Zum Inhalt springen

Populäre Briefe über Musik 2

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Johann Christian Lobe
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Populäre Briefe über Musik
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 648–650
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken
Dieser Beitrag erschien als Nr. 2 in der Reihe Populäre Briefe über Musik
Nr. 1 Populäre Briefe über Musik 1 siehe Heft 41
Nr. 3 Populäre Briefe über Musik 3 folgt in Heft 16 des Folgejahres
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[648]

Populäre Briefe über Musik.

Von J. C. Lobe.
Zweiter Brief.
Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken.

Lieber Herr Musikkennerwerdenwollender – es geht nicht! – ganz ohne Noten! Lassen wir also die armen Typen zu; sie sollen selten erscheinen, und dann auch dem Nichtnotenkenner das Verständniß erleichtern helfen.

Betrachten Sie also folgende Melodie, die Sie gar oft in der Weber’schen Freischütz-Ouvertüre gehört haben.

Die kleinen durch senkrechte Striche abgetheilten Räume sind Takte; die darüber stehenden Zahlen sagen Ihnen, daß diese Melodie, aus sechzehn aneinander gereihten Takten zusammengesetzt ist.

Den Noteninhalt jedes Taktes, auch die Pausen mit gerechnet, nenne ich Motiv. (Man bezeichnet mit diesem Wort freilich oft auch eine ganze Melodie; dann aber auch wieder bald nur einen Takt, bald zwei, drei, vier u. s. w., dadurch wird der Sinn unsicher und es können Mißverständnisse herbeigeführt werden.)

Aber warum Motiv? Motiv heißt Ursache? Eben darum. – Solche kleine Dinger werden Ursache zu sehr großen Dingen, zu ganzen Tonstücken.

Zwei Motive verbunden, geben einen Abschnitt; also machen 1–2 den ersten, 3–4 den zweiten, 5–6 den dritten Abschnitt u. s. w. Zwei Abschnitte oder vier Motive bilden einen Satz; also 1–2–3–4 erster Satz, 5–6–7–8 zweiter Satz u. s. w. Zwei Sätze geben eine einfache Periode, zwei einfache Perioden eine zusammengesetzte Periode oder Periodengruppe.

Wir können die vorstehende Melodie vom Ganzen zum Einzelnen gehend nun auch so erklären: sie besteht aus zwei einfachen Perioden, oder vier Sätzen, oder acht Abschnitten, oder sechzehn Motiven.

Hat ein Motiv (der Inhalt eines Taktes) nur eine, die größte Note der bezüglichen Taktart, so ist es ein einfaches Motiv; alle Motive, die mehr als eine Note haben, sind zusammengesetzte. Alle zusammengesetzten Motive kann man wieder theilen; daraus entstehen Motivglieder. Sie werden in der Folge sehen, daß auch diese kleinsten oft ganz unscheinbar aussehenden Tongedanken Ursachen zu ganzen Melodien werden.

Wenn Sie einen Trommelmarsch hören, so vernehmen Sie nur in Takte eingetheilte Schalle mit Längen und Kürzen, keine verschiedenen, nach Höhe und Tiefe unterscheidbaren Töne. Die Takte enthalten nur rhythmische Motive. So können Sie z. B. jede Melodie blos rhythmisch mit den Fingern auf dem Tische trommeln. In der ordentlichen Musik hören Sie neben der Rhythmik auch steigende oder fallende Töne dazu, und das ist der tonische Theil der Motive.

Nun folgen Sie mir zunächst bei der Betrachtnug der Weber’schen Melodie in Hinsicht auf die rhythmische Gestalt der Motive. Da bemerken Sie sogleich, daß das 3te, 5te, 6ste, 9te, 11te, 13te, und 14te dem ersten ganz gleich sind. Und ebenso 4, 10 und 12 dem Zweiten. Nur das 7te, 8te, 15te und 16te haben keine ihres Gleichen in dieser Melodie.

Fassen Sie das siebente Motiv noch einmal besonders in’s Auge und blicken Sie auf die beiden darunter stehenden größeren Bogen, so sehen Sie, daß sich die beiden Motivglieder gleich sind. Endlich wenn wir recht subtil beobachten wollen, können wir noch eine sehr oft wiederkehrende Gleichheit des kleinsten Motivgliedes unter den kleineren Bogen von a, b, c bis k bemerken.

