Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt
Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.
Berlins Polizeiverwaltung, ihre Eintheilung und ihr Dienst.
„Millionenstadt!“ Eine stolze Bezeichnung, die ihrer Trägerin einen eigenthümlichen, halb großartigen, halb unheimlichen Glanz verleiht. Es ist noch gar nicht so lange – etwa fünfzehn Jahre – her, daß der Deutsche seines Reiches Metropole einrücken sah in die Klasse der Millionenstädte, daß er begann, in der Großartigkeit dieses Titels sich mit zu sonnen, dessen unheimliche Seite ja dem Fernerstehenden nicht so unmittelbar ins Bewußtsein tritt.
Aber vorhanden ist sie darum nicht minder, diese unheimliche Seite, und sie verdient eine ernste Beachtung. Der Zug zur Großstadt ist eine bezeichnende Erscheinung unserer Tage, die der Freund des Volkes mit sorgendem Blicke betrachtet; denn er weiß, wie viel gute, gesunde Elemente dort verderben, zu Grunde gehen oder in ihr Gegentheil verkehrt werden. Die Beleuchtung der Nachtseiten einer Großstadt wie Berlin hat darum unseres Erachtens einen hohen volkswirthschaftlichen Werth; es ist ein bitteres Stück Kulturgeschichte, das wir unseren Lesern in der Schilderung des Verbrecher- und Vagabundenwesens von Berlin und der Mittel zu seiner Bekämpfung vorführen, ein bitteres Stück Kulturgeschichte, dessen Lehre aber klar vor Augen liegt. Wir beginnen unsere Schilderung mit einer Darstellung des bewundernswerthen Organismus der Berliner Polizei, der uns von selbst den leitenden Faden zu den verschiedenen Gegenständen unserer Betrachtung liefern wird.
Als zu Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre Berlins unerwartetes, überraschend großes Wachsthum eintrat, als sich die Stadt im jungen Glanze der Kaiserkrone in unvorhergesehener Weise nach allen Seiten hin ausdehnte und ihre Bevölkerung, die bis dahin eine ziemlich beständige, hauptsächlich berlinische, gewesen, aus den preußischen Provinzen und den deutschen Bundesstaaten wie aus fremden Ländern den weitesten Zuwachs und hierdurch die bunteste Mischung erfuhr, da vergrößerte sich auch zusehends, fast von Tag zu Tag, das Arbeitsgebiet der hauptstädtischen Polizei, und auch sie erfuhr, wie die übrigen Berliner Behörden, eine durchgreifende Umänderung und Vergrößerung, um den so plötzlich vermehrten Pflichten in jeder Hinsicht gewachsen zu sein.
Es war ein großer Wirkungskreis, der sich ihr öffnete. Denn in demselben Augenblick, wo sich die preußische Residenz in die deutsche Kaiserstadt umwandelte, strömte zugleich mit dem frischen Bevölkerungszufluß auch von überallher lichtscheues Gesindel herbei, welches in der sich so gewaltig vergrößernden Weltstadt ein ersprießliches Feld für seine dunklen Thaten zu finden hoffte. Zahlen, die wir in diesem Artikel wiederholt zur Hilfe ziehen müssen, sprechen eine eindringliche Sprache: wurden 1868 in Isolirhaft 2898 und in den Polizeigewahrsam 23446 Personen gebracht, so zählte man 1880 bereits 4087 Isolirgefangene und 35423 in den Polizeigewahrsam Eingelieferte. Daß die Polizei aber rastlos bemüht war, diesen riesig gewachsenen Prozentsatz nicht in ähnlichem Grade steigen zu lassen, sondern ihn, wenn irgend angängig, mehr und mehr herabzudrücken, und daß sie hierbei den erwünschten Erfolg erzielte, beweisen die Zahlen des Jahres 1888, in welchem 4233 Isolirgefangene und 32759 in den Polizeigewahrsam Gebrachte zu verzeichnen sind, während sich doch inzwischen die Einwohnerschaft Berlins um nahezu 360 000 Seelen vermehrt hat!
In keinem Verhältniß hierzu stand und steht die Vergrößerung der Polizeimacht. Trotzdem genügten seit langem nicht mehr die zu ihrer Verfügung stehenden Räume, welche sich sogar gesondert in mehreren, von einander getrennten Gebäuden befanden. Den eigentlichen Mittelpunkt bildete „der Molkenmarkt“, wie allgemein in Berlin das am Molkenmarkt gelegene Polizeipräsidiumsgebäude genannt wurde: ein alterthümlich ausschauendes, verwittertes, düsteres Haus oder vielmehr eine Häusergruppe, die auf eine geschichtliche Vergangenheit zurückblicken kann und manches Jahrhundert an sich hat vorüberwandeln sehen. Denn wenn „der Molkenmarkt“ auch nicht mehr den Roland, welcher einst hier auf dem ältesten Markte der Stadt als Sinnbild ihrer höheren Gerichtsbarkeit stand, erblickt hat, so wird er doch schon im sechzehnten Jahrhundert als kurfürstliches Besitzthum erwähnt, zu welcher Zeit er mehrfach hervorragenden hohen Beamten und Generalen als Wohnung gedient hat. 1791 erhielt der Magistrat Berlins das Gebäude von dem Fiskus zur [257] Errichtung eines Stadtgefängnisses, und während letzteres – die sogenannte Stadtvogtei – seinen Platz in dem bisherigen Garten dicht an der Spree bekam, wurde das Vorderhaus für die Polizeiverwaltung bestimmt.
Wenn man sich von äußeren Eindrücken leiten lassen will, so paßte dasselbe gut für eine „rächende und richtende“ Behörde, und phantasievolle Romanschriftsteller konnten sich für ihre schauerreichen Kriminalgeschichten keinen besseren örtlichen Hintergrund wünschen als diesen ehemaligen kurfürstlichen Palast. Mitten im alten Berlin gelegen, in einem Gewirr enger, verbogener, baufälliger Gassen und Straßen, deren jede mehr erzählen könnte als die gesammten neuen Stadttheile; bespült auf der einen Seite von den Wellen der hier ziemlich breiten Spree, von deren jenseitigem Ufer die wackeligsten, schiefsten, verwittertsten Häuschen herüberschauen; selbst finster, verdrossen, unheimlich zum Ansehen, mit ausgetretenen, knarrenden hölzernen Treppen und Dielen, mit langen, verworrenen, durcheinander führenden und schlecht beleuchteten Gängen, mit kleinen, niedrigen, von Moderluft erfüllten Zimmern und Kabinetten, mit winkeligen, von hohen Mauern begrenzten Höfen, auf welche theilweise vergitterte Gefängnißfenster hinausgingen – gewiß, man konnte es den Berinern und noch mehr den Berlinerinnen nicht verdenken, wenn für sie „der Molkenmarkt“ etwas geheimnißvoll Unheimliches, etwas Spukhaftes, Furchtbares hatte, und wenn sich selbst diejenigen, deren Gewissen rein war wie erster Winterschnee, nicht einer leichten Beklemmung erwehren konnten, sobald sie zum ersten Male die abgenutzten steinernen Stufen emporschritten und sich hinter ihnen die große, eisenbeschlagene eichene Thür, vor der stets ein Schutzmannsposten stand, schloß! –
Auf spukhafte Einwirkungen jedoch und geschichtliche Erinnerungen nimmt die Gegenwart keinerlei Rücksicht, sie kennt nur die gebietende Nothwendigkeit von Zweckmäßigkeitsgründen, und letztere erheischten seit Jahren bereits dringend ein anderes Heim für Berlins Polizei, welches sämmtliche Abtheilungen derselben unter einem Dache vereinigte.
Im Frühjahr 1886 wurde auf einem umfangreichen, dem Alexanderplatz benachbarten und sich längs der Stadtbahn hinziehenden Platze mit dem Bau eines neuen großen Polizeipalastes begonnen und derselbe mit einem Kostenaufwand von 5 150 000 Mark bis zum Herbst 1889 beendet, so daß im vergangenen Jahre die vollständige Uebersiedlung der Polizeibehörden dorthin stattfinden konnte. In mächtiger Höhe und gewaltiger Ausdehnung erhebt sich dieses Bauwerk, nächst dem Königlichen Schloß und dem entstehenden Reichstagsgebäude das größte in Berlin, denn es umfaßt einen Flächeninhalt von nahezu sechzehntausend Quadratmetern, von denen an elftausend bebaut sind. In seinem Aeußern, das aus hellrothen Ziegelsteinen, belgischem Granit und schlesischem Sandstein besteht, macht es einen ungemein stattlichen Eindruck, wenngleich man den mit den Bronzestandbildern des Großen Kurfürsten, König Friedrichs I., Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Friedrichs III. geschmückten Fassaden eine größere architektonische Mannigfaltigkeit wünschen könnte.
Die Ausführung des Inneren ist eine äußerst gediegene. Eine besonders treffliche Einrichtung erfuhr die im ersten Stock gelegene Dienstwohnung des Polizeipräsidenten, zu welcher ein eigener, aus weißem Marmor bestehender Treppenaufgang hinaufführt. Der südliche Flügel enthält die Gefängnißräume; dieser Flügel ist von oben bis unten durch einen Mittelgang getheilt, welcher einen Ueberblick über alle sechs Stockwerke gestattet und nur auf seitlichen Galerien zu begehen ist, von denen aus man in die Zellen tritt. An den Thüren der letzteren befindet sich je eine rothweiße Scheibe, die, an einem Stabe befestigt, herausspringt, falls der Gefangene etwas zur Kenntniß der Aufseher bringen will. Im Erdgeschoß liegt der für vorübergehend aufgegriffene Personen bestimmte Polizeigewahrsam, aus einem größeren und kleineren Haftraum für Männer und Frauen bestehend, sehr leicht durch sogenannte „Judasse“ zu beaufsichtigen, kleine trichterförmige Oeffnungen, welche von außen die Beobachtung eines weiten Kreises gestatten. Auch für die Pferde der reitenden Schutzmannschaft ist gesorgt, nicht nur durch vorzügliche Stallungen, wobei wir als Merkwürdigkeit erwähnen, daß dieselben in zwei Stockwerken übereinander liegen, sondern auch durch eine große Reitbahn, in welcher sehr gut zwei Schwadronen üben können, und ferner durch sehr praktische Ställe für verletzte und kranke Pferde.
Ehe wir uns mit dem Beamtenheer beschäftigen, das dieser Polizeipalast Tag für Tag beherbergt, und einen Blick in das vielgestaltige Rädergetriebe dieser Verwaltung werfen, dürfte eine flüchtige Rückschau auf die Entwicklung der Berliner Polizei am Platze sein. Einst wurde dieselbe gänzlich von dem Rath der Stadt ausgeübt, 1735 jedoch theilten sich in die gemeinschaftliche [258] Handhabung der Magistrat und das Gouvernement, und wenige Jahre später, 1742, bestimmte Friedrich der Große den jedesmaligen Stadtpräsidenten zum Polizeidirekor. Dieser war nach einer 1782 erschienenen ausführlichen neuen Instruktion nur vom König und von dem Generaldirektorium abhängig. er hatte die alleinige Anordnung und Erkenntniß in allen Polizeisachen und mußte auch für alles, was damit zusammenhing, einstehen. Seine Zuständigkeit in Polizeisachen war daher allgemein, und es standen hierin alle Einwohner wie Fremde unter ihm; er konnte in dringenden Fällen sogleich Arreste verfügen, wobei alle Wachen, auf sein oder der Polizeikommissarien auch nur mündliches Verlangen, die nöthigen Mannschaften stellen mußten.
Der Polizeidirektor berichtete jährlich unmittelbar an den König vom Zustand der Stadt, von der Zahl der Einwohner, von der Zu- und Abnahme der Manufakturen und Fabriken sowie anderer Beschäftigungszweige, schließlich von allen übrigen, das Wohl und die Verbesserung der Residenz betreffenden Sachen. Ihm standen als Beisitzer drei Rathsmänner zur Seite. außerdem waren unter ihm ein Polizeiinspektor und zwei Polizeimeister, neben mehreren Marktmeistern und Polizeidienern, thätig; von letzteren versahen 24, darunter drei berittene, den Dienst auf den Straßen; für die Ruhe während der Nacht sorgten etwas über hundert Nachtwächter, mit einem Horn, einer Pfeife und einer „Pike“ ausgerüstet. Das Arbeitsfeld dieser vier Männer war ein sehr ausgebreitetes, sie hatten nicht nur alle Polizeisachen zu erledigen, sondern auch „die Sorge für gehörige Feier der Sonn- und Festtage, die Direktion des Gesindeamts, die Besorgung, daß die Residenz mit Getreide, Brot, Fleisch, Bier, Fischen und allen Viktualien, Heu, Stroh etc. versorget, die Zufuhr befördert und niemand übersetzet noch bevortheilt werde. Alle Marktaachen, Hökersachen und Verkäufereyen. Die Aufsicht auf das Stadtmagazin, aufs Schlachten, Backen und Brauen nebst Anfertigung der Taxen; die Aufsicht auf die Wirthshäuser, Garküchen, Wein-, Bier-. und Kaffeehäuser, und daß darin keine Hazardspiele geduldet werden, die Aufsicht auf die Glückstöpfe etc., auf gemeine Tanzböden und lüderliche Häuser. Aufsicht auf richtige Ellen, Maß und Gewicht, auf daß solche geeichet sind, aufs Hausiren, auf die Fiaker und Fuhrleute, und auf den Leichenkomissar, auf die Nachtwachen, auf die nächtliche Sicherheit der Straßen, auf die Reinigung derselben, aufs Pflastern, Aussetzung der Steine an den Kanälen und Konservation der Linden, auf Verhinderung der Aufläufe des gemeinen Volks, und andern Muthwillen, und Aufmerksamkeit auf die sich einschleichenden Vagabunden und verdächtige Leute.“ Eine gewaltige Aufgabe, wie man sieht, und nur ein paar Dutzend Menschen zu ihrer Bewältigung, von denen, wie schon erwähnt, genau 24 die Sicherheit der Stadt anvertraut war!
