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Prinzipien der Dynamik des Elektrons (1902)

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Textdaten
Autor: Max Abraham
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Titel: Prinzipien der Dynamik des Elektrons
Untertitel:
aus: Physikalische Zeitschrift 4 (1b), S. 57–63
Herausgeber: Eduard Riecke, Hermann Theodor Simon
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Entstehungsdatum: Leipzig
Erscheinungsdatum: 1902
Verlag: S. Hirzel
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Prinzipien der Dynamik des Elektrons (1903)
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M. Abraham (Göttingen), Prinzipien der Dynamik des Elektrons.

Bereits im Januar dieses Jahres habe ich in den Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften eine Abhandlung über die Dynamik des Elektrons veröffentlicht. Die Übereinstimmung der dort entwickelten Theorie mit den experimentellen Resultaten des Herrn Kaufmann lässt die Annahmen, auf denen die Theorie beruht, als zweckmässig gewählt erscheinen; sie zeigt ferner, dass die Trägheit des Eklektrons rein elektromagnetischer Natur ist. Während ich dort zunächst noch eine von der elektrischen Ladung unabhängige „materielle“ Masse in den Bewegungsgleichungen mitführte, wird es jetzt notwendig, die Dynamik des Elektrons von vornherein elektromagnetisch zu begründen. Dabei ergeben sich bemerkenswerte Analogien der Prinzipien der Dynamik des Elektrons einerseits, der Prinzipien der gewöhnlichen Dynamik materieller Körper andererseits, Analogien, die für die künftige elektromagnetische Begründung der gesamten Mechanik von Bedeutung werden dürften.

Wir schreiben dem Elektron, dem Atome der negativen Elektrizität, eine Ladung e (elektrostatisch gemessen) zu. Das in den Kathoden- und Becquerelstrahlen bewegte freie Elektron sei – das nehmen wir an – eine Kugel vom Radius a, über deren Volumen die Elektrizität gleichförmig, mit der Dichte , verteilt ist. Die Elektrizität soll an den Volumelementen des Elektrons haften, wie die Materie an den Volumelementen eines starren Körpers, d. h. es soll für das Elektron die kinematische Grundgleichung gelten.

1) .

Die kinematische Grundgleichung bestimmt die Geschwindigkeit eines beliebigen Punktes des Elektrons, dessen Abstand vom Mittelpunkt durch den Vektor angezeigt ist, wenn die Geschwindigkeit des Mittelpunktes und die Drehgeschwindigkeit um den Mittelpunkt gegeben sind; wir schreiben sie in vektorieller Form, wobei wir das Grassmannsche Symbol des äusseren Produktes gebrauchen.

Das elektromagnetische Feld, das von dem Elektron erregt wird, ist bestimmt durch die Maxwell-Lorentzschen Feldgleichungen:

2)

, bezeichnen dabei elektrische und magnetische Feldstärke, c die Lichtgeschwindigkeit.

Es ist hervorzuheben, dass die Lorentzsche Theorie mit absoluten Geschwindigkeiten rechnet.

Das Elektron befinde sich nun in einem gegebenen äusseren elektromagnetischen Felde, von den Feldstärken , . Zur Bestimmung der Bewegungen, die es ausführt, ist noch ein drittes System von Grundgleichungen erforderlich, das System der „kinetischen“ oder „dynamischen“ Grundgleichungen. Bei der Aufstellung derselben lassen wir uns durch folgende Überlegung leiten. H. A. Lorentz und E. Wiechert haben gezeigt, dass man die Kräfte, welche auf ruhende und auf strömende Elektrizität im elektrischen bezw. im magnetischen Felde wirken, aus der Elektronentheorie ableiten kann, wenn man für die auf das einzelne Elektron wirkende Kraft den Ansatz macht:

.