Vergleichen Sie die Abschnitte untereinander, so sehen Sie, daß der erste (1–2), der zweite (3–4), der fünfte (9–10) und der sechste (11–12) sich rhythmisch ganz gleich sind, ferner der dritte (5–6) und siebente (13–14), und daß wieder der dritte und der siebente das erste Motiv des ersten Abschnittes enthalten.

Vergleichen Sie endlich beide Perioden in ihren rhythmischen Figuren mit einander, so sehen Sie, daß die ersten sechs Takte der ersten Periode in den ersten sechs Takten der zweiten Periode in ganz gleicher Weise wieder erscheinen! Sie begreifen nun, daß diese Melodie, durch die öftere Wiederkehr gleicher rhythmischer Motive, Abschnitte, Sätze und durch die beinahe ganz gleiche rhythmische Gestalt beider Perioden einen sehr festen, einfachen geordneten und klaren rhythmischen Organismus erhalten hat. Und das ist die erste Ursache, warum Sie diese Melodie leicht auffassen und leicht im Gedächtniß behalten.

Sehen wir nun von der rhythmischen Gestalt und Gliederung ab und richten unsere Beobachtung auf das tonische Aussehen (auf das Steigen und Fallen der Töne) dieser Melodie, so entdecken wir darin dasselbe Gesetz, wenn auch nicht in so strenger Weise der öftern Gleichheit, doch der mehr oder weniger hervortretenden Aehnlichkeit. Das erste, sechste, neunte und vierzehnte Motiv sind sich auch tonisch ganz gleich; das dreizehnte ist dasselbe wie das fünfte. Diese Beiden sind auch wieder im Steigen und Fallen der Töne dem ersten ganz gleich, nur daß sie in einer höhern Tonregion liegen.

Ferner ist das dritte dem ersten sehr ähnlich, denn die beiden ersten Noten desselben fallen eben so wie in jenem, aber in tieferer Region, und nur die beiden letzten Achtel steigen, anstatt daß sie fallen sollten.

Suchen Sie die tonische Gleichheit und Aehnlichkeit nun weiter selbst in den Abschnitten, Sätzen und Perioden auf, und Sie werden dieselbe Bezüglichkeit, Gleichheit und Aehnlichkeit wieder finden. Also auch in tonischer Hinsicht, Einfachheit, Klarheit und Faßlichkeit der Bildung.

Nun wollen wir, um ein anderes Merkmal an dieser Melodie zu erkennen, ein Experiment machen. Singen Sie von derselben nur den ersten Takt und halten Sie mit der Fortsetzung ein. – Was empfinden Sie? – Nichtbefriedigung. Es ist Ihnen, als begönne einer: „Wie traulich“ – zu recitiren und bräche dann ab. – Es wird durch diese beiden Worte ein Sinn begonnen, aber nicht vollendet. Singen Sie zu dem ersten Motiv noch das zweite, also den ersten Abschnitt, so kommt zwar noch keine Befriedigung, aber doch schon etwas mehr Sinn zum Vorschein, etwa als wenn wir an die beiden obigen Worte das weitere fügten: „Wie traulich hier.“ Singen Sie zu dem ersten Abschnitt der Melodie den zweiten, also einen Satz, so wird die Sache wieder um etwas bestimmter, ähnlich: „Wie traulich hier im schatt’gen Wald.“

In dieser Weise fortfahrend, stellt sich mit dem achten Takt, am Ende der ersten Periode, das Gefühl einer bedeutenderen Abtheilung, einer Art Ruhepunktes ein, und endlich, beim Vortrag der ganzen Melodie, empfinden Sie beim Eintritt des letzten Tones das vollkommene Aussein des Tongedankens.

Die Musik hat nämlich einige melodische und harmonische Formeln, deren Wirkung Aehnlichkeit mit der Interpunktion in der Rede hat; vom siebenten zum achten Takte erscheint eine etwa dem Semikolon vergleichbare Folge, welche man Halbschluß (Halbkadenz) nennt; die Tonformel am Ende der ganzen Melodie entspricht dem Punkte am Ende der Redeperiode und heißt Ganzschluß (Hauptkadenz). Jener bildet Ruhepunkte, läßt aber das Gefühl, daß die Musik hier aufhören könnte, nicht zu. Dieser dagegen beruhigt ganz, und man kann das Stück damit schließen.