Ueber den Grad der öffentlichen Sicherheit in dem Berlin jener Tage gehen die Meinungen der Zeitgenossen auseinander; denn wenn Friedrich Nicolai behauptet, daß viele Jahre vergehen, ehe man von einem Straßenraube höre, daß man von Diebesbanden nie etwas vernehme, von einem Mord überhaupt nicht und von Einbrüchen und anderen beträchtlichen Diebstählen vergleichungsweise nicht oft, daß man auf den Straßen die ganze Nacht hindurch ebenso sicher gehen könne wie bei Tage – so wissen andere Chronisten von Diebstählen, und zwar sehr beträchtlichen, ebenso von gewaltsamen Anfällen zur Abendzeit auf öffentlichen Plätzen zu berichten, und sie heben hervor, daß, wenn die Polizei aufpaßte, viele Dieberei verhindert werden könnte, daß ferner bei der Nachlässigkeit der Bettelvögte das Gesindel freies Spiel habe und in ruhiger Sicherheit fortlebe, da es wisse, daß es seine Wächter mit einigen Groschen abfinden könne! –
Bei der Städteordnung, welche im November 1808 in Kraft trat, wurde die Polizeiverwaltung gänzlich vom Magistrat getrennt und ein besonderes Polizeipräsidium gebildet, welches erst einem eigenen Polizeiministerium, dann aber – und so ist’s noch heute – dem Ministerium des Innern unterstellt wurde. Damals waren von jenem Präsidium abhängig die Polizeiintendantur, die Aichungskommission und die (später aufgelöste) Kommission von Bauhandwerkern, ferner sonderbarerweise die Charité, die Thierarzneischule sowie sämmtliche in Berlin wohnenden approbirten Aerzte. Als ausübende Gewalt diente zunächst die 1812 gebildete Bürger- und Nationalgarde, dann, nachdem diese von der Bildfläche verschwunden war, die Gendarmerie, bis endlich 1848 der Polizeipräsident von Minutoli diesem zwitterhaften Zustande ein Ende machte und nach dem Muster der Londoner Polizei eine eigene, blauuniformirte, mit Säbeln und großen, schwarzen, numerirten Filzhüten versehene Schutzmannschaft einrichtete, die zunächst aus 1 Oberst, 4 Hauptleuten, 15 Lieutenants. 95 Wachtmeistern und 654 Schutzmännern bestand. Mit dem Wachsthum Berlins trat auch eine allmähliche Vermehrung ein, und heute bildet diese „Schutztruppe“ schon eine kleine Armee für sich, denn sie setzt sich jetzt zusammen aus: 1 Oberst, 16 Hauptleuten, 4 Kriminalpolizeiinspektoren, 104 Lieutenants, 42 Kriminalkommissaren, 331 Wachtmeistern, 3369 Schutzmännern, davon 240 beritten, und 20 Polizeianwärtern. Den Dienst während der Nacht versehen 1 Nachtwachtinspektor, 47 Nachtwachtmeister und 475 Nachtwächter. Alles in allem stehen im Dienste der Berliner Polizei, deren Leitung seit einem starken Jahrzehnt Freiherr von Richthofen in Händen hat, Bureaubeamte und alles eingeschlossen, 5577 Personen, die Kosten belaufen sich jährlich auf weit über 8 Millionen Mark!
Nun eine kurze Uebersicht der Eintheilung des Polizeipräsidiums, die uns zugleich einen Begriff giebt von der ungeheuer vielfältigen Inanspruchnahme dieses großartigen Organismus. Das Polizeipräsidium zerfällt in sechs Abtheilungen, von denen die erste („Regierungsabtheilung“) im großen und ganzen die eigentlichen Verwaltungs- und landespolizeilichen Sachen bearbeitet, während die übrigen fünf mehr die Geschäfte der örtlichen Polizei besorgen. Von der ersten Abtheilung sind außerdem einzelne Geschäftszweige abgetrennt worden, welche sich mit der Zeit zu selbständigen Unterabtheilungen entwickelt haben, wie z. B. die unter der persönlichen Leitung des Präsidenten stehende politische Polizei. Mannigfach sind im übrigen die Geschäfte der ersten Abtheilung, von denen wir hier nur erwähnen wollen: die Bearbeitung derjenigen Angelegenheiten, welche auf die Verfassung und den Organismus der Polizeiverwaltung Bezug haben, ferner jener Verwaltungssachen, welche sich auf Eigenthums- und sonstige Rechte des Staates und dessen Vertretung in gerichtlichen Streitverfahren beziehen, dann die Aufsicht über die Verwaltung der Stiftungen, die Angelegenheiten der öffentlichen und Privattheater, die Aufsicht über die Verwaltung der Versicherungsanstalten und der Unterstützungskassen etc., das Auswanderungswesen, die Straßen- und Verkehrs- sowie Strompolizei, die Regelung und Ueberwachung des Marktverkehrs, die Sanitäts-, Medizinal- und Veterinärpolizei, das öffentliche Anschlagswesen, die Angelegenheiten der Schutzmannschaft und Feuerwehr, die Fabrikinspektion etc.
Die zweite Abtheilung hat die eigentlichen ortspolizeilichen Geschäfte zu erledigen, so u. a. die Aufsicht über die Gast- und Schankwirthschaften, die öffentlichen Lustbarkeiten und Schaustellungen, die Musikanten, Drehorgelspieler, Kunstreiter etc., die Beaufsichtigung der Trödler und Pfandleiher, die Kontrolle der Gesinde- und Ammenvermiether, die Ertheilung der erforderlichen Berechtigungsscheine zum Gewerbebetriebe an Handlungsreisende, Hausirer etc., die Untersuchung und Abhilfe bei Beschwerden über gesundheitsschädliche Wohnungen, den Handel mit Giften, die Abladestellen für Schnee und Eis, die Sorge für die Unterbringung und den Unterhalt der Geisteskranken, die Aufsicht über die Haltekinder und Haltefrauen, ferner über die Vermiether von Schlafstellen und „Pennen“, die Ausfertigung der Jagdscheine, die Armen- und Unterstützungs-, sowie die Requisitions- und Militärsachen, die Aufsicht über das öffentliche Fuhrwesen etc.
Die dritte Abtheilung umfaßt die gesammte Baupolizei, soweit sie nicht als städtische Straßenbaupolizei in die Verwaltung der Stadt übergegangen ist.
Die vierte Abtheilung enthält die Sicherheits- und Sittenpolizei und zerfällt in drei Unterabtheilungen, in die allgemeine Sicherheits-, in die Kriminal- und in die Sittenpolizei.
Die fünfte Abtheilung fertigt die Pässe, Leichenpässe, Heimathskarten, Gesindebücher, Führungsatteste etc. aus, hat die persönlichen Verhältnisse Neuanziehender zu erörtern und die Gesindestreitigkeiten zu schlichten; zu ihr gehört auch das Fundbureau und das Einwohnermeldeamt.
Die sechste Abtheilung endlich beschäftigt sich mit der Bestrafung von Uebertretungen, allerdings nur von solchen, wo die Strafe fünfzehn Mark oder drei Tage Haft nicht überschreitet; sie erledigt ferner die dieses Strafgebiet betreffenden Gesuche auswärtiger Polizeiverwalter um Behändigung von Strafverfügungen oder um Strafvollstreckung. – –
[259] So umfassend dieser Verwaltungsapparat ist, so umfassend ist auch seine Arbeitsthätigkeit, denn allein bei der vierten Abtheilung gingen im letzten Jahre nicht weniger als 262032 Sachen ein, von denen 82 536 auf das Kriminalkommissariat, 117846 auf die allgemeine Sicherheitspolizei und 32759 auf den Polizeigewahrsam entfielen. Diese Ziffern veranschaulichen besser als lange Beschreibungen die trübe Kehrseite der sonst so glänzenden, vielbewunderten deutschen Kaiserstadt! Und noch schlimmer ist der Einblick in die Einzelheiten dieser Zahlenreihen, denn von den 82536 Eingängen beim Kriminalkommissariat bezogen sich 4233 auf wegen eines Verbrechens verhaftete und zur Isolirhaft gebrachte Personen, 75656 betrafen Anzeigen über vorgekommene Verbrechen und Requisitionen von Staatsanwälten, Untersuchungsrichtern und anderen Behörden, 1503 Anzeigen über falsches Geld, 1144 waren Depeschen. Von den 34326 Anzeigen über vorgekommene Verbrechen und Vergehen betrafen 11 466 Diebstahl, 234 Taschendiebstahl, 1443 Betrug, 1755 Unterschlagung, 1488 Körperverletzung, 359 Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, 534 Hausfriedensbruch, 60 Raub, 339 Sachbeschädigung, 219 Drohung, 55 Beleidigung, 77 Hehlerei, 108 strafbaren Eigennutz, 63 Hazardspiel, 90 Erpressung, 58 Urkunden- und Wechselfälschung, 200 Beamtenbeleidigung, 50 Meineid, 36 Aussetzung eines Kindes, 52 aufgefundene Kindesleichen, 128 aufgefundene unbekannte Leichen, 6466 Unglücksfälle, 145 versuchten Selbstmord, 329 Selbstmord, 307 plötzlichen Todesfall, 213 gesuchte Personen, 655 vermißte Personen, 430 Mißhandlung, und so fort.
Ein furchtbares Register, und wieviel Ungeheuerliches, Ungeahntes, Widermenschliches birgt es in seinem Innern!
Nun zu den Verurtheilten, von denen uns der Polizeibericht in jenem einen Jahre 12719 Personen aufzählt, unter denen 4689 bereits vorbestraft waren. Bei 2084 Personen erfolgte die Verurtheilung wegen Verbrechens und Vergehens gegen Staat, Religion und die öffentliche Ordnung, bei 4171 gegen die Person (darunter 24 wegen Raubs, 195 wegen Körperverletzung, 17 wegen Mords und Mordversuchs), und bei 6432 gegen das Vermögen. Unter 2091 wegen Diebstahls eingelieferten Personen befanden sich 459 Einbrecher. 1085 der Verurtheilten waren weniger als achtzehn Jahre alt, und sie stellten gerade einen hohen Prozentsatz zu den Dieben und Einbrechern. Unter Polizeiaufsicht standen 960 Personen; 15388 (darunter 1156 Frauen und 269 Kinder) wurden wegen Bettelei aufgegriffen und 6799 wegen Trunkenheit, von letzteren wieder 160 unter achtzehn Jahre alt! Bei 67 Kindern wurde die Zwangserziehung eingeleitet, bei 60 entzog man deren Eltern das Erziehungsrecht. 716 Kinder wurden bei der Polizei zur Bestrafung angezeigt, davon allein 316 wegen Diebstahls, 12 wegen Betrugs, 14 wegen Brandstiftung, 23 wegen Körperverletzung etc. Unter den 6466 beim Leichenkommissariat eingegangenen Anzeigen über Unglücksfälle etc. befanden sich nicht weniger als 1114 mit tödlichem Ausgang, darunter 37 infolge von Brandwunden, 176 von Erhängen, 60 von Erschießen, 19 von Ersticken, 93 von Ertrinken, 60 von Sturz aus dem Fenster, 52 von Ueberfahren, 25 von Verbluten, 56 von Vergiftungen etc.
Genug, genug dieser entsetzlichen Schattenseiten des weltstädtischen Lebens!
Erwähnen müssen wir schließlich noch, daß über Berlin vertheilt sind 10 Bezirkshauptmannschaften und 82 Polizeibureaux, welch letztere sich mit der Aufsicht ihrer einzelnen Reviere zu beschäftigen und in allen nöthigen Fällen sofort Berichte an das Polizeipräsidium zu erstatten haben. Die eigentliche „ausübende Gewalt“ dieser Polizeibureaux, deren Leitung je einem Polizeilieutenant übertragen ist, bildet der Schutzmann, der stets aus dem Unteroffizierstande hervorgegangen ist; auf hunderterlei Sachen muß er Obacht geben und seine Verantwortlichkeit ist eine große: er soll nicht nur über die Sicherheit, Ruhe und Ordnung der Straße wachen, er muß daneben auch unzähligen anderen Dingen seine Aufmerksamkeit widmen, bald die vorüberfahrenden Wagen mustern, ob alles an ihnen in Ordnung ist, bald die Firmenschilder und Schaufensterauslagen beaugenscheinigen; hier soll er einem Fremden Auskunft geben und dort bittet ihn ein Vorübergehender, einer Thierquälerei zu steuern, da wird ihm ein verirrtes Kind zugeführt und im nächsten Augenblick schon soll er einen Ueberfahrenen zur nächsten Sanitätswache bringen, gleich darauf gilt’s, einen Tumult zu schlichten, und dann muß er eine Matrone über den verkehrsreichen Fahrweg geleiten – kurz, überall soll er seine Augen haben und überall soll er zu gleicher Zeit sein. In drückender Hitze und bei eisigem Winde, in Regen und Sturm hält er auf seinem Posten aus, und wenn er nicht immer sanfter Stimmung ist, so kann man’s ihm wahrlich nicht verdenken. Der Vertreter des wachsamen Gesetzes nach außen hin, ist er zugleich die Verkörperung des Pflichtbewußtseins, der treue Diener eines strengen Dienstes, und mit diesem freundlichen Bilde wollen wir für heute schließen – es wird der trüben noch genug in den nächsten Abschnitten geben!
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Die Kriminalpolizei. – Grüner Wagen. – Der Polizeigewahrsam. – List wider List.
Unsere Leser haben aus der Schilderung unseres ersten Artikels in Nummer 15 eine Vorstellung gewonnen von dem vielumfassenden Organismus der Berliner Polizei. Fast möchte ihnen dabei das Bild eines jener sagenhaften Ungeheuer aufgestiegen sein, mit welchen einst die erregbare Phantasie seefahrender Stämme ferne Meere bevölkerte, eines jener Riesenkraken, der zahllose Arme zumal nach seiner Beute ausstreckt, um sie mit unentrinnbarer Sicherheit zu umgarnen. Nun, die Polizei kann sich den Vergleich mit diesen unheimlichen Geschöpfen gefallen lassen, sofern man sich bewußt bleibt, daß es ja nur die Schädlinge der menschlichen Gesellschaft sind, auf welche sie es abgesehen hat. Auf keinen Theil des Ganzen dürfte aber das Bild von dem tausendarmigen Fabelwesen besser zutreffen als auf die Kriminalpolizei. Wir müssen uns zunächst, um dies anschaulich zu machen, wieder etwas mit der Zergliederung dieses Körpers befassen.
