Philosophie (1914)
Vielleicht auf keinem anderen Gebiete der Wissenschaft ist die Änderung des Interesses und der Teilnahme weiter Kreise in den letzten 25 Jahren deutlicher und größer hervorgetreten, als auf dem der Philosophie. Das zeigt sich nicht nur in der wachsenden Zahl derer, die sich ihr zuwenden, nicht nur in dem steigenden Bedürfnis nach philosophischen Schriften und Vorträgen, sondern auch in der Richtung und Haltung der Einzelwissenschaften, deren Vertreter mit Vorliebe den grundlegenden Fragen, den methodologischen Problemen nachgehen und dadurch in nächste Beziehungen zur philosophischen Forschung kommen. Dabei sind es keineswegs bloß die einer strengeren, exakten Behandlung zugänglichen Aufgaben, die das Interesse der Allgemeinheit auf sich ziehen. Welt- und Lebensanschauung, Metaphysik und Ethik finden vielmehr, nachdem der Glaube an ihre Möglichkeit und Wirksamkeit lange unterbunden war, wieder dankbare und eifrige Anhänger und werden auf verschiedenen Wegen gepflegt und bearbeitet.
Rückblick. Klassische Periode.
So darf man heute wieder von einem philosophischen Zeitalter reden. Damit wendet sich von selbst der Blick zu der klassischen Periode vor hundert Jahren zurück, in der die Kunst am Werk war, sich mit einer kongenialen Philosophie zu vermählen und im Bunde mit ihr die lebendigsten und gehaltvollsten Bedürfnisse geistiger Kultur zu befriedigen. Damals waren die Einzelwissenschaften noch unabgeschlossen und für spekulative Ergänzungen durch tiefsinnige Deutung empfänglich. In der Optik konnten noch Goethes unphysikalische Ansichten mit Erfolg der klaren und exakten Lehre Newtons entgegentreten. Die Medizin war ein Tummelplatz von Versuchen und Widersprüchen, so daß Fechner in einer geistreichen Satire den Satz: jedes Mittel heilt alle Krankheiten, und jede Krankheit wird von allen Mitteln geheilt, als die ideale Regel hinstellen konnte, nach deren Erfüllung die Therapie seiner Zeit strebe. Das Interesse der Bildung überwog alle anderen, und diesem Interesse konnte nur durch eine absolute Philosophie vollkommen genügt werden.
Als Kant sein Werk vollbracht hatte, da schien seinen ersten Nachfolgern nur noch die Ergänzung zum System, die tiefere und einheitlichere Begründung seiner Lehren erforderlich zu sein. Es galt den unausgeglichenen Dualismus der Erscheinung und des Dinges an sich, der rohen Erfahrung und des Erkenntnisvermögens, der Sinnlichkeit [1148] und des Verstandes, der theoretischen und der praktischen Vernunft zu überwinden. Die letzte Zusammenfassung fehlte dem Ganzen und manchen Stücken seiner Philosophie. Nachdem der vereinheitlichende Abschluß gefunden war, nachdem K. L. Reinhold den Satz des Bewußtseins als Grundlage der transzendentalen Ästhetik und Logik, nachdem F. G. Fichte eine allgemeine Wissenschaftslehre als Grundlage der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft vorangestellt hatten, glaubten sie den Leser ihrer Schriften dort absetzen zu können, wo Kant anhob.
Diese Stimmung hielt freilich nicht lange vor. Kant selbst wehrte sich 1799 in einer geharnischten Erklärung gegen den Anspruch Fichtes, ihn zu unterbauen, obwohl er die Wissenschaftslehre nie gelesen hatte, und Fichte nannte ihn daraufhin einen Dreiviertelskopf und hat die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre unabhängiger gestaltet. Seine Nachfolger vollends hatten bereits ein ganz anderes Verhältnis zu Kant, indem sie Fichtes Idealismus zu einem objektiven und absoluten auszubauen suchten. Schelling schreibt, Kant lebe der seligen Einbildung, das Zeitalter stehe noch da, wo es gerade vor zehn Jahren gestanden hat, nämlich beim Nachbeten der Kritik, und glaube, die Kritik hätte nicht nur für jetzt, sondern für alle folgenden Zeitalter die Herkulessäulen des Denkens errichtet. Dabei wurde namentlich auch die allzuschmale einzelwissenschaftliche Basis der Kantischen Philosophie verbreitert, indem die empirische Naturwissenschaft und die Geisteswissenschaften Berücksichtigung fanden. Schon Kant selbst hatte noch in seinen letzten Lebensjahren von seiner Philosophie aus den Übergang zur empirischen Naturlehre herzustellen versucht, ohne über Anläufe und unklare Wendungen hinauszukommen. Hier setzte Schelling mit seiner Naturphilosophie ein, die gerade die Physik, Chemie und Biologie in sich aufzunehmen und zu einem System des sich entwickelnden Universums zu verarbeiten wußte. Dazu trat Hegel mit ausgesprochen historischen und politischen Interessen und mit der Richtung auf den absoluten Geist als letzte und höchste Tendenz des Alls. So entstand eine Philosophie, die im Prinzip als abgeschlossen gelten konnte, ein Inbegriff voll entfalteter Weisheit auf allen Gebieten menschlicher Einsicht, die Krone der Bildung und Kultur jenes von Kriegen zerrütteten und hernach in kleinbürgerliches Stillleben versunkenen Zeitalters. Schon 1801 prophezeit Schelling: es wird fortan nur ein Gegenstand sein, und nur ein Geist, ein Erkennen, ein Wissen dieses Gegenstandes.
