Proklamation der Reichsregierung an das deutsche Volk
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Als im November 1918 das deutsche Volk – vertrauend auf die in den 14 Punkten Wilsons gegebenen Zusicherungen – nach viereinhalbjährigem ruhmvollen Widerstand in einem Kriege, dessen Ausbruch es nie gewollt hatte, die Waffen streckte, glaubte es nicht nur der gequälten Menschheit, sondern auch einer großen Idee an sich einen Dienst erwiesen zu haben. Selbst am schwersten leidend unter den Folgen dieses wahnsinnigen Kampfes, griffen die Millionen unseres Volkes gläubig nach dem Gedanken einer Neugestaltung der Völkerbeziehungen, die durch die Abschaffung der Geheimnisse diplomatischer Kabinettspolitik einerseits, sowie der schrecklichen Mittel des Krieges anderseits veredelt werden sollten. Die geschichtlich härtesten Folgen einer Niederlage erschienen vielen Deutschen damit geradezu als notwendige Opfer, um einmal für immer die Welt von ähnlichen Schrecknissen zu erlösen.
Die Idee des Völkerbundes hat vielleicht in keiner Nation eine heißere Zustimmung erweckt als in der von allem irdischen Glück verlassenen deutschen. Nur so war es verständlich, daß die in manchem geradezu sinnlosen Bedingungen der Zerstörung jeder Wehrvoraussetzung und Wehrmöglichkeit im deutschen Volke nicht nur angenommen, sondern von ihm auch erfüllt worden sind. Das deutsche Volk und insonderheit seine damaligen Regierungen waren überzeugt, daß durch die Erfüllung der im Versailler Vertrag vorgeschriebenen Entwaffnungsbestimmungen entsprechend der Verheißung dieses Vertrages der Beginn einer internationalen allgemeinen Abrüstung eingeleitet und garantiert sein würde. Denn nur in einer solchen zweiseitigen Erfüllung dieser gestellten Aufgabe des Vertrages konnte die moralische und vernünftige Berechtigung für eine Forderung liegen, die, einseitig auferlegt und durchgeführt, zu einer ewigen Diskriminierung und damit Minderwertigkeitserklärung einer großen Nation werden mußte. Damit aber könnte ein solcher Friedensvertrag niemals die Voraussetzung für eine wahrhafte innere Aussöhnung der Völker und einer dadurch herbeigeführten Befriedung der Welt, sondern nur für die Aufrichtung eines ewig weiterzehrenden Hasses sein. [370]
Deutschland hat die ihm auferlegten Abrüstungsverpflichtungen nach den Feststellungen der Interalliierten Kontroll-Kommission erfüllt.
Folgendes waren die von dieser Kommission bestätigten Arbeiten der Zerstörung der deutschen Wehrkraft und ihrer Mittel:
59 897 | Geschütze und Rohre |
130 558 | Maschinengewehre |
31 470 | Minenwerfer und Rohre |
6 007 000 | Gewehre und Karabiner |
243 937 | M. G.-Läufe |
28 001 | Lafetten |
4 390 | M. W.-Lafetten |
38 750 000 | Geschosse |
16 550 000 | Hand- und Gewehrgranaten |
60 400 000 | scharfe Zünder |
491 000 000 | Handwaffenmunition |
335 000 | t Geschoßhülsen |
23 515 | t Kartusch- und Patronenhülsen |
37 600 | t Pulver |
79 500 | Munitionsleeren |
212 000 | Fernsprecher |
1 072 | Flammenwerfer |
31 | Panzerzüge |
59 | Tanks |
1 762 | Beob.-Wagen |
8 982 | Drahtlose Stationen |
1 240 | Feldbäckereien |
2 199 | Pontons |
981,7 | t Ausrüstungsstücke für Soldaten und |
8 230 350 | Satz Ausrüstungsstücke für Soldaten |
7 300 | Pistolen und Revolver |