Das Kriminalkommissariat bildet, wie wir bereits in unserem ersten Aufsatz kurz hervorgehoben haben, eine besondere Gruppe der umfangreichen vierten Polizeiabtheilung, welche sich mit dem gesammten Sicherheits- und Sittendienst Berlins zu beschäftigen hat, und zerfällt wiederum in drei Kriminalpolizei-Inspektionen; an deren Spitze steht je ein Inspektor, dem mehrere Kriminalkommissare sowie eine größere Anzahl von Kriminalwachtmeistern und -schutzleuten zugetheilt sind, während die oberste Leitung in den Händen des „Chefs der Kriminalpolizei“ ruht, gegenwärtig in denen des Grafen Pückler, eines ebenso umsichtigen und pflichteifrigen, wie gegen seine Untergebenen liebenswürdigen und gerechten Beamten. Die erste Kriminalinspektion umfaßt acht Bezirkskommissariate, welche in Anlehnung an die acht Bezirkshauptmannschaften Berlins eingerichtet sind und die minder wichtigen Sachen bearbeiten, namentlich Gelegenheitsdiebstähle, Körperverletzungen, Hausfriedensbrüche, Beleidigungen, strafbaren Eigennutz etc. Die zweite Inspektion bearbeitet die Anzeigen derjenigen Vergehen und Verbrechen, bei denen eine ausgebreitete Personalkenntniß die Ermittelung insofern erleichtert, als bei bestimmten Vergehen und Verbrechen – wir nennen nur Einbrüche, Taschen-, Kolli-, Laden-, Schlafstellen- und Marktdiebstähle, gewerbsmäßiges Hazardspiel, Hochstapelei etc. – der Thäter von vornherein in bestimmten Kreisen bekannter Personen zu suchen ist. Die dritte Inspektion beschäftigt sich mit Anzeigen über betrügerischen Bankerott, mit Postunterschlagungen und -schwindeleien, mit Wuchersachen, Wechselfälschungen, Münzverbrechen, Häuserschwindel und Patentverletzung.
Der Geschäftsgang dieses Kriminalkommissariats, welches seinen Sitz im Polizeipräsidialgebäude hat, ist folgender: die Anzeigen über vorgekommene Vergehen und Verbrechen werden zunächst in den einzelnen Polizeirevieren erstattet, von denen zweiundachtzig über ganz Berlin verstreut sind, und diese lassen die Meldungen, Protokolle etc. auf dem vorschriftsmäßigen Wege der Centralbehörde zugehen; hier werden sie dem Chef vorgelegt und von diesem je nach ihrer Abart einer der drei Inspektionen, bei der ersten je nach dem Thatort einem ihrer acht Bezirke zur Bearbeitung überwiesen. Der Vorsteher der zweiten Inspektion, mit welcher wir uns hier besonders zu beschäftigen haben, zur Zeit Herr von Meerscheidt-Hüllessem, theilt wiederum die ihm zugegangenen Sachen den bei ihm beschäftigten Kriminalkommissaren und Wachtmeistern zu und behält sich von vornherein die Einwirkung auf die Bearbeitung und die Schlußprüfung vor. So ist er stets über alle in der gewerbsmäßigen Verbrecherwelt vorkommenden Bewegungen unterrichtet und kann jederzeit seinen Kriminalkommissaren wie seinen Mannschaften die entsprechende Hilfe gewähren.
Bei besonders wichtigen Angelegenheiten erhält selbstverständlich diese zweite Inspektion telegraphische Nachricht seitens der einzelnen Polizeireviere. Nehmen wir an, bei einem der letzteren sei ein Mord oder Raubmord angezeigt worden; sogleich wird durch eine Ordonnanz der Bezirksphysikus zur Stelle gerufen; der Chef der Polizei, das Kommando der Schutzmannschaft, die Polizeihauptmannschaft, zu welcher das betreffende Revier gehört, der Chef der Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft, die Kriminalabtheilung und das Leichenkommissariat – sie alle werden durch Depeschen benachrichtigt. Währenddessen ist der Vorstand jenes Polizeireviers mit den gerade verfügbaren Schutzleuten an den Thatort geeilt und hat ihn derart abgesperrt, daß alles so erhalten bleibt, wie man es vorgefunden hat; in kürzester Frist erscheinen dann die Beamten der benachrichtigten Behörden, hauptsächlich der Kriminalabtheilung und Staatsanwaltschaft, und veranlassen das Weitere; der Reviervorsteher aber, zumeist ein Polizeilieutenant, muß umgehend seine Berichte über das am Thatorte Gesehene und Gehörte an den Polizeichef, an den Oberregierungsrath (Stellvertreter des ersteren und Dirigent der ersten Polizeiabtheilung), an die Staatsanwaltschaft und an die Kriminalabtheilung erstatten. Letztere entfaltet alsdann eine fieberhafte Thätigkeit; vor allem werden jene Kriminalbeamten, die sich zur Zeit nicht im Dienst befinden, telegraphisch von dem Ereigniß unterrichtet mit der Verfügung, sich aufs schleunigste im Präsidialgebäude einzustellen; hier laufen alle Fäden zusammen, oft ein kaum entwirrbares Netz bildend, in welchem der Schuldige gefangen werden soll. Tag und Nacht herrscht die unermüdlichste Rührigkeit: Berathungen werden abgehalten, einzelne Verhaltungsmaßregeln ertheilt, Zeugen vernommen, Verdächtige vorgeführt, Aussagen protokolliert und verglichen, Depeschen nach auswärts gesandt und empfangen – eine auch den Unbetheiligten mitreißende nervöse Aufregung durchzittert gewissermaßen jenes der Kriminalabtheilung eingeräumte Viertel des gewaltigen Polizeipalastes und läßt erst nach, wenn die Kunde von der Ergreifung des Thäters durch den Blitzfunken hierher übermittelt wird.
Der Thäter oder – um den Einzelfall zu verlassen – alle diejenigen, welche sich eines Verbrechens oder Vergehens schuldig gemacht oder in irgend einer Weise durch Lärm, Trunkenheit, Mißhandlung, Widerstand etc. öffentliches Aergerniß erregt haben, werden dem nächsten Polizeirevier eingeliefert, dessen Vorsteher das Protokoll aufnimmt; können die bei leichteren Ueberschreitungen Betroffenen einen Ausweis beibringen, so werden sie alsbald wieder entlassen; die anderen werden in dem Arrestlokal oder bei schweren Vorkommnissen in der Einzelzelle so lange in Haft behalten, bis sie nach dem Polizeipräsidialgebäude verbracht werden. Das letztere geschieht vermittelst des sogenannten „Grünen Wagens“, welchem die Berliner mancherlei Spitznamen, wie „Grüner Anton“, „Grüner Heinrich“, „Kriminalequipage“ u. s. w., gegeben haben. Sieben solcher Wagen sind fast stets unterwegs, da jeder von ihnen im Laufe von vierundzwanzig Stunden viermal nach den Polizeirevierwachen fährt, welche Gefangene beherbergen. Die Nachricht, daß Gefangene vorhanden sind, kommt dem Polizeipräsidium telegraphisch in denkbarster Kürze zu: nur die Nummer des Reviers und die Zahl der Gefangenen vor einem „G“ wird mitgetheilt. Die Wagen gehen früh um acht, dann mittags um zwölf, abends um acht und nachts um zwei Uhr ab und kehren je nach der Entfernung möglichst rasch mit ihrem lebenden Inhalt wieder zurück. Jeder von ihnen kann sechzehn bis achtzehn Insassen [457] aufnehmen, oft aber sind es mehr und die Arretierten müssen dann dichtgedrängt und stehend die Fahrt zurücklegen. Es kommt auch vor, daß die Wagen nicht auf einmal die Menge der Arrestanten fortbringen können und zweimal ihren Weg machen müssen. Ihre innere Einrichtung besteht aus einer rings um die Wand laufenden Sitzbank sowie aus zwei zellenartigen Verschlägen für gefährliche Subjekte. Neben diesen Verschlägen, und zwar dicht an der vergitterten Thür, hat der begleitende Schutzmann seinen Platz. Außer nach dem Polizeipräsidialgebäude befördern jene grün angestrichenen, in auffälliger Kastenform gebauten, schwerfälligen, fensterlosen Gefährte die Gefangenen auch nach Orten außerhalb, nach den Gefängnissen im Moabiter Kriminalgericht, in Plötzensee und Rummelsburg, und bringen ebenso die erkrankten Verhafteten nach der Charité, wo eine besondere Abtheilung für sie eingerichtet ist.
Rollt der „Grüne Wagen“ in den an seiner Rückseite von den Polizeigefängnissen abgeschlossenen Hof des Präsidialgebäudes herein, so wird hiervon durch ein Klingelzeichen die Schutzmannswache unterrichtet, und zwölf Schutzleute nebst einem Wachtmeister eilen herbei und stellen sich an der Thür des Wagens auf; dann erst wird diese geöffnet, der den Wagen begleitende Schutzmann meldet dem Wachtmeister mit lauter Stimme die Zahl der Fahrgäste und reicht ihm die von den Polizeirevieren ihm eingehändigten Schriftstücke über die Verhafteten.
„Aussteigen!“ – schon drängen sich an der Thür die Arretierten, eine buntgemischte Gesellschaft, in ihren einzelnen bald eleganten bald verlumpten Erscheinungen das Elend, Laster und Verbrechen der Millionenstadt verkörpernd: hier ein alter, gebrechlicher Mann, der kaum die hohen Trittbretter herunterzuklettern vermag, weniger aus Altersschwäche als wegen des Schnapsdusels, der sein Gesicht flammend geröthet hat; dann einige Vagabunden, echte Baßermannsche Gestalten, deren Kleidung deutlich das häufige Logieren bei „Mutter Grün“ verräth; dort mehrere vor Ermattung und Furcht zitternde bejahrte Frauen und Männer, die beim Betteln ergriffen wurden; dann junge Burschen, einer von ihnen noch mit der Militärmütze auf dem Kopf, die wegen groben Unfugs abgefaßt wurden und auch hier in ihrem Benehmen eine grenzenlose Frechheit zur Schau tragen; neben ihnen ein armer, verhärmt ausschauender Blödsinniger, der auf der Straße gefunden [458] wurde und fortwährend leise vor sich hinspricht, dabei mit den Händen lebhaft gestikulierend; einige auf Abwegen ergriffene Mädchen, diese mit pelzbesetzter Sammetjacke und mächtigem Federhut, jene in dünnem Kattunkleidchen, ein Umschlagtuch um Kopf und Oberkörper gehüllt.
Aber auch für Humor ist gesorgt, obgleich für einen verzweifelt unfreiwilligen: welch’ merkwürdige Erscheinung klettert dort aus dem Wagen? Ein absichtlich vorgeschobener Capothut bedeckt den Kopf, zerrissen hängt der Schleier herab, ein weiter, ängstlich zusammengeraffter Radmantel läßt ein grün und weiß gestreiftes Kleid vorschimmern, und beim Heruntersteigen enthüllt sich uns ein Paar sehr kräftiger, mit starken Zugstiefeln bekleideter Füße.
„Welchen Vogel bekommen wir denn da wieder?“ sagt der Wachtmeister und betrachtet aufmerksam die Gestalt.
„Die schwarze Minna!“ meint der Schutzmann.
„Ah, ein alter Bekannter, auch ’mal wieder ertappt?“
Die Mädchen kichern verstohlen, und die Vagabunden raunen sich einige spöttische Bemerkungen zu, „die schwarze Minna“ aber scheint sich sehr ungemüthlich zu fühlen und nicht zu wissen, zu welcher der beiden bereits gesondert stehenden Gruppen sie sich gesellen soll.
„Geh man zu Deinem Geschlecht, schwarze Minna,“ sagt der Wachtmeister und zeigt auf die Strolche – denn die „schwarze Minna“ ist ein Mann, der es liebt, in weiblicher Verkleidung seine abenteuerlichen Fahrten zu unternehmen.
Doch der Wagen ist noch immer nicht geleert – der Schutzmann steigt hinauf und schiebt die Riegel der kleinen Zellen zurück, aus jeder tritt ein Mann, der erste mit den gefesselten Händen ein auf einem Einbruch ertappter, gewaltthätiger Verbrecher, während der andere, sein Gefährte, den Aufpasser machte und dabei mit ergriffen wurde. Die Schutzleute haben enger den Wagen umschlossen, die übrigen Arretierten blicken neugierig auf den Einbrecher.
„’S ist der Kellner-Justav,“ sagt einer der Pennbrüder, „det wird wohl wieder n’ paar Jahre Zuchthaus jeben.“
Der den Spitznamen „Kellner-Gustav“ führende Verbrecher kümmert sich nicht um seine Umgebung; gleichmüthig starrt er vor sich hin auf den Boden, er weiß, daß kein Leugnen möglich ist, da er auf frischer That ertappt wurde, und daß ihn auf geraume Frist die Zuchthausmauern wieder einschließen werden; höchstens sinnt er darüber nach, wie er seinen Genossen, den er natürlich gar nicht kennen will, mit dem er aber schon oft genug „gearbeitet“ hat, durch ein kunstvolles Lügengewebe befreien kann.
Die beiden stehen abseits und werden nun, nachdem der Wagen seines lebenden Inhalts entledigt ist, von mehreren Schutzleuten sofort zur Kriminalabtheilung verbracht. Die übrigen Arrestanten haben sich schon in eine männliche und eine weibliche Gruppe zusammengefunden und werden unter Bedeckung nach dem nahen Männer- oder dem Frauengewahrsam geführt, um sobald wie möglich vor den Richter gestellt und je nachdem zu kürzerer oder längerer Polizeihaft oder Strafarbeit verurtheilt zu werden. Daß es sich hier nie um lange Untersuchungen der Vergehen und Gesetzesübertretungen handeln kann, liegt auf der Hand. Zumeist nehmen die Schuldigen auch ruhig ihr Strafmaß entgegen, nur bei den Frauen und Mädchen kommt es häufiger zu erregten Auftritten; viele von ihnen verstehen das Schauspielern vorzüglich und betheuern mit bühnengerechter Lebhaftigkeit ihre Schuldlosigkeit, andere bereuen auch wohl wirklich tief den ersten Schritt auf der abschüssigen Bahn und möchten gern zurück auf den verlassenen Pfad des Rechten.