Dabei wird das Elektron als Punktladung aufgefasst. Wir müssen die Volumelemente des Elektrons unterscheiden; demgemäss definieren wir die „äussere Kraft“ durch

und führen ferner eine „äussere Drehkraft

ein. Nach Maxwell und Hertz gilt nun aber das „Prinzip der Einheit der elektrischen und magnetischen Kraft“; diesem Prinzip zufolge ist die Unterscheidung eines „äusseren“ und eines vom Elektron selbst erregten „inneren“ Feldes eine künstliche; in Wahrheit giebt es nur ein Feld, von den Feldstärken

.

Dieses Prinzip führt uns dazu, dem Vektor

den Vektor

an die Seite zu stellen, und von einer „inneren Kraft

und einer „inneren Drehkraft

zu reden. Die „dynamischen Grundgleichungen“ besagen nun:

Die Resultierenden der inneren und äusseren Kraft und Drehkraft verschwinden:

3)

Die kinematische Grundgleichung (1), die Feldgleichungen (2) und die dynamischen Grundgleichungen (3), das sind die Grundlagen, auf denen die Dynamik des Elektrons sich aufbaut. Es mag betont werden, dass das Wort „Kraft“ hier nur eine abkürzende Bezeichnung für gewisse, durch die Feldstärken und durch die Geschwindigkeit der Translation und Rotation des Elektrons definierte Vektoren ist; aus der gewöhnlichen Mechanik nehmen wir nur rein geometrisch-kinematische Begriffe in die Grundlagen der Dynamik des Elektrons auf. Doch wählen wir die Bezeichnung der abgeleiteten Grössen so, dass die Analogie zur gewöhnlichen Mechanik deutlich hervortritt.

Bevor wir zur Behandlung spezieller Bewegungstypen übergehen, mögen zwei allgemeine Sätze vorausgeschickt werden, die aus den Feldgleichungen folgen. Der erste Satz formuliert das Energieprinzip, er lautet:

4) .

Dabei bedeuten: o die Begrenzung des Feldes, die durch fremde Körper oder auch durch eine nur gedachte Fläche bestimmt sein kann; () das innere (skalare) Produkt der Vektoren und , mithin das erste Glied der linken Seite die „Leistung der inneren Kräfte“. Das zweite Glied enthält die Normalkomponente des „Poyntingschen Strahlvektors“

und ergiebt die vom Elektron durch die Begrenzung hindurchgesandte Strahlung. Leistung der inneren Kräfte und Ausstrahlung erfolgen auf Kosten einer skalaren Grösse W, die wir „elektromagnetische Energie“ nennen, und die das Feld mit der Dichte

erfüllt. Gl. (4) entspricht also dem Satze von der lebendigen Kraft. In entsprechender Weise lassen sich – das hat H. Poincaré zuerst bemerkt – die Sätze von der Bewegungsgrösse, oder die „Impulssätze“ aus der Lorentzschen Theorie gewinnen. Es ist:

5)

Hier giebt die Kraft an, die von den sogenannten „Maxwellschen Spannungen“ des vom Elektron erregten Feldes auf die Flächeneinheit der Grenzfläche o ausgeübt wird, das statische Moment dieser Kraft, bezogen auf den Mittelpunkt des Elektrons. Nach den Gleichungen (5) heben sich im allgemeinen die Kräfte, welche vom Felde auf das Elektron einerseits und auf die Begrenzung andererseits ausgeübt werden, durchaus nicht auf; sie widersprechen also dem dritten Axiome Newtons. Ganz ebenso würde die Gl. (4) dem Energieprinzip widersprechen, wenn wir es nicht durch Annahme einer neuen „elektromagnetischen Energie“ aufrecht erhalten hätten. Auch das dritte Axiom können wir retten, wenn wir eine neue „elektromagnetische Bewegungsgrösse“ einführen, die über das Feld mit der Dichte verteilt ist. Die Gl. (5) sind dann folgendermassen zu deuten.

