verbinden: die Hand meiner Tochter Ruth, die er durch seinen Muth und seine Geistesgegenwart vom Tode gerettet hatte, war ihm bestimmt. Als er mir auch den auf einem Jagdausfluge begriffenen und in eine fährliche Lage gerathenen Sohn erhalten wollte, war es ihm nach Gottes unerforschlichem Rathschluß vorher bestimmt, diese neue Liebesthat mit seinem Leben zu bezahlen Im eifrigen Suchen nach dem, den er in unserem Gebirge verirrt glaubte, glitt er einen steilen Bergkegel, den wir den Look-out nennen, herab und verletzte sich dabei derart – der Hüftknochen sprang aus dem Gelenk –, daß er unfähig war, sich von der Unglücksstelle fortzubewegen, geschweige denn seinen Rückweg nach unserem Dorfe hin zu finden. Und in Einsamkeit ist er dort oben gestorben, nicht ohne daß sich zu seinem körperlichen Schmerz auch noch der Schmerz des Gewissens gesellt hätte, wie seine letzten Worte mit aller Bestimmtheit bezeugen. Wir fanden ihn den zweiten Tag, hoch auf dem Kamm des Gebirges, todt, mit einem in die Brusttasche gesteckten Zettel, auf den er, nachdem er sich eigens die Hand mit seinem Messer geritzt, all das niedergeschrieben, was ihm in seiner letzten schweren Stunde das Herz bewegt hatte. Das Holzstäbchen, das ihm dabei gedient, hielt er noch in seiner Rechten. Die niedergeschriebenen Worte aber lauten: ,Vater unser, der Du bist im Himmel . . . Und vergieb uns unsere Schuld . . . Und Du, Sohn und Heiland, der Du für uns gestorben bist, tritt ein für mich und rette mich . . . Und vergieb uns unsere Schuld . . .

„Ich hoffe: quitt.“

  1. Sahne.