Während des Tages beherbergen also diese Polizeigewahrsame nur vorübergehende Gäste; die eigentlichen „Logisnehmer“ und „Logisnehmerinnen“ werden während des Abends und der Nacht eingeliefert; Wagen auf Wagen rollt dann in den einsamen Polizeihof, und eine Schaar nach der andern wird den hallenden Flur entlang geführt und verschwindet hinter der von einem Schutzmannsposten besetzten starken, eisenbeschlagenen Thür, neben der ein Signalwerk angebracht ist, sodaß bei einem Krawall sogleich Hilfe von der nahen Schutzmannswache zur Stelle ist. Aber fast nie ist es nöthig: diese Pennbrüder und Landstreicher, diese Betrunkenen und Herumtreiberinnen verhalten sich meist ruhig. Und ist einer oder eine von ihnen einmal ungebärdig und befolgt nicht die Anordnungen des wachehabenden Schutzmannes, so sind die Isolierzellen nahe, und es gehört nicht zu den Annehmlichkeiten selbst des Strolchenlebens, die Nacht in einem solchen kalten, engen, finsteren Viereck auf hartem Steinboden zu verbringen. Dagegen ist ja dieser Polizeigewahrsam beinahe noch als gemüthlich zu bezeichnen; der große, gewölbeartig gebaute Raum ist geheizt und durch mehrere Gasflammen erhellt; hinter dem hölzernen Gatter, welches den Aufenthaltsort des Schutzmannes von dem der Eingelieferten abschließt, steht eine Anzahl hölzerner Bänke, die im Winter häufig sämmtlich besetzt sind. Ein trauriger, herzbewegender Anblick, diese Verkommenen hier zu beobachten, zumal in ihrem stumpfen Gleichmuthe, der bei der Mehrzahl in jeder Handlung und Bewegung zur Schau tritt – ob sie nun, wenige Worte wechselnd, nebeneinander sitzen oder stundenlang gleichgültig vor sich niederstarren, ob sie sich ihr „Lager“ zurechtmachen, indem sie die zusammengerollte Jacke als Kopfkissen benutzen, oder sich auch auf dem bloßen Boden ausstrecken – fast alle tragen den Stempel der grenzenlosesten Unempfindlichkeit gegen die Eindrücke der äußeren Welt auf ihren Zügen, und doch ist diese Welt wohl manchem einstmals in besserem und freundlicherem Licht erschienen und hat ihm eine andere Zukunft vorgegaukelt als diese trübe Gegenwart. Und dabei möchte man die Hoffnung nicht aufgeben, daß sich der eine oder andere, unterstützt von einem glücklichen Zufall, wieder zu einem menschenwürdigeren Dasein emporschwingen und später mit Entsetzen jener Nacht im Polizeigewahrsam gedenken werde, jener Nacht, die ihn leicht für immer dem Verderben überliefert hätte.
Sehen wir uns nun einmal wieder nach jenen um, die unter starker Schutzmannsbedeckung unmittelbar vom „Grünen Wagen“ der Kriminalpolizei überliefert wurden; ihr nächster Aufenthalt ist, nachdem ihnen Messer, Papiere, Geld etc. abgenommen wurden, das Wachtzimmer; hier arbeiten mehrere Wachtmeister, welche die Transportscheine der Verhafteten erhalten und deren Personalien feststellen. – Ist dies gethan, so werden die Eingelieferten in das Sistierzimmer gebracht, dessen wesentlichste Ausstattung in einer sich an den Wänden entlangziehenden hölzernen Bank, einem mit Wasser gefüllten Blechkruge und einem Becher zum Trinken besteht. Gewöhnlich sind dort schon „Gäste“ vorhanden, denen natürlich jede Verständigung oder Unterhaltung, sei es durch Worte oder durch Gebärden, aufs strengste verboten ist; und daß diese Verordnung eingehalten wird, dafür bürgt der hier aufgestellte herkulisch gebaute Schutzmann, welcher die Inhaftierten scharf beobachtet. Unterdessen sind deren Personalien in die Registratur gelangt, wo in riesenhohen Ständern die Akten über jeden Berliner Einwohner aufbewahrt werden. Nach wenigen Minuten sind die zugehörigen Aktenbündel, die neben den Angaben über Geburt, Verheirathung etc. auch die etwaigen Vorstrafen enthalten, herausgesucht und wandern nun zu jenem Kriminalkommissar, dem die betreffende Angelegenheit zur Untersuchung überwiesen ist. Nachdem dieser sich über den Verhafteten und dessen That genau unterrichtet hat, läßt er ihn vorführen, und das Verhör beginnt.
Der Ton hierbei ist zumeist ein ganz jovialer, fast immer kennen sich Kommissar und Verbrecher bereits aus früheren Verhandlungen, und während ersterer die „Spezialitäten“ des Thäters, seine Schliche und Lügengewebe weiß, fürchtet letzterer mehr oder weniger die „Findigkeit“ und den Scharfsinn des Beamten und richtet hiernach sein Leugnen ein. Denn geleugnet wird stets, wenn die Sache nicht ganz klar und ein „Herausreden“ deshalb nicht unmöglich ist; die wunderlichsten Behauptungen werden vorgebracht, wobei die geheimnißvolle Person des „Unbekannten“ eine große Rolle spielt, namentlich wenn es sich um den Verkauf eines gestohlenen Gegenstandes handelt.
„Ein fremder Mann gab mir das Packet und bat mich, es zum Versatzamt zu bringen“ – oder: „Getroffen hatte ich ihn schon ’mal, den Mann, der mir die Uhr zum Kaufe anbot, die ich denn bald wieder losschlug; wir hatten ’mal ein Glas Bier zusammen getrunken, seinen Namen weiß ich aber nicht!“
Wie weit die Frechheit des Lügens geht, zeigt folgender Fall. Ein alter, innerhalb der Gefängnißmauern grau gewordener Verbrecher war um Mitternacht in einer fremden Wohnung ergriffen worden, in die er durch das Parterrefenster eingestiegen war. Und was führte er als Grund seines gewaltthätigen Eindringens an? Er habe zufällig gehört, daß der Inhaber der Wohnung seinen Hund verkaufen wolle, den hätte er sich gern angesehen. – [459] Und als ihm erwidert wurde, daß der Inhaber jener Wohnung überhaupt keinen Hund besitze, gab er unbedenklich zurück: dann müsse er sich eben in der Hausnummer geirrt haben.
Natürlich sind all diese Ausreden gänzlich nutzlos, können aber das Verhör unnöthig ausdehnen und das darüber geführte Protokoll, welches der Vernommene zu unterschreiben hat, sehr in die Länge ziehen. So redet denn häufig der Kriminalkommissar dem Verhafteten „in Güte“ zu: „Na, Schulze, gesteht es doch ein, daß Ihr auch an dem Einbruch betheiligt waret – wir haben doch die Sachen beim Hehler gefunden, und der hat Euch angegeben, also warum denn die Lügenmätzchen?“
„Herr Kommissar, ich habe mit der ganzen Sache nichts zu thun!“
„Na, da woll’n wir ’mal den Hehler kommen lassen, der ist ja hier und wird’s Euch ins Gesicht sagen.“
Der Verbrecher scheint auf einen Augenblick unruhig zu werden, blickt dann aber sofort wieder gefaßt zu Boden und bewahrt seine Gleichgültigkeit auch, als der Hehler, ein kleines zusammengeschrumpftes Männchen mit stechenden Zügen, von einem Schutzmanne hereingeführt wird.
„Kommen Sie einmal her, Zimmermann!“ ruft der Kommissar dem Hehler zu, „Sie haben doch gesagt, daß der Schulze hier Ihnen die silbernen Leuchter gebracht hat, wie steht’s damit?“
Der Hehler wirft einen ängstlichen Blick auf den Einbrecher, welcher den Eingetretenen gar nicht beachtet, dann antwortet er zögernd:
„Nein, Herr Kommissar, der Mann ist’s doch nicht; der Mann, der die Leuchter gebracht hat, war größer, er hatte auch einen anderen Bart.“
„So,“ räuspert sich der Kommissar, „von Euch beiden schwindelt ja einer immer netter als der andere, namentlich der Schulze, der sollte doch von früher her wissen, daß er bei uns damit nicht durchdringt. Schulze, seht einmal, was ist denn das hier?“
Der Verbrecher blickt auf, und eine leichte Röthe bedeckt sein Gesicht – eine kleine goldene Damenuhr leuchtet ihm entgegen, die aus demselben Einbruch stammt und die er seiner Geliebten geschenkt hat; das hat er nicht für möglich gehalten, daß die Polizei von letzterer bereits etwas wisse, da die beiderseitigen Beziehungen erst seit kurzer Frist angeknüpft sind. Allein schnell setzt er ein neues Lügensystem zusammen: „Ja, die Uhr –“ er faßt sie näher ins Auge – „was soll ich denn mit der Uhr?“
„So, diese Uhr kennt Ihr also nicht, alter Junge? Da will ich Eurem Gedächtniß aufhelfen. Ihr habt sie in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag in dem Brandtschen Schanklokal der Klara Elsner geschenkt.“
„Ach, jetzt besinne ich mich, ja, ja, das stimmt,“ meint der Verbrecher, „die Uhr hatte ich von einem Freunde für eine Schuld erhalten.“
„Von einem Freunde also?“ lacht der Beamte. „Auch gut, übrigens hat’s mit der Uhr nicht viel auf sich, es handelt sich zunächst um die Leuchter – und nun, Schulze, habe ich hier ein Blättchen Papier, das ist bei der Elsner gefunden worden, und da steht drauf, notabene, von Eurer Hand geschrieben: ‚Die Leuchter bin ich glücklich bei Z. losgeworden, jetzt ist von dem ganzen Kitt nichts mehr übrig; zugleich hier die erbetenen dreißig Mk.‘ – Und, Schulze, damit Ihr nicht nochmals lügt, hier ist Euer Notizbuch und hier habt Ihr jene Seite herausgerissen, seht her, wie hübsch die Stücke zusammenpassen. Ich habe die Elsner noch nicht verhaften lassen, mir scheint aber, daß sie mit Euch unter einer Decke steckt und –“
„Nein, nein, Herr Kommissar, das ist nicht der Fall, die Klara hat damit gar nichts zu thun, sie ist wahrhaftig unschuldig.“
„Gut, so gesteht doch endlich selbst –“
„Na, Herr Kommissar, ja, ich habe die Sachen gestohlen! Aber die Klara –“
„Laßt doch die Klara jetzt sein, sie soll in die Geschichte nicht verwickelt werden; hier, unterschreibt! Und das nächste Mal – es wird wohl ein paar Jährchen dauern, bis wir uns wiedersehen – da seid mit Eurem Zettelschreiben vorsichtiger!“
„Adjes, Herr Kommissar!“
„Adieu, Schulze!“ und zu dem Hehler: „Zimmermann, jetzt tretet einmal näher, nun wollen wir noch ein Hühnchen zusammen rupfen!“ Und ein neues Verhör beginnt, dem sich sofort weitere anschließen, da die Sache jedes Verhafteten binnen vierundzwanzig Stunden nach seiner Einlieferung so weit gefördert sein muß, daß sie dem Untersuchungsrichter übergeben werden kann – eine Bestimmung, die trotz ihrer guten Seiten manchen Nachtheil in sich schließt.
Nicht immer geht es mit den Verhören so glatt ab, wie wir es eben zu schildern versucht haben. Ist das Verdachtsmaterial kein zwingendes und trifft es nicht genau zu, so müssen oft Hunderte seiner Maschen geknüpft werden, um den Verbrecher im Netz zu fangen. Häufig weigern sich auch die als verdächtig eingezogenen Personen aufs hartnäckigste, ihren richtigen Namen zu nennen, verstellen sich mit Körperschäden – wie Hinken, Schielen, nervösem Gesichtszucken – um die Polizei auf falsche Fährten zu leiten, zumal wenn sie auswärts schon bestraft sind und nicht wünschen, daß dies die Berliner Polizei erfährt, oder wenn sie noch anderweitig über sie verhängte Strafen verbüßen müssen. Vor allem aber muß man erst den Verbrecher haben, um ihn der That überführen und bestrafen zu können. „Geübte“ Verbrecher verstehen es häufig so gut, ihre Spuren zu verwischen, daß selbst der gewiegteste Kriminalist an einer Ergreifung verzweifelt, bis meist eine ganz geringfügige Kleinigkeit ihn auf die Fährte bringt und nun die Jagd auf den Thäter ihren Anfang nehmen kann.
[704]Die Hilfsmittel, welche der Kriminalpolizei bei der Jagd auf den Verbrecher zu Gebote stehen, sind ebenso mannigfach wie sinnreich und versetzen den, der zum ersten Mal einen Einblick in dieselben erhält, in das lebhafteste Erstaunen. Obenan steht das Verbrecheralbum.
Ja, die Photographie ist ein getreuer Bundesgenosse bei der Ueberführung eines Schuldigen und der Vertheidigung eines Unschuldigen geworden. Mehr und mehr wird daher die photographische Wissenschaft von der Polizei zu Hilfe gezogen. Nicht nur, daß man Verbrecher und Verdächtige photographiert und ihre Bilder in Hunderten von Exemplaren an die auswärtigen Polizeibehörden versendet, damit diese erforderlichenfalls den Betreffenden bei „Gastreisen“ die nöthige Aufmerksamkeit schenken oder die Flüchtigen ergreifen; auch andere Dinge, die für die Aufklärung eines Verbrechens von Wichtigkeit sind, werden durch die Platte festgehalten und tragen durch ihre photographische Verbreitung zur Entdeckung bei.
Vor mehreren Jahren war in Berlin eine alleinstehende Frau ermordet und beraubt worden. Man hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer der Mörder sein könnte, außer einem Zettel, welcher in der Wohnung unter den Sachen der Ermordeten gefunden wurde und zwei Zeilen Schrift von einer männlichen Hand enthielt, natürlich ohne daß ein Name genannt war. Diesen Zettel ließ die Polizei photographieren und den Berliner Zeitungen in Abzügen zustellen mit der Bitte um Veröffentlichung. Es geschah, der Schreiber eines Rechtsanwalts sah in einer Zeitung die Handschrift, sie kam ihm bekannt vor, er blätterte die Akten durch und traf wirklich bei einer Zeugenaussage auf dieselbe Schrift. Sofort benachrichtigte er die Polizei, diese verhaftete jenen Zeugen und stellte nach kürzester Zeit in ihm den Mörder fest.
In einem anderen Fall wirkte die Photographie als Retter eines Unschuldigen: ein junges Mädchen war ermordet und ein Mann als muthmaßlicher Thäter eingezogen worden; an der Schulter des Mädchens hatte man ein Haar gefunden, welches man für ein Barthaar des Angeklagten hielt. Die durch Photographie erzielte sechzehnhundertfache Vergrößerung des Haares zeigte aber, daß dasselbe von einem Hunde stamme, und zwar von einem älteren, gelben, kurzhaarigen, und in dem Besitzer eines solchen Hundes wurde denn auch später der Mörder ermittelt.
Namentlich bei der Untersuchung, ob Blutspuren von Menschen oder Thieren herrühren, ist die Photographie von größter Wichtigkeit. Ein eines Mordes Verdächtiger, an dessen Kleidung sich Blutflecken befanden, behauptete, daß diese von einer Ziege herrührten, die er geschlachtet habe, und er konnte auch die Wahrheit seiner Aussage nachweisen. Die Photographie aber zeigte bei zehntausendfacher Vergrößerung, daß außer dem Ziegenblut noch Menschenblut an dem Rock klebte, und der Verhaftete wurde seiner Schuld überführt.