Wir denken uns ein mit dem Elektron starr verbundenes Gerüst. In allen Punkten des Feldes, an denen gerade die Dichte der elektromagnetischen Bewegungsgrösse mit der Zeit zunimmt, greift eine entsprechende Kraft an dem Gerüste an. Alle diese Einzelkräfte nach den Regeln der Statik starrer Körper zusammensetzend, erhält man die Kraft und Drehkraft, welche das von der Fläche o begrenzte Feld auf das Gerüst ausübt. Die Betrachtung vereinfacht sich, wenn es erlaubt ist, die Fläche o in das Unendliche zu rücken, und die Oberflächenintegrale in den Gl. (5) und (4) fortzulassen; das ist dann der Fall – der Nachweis würde hier zu weit führen –, wenn der Einfluss fremder Körper auf das Elektron, soweit er nicht in dem Vektor berücksichtigt ist, unmerklich wird. Nehmen wir weiterhin diese Bedingung als erfüllt an, so können wir vermöge der Gl. (5) die „inneren Kräfte“ vollständig durch die dynamischen Einwirkungen der elektromagnetischen Bewegungsgrösse ersetzen.

Wir nennen das über den unendlichen Raum erstreckte Integral:

den „Impuls“ des Elektrons, ferner

den „Drehimpuls“, bezogen auf den Mittelpunkt des Elektrons, ganz ebenso wie wir die Integrale über das ganze unendliche Feld

als elektrische und magnetische Energie des Elektrons zu bezeichnen gewohnt sind.

Führen wir die Relationen (5) jetzt in die dynamischen Grundgleichungen (3) ein, so erhalten wir sofort die „Bewegungsgleichungen“ des Elektrons.

6)

Eine äussere Kraft bedingt eine zeitliche Änderung des Impulses. Eine äussere Drehkraft ist nicht nur zur Abänderung des Drehimpulses erforderlich; nein, eine äussere Drehkraft muss auch dann angreifen, wenn das Elektron mit konstantem Drehimpuls und einem zur Translationsrichtung schiefem Impulse behaftet ist. In der That, in diesem Falle nimmt, bezogen auf einen im Raume festen Punkt, das statische Moment des Impulses zu oder ab, und hierzu eben ist die Einwirkung einer äusseren Drehkraft notwendig. Übrigens entsprechen die Bewegungsgleichungen (6) ganz denjenigen, die man für die Bewegung eines starren Körpers in einer idealen Flüssigkeit aufgestellt hat. Dort aber sind Impuls und Drehimpuls lineare Funktionen der jeweiligen Geschwindigkeit bezw. Drehgeschwindigkeit. Hier hingegen hängen Impuls und Drehimpuls, die durch Integrale über das ganze Feld definiert sind, im allgemeinen von der Vorgeschichte des Elektrons ab, d. h. von der Geschwindigkeit, die es von Anbeginn an bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt besessen hat. Hierdurch ist eine weit grössere Komplikation des elektrodynamischen Problems bedingt, die eine allgemeine Lösung desselben als aussichtslos erscheinen lässt. Man muss sich darauf beschränken, aus der grossen Mannigfaltigkeit der Bewegungen und Felder gewisse, der mathematischen Behandlung zugängliche Klassen herauszugreifen; glücklicherweise scheinen gerade die mathematisch einfachsten Bewegungen der Elektronen von den bei Kathoden- und Becquerelstrahlen wirklich stattfindenden nicht merklich verschieden zu sein.