180 | M. G.-Schlitten |
21 | Fahrbare Werkstätten |
12 | Flakgeschützwagen |
11 | Protzen |
64 000 | Stahlhelme |
174 000 | Gasmasken |
2 500 | Maschinen der ehem. Kriegsindustrie |
8 000 | Gewehrläufe. |
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15 714 | Jagd- und Bombenflugzeuge |
27 757 | Flugzeugmotoren. |
26 | Großkampfschiffe |
4 | Küstenpanzer |
4 | Panzerkreuzer |
19 | Kleine Kreuzer |
21 | Schul- und Spezialschiffe |
83 | Torpedoboote |
315 | U-Boote. |
Bemerkungen zu A und B
Ferner unterlagen der Zerstörungspflicht: Fahrzeuge aller Art, Gaskampf- und zum Teil Gasschutzmittel, Treib- und Sprengmittel, Scheinwerfer, Visiereinrichtungen, Entfernungs- und Schallmeßgerät, optische Geräte aller Art, Pferdegeschirr, Schmalspurgerät, Felddruckereien, Feldküchen, Werkstätten, Hieb- und Stichwaffen, Stahlhelme, Munitionstransportmaterial, Normal- und Spezialmaschinen der Kriegsindustrie sowie Einspannvorrichtungen, Zeichnungen dazu, Flugzeug- und Luftschiffhallen usw.
Nach dieser geschichtlich beispiellosen Erfüllung eines Vertrages hatte das deutsche Volk ein Anrecht, die Einlösung der eingegangenen Verpflichtungen auch von der anderen Seite zu erwarten.
Denn:
- Deutschland hatte abgerüstet.
- Im Friedensvertrag war ausdrücklich gefordert worden, daß Deutschland abgerüstet werden müsse, um damit die Voraussetzung für eine allgemeine Abrüstung zu schaffen, d. h. es war damit behauptet, daß nur in Deutschlands Rüstung allein die Begründung für die Rüstung der anderen Länder läge.
- Das deutsche Volk war sowohl in seinen Regierungen als auch in seinen Parteien damals von einer Gesinnung erfüllt, die den pazifistisch-demokratischen Idealen des Völkerbundes und seiner Gründer restlos entsprach.
Während aber Deutschland als die eine Seite der Vertragschließenden seine Verpflichtungen erfüllt hatte, unterblieb die Einlösung der Verpflichtung der zweiten Vertragsseite. Das heißt: Die hohen Vertragschließenden der ehemaligen Siegerstaaten haben sich einseitig von den Verpflichtungen des Versailler Vertrages gelöst! [372]
Allein nicht genügend, daß jede Abrüstung in einem irgendwie mit der deutschen Waffenzerstörung vergleichbarem Maße unterblieb, nein: es trat nicht einmal ein Stillstand der Rüstungen ein, ja im Gegenteil, es wurde endlich die Aufrüstung einer ganzen Reihe von Staaten offensichtlich. Was im Kriege an neuen Zerstörungsmaschinen erfunden wurde, erhielt nunmehr im Frieden in methodisch-wissenschaftlicher Arbeit die letzte Vollendung. Auf dem Gebiet der Schaffung mächtiger Landpanzer sowohl als neuer Kampf- und Bombenmaschinen fanden ununterbrochene und schreckliche Verbesserungen statt. Neue Riesengeschütze wurden konstruiert, neue Spreng-, Brand- und Gasbomben entwickelt.
Die Welt aber hallte seitdem wider von Kriegsgeschrei, als ob niemals ein Weltkrieg gewesen und ein Versailler Vertrag geschlossen worden wäre.
Inmitten dieser hochgerüsteten und sich immer mehr der modernsten motorisierten Kräfte bedienenden Kriegsstaaten war Deutschland ein machtmäßig leerer Raum, jeder Drohung und jeder Bedrohung jedes einzelnen wehrlos ausgeliefert. Das deutsche Volk erinnert sich des Unglücks und Leides von fünfzehn Jahren wirtschaftlicher Verelendung, politischer und moralischer Demütigung.