[705] Aehnliche große Dienste leistet die Photographie bei Entdeckung von Urkundenfälschungen, da die verschiedenen Tinten im Bilde je nach ihrer chemischen Zusammensetzung verschieden erscheinen. So war einmal ein Zeuge zum 21. eines Monats vor Gericht geladen; er hatte die Frist versäumt und dann, um der kleinen Geldstrafe zu entgehen, aus der 1 eine 4 gemacht; die Photographie wies ihm seine „Verbesserung“ nach, und er erhielt wegen Urkundenfälschung eine Gefängnißstrafe. Auch Radierungen treten in der vergrößerten photographischen Abbildung deutlich hervor, welche so die Entlarvung manches klug angelegten Betruges zur Folge gehabt hat.
Doch nun zum Verbrecheralbum! Auf seine Einrichtung und seinen Umfang darf die Berliner Kriminalpolizei mit vollem Recht stolz sein, denn es hat sich in unzähligen Fällen als ein unschätzbares Hilfsmittel erwiesen. Seine eigentliche Anlage verdankt es der Umsicht des Inspektors der Kriminalpolizei, des um letztere hochverdienten Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, der sich 1876 für seine persönlichen Zwecke eine Sammlung von Photographien aller möglichen Verbrecher anlegte und diese rasch erweiterte, bis er sie zum Besten des Dienstes an die Polizei abtrat. Heute besteht das vielgerühmte „Verbrecheralbum“ aus zwölf dunkel eingebundenen Großfoliobänden und enthält insgesammt an achttausend Photographien, von dem mehrfachen Mörder an, bei welchem ein Kreuz auf einem Grabhügel seine Hinrichtung bedeutet, bis zu der zwölfjährigen Spitzbübin, die in einem Laden einige Meter Seidenband gestohlen. Die Eintheilung der Bände ist folgende: I. Mörder und Einbrecher. II. Taschendiebe. III. Laden- und Marktdiebe. IV. Schlafstellendiebe. V. Bauernfänger. VI. Hochstapler, Fälscher, Betrüger. VII. Boden-, Colli-, Paletot-, Billardball-, Gasarm- und Thürklinkendiebe. VIII. Verschiedene Verbrecher, die keine „Spezialität“ erwählt haben. IX. Dirnen, welche stehlen. X. Zuhälter. XI. Photographien von auswärts, Landstreicher. XII. Photographien internationaler Diebe und Betrüger.
Man sieht, eine nette Sammlung, mit deren einzelnen Typen wir uns später zu beschäftigen haben werden.
Jeder Photographie sind nähere Angaben über den Photographierten beigefügt: zunächst der Name, dann sein Körpermaß, weiter eine kurze Personalbeschreibung. Also zum Beispiel: „187. Friedrich Karl Schulze. 1,73. Haar schwarzbraun, Augen braun, Nase lang und schmal, Lippen aufgeworfen, Schnurrbart braun.“ Oder: „510. Ernst August Lehmann. 1,85. Haar dunkelblond, kraus, etwas meliert, Augen blaugrau, Nase gestülpt, Vollbart dunkelblond, Stirn links eine gezackte weiße Narbe, nach unten gebogen.“
Die Durchsicht dieser Bände ist einerseits sehr fesselnd, andrerseits wieder in höchstem Grade abstoßend; zwar entspricht es nicht eigentlich den Thatsachen, wenn man von einem „Verbrechertypus“ spricht, denn manche dieser Mörder und Einbrecher sehen äußerst harmlos aus und würden selbst gewiegte Physiognomiker irreführen. Dann aber kommen wieder Gesichter vor, die soviel Rohheit, Heimtücke und Haß ausdrücken, daß man sich mit Entsetzen abwendet. Unter den Bauernfängern fällt uns eine ganze Reihe eleganter Erscheinungen auf, die, wenn man sie irgendwo träfe, niemals den Verdacht erwecken würden, daß ihres Daseins einziger Zweck Betrug und Gaunerei ist. Auch unter den „Damen“ fehlt es nicht an reizvollen, scheinbar vornehmen Gestalten, ebenso wenig unter den internationalen Dieben, die mehrere Sprachen gewandt sprechen und geschickt mit dem Ordensbändchen im Knopfloch zu kokettieren verstehen. Für Mannigfaltigkeit in der Toilette ist ebenfalls gesorgt: hier sehen wir eine vom Ball weg in Haft gebrachte schlanke Blondine in pikantem Maskenkostüm, dort eine Marktdiebin mit dem Korb in der Hand, einen Einbrecher als Postboten verkleidet, einen Collidieb in der Tracht eines Rollkutschers, eine ganze Zahl von Männern in Frauenkleidungen, einen Paletotdieb, den dürren Körper in zwei gestohlene Ueberzieher gehüllt, einen mit Schaffellmütze und Schnürrock versehenen Perser, der gelegentlich eines kleinen Einkaufes in einem Juweliergeschäft mehrere Diamantringe „aus Versehen“ einsteckte, und einen Mulatten, der umfassende Gasthofschwindeleien verübte.
Manche der Bilder zeigen uns, daß es den also Ausgezeichneten durchaus nicht erwünscht war, gratis abkonterfeit zu werden, mehrfach sieht man theilweise oder vollständig verzerrte Gesichter, hier ein zugekniffenes Auge, dort einen verzogenen Mund oder eine heruntergeklappte Kinnlade. Auf anderen Porträts erblickt man den Verbrecher in der Zwangsjacke, oder es werden als Randverzierung die Hände und die Gestalten der Polizisten sichtbar, welche den zu Photographierenden mit Gewalt auf seinen Sitz niederdrücken. Früher mußten derartige Maßregeln, die in schroffem Gegensatz zu dem sonstigen: „Bitte, recht freundlich!“ der Photographen stehen, häufiger angewendet werden, heute macht die Blitzphotographie ihrem Namen zu sehr Ehre, als daß der Verbrecher zu besonderen Verstellungen noch Zeit behielte.
Das photographische Atelier befindet sich dicht bei den Zimmern des Inspektors der Kriminalpolizei und besteht aus einem kleinen halbdunklen Raum, in welchem stets Gas brennt; an zwei Seiten flackern mehrere Spiritusflammen, ein leichter Druck auf einen Gummiball entzündet das Magnesiumpulver, bei dessen Licht photographiert wird, und im selben Augenblick ist auch schon die Aufnahme fertig, die fast immer lebendig und anschaulich ausfällt. Ist der Verbrecher halsstarrig, so schreitet man gegenwärtig nur noch im äußersten Nothfalle zur Gewalt, meistens versucht man durch List, ihn zur Ruhe zu bringen; ein Beamter plaudert mit ihm oder stellt sich, als ob er ihn verhöre, Akten werden ihm vorgelegt und Fragen an ihn gestellt, bis plötzlich das Magnesium aufzischt und der Beamte ironisch lächelnd sagt: „Schönsten Dank, das Bild wird vorzüglich werden!“ Kann man aber einen Verbrecher um keinen Preis zum „ruhigen Sitzen“ bringen, so wird er, ohne daß er es merkt, während einer Verhandlung oder eines Verhörs gezeichnet; nach dieser Zeichnung fertigt man dann eine Photographie an. Von jeder Photographie werden vier Abzüge gemacht: [706] einer kommt in das Verbrecheralbum, einer in die Personalakten, den dritten erhält der Vorstand der Kriminalabtheilung und der vierte gelangt an die Beamten derselben zur genauen Kenntnißnahme.
Welche Dienste das Verbrecheralbum thut, geht am besten daraus hervor, daß es täglich mehrfach benutzt wird und jährlich einige hundert Entdeckungen vermittelt.
Eine Dame hat ein Dienstmädchen angenommen und ist mit dem bescheidenen, fleißigen, am liebsten Plattdeutsch sprechenden Landkinde sehr zufrieden; nach acht Tagen jedoch ist die Küchenfee verschwunden und mit ihr allerhand Wäsche, Kleider, Gold- und Silbersachen aus dem Besitze der Herrschaft; man räth der Dame, sich an die Kriminalpolizei zu wenden, und hier legt man ihr sofort das Verbrecheralbum, Band IX, vor. „Auf der sechsten Seite wird sie wohl sein, diese Emma Schubel,“ sagt mit ruhiger Bestimmtheit der Beamte. „Sie hieß aber Auguste Pechow,“ versetzt schüchtern die Dame. „O, die hat noch mehr Namen, auch adlige, – sehen Sie her, diese ist es doch?“ und der Kriminalbeamte weist auf eine der Photographien. Aber die Dame schüttelt den Kopf: „Nein, nein, das ist sie nicht!“, denn ihr blickt eine vornehme Salonerscheinung entgegen, in enganschließendem Sammetjaquet, mit modernem Hütchen, unter dem kunstvolle Löckchen hervorgucken, mit dem zierlichsten Sonnenschirm und den elegantesten Handschuhen. „Sie wird’s wohl doch sein,“ meint der Polizist, „diese Emma Schubel liebt die Verkleidungen: heute Baronin und morgen Dienstmädchen, dann wieder Bonne oder Stütze der Hausfrau; aber wir haben ja mehrere Aufnahmen von ihr – wie steht’s denn mit dieser?“ und er zeigt auf ein hübsches Dienstmädchen mit einem Hamburger Häubchen auf dem glattgescheitelten Haar, mit weißer Schürze und baumwollenem Kleide. „Ja, das ist die Auguste!“, ruft die Dame fast erschrocken aus. – „Ja, ja, die macht gern solche Späße,“ versetzt der Beamte, „wir müssen uns beeilen, sie zu fassen, sonst finden wir von den Sachen überhaupt nichts mehr; ’s ist ’ne alte Bekannte von uns, sechsmal bestraft!“ –
Neuerdings hat die Berliner Kriminalpolizei auch die Messungen der Verbrecher eingeführt, gemäß dem[WS 1] von Dr. Bertillon in Paris begründeten „anthropometrischen System“, welches, gestützt auf die Ergebnisse der Anatomie, in der Messung gewisser Gliedmaßen besteht und auf diesem Wege das spätere Wiedererkennen erleichtern will. In Berlin geht man nicht so weit wie in Paris, man nimmt hier nur vier Messungen vor, die der Schädellänge, der Schädelbreite, der Länge des Mittelfingers der linken Hand und der Länge des linken Armes vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Ob und wie sich diese Messungen in der Praxis bewähren, kann erst nach einer längeren Erfahrung entschieden werden.
In Verbindung mit dem Verbrecheralbum stehen die Registerblätter sowie die Merkmalverzeichnisse, welch letztere noch als Anhang eine Sammlung der Verbrecherspitznamen haben. Die Registerblätter, deren Nummern mit denen des Verbrecheralbums gleichlaufen, enthalten die für die Untersuchung nothwendigen Personalangaben. Angenommen, ein Dieb sei aus dem Verbrecheralbum festgestellt worden. Nummer 310 steht unter seiner Photographie; schlägt nun der Beamte Nummer 310 der Registerblätter auf, so findet er zunächst nochmals ein Bild des Diebes, neben diesem sodann die schriftlichen Ergänzungen: „Himmelmann, Friedrich (eigentlich Herschel); Schuhmacher, Handelsmann. Geboren 7. März 1853 in Warschau. W. 2931, A. G. (Aktennummern der Warschauer Polizei). 1883 wegen bandenmäßigen Taschendiebstahls zu Saarlouis – 2 Jahre Zuchthaus. 10. April 1884 Taschendiebstahl (Constanz) – 2 Monate Gefängniß. 13. Juli 1888 Bandendiebstahl (Bonn) – 2 Jahre 9 Monate Zuchthaus.“ Mit Leichtigkeit kann der Kriminalkommissar oder Untersuchungsrichter sich nun weitere Aufschlüsse über diesen Dieb verschaffen.
Die Merkmalverzeichnisse, welche gleichfalls einen sehr starken Großfolioband füllen, sind eingetheilt nach Haaren, Augen, Nasen. Ohren, Händen, Füßen, Narben, Buckel, Tätowierungen und Stottern. Schlagen wir einmal das Kapitel der Nasen auf, so finden wir beispielsweise: „Thiele, Ernst, 2201 (dies ist wieder die Nummer der Registerblätter, folglich auch die des Verbrecheralbums), Nasenrücken nach links gebogen“; bei den Füßen etwa: „Werktag, Friedrich, 751, das linke Bein kürzer als das rechte,“ oder bei den Tätowierungen, die man häufig bei den Verbrechern antrifft: „Schmidt, Ernst, 6610, auf der Brust einen Adler, auf dem rechten Arm zwei gekreuzte Schwerter, einen Engel und eine Frau, auf dem linken Arm ein Schlächterwappen und eine Schlange.“ –
Ganz merkwürdig ist die alphabetische Zusammenstellung der Verbrecherspitznamen, theils mit den Vornamen, theils mit dem Geburtsort oder den ehemaligen Gewerben oder endlich mit dem Aeußern ihres Trägers in Verbindung stehen. Diese Aufzeichnungen lauten etwa: „Kellner-Emil. – Emil Bäcker, Kellner; 21. Mai 1862 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ Oder: „Stralsunder Albert. – Albert Brutz, Schlächter; 18. Juni 1856 geb. in Stralsund. – Bauernfänger.“ Oder: „Karambolagen-August. – Karl Friedrich Ernst Schneider, gen. Schulze; 4. Januar 1859 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ – Um nur noch einige Namen zu nennen, erwähnen wir, daß die Berliner Verbrecherwelt einen „Totenkopf“, „Ulanen-Otto“, „Bäcker-Ede“, „Grauen Anton“, „Matrosen-Albert“, „Kameruner-Fritze“, „Glatzköpfigen Adolf“, „Schwarzen-Richard“, „Kühnen Oswald“, „Maler-Gustav“, „Sammetkäppchen“, „Blonden August“, „Studenten-Oswald“, „Kuchen-Otto“ etc. kennt.
Auch diese Zusammenstellung von Spitznamen hat schon manchen Vortheil gebracht. Einst war in der Mauerstraße ein verwegener Einbruchsdiebstabl verübt worden und man fahndete vergeblich auf die Thäter; da meldete sich eines Tages ein in derselben Straße wohnender Handwerker bei der Kriminalpolizei und theilte mit, sein zwölfjähriger Sohn habe mehrere Abende hindurch zwei Männer vor der Hausthür getroffen, von denen er zufällig zweimal den Namen „Rother Otto“ gehört habe. Die Kriminalpolizei ließ von nun an den „Rothen Otto“, auf den sie bis dahin keinerlei Verdacht gehabt hatte, scharf beobachten, dann Haussuchungen bei ihm halten und entlarvte ihn richtig als einen der bei jenem Einbruch betheiligten Verbrecher.