Wer in den Kathoden- und Becquerelstrahlen Schwärme bewegter Elektronen sieht, muss für deren Bewegungen das erste Newtonsche Axiom als gültig ansehen. Solange nämlich keine äussere Kraft einwirkt, erfolgt die Bewegung geradlinig und mit konstanter Geschwindigkeit. Auch das zweite Axiom Newtons hat man experimentell bestätigt gefunden in dem Sinne, dass bei Steigerung der ablenkenden oder beschleunigenden äusseren Kraft der Betrag der transversalen oder longitudinalen Beschleunigung in demselben Verhältnis ansteigt, wie die Kraft; man durfte daher dem Elektron eine träge Masse zuschreiben, eine Masse, die nach Kaufmann mit wachsender Geschwindigkeit zunimmt. Um ein solches Verhalten aus der elektromagnetischen Theorie zu deduzieren, müssen wir zunächst Bewegungen des Elektrons aufsuchen, bei denen die Translationsgeschwindigkeit konstant bleibt ohne Einwirkung einer äusseren Kraft oder Drehkraft. Von solchen, dem ersten Axiome genügenden Bewegungen haben wir auszugehen; wir haben sie durch äussere Kräfte abzuändern, um zu dem zweiten Axiome und zu dem Begriffe der elektromagnetischen Masse zu gelangen.

Jede reine translatorische Bewegung unseres kugelförmigen Elektrons genügt dem ersten Newtonschen Axiome. Denn es ergiebt sich aus den Feldgleichungen, dass das Elektron, wenn die Geschwindigkeit konstant ist, sein Feld einfach mitführt, dass ferner der Drehimpuls null ist, und der Impuls der Bewegungsrichtung parallel weist. Die Bewegungsgleichungen (6) sind daher ohne Annahme äusserer Kräfte erfüllt. Wir denken uns nun die Bewegung durch eine äussere Kraft abgeändert, etwa durch ein homogenes elektrisches oder magnetisches Feld. Drehkräfte und Rotationen schliessen wir aus; wir genügen den Bewegungsgleichungen, wenn wir den Impulsvektor der Kraft entsprechend abändern, und die Bewegung des Elektrons der jeweiligen Richtung des Impulsvektors parallel erfolgen lassen. Setzen wir voraus, dass der Betrag G des Impulses nur von dem Betrage q der Geschwindigkeit abhänge, so ergiebt sich, dass, bei longitudinaler Beschleunigung, die Masse

7) ,

bei transversaler hingegen die Masse

7)

in Rechnung zu setzen ist. Diese Formeln, für longitudinale und transversale elektromagnetische Masse, habe ich bereits in meiner früheren Mitteilung hergeleitet. Bei langsamer Bewegung, d. h. wenn zu vernachlässigen ist, ist von der Geschwindigkeit unabhängig, dieser proportional. Mithin ist die Dichte der elektromagnetischen Bewegungsgrösse, sowie der Impuls G der Geschwindigkeit q proportional. Daher wird hier die longitudinale Masse der transversalen gleich, ein Resultat, das bei langsamen Kathodenstrahlen experimentell festgestellt ist, aber erst durch die Formeln (7) im Sinne der elektromagnetischen Theorie verständlich wird.

Bei grösseren Geschwindigkeiten hingegen, wo G nicht mehr q proportional ist, hängen beide Massen in verschiedener Weise von der Geschwindigkeit ab.

Die Theorie ergiebt, bei langsamer Bewegung:

,

das Experiment

.

Wir erhalten demnach

.

Setzen wir für e die Ladung eines einwertigen Ions, so erhalten wir für den Radius des Elektrons a=10–13 cm, ein Resultat, das mit Rücksicht auf die Unsicherheit in der Bestimmung von e nur als Angabe der Grössenordnung anzusehen ist.

Über den Gültigkeitsbereich der Formeln (7) sind noch einige Worte zu sagen. Dass das Elektron in einer beliebigen Richtung kräftefrei und stationär sich bewegen kann, ist durch die Symmetrie bedingt, die wir ihm zuschrieben. Wäre das Elektron etwa ein gleichförmig mit Elektrizität geladenes Ellipsoid, so wäre kräftefreie stationäre Bewegung nur parallel einer der 3 Hauptachsen denkbar, da nur hier der Impulsvektor der Bewegungsrichtung parallel weist; und auch von diesen drei Richtungen ist nur die der grossen Achse parallele stabil, in dem Sinne, dass bei einer Abänderung der Translationsrichtung stets eine innere Drehkraft einsetzt, welche die grosse Achse in die neue Translationsrichtung einzustellen strebt. Hier sind, wenigstens bei schwach gekrümmten Bahnen, die Formeln (7) anwendbar. Bei Bewegungen mit einem, zur Bewegungsrichtung schiefen Impuls hingegen ist es prinzipiell unzulässig, von elektromagnetischer Masse zu reden; denn hier wird bereits das erste Axiom ungültig.