[649] Ein viertes Merkmal ist dem Harmonieunkundigen schwer zu verdeutlichen. Vielleicht geht es auf folgende Weise. Denken Sie sich den Begriff „Mensch,“ so stellen Sie sich eine Mannigfaltigkeit von Gliedern vor, die, zusammengenommen, die menschliche Figur (eine Einheit) ausmachen.

Die Einheit „Mensch“ wollen wir uns in der Musik unter der Einheit „Tonleiter“ (Skala), die Mannigfaltigkeit der menschlichen Glieder durch die in der Skala liegenden, stufenweise auf einander folgenden Töne vorstellen.

Nun unterscheiden sich aber die Menschen in zwei Geschlechter, Mann und Weib. Ebenso haben wir in der Musik zwei Tongeschlechter, das harte und das weiche, oder die Dur-Skala und die Moll-Skala.

Sie unterscheiden sich durch einige andere Intervallenschritte von einander, wodurch der männliche und weibliche Charakter entsteht. Die männliche, harte Tonleiter ist unmittelbar aus der Natur der mitschwingenden Töne geschaffen worden, sie ist ursprünglich und consequent, der Adam; die weibliche, die Eva, ist aus der männlichen gebildet, hat in einem Intervall einen weichern, in einem andern Intervall einen herbern Zug, ist aufsteigend anders wie absteigend, also unconsequenter und launischer als die von Dur, aber nichts destoweniger höchst liebenswürdig.

Diese beiden Tonleitern können von jedem vorhandenen Tone ausgehend, nachgebildet werden; da wir nun zwölf verschiedene[WS 1] Töne haben, so giebt es zwölf harte und zwölf weiche Tonleitern, welche sich zwar in ihrem Wesen ganz gleich sind, aber sich durch höhere Lagen von einander unterscheiden, etwa wie die verschiedenen Racen der Menschen. Also. Mensch – Tonleiter. Geschlecht – Dur und Moll. Menschenracen – Tonarten. Die Melodie kann nur in einer Tonleiter liegen, dann ist sie eine leitereigen modulirende, oder sie kann mit anderen Tonleitern wechseln und wird dadurch eine ausweichend modulirende.

Jene hat die größte modulatorische Einheit, diese weniger, und kann durch immerwährendes Ausschweifen in andere Tonarten die Einheit in dieser Beziehung ganz verlieren. Es giebt viele der schönsten Melodien, die entweder ganz in einer Tonart bleiben oder nur sehr kurze Ausweichungen machen und gleich wieder in die vorige Tonart (Haupttonart) zurückgehen. Die Weber’sche Melodie liegt in C-dur, macht nur im zwölften Takt eine kleine Ausweichung nach F-dur – und wendet sich wieder nach C-dur zurück.

Nehmen wir nun zu den angegebenen Merkmalen das hinzu, was im ersten Briefe über Takt und Tempo gesagt worden, so ist die Weber’sche Melodie in ihrer einstimmigen Gestalt so zu erklären:

Sie ist eine Einheit, indem sie 1) eine Taktart, 2) ein Tempo, 3) eine Haupttonart, 4) am Ende einen vollständigen Abschluß, 5) rhythmisch gleiche und ähnliche, 6) tonisch gleiche und ähnliche Motive, Abschnitte, Sätze und Perioden hat.

Sie ist eine Mannigfaltigkeit, indem 1) in derselben Takt- und Tempoart verschiedene rhythmische und tonische Figuren, 2) in derselben Tonart verschiedene Akkordarten, und 3) verschiedene Ruhepunkte vorkommen. Durch alle diese Momente erhält sie eine einfache, wohlgeordnete faßliche und darum wohlgefällige Gestalt.

Nun merken Sie wohl auf! Die Momente, welche ich an der Weber’schen Melodie entwickelt habe, finden Sie im Allgemeinen in allen Melodien und musikalischen Gedanken unserer Musik wieder.