Sehr umfangreich ist ferner das Material, um jener Betrüger habhaft zu werden, die in Handschriftenfälschungen und Stempelnachahmungen „arbeiten“. Ein vielumfassender Kasten ist ganz mit derartigen Fälschungen gefüllt, und auf jedem Blatt steht der Name des Fälschers. Nehmen wir an, auf Grund eines gefälschten Briefes oder Firmastempels sei bei einem Kaufmann ein Posten Waren entnommen worden und der Geschädigte setze unter Vorlegung des gefälschten Schriftstücks die Kriminalpolizei davon in Kenntniß. Ist der Betrüger nicht ein „Neuling“, so darf man mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, daß sich unter den vorhandenen Papieren schon eine Fälschung von ihm befindet und er durch den mit dieser Aufgabe [707] betrauten und in der Schriftkunde sehr erfahrenen Beamten leicht entdeckt wird.
Scheinbar sehr umständlich und doch ungemein einfach ist auch die Einrichtung, daß binnen zwei Stunden sämmtliche Berliner Gasthöfe und Pensionate von der Polizei durchsucht werden können, um zu erforschen, ob ein von auswärts nach Berlin geflüchteter Verbrecher sich in einem derselben verborgen hält. Berlin ist in dreißig Bezirke eingetheilt; die Gasthäuser und Fremdenwohnungen jedes Bezirks sind auf je einem Blatt verzeichnet. Soll nun eine derartige „Razzia“ stattfinden, so werden dreißig Kriminalbeamte abgesandt, von denen jeder die auf seinem Blatt verzeichneten Häuser zu durchsuchen hat; nach zwei Stunden kann jeder an den Chef berichten, ob die Untersuchung von Erfolg begleitet war oder nicht.
So groß auch diese Hilfsmittel der Kriminalpolizei sind, so reichen sie doch nicht aus, um den Kampf mit dem Berliner Verbrecherthum siegreich durchzuführen – es gehören auch noch dazu lebende Unterstützungstruppen, und dies sind die sogenannten „Vigilanten“ oder „Fünfgroschenjungen“; den letzteren Namen führen sie noch von jenen Zeiten her, wo sie für jeden ihrer Dienste fünf Silbergroschen erhalten haben sollen. Die Vigilanten sind meist aus den Verbrecherkreisen hervorgegangen oder halten mit diesen doch so enge Fühlung, daß man sie zu ihnen rechnen kann; sie bekommen auf diese Weise manche Kunde von einem beabsichtigten Streich und theilen ihre Beobachtungen der Polizei rechtzeitig mit, sodaß diese ihre Maßregeln zu treffen vermag. Sind die Verbrecher erst dahintergekommen, daß einer der Ihrigen den Angeber spielt, so ist dieser auf alle Zeiten verfehmt; oder aber er wird zum unabsichtlichen Werkzeug seiner früheren Genossen, indem sie ihm absichtlich falsche Nachrichten zutragen und auf solche Weise die Polizei täuschen. Zuweilen steht auch der Vigilant gleichzeitig in den Diensten der Polizei und der Verbrecher, das heißt, er dient der Partei, welche ihn am besten bezahlt, und läßt sich insbesondere von seiten der Verbrecher sein Schweigen theuer bezahlen. Fast immer hat man es hier mit unlauteren, wenig verläßlichen Charakteren zu thun, aber die Kriminalpolizei kann der Vigilanten nicht entbehren und muß ihre Zuträgereien beachten.
Vor allem gilt jedoch auch bei der Kriminalpolizei wieder das Wort: „Hilf Dir selbst!“ und die Kriminalbeamten sind in den meisten Fällen einzig auf ihre eigene Thätigkeit angewiesen; Willenskraft, Findigkeit, gewandtes Wesen, Verstellungskunst, körperliche Stärke – das sind etwa die Eigenschaften, über die ein tüchtiger Kriminalbeamter verfügen muß, wenn er Hervorragendes leisten will. Ihre Pflichten sind die schwersten, die man sich denken kann, ihre Entschlüsse können Menschenleben retten, können aber auch ganze Familien in Unglück und Elend stürzen. Oft in persönlicher Gefahr, im Kampfe mit dem Abschaum der Menschheit, müssen sie stets Ruhe und Klugheit bewahren, eingedenk ihrer großen Verantwortlichkeit. An ihren Scharfsinn werden die weitesten Ansprüche gestellt: heute auf der Spur eines durchgegangenen Kassierers, steht der Beamte in der Tracht eines Packträgers auf einem der Bahnhöfe, anscheinend den soeben eingetroffenen Reisenden keinerlei Beachtung schenkend und doch jeden aufs genaueste beobachtend; morgen finden wir ihn in eleganter Kleidung unter den „Linden“, wo er den naiven Fremden spielt, um diesen oder jenen Gauner anzulocken; an einem der nächsten Tage folgt er, als Arbeiter verkeidet, einem verdächtigen Verbrecher auf Schritt und Tritt durch Berlin, gesellt sich in Kneipen unauffällig zu ihm und beobachtet dort seinen Verkehr. Oder er läßt sich in eine Wohnung einschließen, in welche Diebe einzubrechen beabsichtigen, und überrascht die Herren, wenn sie in emsiger Thätigkeit sind. –
Kriminalbeamte und Verbrecher stehen – Ausnahmen sind selbstverständlich auch vorhanden – durchaus nicht auf so gespanntem Fuße, wie man annehmen sollte. Der Verbrecher sieht natürlich in dem Kriminalisten seinen Feind, aber wie er von der Wahrheit seines Grundsatzes: „Eigenthum ist Diebstahl“ überzeugt ist, so ist er es auch davon, daß es eben der Beruf des Kriminalisten ist, ihn, den Verbrecher, zu verfolgen und möglichst unschädlich zu machen; das ist dessen Amt und dafür wird er bezahlt; man kann ihm also die Sache nicht gar so übelnehmen! Ja, man ist versucht, zu sagen, es bestehe zuweilen zwischen diesen sich so schroff gegenüberstehenden Parteien eine Art gegenseitiger Achtung vor der List und Mühe, mit der man einander habhaft zu werden, beziehungsweise einander zu entgehen sucht, und es ist nichts Seltenes, daß man aus dem Munde eines Verbrechers das Lob eines besonders tüchtigen Kriminalbeamten vernimmt. Es kommen daher auch nur wenig blutige Kämpfe zwischen Kriminalbeamten und Verbrechern vor, und es kann sogar sein, daß Vertreter beider Gattungen einträchtig bei einem Glase Bier sitzen und von ihren Erlebnissen berichten, wenn so ein Spitzbube gerade seine letzte Strafe verbüßt und eine neue noch nicht verwirkt hat.
Die Hauptmasse der Kriminalbeamten bilden die Kriminalschutzmänner. Sie sind aus der uniformierten Schutzmannschaft hervorgegangen, aus der sie zunächst versuchsweise auf sechs Monate entnommen und der Kriminalpolizei zugetheilt werden; bewähren sie sich, so treten sie endgültig in deren Dienst ein und hängen die Schutzmannsuniform für immer an den Nagel, da sie in ihrer neuen Eigenschaft nur Civil tragen. Ihr Erkennungszeichen ist eine thalergroße Medaille aus Metall, welche auf der einen Seite den Adler über der Stadt Berlin, auf der anderen die Worte [708] „Königlich Preußischer Polizeibeamter“ sowie die Nummer der Medaille trägt. Auf Grund dieses Zeichens kann jeder Kriminalbeamte sofort Verhaftungen vornehmen und die Hilfe der uniformierten Polizeimacht beanspruchen.
Eine Bewaffnung der Kriminalbeamten, und zwar mit Revolvern, ist erst vor kurzer Zeit verfügt worden. Die Leute benutzen die Waffe jedoch nur in den alleräußersten Nothfällen – wie vor einigen Monaten, wo ein Kriminalbeamter einen Einbrecher, übrigens nicht einmal mit Absicht, erschoß; sonst vertrauen sie ihrer Körperkraft, die sie denn auch fast nie im Stiche läßt. Ebenso selten verwenden sie bei der Weiterbeförderung eines Verhafteten die Handschellen. Es sind dies zwei kleine, an einem kurzen aus feinen Darmsaiten gedrehten Strick befindliche Holzknebel, welche der Beamte in der linken Hand behält, nachdem er den Strick um das rechte Handgelenk des Verhafteten geschlungen hat; bei der geringsten fluchtähnlichen Bewegung des letzteren schneidet der Strick aufs empfindlichste in das Fleisch ein; zudem hat der Beamte stets die rechte Hand frei, um jeden Widerstand seines Gefangenen bewältigen zu können. –
Mit jedem neuen Tage treten an die Kriminalpolizei neue Aufgaben heran, und mit jedem Tage wächst ihre Arbeitslast, die bewunderungswürdig schnell und sicher erledigt wird; nimmt man doch an, daß gegenwärtig in Berlin 30000 Menschen auf verbrecherische Weise ihren Erwerb suchen!
[812]Es giebt in Berlin keine gewerbsmäßigen Räuber und Mörder“ – so erklärte vor einigen Jahren anläßlich des Dickhoffschen Mordprozesses ein ebenso gewiegter wie mit den Nachtseiten der Residenz vertrauter Kriminalist, und seine Worte kennzeichnen das Berliner Verbrecherthum vollkommen zutreffend. Den eigentlichen „Kern“ des letzteren bilden die Diebe, welche sich in die verschiedensten Klassen und Gruppen theilen, vom verwegenen Einbrecher an, der planmäßig, nach wochenlangen Vorarbeiten, mit mehreren Gefährten den nächtlichen Angriff auf die eisengepanzerten Geldschränke eines Bankhauses unternimmt, bis zu dem gewohnheitsmäßigen Gelegenheitsdieb, der von früh bis spät durch die Straßen streift und aufmerksam seine Augen umherwandern läßt, wo er durch einen geschickten schnellen Griff irgend einen Gegenstand in seine Taschen oder Mantelfalten verschwinden lassen kann. Ein zu Raubzwecken vorher ausgeklügelter und entschlossen durchgeführter Mord kommt äußerst selten in Berlin vor; die Mordthaten werden zumeist von Einbrechern begangen, die bei ihrem dunklen Werke überrascht werden und keinen anderen Ausweg mehr finden können, als über die Körper der Entdecker hinweg. Aber auch dies geschieht nur im alleräußersten Falle und nur von seiten der tollkühnsten Verbrecher, die bei Ertappung wegen ihrer Vorstrafen eine langjährige Zuchthausstrafe zu gewärtigen haben und aus diesem Grunde vor dem Furchtbarsten nicht scheuen. Die Mehrzahl der Berliner Verbrecher schreckt vor Blut zurück. Ein großer Theil der jährlich in Berlin vorkommenden Mordthaten hat mit der gewohnheitsmäßigen Verbrecherwelt nichts zu thun; Haß, Neid, Eifersucht, Rache, Jähzorn, Verzweiflung sind in den weitaus meisten Fällen die Beweggründe.
Daß die Zahl der Verbrecher in Berlin eine so beträchtliche ist, liegt in dem Wesen der Millionenstadt, in der Masse fremder, unruhiger, verkommener oder unglücklicher Existenzen, welche hier zusammenströmen.
Aus diesen sich in die ansässige Bevölkerung mischenden Bestandtheilen erhält die Berliner Verbrecherwelt ihren wesentlichen Zuzug, und wer erst in ihren Bannkreis gezogen ist, der entrinnt ihm in den seltensten Fällen. Da kommt ein junger Mensch nach Berlin, er versucht alles, um eine Unterkunft zu finden, täglich sieht er die Zeitungen nach ausgeschriebenen Stellen durch, und täglich wandert er in athemloser Hast und Aufregung durch Berlin, um abends erfolglos zu seiner Schlafstätte zurückzukehren: der Mitbewerber waren zu viele! Die mitgebrachte geringe Barschaft geht auf die Neige, hatte er vorher vielleicht ein kleines Zimmerchen gemiethet, so muß er jetzt mit einer Schlafstelle vorlieb nehmen und dementsprechend auch geringere Lokale besuchen, um seinen Durst und Hunger zu stillen; an beiden Orten schließt er leicht Bekanntschaften mit Leuten, die schon einen Schritt abseits vom Wege gethan, und ihre bald aufreizenden, bald verlockenden Reden finden ein willfähriges Echo in dem durch Unzufriedenheit und Entmuthigung verdüsterten Gemüth. Aber noch widerstrebt er der Versuchung, noch einmal und immer wieder bemüht er sich, eine Beschäftigung zu finden – vergebens! Verbittert und verzweifelt sucht er häufiger die Destillationen und Kellerlokale auf, um dann die Nacht, weil er die Schlafstelle nicht mehr bezahlen kann, in einer der Pennen zu verbringen; immer schlimmer ist sein Umgang geworden, immer eindringlicher ertönt die Stimme des Versuchers, bis irgend eine Gelegenheit den letzten Widerstand beseitigt: in einem Warenmagazin soll ein Diebstahl verübt werden, und er soll die gestohlenen Waren bei Seite schaffen helfen, ein ganz ungefährliches Unternehmen, welches jedoch guten Lohn verheißt, und – er schlägt ein! Damit ist er fast immer verloren für die menschliche Gesellschaft; denn wird er bei diesem ersten Versuche nicht ertappt, so findet er Gefallen an dem abenteuerlichen, verhältnißmäßig leichten Verdienst, er geräth mehr und mehr in die verbrecherischen Kreise hinein und steigt schnell vom Mithelfer zum Mitthäter „empor“ – denn auch in dieser „Laufbahn“ giebt es eine Ranggliederung – um doch über kurz oder lang mit der Polizei Bekanntschaft zu machen. Wird er aber gleich beim ersten Mal ergriffen, so ist das Ergebniß meist dasselbe, denn selbst wenn er umkehren will, ist für ihn die verbüßte Strafe ein schweres Hemmniß, außerdem aber kommt er im Gefängniß, – nach einem oft angewandten Wort – der „Hochschule der Verbrecher“, mit anderen älteren Verbrechern zusammen, wird in ihre Schliche eingeweiht, schließt mit diesem und jenem von ihnen nähere Freundschaft und wird häufig, noch hinter Schloß und Riegel, für eine neue That verpflichtet, die er dann nach der Entlassung ausführen hilft.
Wir haben nur dieses eine Beispiel, wie jemand zum Verbrecher werden kann, eingehender skizziert, wir könnten noch eine große Zahl anderer folgen lassen; nicht immer sind Noth und Elend die Beweggründe zum ersten, verhängnißvollen Schritt, oft ist es Leichtsinn und der Hang zum Wohlleben, oft eine Liebschaft oder die Sucht, es den besser gestellten Bekannten im Ausgeben von Geld gleichzuthun, oft auch nur eine günstige Gelegenheit oder endlich der angeborene Drang zum Bösen, genährt durch schlechte Lektüre und Versuchungen aller Art, denen zumal die Berliner Jugend ganz besonders ausgesetzt ist. Hieraus erklärt sich auch die große, in erschreckendem Wachsthum begriffene Menge der jugendlichen Verbrecher in Berlin, die zu den ernstesten Besorgnissen Anlaß giebt und ihre Ursache zum wesentlichen Theile in der schlimmen Beschaffenheit der Wohnungen unserer ärmeren Klassen, in dem überhandnehmenden Schlafstellenwesen hat.