Es war daher verständlich, wenn Deutschland laut auf die Einlösung des Versprechens auf Abrüstung der anderen Staaten zu drängen begann.
Denn dieses ist klar:
Einen hundertjährigen Frieden würde die Welt nicht nur ertragen, sondern er müßte ihr von unermeßlichem Segen sein. Eine hundertjährige Zerreißung in Sieger und Besiegte aber erträgt sie nicht.
Die Empfindung über die moralische Berechtigung und Notwendigkeit einer internationalen Abrüstung war aber nicht nur in Deutschland, sondern auch innerhalb vieler anderer Völker lebendig. Aus dem Drängen dieser Kräfte entstanden die Versuche, auf dem Wege von Konferenzen eine Rüstungsverminderung und damit eine internationale allgemeine Angleichung auf niederem Niveau in die Wege leiten zu wollen.
So entstanden die ersten Vorschläge internationaler Rüstungsabkommen, von denen wir als bedeutungsvollen den Plan MacDonalds in Erinnerung haben.
Deutschland war bereit, diesen Plan anzunehmen und zur Grundlage von abzuschließenden Vereinbarungen zu machen.
Er scheiterte an der Ablehnung durch andere Staaten und wurde endlich preisgegeben. Da unter solchen Umständen die dem deutschen Volk und Reiche in der Dezember-Erklärung 1932 feierlich zugesicherte Gleichberechtigung keine Verwirklichung fand, sah sich die neue deutsche Reichsregierung als Wahrerin der Ehre und der Lebensrechte des deutschen Volkes außerstande, noch weiterhin an solchen Konferenzen teilzunehmen oder dem Völkerbunde anzugehören.
Allein auch nach dem Verlassen Genfs war die deutsche Regierung dennoch bereit, nicht nur Vorschläge anderer Staaten zu überprüfen, sondern auch eigene praktische Vorschläge zu machen. Sie übernahm dabei die von den anderen Staaten selbst geprägte Auffassung, daß die Schaffung kurzdienender Armeen für die Zwecke des Angriffs ungeeignet und damit für die friedliche Verteidigung anzuempfehlen sei. [373]
Sie war daher bereit, die langdienende Reichswehr nach dem Wunsche der anderen Staaten in eine kurzdienende Armee zu verwandeln. Ihre Vorschläge vom Winter 1933/34 waren praktische und durchführbare. Ihre Ablehnung sowohl als die endgültige Ablehnung der ähnlich gedachten italienischen und englischen Entwürfe ließen aber darauf schließen, daß die Geneigtheit zu einer nachträglichen sinngemäßen Erfüllung der Versailler Abrüstungsbestimmungen auf der anderen Seite der Vertragspartner nicht mehr bestand.
Unter diesen Umständen sah sich die deutsche Regierung veranlaßt, von sich aus jene notwendigen Maßnahmen zu treffen, die eine Beendigung des ebenso unwürdigen wie letzten Endes bedrohlichen Zustandes der ohnmächtigen Wehrlosigkeit eines großen Volkes und Reiches gewährleisten konnten.
Sie ging dabei von denselben Erwägungen aus, denen Minister Baldwin in seiner letzten Rede so wahren Ausdruck verlieh:
- „Ein Land, das nicht gewillt ist, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu seiner eigenen Verteidigung zu ergreifen, wird niemals Macht in dieser Welt haben, weder moralische noch materielle Macht“.
Die Regierung des heutigen Deutschen Reiches aber wünscht nur eine einzige moralische und materielle Macht; es ist die Macht, für das Reich und damit wohl auch für ganz Europa den Frieden wahren zu können!
Sie hat daher auch weiterhin getan, was in ihren Kräften stand und zur Förderung des Friedens dienen konnte:
- Sie hat all ihren Nachbarstaaten schon vor langer Frist den Abschluß von Nichtangriffspakten angetragen.
- Sie hat mit ihrem östlichen Nachbarstaat eine vertragliche Regelung gesucht und gefunden, die Dank des großen entgegenkommenden Verständnisses, wie sie hofft, für immer die bedrohliche Atmosphäre, die sie bei ihrer Machtübernahme vorfand, entgiftet hat und zu einer dauernden Verständigung und Freundschaft der beiden Völker führen wird.