Was die Voraussetzung anbelangt, dass der Betrag des Impulses nur von der jeweiligen Geschwindigkeit abhängen soll, so ist dieselbe nur für solche Bewegungen erfüllt, die ich „quasistationäre Bewegungen“ genannt habe. Das sind solche Bewegungen, bei denen die Geschwindigkeit keine allzu plötzlichen Änderungen erfährt. Die elektromagnetische Masse entspricht ja durchaus der Selbstinduktion in der Theorie der elektrischen Schwingungen; man berechnet die Selbstinduktion aus dem magnetischen Felde des Stromes, als ob der Strom stationär wäre; das ist erlaubt, solange die Stromschwankungen hinreichend allmählich erfolgen, solange der Strom „quasistationär“ ist. Bei sehr rapiden Schwankungen der Stromintensität, bei Hertzschen Schwingungen z. B., kommt man nicht mehr mit der so berechneten Selbstinduktion aus. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse hier; bei sehr rapiden Beschleunigungen des Elektrons wird es unzulässig, mit der elektromagnetischen Masse zu rechnen, insbesondere dann, wenn die Lichtgeschwindigkeit erreicht oder gar überschritten wird. Doch darf man die Theorie der quasistationären Bewegung noch anwenden, wenn die Geschwindigkeit nur um wenige Kilometer pro Sekunde hinter der Lichtgeschwindigkeit zurückbleibt, und wenn die Beschleunigung die in den stärksten Feldern erreichbaren Wert annimmt.

Wir rekapitulieren: Energiesatz und Impulssätze liessen sich allgemein aus den Grundgleichungen der Dynamik des Elektrons deduzieren. Um das zweite Axiom Newtons herzuleiten, beschränkten wir uns auf quasistationäre Translationsbewegung. Dabei erfuhr der Massenbegriff eine Erweiterung; die elektromagnetische Masse ist kein Skalar, sondern ein Tensor, von der Symmetrie eines Rotationsellipsoides; beide Massen, longitudinale und transversale, sind Funktionen der Geschwindigkeit. Nun leitet man bekanntlich in der analytischen Mechanik, von den Newtonschen Axiomen ausgehend, andere Formulierungen der dynamischen Prinzipien ab, die Lagrangesehen Gleichungen, das Hamiltonsche Prinzip, welche die Dynamik eines Systems abhängig machen von einer einzigen Funktion, der Differenz der kinetischen und potentiellen Energie (der Lagrangeschen Funktion). Doch liegt dieser Ableitung die Voraussetzung zu Grunde, dass die potentielle Energie von der Geschwindigkeit unabhängig, die kinetische Energie eine homogene Funktion zweiten Grades der Geschwindigkeitskomponenten ist. Es liegt nahe, der kinetischen Energie die magnetische, der potentiellen die elektrische entsprechen zu lassen, und die Lagrangesche Funktion L=Wm–We zu setzen. Bei langsamer Bewegung ist in der That We von q unabhängig, Wm dem Quadrat von q proportional. Bei grösseren Geschwindigkeiten aber gilt das nicht mehr; hier wird die in der analytischen Mechanik gegebene Herleitung der Lagrangeschen Gleichungen hinfällig. Wollen wir die Lagrangeschen Gleichungen und das Hamiltonsche Prinzip prüfen, so müssen wir auf die Grundgleichungen der Dynamik des Elektrons zurückgehen.