So vielfache „Spezialitäten“ die Diebe auch unter sich aufweisen, so brauchen wir hier nur zwei Sorten zu unterscheiden, die der Gelegenheits- und die der Gewohnheitsdiebe. Unter den letzteren wieder stehen die auf gewaltsamen Diebstahl ausgehenden oben an, sie gehören zu den gefährlichsten Elementen Berlins und bilden den Schrecken der begüterten Einwohner. Für sie, diese Einbrecher, in der Diebssprache „Schwere Jungen“ genannt, giebt es eigentlich kein Hinderniß – im Umsehen öffnen sie die kunstvollsten Schlösser, schneiden sie Thürfüllungen aus, drücken sie mittels Terpentin- oder Pechpflasters die Fenster ein, heben sie an diesen die Eisenstäbe aus, schieben sie Jalousien empor, ja, wenn es sich um reiche Beute handelt, durchbrechen sie Mauern und bahnen sich einen Weg durch den Fußboden. Sind sie erst in den zu beraubenden Räumlichkeiten angelangt, so macht das Oeffnen der verschlossenen Schränke und Schubläden wenig Mühe mehr; entweder passen die Nachschlüssel oder es genügt ein Druck mit dem Stemmeisen, um das Ziel zu erreichen. Mehr Umstände verursachen schon die eisernen Geldspinden, aber auch ihre Panzerplatten halten, mit wenigen Ausnahmen, den kunstvollen Instrumenten der Einbrecher nicht Stand, zumal die meisten von diesen sich aufs genaueste mit den neuen Konstruktionen vertraut gemacht und – oft nur zu diesem Zweck – als Lehrlinge oder Gesellen in Schlosserwerkstätten oder Kassenfabriken gearbeitet haben. Daher rührt denn auch die Leichtigkeit und Schnelligkeit her, mit der die erfahrenen Verbrecher die Korridorthüren öffnen; hat doch ein oft bestrafter Mensch im Verlaufe des Dickhoffschen Prozesses offen eingestanden, daß er ein Schloß nur einmal genau zu betrachten brauche, um den passenden Nachschlüssel anzufertigen.
Es liegt auf der Hand, daß die Einbrecher, um alle Hindernisse schnell aus dem Wege räumen zu können, mit einem umfangreichen „Hilfsmaterial“ ausgerüstet sein müssen; zu demselben gehören neben einer größeren Zahl von Nachschlüsseln und Dietrichen sowie starken Drähten eine etwa einundeinhalb Fuß lange und höchstens zwei Zoll starke Brechstange mit breiter und scharfer Spitze, am unteren Ende etwas gebogen, dann ein Zentrumbohrer, mehrere größere und kleinere Bohrer, eine Stichsäge, ein Stemmeisen, Hammer, Zange und Nägel, Terpentinpflaster, einige Stückchen Licht nebst Streichhölzern, in einer Tasche loser Schnupftabak, um ihn den Verfolgern in die Augen zu werfen, und schließlich, als besondere Waffe, wenn als solche nicht Brechstange [813] oder Stemmeisen genommen werden, ein Messer, meistens ein sogenannter Genickfänger, in den seltensten Fällen ein Revolver.
Zur Ausführung eines gewaltsamen Einbruchs vereinigen sich fast immer mehrere Verbrecher, die sich willig der Führung des gewandtesten unter ihnen anvertrauen und diesem blindlings gehorchen. Stets wird ein solcher Einbruch vorher genau ausgekundschaftet, und die Thäter verschaffen sich die eingehendste Kenntniß der Oertlichkeiten, der besten Gelegenheiten zum Einbruch, der Lebensgewohnheiten der Eigenthümer, des Dienstbotenpersonals, der Vortheile bei einer Flucht etc. Unter den verschiedensten Verkleidungen suchen die Kundschafter – in der Gaunersprache „Ausbaldowerer“ genannt – ihre Zwecke zu erreichen: bald meldet sich ein elegant gekleideter Herr, um die Wohnung (falls sie zu vermiethen ist) zu besichtigen, bald kommt ein Arbeiter, um die Gasröhren auf ihre Dichtigkeit zu prüfen, eine Frau klingelt und wünscht die Dame des Hauses zu sprechen, um dann irgend eine nichtige Frage oder Bettelei an sie zu richten, ein Paket wird für den Hausherrn abgegeben und – angeblich wegen Verwechselung der Adresse – bald wieder abgeholt, an der Küchenthür meldet sich ein Kolporteur und knüpft mit dem Dienstmädchen ein Gespräch an, oder ein Kohlenträger fragt, ob hier Kohlen bestellt seien, und auf das erfolgende „Nein“ bittet er, sich einen Augenblick ausruhen zu dürfen u. s. f. Häufig geschieht es auch, daß vorher mit den Dienstmädchen Liebschaften oder mit den Dienern Freundschaften angeknüpft werden; ja, es ist schon vorgekommen, daß der eine oder andere Verbrecher in den Dienst einer Herrschaft trat, auf deren Beraubung es abgesehen war.
Ist alles zur That vorbereitet, so geht es an die Ausführung, meistentheils unter dem Schutze der Nacht, wobei hervorgehoben werden muß, daß der Eintritt in die Häuser äußerst selten auf gewaltthätige Weise versucht wird, sondern der oder die Thäter sich vorher einschleichen und sich irgendwo verbergen, um zur geeigneten Stunde ihr Versteck zu verlassen. Zur selben Zeit oder bereits vorher haben auch auf der Straße die Aufpasser – „Schmieresteher“ – ihr „Amt“ angetreten und warnen erforderlichen Falls ihre Gefährten, von denen oft wieder einer auf dem Flur oder auf der Treppe Wache hält, durch ein verabredetes Zeichen, einen leisen Pfiff, ein Wort, einen Ruf.
Ist der Dieb in die Wohnung eingedrungen, so hält er zunächst Umschau, ob eine Entdeckung droht, dann macht er sich hastig und doch planmäßig auf die Suche nach Werthsachen, wobei er stets zwischen echten und unechten Stücken unterscheidet und nur die ersteren mitgehen heißt; sind einzelne Dinge zum Fortschaffen zu groß oder zu beschwerlich, so zerstückelt er sie und bemächtigt sich der werthvollsten Theile; am willkommensten ist ihm natürlich Geld in bar oder in Scheinen, auch Werthpapiere läßt er nicht liegen, wenn sie nicht, wie ausländische, schwer zu verkaufen sind. Welche Frechheit oft die Diebe bei diesen Einbrüchen entwickeln, geht daraus hervor, daß sie selbst in die Schlafstuben der Bewohner dringen und dort nach Geldtaschen, Uhren, Ringen etc. forschen; an anderen Stellen wieder verschmähen sie eine Stärkung mit Wein oder Bier nicht und rauchen behaglich beim Ausräumen der Kisten und Kasten die Cigarren des Besitzers. Im Gegensatz zu dieser Frechheit steht wiederum ihre Angst und Fassungslosigkeit bei unerwarteter Ueberraschung. So unternahm vor einer Reihe von Jahren ein Dieb einen Einbruch in die Wohnung eines Arztes; als er behutsam in das Arbeitszimmer desselben trat, befand er sich plötzlich einem menschlichen Skelett gegenüber und erschrak dermaßen, daß er in epileptische Krämpfe verfiel; spät nachts wurde er von dem nach Hause kehrenden Mediziner in diesem Zustande aufgefunden und natürlich der Polizei übergeben.
Hat der Dieb die Räumlichkeiten durchsucht, findet er nichts Mitnehmenswerthes mehr oder kann er nichts weiter fortbringen, so lauscht er geraume Zeit, ob alles ruhig ist; dann giebt er den Schmierestehern ein leises Signal, welches diese in entsprechender Weise erwidern, damit er weiß, ob er noch bleiben soll oder kommen kann. In letzterem Falle wird der Einbrecher möglichst bald das gestohlene Gut loszuwerden suchen, indem er es einem der Aufpasser oder einem besonders dazu bestellten Helfer übergiebt, welcher es seinerseits sofort zu dem meist schon vorher unterrichteten Hehler bringt. Dieser in mittelbarer oder unmittelbarer Verbindung mit den Dieben stehenden Hehler giebt es in Berlin eine große Zahl, und sie machen der Polizei mehr zu schaffen als die Diebe selbst, denn abgesehen davon, daß sie von ihren „Kunden“ fast nie angegeben werden, verfügen sie über die verborgensten Absatzquellen und handeln mit einer List und Schnelligkeit, daß sich wenige Stunden nach einem Einbruch die gestohlenen Sachen schon in vierter oder fünfter Hand, vielleicht sogar bereits außerhalb Berlins, befinden. Daher erklärt es sich auch, daß es viel häufiger gelingt, die Diebe zu fassen, als das gestohlene Gut wieder herbeizuschaffen. Hundertfach sind die Kanäle, in welche diese Hehler den Raub ableiten, für die seltsamsten Gegenstände haben sie ihre besonderen Abnehmer, die wiederum für den Weitervertrieb sorgen oder die gestohlenen Sachen unkenntlich zu machen wissen durch Einschmelzen, durch Umändern, durch Vertilgung der Fabrikmarken und dergleichen mehr. Daß die Hehler und ihre Unterhändler den größten Nutzen bei diesem Ab- und Umsatze für sich herausschlagen und der Dieb nur einen verschwindenden Bruchtheil des eigentlichen Werthes der gestohlenen Waren erhält, braucht kaum erst hervorgehoben zu werden. So ist denn auch die Lage des Verbrechers bald nach der That so übel wie zuvor: das aus dem Raub erübrigte Geld ist rasch in Saus und Braus durchgebracht, und die Noth treibt zu neuen Verbrechen. Oft sind es gerade die Hehler, welche die Rolle des Anstifters spielen oder gar neue Gelegenheiten zu erfolgversprechenden Einbrüchen nachweisen.
Im Gegensatz zu den aufs eingehendste „baldowerten“ Einbrüchen stehen die Gelegenheits-Einbrüche, [814] vor allem die sogenannten „Klingelfahrten“, bei denen der Dieb irgend ein beliebiges, nicht sehr belebtes Haus betritt und an einer Korridorthür mehrmals klingelt; wird nicht geöffnet und läßt sich auch kein verdächtiges Geräusch in der Wohnung vernehmen, so ist im Umsehen durch einen Dietrich das Schloß geöffnet; um nicht durch die Heimkehrenden überrascht zu werden, schiebt der Dieb von innen einen Riegel vor oder bohrt einen kleinen Bohrer durch die Thür, da ihm fast immer noch ein Ausweg durch die Küche, die Hintertreppen hinunter, offen steht. In größter Eile rafft er alles zusammen, was er mitnehmen kann, und macht sich aus dem Staube. Diese „Klingelfahrten“ werden namentlich gern in der Reisesaison unternommen; wie ungestört sich die Diebe in jenen Sommermonaten fühlen, erhellt daraus, daß sie zuweilen ein und derselben Wohnung mehrere Besuche an verschiedenen Tagen abstatten, ja, daß sie in fremden Quartieren mit ihren Gefährten ganze Gelage feiern, endlich sogar übernachten, bequem ausgestreckt in den Betten derer, die ahnungslos im Gebirge oder an der See ihre Erholung suchen.
Die umfangreichste Klasse der Berliner Diebeswelt ist die der Taschendiebe – der „Torfdrücker“ – von denen Berlin mehrere tausend beherbergen mag. Sie sind überall zu finden, und unter ihnen giebt es wieder die verschiedensten Abstufungen, von dem mit vornehmen Manieren auftretenden, nach der neuesten Mode gekleideten Elegant an bis herab zu dem Herumstreicher, der sein Beutefeld auf Märkten, bei öffentlichen Schaustellungen, im ausgelassenen Volkstrubel sucht, – womit nicht gesagt sein soll, daß sein vornehmerer Kollege dort etwa nicht anzutreffen wäre. Lieber freilich hält sich dieser an solchen Orten auf, wo die Fremden verkehren, auf den Bahnhöfen, in Museen und Galerien, in den Theatern und Konzerten, im Cirkus und auf der Rennbahn, im Zuhörerraume des Reichstages und auf Festtribünen, sogar in Kirchen und natürlich auch im Straßengewühl der reicheren Stadtviertel.
Zahlreich vertreten unter der Berliner Diebsgesellschaft sind ferner die Laden-, Schaufenster- und Kollidiebe. Die Ladendiebe – „Schottenfeller“ genannt – unternehmen ihre Diebszüge meist zu zweien; gemeinsam oder auch einzeln betreten sie den Laden, und während der eine von ihnen den Kaufmann beschäftigt und sich immer neue Sachen vorlegen läßt, bringt der andere dies oder jenes Stück beiseite, indem er es unter den Rock knöpft oder in eine der im Futter des Mantels befindlichen langen Diebstaschen steckt; Juwelendiebe haben besondere Vorrichtungen an den Aermelaufschlägen der Röcke oder benutzen den mitgebrachten Schirm zum Verschwindenlassen der Gegenstände. Am gefährlichsten sind in diesem Fache die Frauen und Mädchen, die oft unter hochtrabenden Namen und mit Dienerschaft in den großen Luxusgeschäften erscheinen, sich die kostbarsten Spitzen, Shawls und Seidentücher vorlegen lassen, immer wieder prüfen und mustern und handeln, bis sie endlich ein stattliches Packet zusammenlegen lassen mit dem Bedeuten, daß es noch im Laufe des Tages durch einen auch die Rechnung begleichenden Diener abgeholt werden würde. Das geschieht natürlich nie, und zu spät merkt der Geschäftsmann, daß er von einer abgefeimten Gaunerin ganz empfindlich bestohlen worden ist. Auf Schuhgeschäfte haben es manche Diebinnen besonders abgesehen. Hier besteht ihre Praxis darin, daß sie unter dem Kleide eine Schnur tragen, von der andere Schnüre mit eisernen Haken am unteren Ende herabhängen; während sie eine größere Zahl Stiefel anprobieren, befestigen sie in unbewachten Augenblicken rasch einige davon an den Haken. Alle diese Ladendiebe und -diebinnen suchen sich, wie die Taschendiebe, sofort der gestohlenen Sachen zu entledigen, indem sie dieselben den Helfershelfern übergeben; tritt eine Verfolgung ein und werden sie verhaftet, so ist eine nähere Körperuntersuchung meist ergebnißlos.