- Sie hat endlich Frankreich die feierliche Versicherung gegeben, daß Deutschland nach der erfolgten Regelung der Saarfrage nunmehr keine territorialen Forderungen mehr an Frankreich stellen oder erheben wird. Sie glaubt damit in einer geschichtlich seltenen Form die Voraussetzung für die Beendigung eines jahrhundertlangen Streites zwischen zwei großen Nationen durch ein schweres politisches und sachliches Opfer geschaffen zu haben.
Die deutsche Regierung muß aber zu ihrem Bedauern ersehen, daß seit Monaten eine sich fortgesetzt steigernde Aufrüstung der übrigen Welt stattfindet. Sie sieht in der Schaffung einer sowjet-russischen Armee von 101 Divisionen, d. h. 960 000 Mann zugegebener Friedenspräsenzstärke ein Element, das bei der Abfassung des Versailler Vertrages nicht geahnt werden konnte. [374]
Sie sieht in der Forcierung ähnlicher Maßnahmen in anderen Staaten weitere Beweise der Ablehnung der seinerzeit proklamierten Abrüstungsidee. Es liegt der deutschen Regierung fern, gegen irgendeinen Staat einen Vorwurf erheben zu wollen. Allein, sie muß heute feststellen, daß durch die nunmehr beschlossene Einführung der zweijährigen Dienstzeit in Frankreich die gedanklichen Grundlagen der Schaffung kurzdienender Verteidigungsarmeen zugunsten einer langdienenden Organisation aufgegeben worden sind.
Dies war aber mit ein Argument für die seinerzeit von Deutschland geforderte Preisgabe seiner Reichswehr!
Die deutsche Regierung empfindet es unter diesen Umständen als eine Unmöglichkeit, die für die Sicherheit des Reiches notwendigen Maßnahmen noch länger auszusetzen oder gar vor der Kenntnis der Mitwelt zu verbergen.
Wenn sie daher dem in der Rede des englischen Ministers Baldwin am 28. November 1934 ausgesprochenen Wunsche nach einer Aufhellung der deutschen Absichten nunmehr entspricht, dann geschieht es:
- um dem deutschen Volke die Überzeugung und den anderen Staaten die Kenntnis zu geben, daß die Wahrung der Ehre und Sicherheit des Deutschen Reiches von jetzt ab wieder der eigenen Kraft der deutschen Nation anvertraut wird,
- aber, um durch die Fixierung des Umfanges der deutschen Maßnahmen jene Behauptungen zu entkräften, die dem deutschen Volke das Streben nach einer militärischen Hegemoniestellung in Europa unterschieben wollen.
Was die deutsche Regierung als Wahrerin der Ehre und der Interessen der deutschen Nation wünscht, ist, das Ausmaß jener Machtmittel sicherzustellen, die nicht nur für die Erhaltung der Integrität des Deutschen Reiches, sondern auch für die internationale Respektierung und Bewertung Deutschlands als ein Mitgarant des allgemeinen Friedens erforderlich sind.
Denn in dieser Stunde erneuert die deutsche Regierung vor dem deutschen Volk und vor der ganzen Welt die Versicherung ihrer Entschlossenheit, über die Wahrung der deutschen Ehre und der Freiheit des Reiches nie hinausgehen und insbesondere in der nationalen deutschen Rüstung kein Instrument kriegerischen Angriffs als vielmehr ausschließlich der Verteidigung und damit der Erhaltung des Friedens bilden zu wollen.
Die deutsche Reichsregierung drückt dabei die zuversichtliche Hoffnung aus, daß es dem damit wieder zu seiner Ehre zurückfindenden deutschen Volke in unabhängiger gleicher Berechtigung vergönnt sein möge, seinen Beitrag zu leisten zur Befriedung der Welt in einer freien und offenen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen und ihren Regierungen.