Das soll jetzt geschehen; dabei sollen die Annahmen über die Bewegung etwas allgemeiner gehalten sein; wir beschränken uns nicht auf translatorische Bewegungen, sondern ziehen auch Rotationen in Betracht. Wir führen ein Koordinatensystem ein, das in dem bereits oben erwähnten, mit dem Elektron starr verbundenen Gerüst befestigt ist. Wir schreiben

die zeitlichen Änderungen der Feldstärken, beurteilt von diesem Gerüst aus, und bezogen auf das im Gerüste feste Achsenkreuz. Die beiden ersten Feldgleichungen nehmen dann die einfache Form an:

8)

Die Form der Feldgleichungen legt es nahe, eine Klasse ausgezeichneter Bewegungen herauszuheben, nämlich solche, deren Feld stationär ist in Bezug auf jenes Gerüst. Zu den „ausgezeichneten“ Bewegungen gehört die reine Translation, ebenso die reine Rotation des kugelförmigen Elektrons, endlich auch Translation, verbunden mit Rotation um die Richtung der Translationsbewegung; bei Rotation um eine zur Bewegungsrichtung schiefe Achse hingegen wird der Geschwindigkeitsvektor keine feste Lage im Gerüst besitzen, mithin das Feld, bezogen auf das Gerüst, nicht stationär sein. Für die ausgezeichneten Bewegungen verschwindet ; es ist mithin nach (8) der für die inneren Kräfte massgebende Vektor der Gradient eines Skalars φ; dieser wird „Konvektionspotential“ genannt. Mit ihm hängt die „Lagrangesche Funktion“ durch die Relation zusammen:

9) .

(In meiner früheren Mitteilung habe ich, diese Formel als Verallgemeinerung einer Formel der gewöhnlichen Potentialtheorie betrachtend,

als „Kräftefunktion“ des Elektrons bezeichnet.)

Für die „ausgezeichneten“ Bewegungen nun lässt sich der Impuls aus der Lagrangeschen Funktion ableiten. So gelten, für reine Translation, die Gleichungen:

9a)
9b ,

die man in der analytischen Mechanik als erste und zweite Zeile der Lagrangeschen Gleichungen bezeichnet. Es gilt ferner für die Energie die aus der analytischen Mechanik bekannte Beziehung:

9c .

Diese Formeln sind implicite bereits in meiner früheren Mitteilung enthalten; man hat für die Lagrangesche Funktion des kugelförmigen Elektrons zu setzen

10) .

Aus (10), (9a) und (7) folgt insbesondere für die transversale elektromagnetische Masse die Formel:

10a) ,

die durch Herrn Kaufmanns Versuche eine so glänzende Bestätigung erfahren hat.

(Es ist bemerkenswert, dass, wenn man homogene Flächenladung anstatt Volumladung annimmt, die Lagrangesche Funktion, ebenso wie μ0 den Faktor erhält, die Formel (10a) aber gültig bleibt.)

Zu den „ausgezeichneten Bewegungen“ gehört auch die reine Rotation. Hier wird

11) , wo C, p Konstanten sind.

Es wird mithin der Drehimpuls

11a) ,

analog einer materiellen starren Kugel; für p, das „elektromagnetische Trägheitsmoment“, erhält man

11b) ,

während bei einer mit materieller Masse M homogen erfüllten Kugel das Trägheitsmoment P ist.

Bei reiner Rotation tritt nichts Bemerkenswertes ein. Bei langsamer Translationsbewegung begeht man nur einen Fehler von der Ordnung β², wenn man , setzt. Drehende Kräfte treten auf beim Durchgang der Kathodenstrahlen durch inhomogene Felder. Doch ist, da der Radius des Elektrons a so klein ist, die Drehkraft sehr gering; daher beträgt, nach meiner Schätzung, die Energie der in Feldern von der grössten erreichbaren Inhomogenität entstehenden Rotationsbewegung, nur den 10–23ten Teil der translatorischen Energie. Bei Becquerelstrahlen ist die Berücksichtigung der Rotation weit schwieriger; hier sind translatorische und rotatorische Bewegung durch das elektromagnetische Feld gewissermassen gekoppelt. Ich habe mich darauf beschränkt, Rotation um die Translationsrichtung zu behandeln, eine Bewegung, die zu den ausgezeichneten gehört. Das allgemeine Rotationsproblem für grosse Geschwindigkeiten ist bisher nicht gelöst; ich halte eine Bearbeitung desselben für wenig lohnend, da die Schwierigkeiten sehr bedeutende sind, und da bisher nichts dazu zwingt, bei Becquerelstrahlen Rotationen als wesentlich mitspielend anzunehmen.