Mit unbegreiflicher Frechheit gehen zumeist die Schaufensterdiebe an ihr Werk; oft drücken sie einen Theil des Schaufensters mit Terpentinpflaster ein und nehmen die Waren heraus, oft bohren sie an der unteren Kante des Schaufensters mit einem Centrumsbohrer ein Loch durch das Holz und ziehen mit einem gebogenen Stück Draht Ketten, Ringe, Spangen u. s. w. heraus, gedeckt vor den Blicken der Passanten durch ihre Genossen, die, sich lebhaft unterhaltend, scheinbar aufmerksam die Schaufensterauslagen betrachten. Mit gleicher Verwegenheit werden die Schaukästendiebstähle verübt; als Arbeiter verkleidet oder auch ohne Hut, im bloßen Rock, einen Federhalter hinter dem Ohr, sodaß man ihn für einen Gehilfen des Geschäftsinhabers halten kann, tritt der Dieb an den Schaukasten heran, hakt ihn ruhig ab, da er alle Kniffe der Befestigung kennt, und verschwindet mit ihm in einem Hause, um ihn dort an einem verborgenen Fleckchen zu zertrümmern und seinen Inhalt in Taschen und unter der Kleidung zu bergen; nicht selten ist es aber auch schon passiert, daß er ruhig und ungehindert mit dem ganzen Kasten abmarschierte.
Zu einer wahren Zunft haben sich die Kollidiebe ausgebildet; sie treten an unbeaufsichtigte Fuhrwerke heran und nehmen von diesen, was sie fortschleppen können; dabei tragen sie häufig den Anzug eines Rollkutschers, sodaß keiner der Vorübergehenden ein Arg hat. Der jährliche Schaden, den sie hauptsächlich den Speditionsfirmen zufügen, ist ein sehr bedeutender, und sie ergänzen sich immer von neuem, trotzdem gerade in jüngster Zeit viele von ihnen dingfest gemacht worden sind. Die Polizei bediente sich hierbei einer erfolgreichen List: ein mit Kisten und Ballen beladener Rollwagen, der mit einem Plantuche bedeckt war, fuhr die Straßen entlang, gelenkt von einem scheinbar schon angeheiterten Kutscher, der wiederholt hielt und sich in Destillationen und Restaurationen stärkte, seinen Wagen auf dem Fahrwege unbeaufsichtigt stehen lassend. Dies benutzten die Kollidiebe; allein oder auch zu zweien kamen sie heran, um einen Ballen unter der Leinwand hervorzuziehen – im selben Augenblick aber wurden die diebischen Finger von der kräftigen Faust eines Kriminalschutzmannes ergriffen, der mit einem Gefährten unter der Decke verborgen war und auf diese Weise im Laufe mehrerer Tage die Verhaftung von über zwanzig Kollidieben bewerkstelligte.
Von den weiteren Mitgliedern der Berliner Diebswelt erwähnen wir noch die Schlafstellendiebe, welche sich eine Schlafstelle miethen und, sobald die Wirthe die Wohnung verlassen haben, mit ganzen Droschkenladungen von Sachen spurlos verschwinden; dann die Bodendiebe, die sogenannten „Flatterfahrer“, welche nur den Bodenkammern ihre Besuche abstatten und Wäsche wie Kleidung unter ihre Obhut nehmen; die Küchendiebe, welche, wenn das Dienstmädchen die Küche auf einen Augenblick verlassen und hierbei die Thür nicht zugemacht hat, schnell sich silberne Löffel, Serviettenringe, Suppenkellen etc. aneignen; die Kellerdiebe, die es hauptsächlich auf Weinlager abgesehen haben; die „Kinderdiebe“, welche Kindern das diesen zum Einkaufen gegebene Geld fortnehmen oder ihnen auch die Ohrringe aushaken; die „Leichenfledderer“, die den auf Bänken in Parkanlagen Eingeschlafenen die Taschen ausräumen; die Paletotdiebe, deren Wirkungskreis in Schanklokalen und Cafés liegt; dann [815] jene Diebe, welche eine besondere Neigung für Billardbälle, Gasarme, Thürklinken u. s. w. haben – eine Liste, die wir noch vielfach fortsetzen könnten.
Was alles in Berlin gestohlen wird, ist wirklich mehr als erstaunlich – Lackstiefel und Oberhemden, Kaviarbüchsen und eiserne Nägel, wollene Unterkleider und Schachteln mit Zahnpasta, Theekannen und Fettpuder, medizinische Bücher und angerauchte Meerschaumpfeifen, vernickelte Stahlkämme und Dosen mit Insektenpulver, Suppenterrinen und eingemachte Früchte, selbst mehrere Dutzend Flaschen mit „Antidiphtheritis“ und Leberthran beschlagnahmte beispielsweise die Polizei bei einem einzigen Hehler. Wurde doch vor wenigen Jahren vom Tegeler Schießplatze das Bronzerohr eines Vierundzwanzigpfünders gestohlen, und die Entdeckung erfolgte nur, weil man wegen eines in derselben Nacht gefallenen leichten Regens noch die tiefen Räderspuren des Fuhrwerks, auf welchem das Rohr fortgeschafft[WS 2] worden war, verfolgen konnte: es war höchste Zeit, denn die „Kanonendiebe“ waren bereits eifrig daran, die Bronze zu zersägen! Mehrfach ist es vorgekommen, daß die Zinkdächer einzelner abseits liegender Gebäude theilweise oder ganz abgedeckt und die Platten zentnerweise auf Handwagen fortgeschafft wurden. Auch einen „fetten Braten“ verschmähen die Spitzbuben nicht; mit langen Stangen haken sie abends die an den Küchenfenstern hängenden Hasen, Gänse, Rehkeulen etc. ab. Einem dieser Diebe stach einst ein feister Martinsvogel in die Augen, aber seine Mühe, ihn abzuheben, war vergeblich, weil der zu fest angebunden war; durch das Geräusch mochte das Dienstmädchen aufmerksam geworden sein und sie öffnete das Fenster, worauf der Dieb ihr warnend zurief: „Sie, Rieke, eben war ein Mann hier, der die Gans mausen wollte, sehen Sie sich vor!“ Natürlich beeilte sich die Küchenfee, den Braten loszubinden, im selben Augenblick aber, als sie den Faden gelöst, erhielt sie mit dem Stocke einen solchen Schlag auf die Hand, daß sie erschrocken die Gans fallen ließ, mit welcher der eigennützige Warner flugs verschwand. –
Auf die unzähligen, täglich in Berlin verübten anderen Gaunereien und Schwindeleien einzugehen, würde uns hier zu weit führen; die einst so gefürchteten „Bauernfänger“ sind infolge der polizeilichen Maßregeln und der steten Zeitungswarnungen fast gänzlich verschwunden, nur sehr Dumme fallen den wenigen Uebriggebliebenen in die Hände. Dagegen ist das Hochstaplerthum bei der enormen Vergrößerung Berlins und dem wachsenden Fremdenzufluß üppig emporgeblüht.
Im Gegensatz zu anderen Weltstädten giebt es in Berlin keine eng verbundenen größeren Verbrecherbanden, die hintereinander eine Reihe planmäßiger Raubzüge unternehmen und zuweilen eine wahre Schreckensherrschaft ausüben. Nur gelegentlich des Dickhoffschen Prozesses (1883), der ja in ganz Deutschland Aufsehen erregte, wurde eine ganze Schar Hand in Hand arbeitender Verbrecher entlarvt oder eigentlich noch mehr nur vermuthet. Im allgemeinen „arbeiten“ die Berliner Verbrecher in kleinen, aus höchstens vier bis sechs Personen bestehenden Gruppen, und auch in solcher Zahl bloß, wenn es sich um etwas ganz Besonderes handelt. Die einzelnen Gruppen und Verbrecher aber haben selbstverständlich untereinander Fühlung und verkehren „kameradschaftlich“ zusammen; sie treffen sich, falls sie sich der Freiheit erfreuen, in bestimmten Lokalen, denen man äußerlich keinen Unterschied von anderen Kneipen anmerkt, helfen sich gegenseitig vor dem Kriminalkommissar und dem Untersuchungsrichter oder wo sonst einer des anderen Unterstützung bedarf. Dieser „Corpsgeist“ ist ein ganz außerordentlich reger und erstreckt sich auch auf materielle Hilfe, wenn dieser oder jener Kumpan in Noth gerathen ist, er läßt ferner fast nie Streitigkeiten aufkommen und regelt auch ohne Zwist die Theilung der Beute, ja, er geht soweit, daß ein Dieb gern die Schuld seines bei einem gemeinsamen Unternehmen betheiligten Genossen auf sich nimmt, weil er weiß, daß jener wegen seiner Vorbestrafungen eine empfindlichere Strafe als er selbst zu erwarten hat.
Dem Zweck eines festen Zusammenschlusses dienen auch die Verbrechersprache und die Verbrechernamen. Hat die Berliner Spitzbubenzunft einen neuen Genossen erhalten, so wird ihm sofort ein Beiname zugelegt, der in irgend einer Beziehung zu ihm steht und den er sein Lebtag nicht wieder verliert, über dem seine Gefährten alsbald seinen eigentlichen Namen vergessen und der oft noch nach seinem Tode lange Zeit in der Erinnerung der übrigen weiterlebt. Derartige Namen sind beispielsweise: „Blechkopf“, „der schöne Robert“, „der Regierungsrath“, „Pulverkopf“, „Schuster-Karl“, „Opernsänger“, „Glatter Adolf“, „Schiefmaul“, „Plattbein“, „Sonntagsreiter“, „Blücher-Max“, „Langer Ede“, „Platzmajor“, „Gärtner-August“, „Strippen-Friedrich“, „Spitzmaus“, „Staatsanwalt“, „Droschken-Karl“, „Mohrenschmidt“, „Goldfasan“ etc. Daß auch die Verbrecherinnen hierbei nicht leer ausgehen, beweist folgende Blumenlese: „Chokoladen-Minna“, „Falsche Gräfin“, „Keller-Jette“, „Lange Klara“, „Schottische Marie“, „Bouillonkopf“, „Blubber-Juste“, „Schiefe Laterne“, „Langnasige Pauline“, „Spitzbuben-Ida“, „Mohren-Hedwig“, „Perl-Agathe“, „Dragoner-Anna“, „Königin der Nacht“ und „Bankierswitwe“. –
Die Sprache der Berliner Verbrecher, das „Gaunerdeutsch“ oder „Gaunerrothwelsch“, hat einen großen Vokabelreichthum dem Hebräischen entnommen; aber im Laufe der Zeit sind die Worte etwas verändert oder auch theilweise berolinisiert worden und weisen daneben häufige Anklänge an die Zigeunersprache auf. Der Neuling auf der Verbrecherbahn wird sich bemühen, dieses Idiom sobald wie möglich zu erlernen, und es bereitet ihm wenig Schwierigkeiten, denn die Unterhaltung wird in „diesen Kreisen“ eben nur in dieser Sprache geführt. Der „berufsmäßige“ Dieb heißt „Gannew“, der Einbrecher „schwerer Junge“, der Taschendieb „Torfdrücker“, der Kollidieb „Johlegänger“, der Bodendieb „Flatterfahrer“, der Schaufensterdieb „Abhänger“, der Ladendieb „Schottenfeller“, der Bauernfänger „Thürmer“, der gewerbsmäßige Spieler „Zocker“, der Bettler „Schmalmacher“. Vereinigen sich mehrere Diebe, so bilden sie eine „Chawrusse“, stehlen sie gelegentlich, so „schießen“ sie, während der Diebstahl selbst mit „Masematten“ bezeichnet wird; fast immer wird dieser, wie oben geschildert, „ausbaldowert“, während die Helfer „Schmiere“ stehen. Alles ist vorher aufs genaueste „bedibbert“ (besprochen) worden, und zwar „betuch geschmust“ (sehr leise); ist der mit den „Kabbern“ (Gefährten) unternommene Diebstahl „koscher“ (gut) gegangen und hat das „Geschäft“ (die That) gelohnt, so wird die „Sore“ (Beute) sofort zum „Schärfer“ (Hehler) gebracht, der sie „verschiebt“ (weiter befördert) und den „Draht“ (das Geld) „abladet“ (hergiebt). Oft geht aber alles nicht so „keß“ (gut), die „Schmieresteher“ „bekommen Lampen“ (wittern Gefahr) und „stechen Zinken“ (geben ein Zeichen), worauf, wenn diese Störung nur eine vorübergehende ist, alles „verduftet“ (kurze [816] Zeit verschwindet) oder, wenn ernste Störung droht, „wandert“ (flüchtet); dabei wird leicht dieser oder jener „verschüttet“ (gefangen genommen), der hoffentlich nichts von den übrigen „pfeift“ (verräth) und sich auch nicht „reinrudert“ (schlecht vertheidigt), sondern dem Richter „einen Putz vormacht“ (sich herauszulügen sucht), damit er nicht mehr wie „Schurf“ (ein Jahr Zuchthaus) bekommt oder auch nur das „Tfieze“ (Gefängniß) bezieht, wo er leichter mit anderen Gefangenen „kaspern“ (verstohlen sprechen) und sich mit ihnen trotz der „Amtsschauter“ (Gefängnißwärter) „Zinken“ geben sowie schriftlich durch „Kassiber“ (kleine Zettel) verständigen und womöglich neue Pläne „bedibbern“ kann.
Auch für die „Technik“ des Einbrechens oder Diebstahls hat diese merkwürdige Sprache ihre besonderen Ausdrücke; „ein Ding schwenken“ heißt einen schweren Einbruch vollziehen, zu welchem die ganze „Tandelei“ (Diebswerkzeug) und namentlich „der Lude“ (Brecheisen) nöthig ist; kann man nicht „tandeln“ (mit falschen Schlüsseln öffnen) und helfen auch die „Haken“ (Dietriche) nicht, so muß man „knacken“ (aufbrechen), wozu nur „kesse Jungen“ (muthige, erfahrene Verbrecher) und nicht „schalfe“ (Anfänger) benutzt werden können, die Furcht vor „Greifern“ (Kriminalbeamten) und „Eulen“ (Nachtwächtern) haben. Ist das Geschäft glatt gegangen, hat man vom „Schärfer“ genug „Männer“ (Thaler) erhalten, so sucht man die „Klappe“ oder „Kaschemme“ (Verbrecherkneipe) auf, um sich dort mit anderen „Geschäftsgängern“ (Dieben) zu erholen und dann in der „Bleibe“ (Schlafstelle) zu „joschen“ (ruhen), falls man sich nicht „plattmacht“ (obdachlos umhertreibt) oder in eine „Penne“ geht.