Niedergang.
Keine andere philosophische Erscheinung, weder Herbarts vorsichtige und strenge Metaphysik, noch Schopenhauers phantasievoll ausgeführte Weltanschauung, konnte sich damals eine allgemeinere Beachtung erringen. Sie kamen erst auf, als die Auflösung der Hegelschen Schule und der Schiffbruch der absoluten Philosophie an den Methoden und Ergebnissen der Einzelwissenschaften vollendete Tatsachen geworden waren. Aber zu der glänzenden, unbestrittenen Herrschaft über die Geister, wie sie Hegel ausgeübt hatte, haben sie es auch später nicht gebracht, so sehr sich an Herbart die zünftigen und an Schopenhauer die dilettierenden Philosophen anschlossen. Mit dem Bann der absoluten Philosophie schien überhaupt der maßgebende Einfluß aller Philosophie aufgehoben zu sein. Auch Denker wie Fechner [1149] und Lotze vermochten nicht gegen den Strom dieser Emanzipation von der Philosophie größere Erfolge zu erkämpfen, obwohl ihre Bedeutung für die Ausbildung einer physiologischen und einer experimentalen Psychologie willig anerkannt wurde. Die Einzelwissenschaften strebten überall nach selbständiger Gestaltung und erblickten in der philosophischen Ergänzungsarbeit günstigsten Falls eine unschuldige Liebhaberei von Leuten, die zu nichts Besserem taugten. Das Wort von der dürren Heide und der grauen Theorie wurde beifällig zitiert, wohl auch vergröbert. Im sicheren Besitze eines unumstößlichen und stetig fortschreitenden Wissens glaubte man selbst die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Philosophie bestreiten zu dürfen. Wissenschaft und Philosophie, die im Altertum zusammengefallen waren, klafften jetzt förmlich als Gegensätze auseinander, und ihre Begriffe schienen keine widerspruchslose Synthese mehr eingehen zu können.
Umschwung. Positivismus.
Wenn man nun doch wieder zu einer anderen Auffassung gekommen ist, so hat das verschiedene Gründe. Zunächst war der Positivismus bemüht, sich den Einzelwissenschaften durch ihre Systematisierung, die Pflege ihres Zusammenhangs und die Herausarbeitung ihrer Allgemeinheiten (der généralités scientifiques nach dem Ausdruck Comtes) dienstbar zu erweisen und unentbehrlich zu machen. Damit sicherte er sich einen Anteil an den einzelwissenschaftlichen Untersuchungen, deren Zersplitterung und wechselseitige Entfremdung für einen umfassenderen Fortschritt der Erkenntnis zur Gefahr werden mußte. Comte, John Stuart Mill und Spencer vor allen haben in diesem Sinne das Ansehen der Philosophie wiederhergestellt, freilich nicht, ohne sie selbst zugleich der Hauptsache nach preiszugeben. Wenn die Philosophie nur das System und der allgemeine Teil der Einzelwissenschaften ist, so hat sie aufgehört, neben ihnen besondere Gegenstände und Aufgaben zu behandeln. Daran ändert die Tatsache nichts, daß dieser Positivismus eine neue Wissenschaft, die Soziologie, ins Leben rief und für die Ethik eine neue Grundlage schuf.
Grundlegung der Einzelwissenschaften.
In Deutschland bildete die Kantrenaissance seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts ein selbständigeres philosophisches Seitenstück zu der positivistischen Bewegung. Die Erkenntnistheorie erhielt hier die grundlegende Bedeutung zugestanden, die ihr bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Zu ihr gesellte sich alsbald die Logik, die seit den 70er Jahren eine durchgreifende Neubearbeitung erfuhr, nachdem ihr schon Mill trotz seines positivistischen Bekenntnisses eine selbständige, für alle Wissenschaften maßgebende Form verliehen hatte. So entstand eine Theorie der formalen und materialen Voraussetzungen aller Wissenschaften, die sich bald allgemeiner Anerkennung erfreuen durfte, seit hervorragende Vertreter der Einzelwissenschaften selbst solchen Überlegungen nachgingen und sie dadurch gewissermaßen sanktionierten.