Zum Schlusse eilend, fasse ich die Resultate zusammen. Das Problem der Dynamik des Elektrons ist das einfachste Problem der elektromagnetischen Mechanik. Das nur translatorisch bewegte Elektron entspricht dem materiellen Punkte, das rotierende dem starren Körper der gewöhnlichen Mechanik. Auch haben wir die Annahmen über Form und Ladungsverteilung des Elektrons möglichst einfach gehalten – gerade die einfachsten Annahmen stimmen mit dem Experiment überein –, und dennoch ist die Dynamik des Elektrons weit komplizierter, als es die entsprechenden Aufgaben der gewöhnlichen Mechanik sind. Nur für eine spezielle Klasse von Bewegungen, für die „ausgezeichneten Bewegungen“, die gleichzeitig quasistationär sind, liessen sich die Lagrangeschen Gleichungen in der aus der analytischen Mechanik bekannten Form deduzieren; für solche Bewegungen gilt selbstverständlich auch diejenige Formulierung der Lagrangeschen Mechanik, welche man das „Hamiltonsche Prinzip“ nennt. Wird der Gültigkeitsbereich der analytischen Mechanik in gewisser Weise eingeschränkt, so erfährt er wiederum in anderer Hinsicht eine sehr wesentliche Erweiterung. Denn die gewöhnliche Mechanik materieller Körper bezieht sich auf sehr geringe Geschwindigkeiten, die Dynamik des Elektrons gilt bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit heran. Auch hier erweist sich das Lagrangesche System der Mechanik als richtig; nur sind es kompliziertere Formen der Lagrangeschen Funktion, die in der elektromagnetischen Mechanik gelten, Formen, die bei langsamer Bewegung in die von der gewöhnlichen Mechanik als gültig angenommenen übergehen.

Diese Erweiterung des Machtbereichs der analytischen Mechanik beschränkt sich auf den gewöhnlichen, dreidimensionalen, euklidischen Raum. Allein sie berücksichtigt, und darin zeichnet sie sich vor anderen vorgeschlagenen Erweiterungen aus, diejenigen physikalischen Eigenschaften des Raumes, welche in den Maxwell-Hertzschen Differentialgleichungen ihren mathematischen Ausdruck finden. Es mag betont werden, dass unsere Theorie kontinuierliche Raumerfüllung des Äthers, d. h. exakte Gültigkeit jener Differentialgleichungen, noch annimmt für Distanzen, die klein sind gegen den Radius des Elektrons, d. h. gegen ein Billiontel eines Millimeters, und für Feldstärken, welche die unserer Messung zugänglichen billionenfach übertreffen. Die Übereinstimmung der theoretischen Resultate mit den experimentellen Ergebnissen von Herrn Kaufmann zeigt die Berechtigung dieser Annahme. Also: atomistische Struktur der Elektrizität, aber kontinuierliche Raumerfüllung des Äthers! Das sei unsere Losung.

(Selbstreferat des Vortragenden.)


Diskussion.