Namentlich giebt es keine einzige musikalische Periode, welche nicht wiederholte gleiche oder ähnliche rhythmische Motive in sich enthielte. Sollte einmal höchst ausnahmsweise eine Melodie von acht Takten, eine einfache Periode ganz ohne gleiche und ähnliche Motive erscheinen, so wird die ganze Periode wiederholt, oder die Wiederholungen erscheinen im Akkompagnement, d. h. in den begleitenden Stimmen, wie Ihnen später bewiesen werden soll. Kommen nun aber die genannten Merkmale in jeder Melodie vor, so ist die Verwendung und Mischung derselben einer unendlichen Mannigfaltigkeit fähig.

Es giebt Volkslieder, die mit einer achttaktigen einfachen oder sechzehntaktigen (Doppelperiode) zum Aussein, zum Schluß gebracht werden. Es giebt aber auch Musikstücke, Ouvertüren z. B., die zwei-, dreihundert Takte lang sind, zwei- dreihundert Motive haben, und also aus sehr vielen aneinander gehängten musikalischen Perioden oder einzelnen musikalischen Gedanken bestehen.

Wäre nun jede einfache Periode genau nur an die achttaktige, jede Doppelperiode genau nur an die sechzehntaktige Gestalt gebunden, so würde eine zu starre, mechanische und damit zu monotone Ordnung entstehen, die uns eben so unangenehm wie die Unordnung ist.

Um jene zu vermeiden, bildet man die Periode auf mehrfache Weise um, man zieht sie zusammen bis zu sechs Takten, und man dehnt sie aus bis zu 9, 10, 11, 12, 13 Takten etc. Dadurch, daß man nun Doppel-, wohl auch Tripelperioden von der einen oder andern gleichen Taktenzahl, z. B. von zweimal sechs, oder zweimal zehn Takten u. s. w., oder von verschiedener Taktenzahl, die eine z. B. von acht, die andere von zwölf Takten etwa bildet, kommt eine große Mannigfaltigkeit in den Perioden- und Gruppenbau der Tonstücke. Die musikalischen Gedanken werden in dieser Hinsicht ganz so wie die Gedanken der Rede behandelt. Die letztere hat auch verschiedene längere und kürzere Perioden, ja, zuweilen auch blos Sätze, wie die Musik auch.

Ebenso würden längere Musikstücke, welche durchaus nur in einer Tonart sich hielten, in dieser Hinsicht monoton erscheinen. Je größer daher das Tonstück ist, in desto mehr andere Tonarten wird zeitweise ausgewichen, um auch hier die Mannigfaltigkeit zu gewinnen, ohne die wir veränderungssüchtige Menschen uns nun einmal nicht zufrieden geben können.

Eine fernere Mannigfaltigkeit ist erreichbar durch die geringere oder größere Anzahl neuer oder schon dagewesener Motive und Motivglieder innerhalb der Periode. Es giebt Melodien, die nur aus einem einzigen Motivgliede, andere die nur aus einem Motive fortgesponnen sind, aber auch welche, die zwei, drei, vier, fünf, sechs – vielleicht wohl auch einmal sieben neue, von einander verschiedene Motive enthalten.

Und was im Kleinen, der Periode sich zeigt, zeigt sich im Großen in allen Tonstücken. Es giebt keines, dessen Perioden alle durchaus neue wären, deren einzelne Melodien sich alle durchaus von einander unterschieden. In jedem größern Tonstücke kommen Wiederholungen ganzer Perioden, oder doch von Sätzen, Abschnitten u. s. w. aus früheren Perioden vor. Diese gleichen und ähnlichen Wiederholungen nennt man „thematische Arbeit,“ und sie ist wieder das Mittel, dem ganzen Tonstücke eine Einheit und damit die Faßlichkeit zu geben. Man hat sie, und mit vollem Recht, die Logik der musikalischen Sprache genannt. Wie eine Rede einen Hauptsatz hat, welchen der Titel ankündigt, z. B.: „Von der Melodie oder dem musikalischen Gedanken,“ und alle einzelnen Sätze und Gedanken sich nun über diesen Hauptsatz auslassen, ihn von seinen verschiedenen Seiten betrachten und erklären, so hat jedes gute Musikstück ein Hauptthema, eine Hauptmelodie, welche gleichsam den Titel des Gefühls und Charakters angiebt, und den nun alle folgenden Perioden weiter entwickeln.

Hat die Melodie einfache Figuren und einfache Gliederung, so daß ihre Gestalt allen Hörern gleich verständlich und faßlich ist, so nennen wir sie eine populäre Melodie, dergleichen alle Volkslieder, viele Melodien in den Mozart’schen, Weber’schen etc. Opern, Haydn’schen und selbst Beethoven’schen Werken mehr oder weniger enthalten. Sie werden von allen Musikliebhabern als einzelne besonders ansprechende Stellen freundlich aufgenommen. Nun ziehen aber in den größern Tonstücken auch viele musikalische Gedanken an Ihnen vorüber, denen Sie den Namen Melodie nicht zugestehen mögen, weil sie Ihnen nicht so deutlich in ihrer Konstruktion erscheinen.

Mit dem Urtheil über solche Gedanken waren Sie bisher schnell fertig, indem Sie dieselben melodielos, im tolerantesten Falle, gelehrte Musik nannten. So wollen wir sie denn im Gegensatz zu der vorigen populären Melodie die Gelehrtenmelodie nennen, aber sie damit keineswegs als eine unbedingt verwerfliche bezeichnen. Denn die Faßlichkeit der Musik ist sehr relativ, und Manches oder Vieles, was dem Laien unfaßlich und unverständlich erscheint, ist es für den Kenner ganz und gar nicht. Das wird Ihnen jetzt schon anfangen, einzuleuchten.

Nachdem Sie, früher ein Stocklaie, nun wissen, daß gleiche und ähnliche kleine Theile (Motivglieder, Motive, Abschnitte u. s. w.) in jeder Melodie vorkommen und sie daher mit Ihrer Aufmerksamkeit beim Beginn jeder Melodie schon solche erwarten, wird Ihnen das Bemerken derselben, wo und wann sie erscheinen, gewiß [650] schon leichter werden. Sie können denken, daß der gebildete Musiker, der das von Jugend auf gelernt und geübt hat, eine große Fertigkeit im Erkennen derselben, daß er sich eine große Hörkunst erworben haben muß.

Daraus wird Ihnen die tiefe und weite Kluft im Urtheil und Genuß, welche bisher zwischen Kennern und Laien in der Musik bestand, erklärlich sein. Viele musikalische Gedanken also, immer nur erst in der Einstimmigkeit betrachtet, sind, wenn gleich künstlicher konstruirt und mit verstecktern Aehnlichkeiten ausgestattet, dem Kenner doch eben so faßbar und deutlich, wie die einfachste und populärste Melodie dem Laien nur immer sein kann.

Aber freilich ist diese unleugbare Wahrheit auch leider zugleich ein Zufluchtsort, in welchem sich der Irrthum, das Ungeschick des Komponisten mit jeder, auch der unfaßlichstett Musik, zurückziehen kann.

Von dort aus wird dann wohl dem armen Publikum zugerufen: „Du verstehtst mich nicht, aber Deine Nachkommen werden mich schon zu schätzen wissen, und Dich ob Deiner Schwäche verachten und auslachen!“ Und freilich finden dann solche Irrthümler immer eine Anzahl besonderer Kennerseinwoller, die nicht allein das musikalische Gras der Gegenwart, sondern auch das der Zukunft wachsen hören und die jenem beistimmend ausrufen: „Ja, wir begreifen ihn, und wir – anerkennen ihn!“

Aber, liebe Leser der Gartenlaube, Ihr, hoffe ich, sollt Euch in der Folge dadurch nicht mehr irre führen und verblüffen lassen, denn so dehnbar die Dinge dieser Welt, also auch die Kunstbildungsgesetze sein mögen und in der That sind, daß es Schranken für dieselben giebt, weil die menschlichen Sinne ihre Schranken haben, und daß, wenn diese Schranken überschritten werden, es mit dem so gerühmten Fortschritt nichts mehr ist, will ich in Bezug auf musikalische Gedanken noch durch ein Beispiel erläutern.