Planck (Berlin): Jeder, der sich mit diesen Dingen beschäftigt hat, wird darüber befriedigt sein, dass es den beiden Herren gelungen ist, diese schwierige Frage doch im letzten Grunde in einfacher Weise zu lösen. Wenn sich das alles so bestätigt, dann dürfen wir hoffen, dass sich an diese Untersuchungen ein wesentlicher Fortschritt der Elektrodynamik knüpfen wird. Von den vielen Fragen, die durch den Vortrag angeregt werden, möchte ich nur zwei an den Vortragenden richten. Die erste Frage bezieht sich auf die Bedeutung dieser Dinge für die Elektrodynamik überhaupt. Es sind diese Feststellungen nur von Bedeutung für die Lorentzsche Theorie, sie fussen durchaus auf den Lorentzschen Gleichungen. Nun ist es bekannt, dass noch andere Grundgleichungen existieren, die den Anspruch machen, den Thatsachen zu entsprechen, z. B. die Cohnschen Gleichungen. Es wäre doch interessant, zu fragen, wie die Sachen sich stellen, wenn man die Cohnschen Gleichungen den Rechnungen zu Grunde legt. Die Durchführung der Berechnungen wäre zwar wahrscheinlich sehr schwer, aber doch interessant, weil man vielleicht dadurch erfahren könnte, ob die Cohnsche Theorie überhaupt noch zulässig ist.

Die zweite Frage ist folgende: Es würde mich interessieren, zu erfahren, innerhalb welcher Grenzen noch ein quasistationärer Zustand zu Grunde gelegt werden kann. Ich möchte gerne wissen, auf welchem Wege man darüber noch etwas Näheres erfahren könnte.

Abraham: In Bezug auf die erste Frage habe ich zu bemerken: gewiss wäre es wichtig zu untersuchen, ob die Cohnsche Theorie die Thatsachen erklärt, das wäre aber natürlich Sache des Urhebers dieser Theorie. Ich sehe den Vorzug der Lorentzschen Theorie hauptsächlich darin, dass man aus ihr eine elektromagnetische Bewegungsgrösse ableiten kann. Das vereinfacht die mathematische Betrachtung und ermöglicht die Analogie zur gewöhnlichen Mechanik. In Bezug auf die zweite Frage habe ich folgende Überlegung angestellt. Bei raschen Stromschwankungen, Hertzschen Schwingungen z. B., kommt ausgestrahlte Energie in Betracht; dann darf man nicht mehr mit quasistationärem Strome rechnen. Ähnlich liegt die Sache bei rasch beschleunigter Elektronenbewegung. Die Ausstrahlung von Energie und Impuls kann man berechnen mit Hilfe des Wiechert-Des Coudresschen Punktgesetzes in der Lorentz-Festschrift. Ich habe die Rechnung durchgeführt und daraus den Anhaltspunkt gefunden für die Bestimmung des Gültigkeitsbereichs der quasistationären Bewegung.

Meyer (Königsberg): Ich habe ein Bedenken, dass Sie vielleicht ohne weiteres zerstreuen könnten. Diese Doppelintegrale treten ja häufig auf. Sie haben da eine ideale Oberfläche, die lassen Sie dann in die Unendlichkeit rücken, und sagen dann, das Integral wird gleich Null.

Ich möchte nun fragen, ob der Beweis, dass das Integral bei dem Grenzübergang verschwindet, so ganz leicht war. Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Physiker da bisweilen nicht genau rechnen und sich die Sache leicht machen. Neumann hat in einem Falle, wo er das beweisen wollte, eine Entwicklung nach Kugelfunktionen für notwendig gehalten. Ist nun bei Ihnen der Beweis so leicht, dass das Integral bei dem Grenzübergang verschwindet?

Abraham: Die Annahme, dass die Begrenzungsfläche des Feldes im Unendlichen liegt, wird hinfällig, wenn die Bewegung z. B. sehr nahe einer leitenden Fläche verläuft, wie etwa bei Reflexion der Kathodenstrahlen. Schliesst man solche Fälle aus, so ist es gestattet, die Aufgabe so zu behandeln, als ob das Elektron sich allein im Raume befinde. Der Nachweis, dass dann die betreffenden Oberflächenintegrale verschwinden, ist nicht sehr schwer, wenn man nur ein gewisses physikalisches Verständnis diesen Dingen entgegenbringt.