Wenn Goethe schreibt:

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.

so kann man den Ausdruck dieses Gedankens einen populären nennen, denn er ist jedem nur halbweg gebildeten Menschen durchaus klar und verständlich.

Einer Gelehrtenmelodie schon näher kommt folgende Strophe von Klopstock:

„Zwo tisiphonische Töchter hat der Eroberungskrieg, er
Nennt sie: Nimm, behalt! Versklavung! die jüngere. Oft deckt
Dieser Günstling des Vaters die Bande durch lilienweiße
Blumen, von Schlangenschaum getränkt.“

Die Konstruktion ist gesuchter, künstlicher, und es kommen Ausdrücke darin vor, zu deren Verständniß schon besondere Kenntnisse gehören.

Immerhin geht dieser Gedanke nicht über die Fassungskraft des Menschen hinaus, und ist deshalb nicht als überhaupt unzulässig zu bezeichnen. Was sagen Sie aber zu folgenden Zeilen:

„Da ist wie auch o Wetter bringen gelten
Und schnell das Schloss es regnet abseits Welten!“

Darf irgend ein vernünftiger Mensch sagen: in diesen Worten liegt ein Gedanke von solcher Tiefe, wie ihn die jetzige Generation noch nicht, erst eine in der Zukunft kommende verstehen und sich an ihm erfreuen wird?

In der Musik tauchen aber in der That jetzt zuweilen musikalische Gedanken auf, die nicht viel verständlicher sind, als der letzte Wortgedanke, und deren Unsinn von den Laien bisher nicht klar eingesehen werden konnte. Jetzt werden Sie schon begreifen, daß solche Tongedanken keiner Zukunft sinnig vorkommen können, weil sie absolut unsinnig sind.

Sie fragen vielleicht, wie es möglich sei, daß Erfahrungen, welche jeder gebildete Mensch macht, gerade von den Künstlern übersehen werden sollten, die doch das hellste Einsehen in das Wesen, die Gesetze, Wirkungszwecke und möglichen Grenzen der Kunst haben müssen, da sie sich mehr als alle anderen Menschen damit beschäftigen?

Die Zahl der Künstler, welche gegen die unwandelbaren Gesetze der Tonkunst verstoßen, ist verhältnismäßig zu allen Zeiten gering gewesen. Die vorzugsweise Beschäftigung mit der Kunst schützt aber nicht alle vor Fehlern. Die Uebung stärkt die Kräfte, das Bewußtsein dieser Kräfte führt zuweilen auf Ueberschätzung derselben, und dann sind Ueberschreitungen in’s Ungeheuerliche und Maßlose nichts Unerhörtes. Ein Hauptverführungsmittel liegt auch vorzüglich in der langen und wiederholten Beschäftigung mit einem Kunstwerke. Eine Sinfonie z. B. verlangt gar viele Wiederholungen verschiedener Prozeduren vom ersten rohen Gedanken an bis zur letzten Note der Ausführung. Was ist natürlicher, als daß dem Schöpfer derselben alle Gedanken bis in die kleinsten Theile hinein bekannt und geläufig werden. Für ihn ist nichts darin zu künstlich, zu verwickelt konstruirt, nichts nur im Geringsten dunkel und unverständlich. Aber daß er glaubt, es müsse Anderen eben so verständlich wie ihm werden, darin liegt sein Irrthum.

Noch eine Art von Komponisten bringt dunkele und unverständliche Dinge zu Tage aus Ungeschick. Man möchte gern bedeutende und bewundernswürdige Dinge schaffen, hat aber die strenge Schule nicht durchgemacht, welche erst befähigt, eine gefaßte Idee deutlich, anmuthig, jedermann faßlich und wohlgefällig aus sich herauszugestalten und zum Ausdruck bringen zu können.

Die Bemerkungen in diesem Briefe bezogen sich nur auf den Leib, auf den technischen Organismus der Melodie und der musikalischen Gedanken. Und in derselben Weise muß ich noch in manchem folgenden Briefe von andern musikalischen Dingen reden. Dann aber werden Sie auch gehörig vorbereitet und befähigt sein, das Nöthige über den geistigen Inhalt, die Seele der Musik, zu verstehen und aus den ächten Tonwerken heraushören und nachfühlen zu können.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: verschieden