Dabei regte sich rasch das Bedürfnis, die Probleme, die dazu gehörten, noch etwas mehr zu differenzieren. Eine Gegenstandstheorie erhebt seit den 90er Jahren den [1150] Anspruch, die für alle Gegenstände des Denkens geltenden Bestimmungen systematisch zu klären und zu entwickeln und eine Ordnungs- und Kategorienlehre auszubauen. B. Erdmanns Aufstellungen über alle Gegenstände des Denkens in seiner Logik, Meinongs und seiner Schüler gegenstandstheoretische Arbeiten, E. von Hartmanns, Cohens und Windelbands Bemühungen um ein System der Kategorien, Rehmkes Philosophie als Grundwissenschaft, Drieschs Ordnungslehre sind hervorragende Beispiele für die Forschung auf diesem Gebiet. An sie beginnen sich eine altgemeine Zeichenlehre oder Semasiologie, eine Theorie der Bedeutungen und Begriffe und eine Lehre von den Objekten und ihren Arten anzuschließen, insofern sich alle Gegenstände in Zeichen, Bedeutungen und Objekte einteilen lassen, wobei die letzteren wieder in die Gegebenheiten oder Wirklichkeiten des Bewußtseins, in die Realitäten der Natur- und Geisteswissenschaften, sowie der Metaphysik, und in die Idealitäten der Idealwissenschaften, wozu namentlich die Mathematik gehört, zerfallen. Bei allen Vorarbeiten, die hier von Husserl, H. Gomperz, A. Marty, C. Stumpf u. a. bereits geleistet worden sind, weisen diese Namen zum großen Teil noch auf unerfüllte Programme und Aufgaben hin, die schon von der Scholastik, von Christian Wolff und von Hegel gesehen und in Angriff genommen waren. Auch gehen Ziele, Methoden und Ergebnisse bei den verschiedenen Forschern noch vielfach auseinander. Aber schon jetzt zeigen alle diese Bestrebungen, daß die Philosophie der letzten 25 Jahre der großen Aufgabe einer Differenzierung der Begriffe, der Gebiete und ihrer Beziehungen erfolgreich und fruchtbar nachkommt. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht ja zu einem guten Teil in genaueren Unterscheidungen, in Beschränkungen der Geltung von Behauptungen und in Analysen anscheinend einheitlicher Gegenstände. Außerdem aber lassen diese Untersuchungen schon jetzt einen gewaltigen und geschlossenen Unterbau erkennen, der den Einzelwissenschaften um so selbständiger gegenübertritt, je mehr er nicht nur die von ihnen wirklich behandelten, sondern auch die überhaupt denkbaren Bestimmungen und Gegenstände in sich aufnimmt.
Einzelwissenschaftliche Forschungsweise.
Aber noch in anderer Richtung war eine Annäherung der Philosophie an die Einzelwissenschaften und damit eine Milderung des Gegensatzes zu ihnen erfolgt. Philosophen widmeten sich selbst der einzelwissenschaftlichen Forschung und ließen eine Soziologie als empirische Philosophie der Geschichte und die experimentelle Psychologie nach dem Muster naturwissenschaftlicher Methoden und Hilfsmittel entstehen. Andererseits waren die Naturforscher unter die Metaphysiker gegangen und hatten den Materialismus auf ihre Fahne geschrieben. Die Rollen schienen förmlich vertauscht zu sein. Von Vertretern der Philosophie wurden Klammern und Schrauben zur Untersuchung des Seelenlebens aufgeboten, zugleich hatten Positivismus und Kritizismus aller Metaphysik entsagt und sich auf das Verständnis und die Unterstützung der Einzelwissenschaften beschränkt. Daneben wurden die Welträtsel von philosophierenden Naturforschern ohne sonderliche Mühe und mit beneidenswertem Selbstgefühl gelöst und ein spekulativer Eifer entwickelt, der hinter Schellings Ideen und Entwürfen kaum zurückstand. Zweifellos [1151] hatte die Philosophie von diesem Wettstreit mit vertauschten Waffen den größeren Vorteil. Ihr hat die Berührung mit einzelwissenschaftlicher Forschung niemals geschadet, sie gewann daraus Probleme und Anregungen, festen Boden unter den Füßen und eine fruchtbare Erweiterung ihres Gesichtskreises. Zünftiger Abschluß ist, wie die Geschichte der Philosophie lehren sollte, nirgends weniger angebracht als in der Philosophie. Sie gleicht einer vieltorigen Stadt, zu der man von allen Himmelsgegenden den Zugang finden kann. Aber einheimisch wird man freilich nicht in ihr, wenn man nur gelegentliche Streifzüge bis in eines ihrer Tore hinein unternimmt.
Geschichte der Philosophie.
Waren die zuletzt geschilderten Wandlungen in der Philosophie vornehmlich dazu geeignet, sie den Naturforschern wieder zu empfehlen, so mußte der ausgiebige und exakte Betrieb in der Geschichte der Philosophie ihr namentlich bei den Vertretern der Geisteswissenschaften Anerkennung eintragen. Es ist ein großes Verdienst der Hegelschen und daneben der Schleiermacherschen Schule, die Bedeutung der philosophiegeschichtlichen Arbeit in helles Licht gestellt und durch zahlreiche glänzende Leistungen erwiesen zu haben. Deußens und Th. Gomperz’ eindringende und philosophisch durchleuchtete Schilderungen indischen und griechischen Denkens, Windelbands und Euckens zahlreiche und vielseitige historische Darstellungen, B. Erdmanns und Riehls, Vaihingers und Volkelts, Adickes, und H. Maiers, Cohens, Natorps und ihrer Schüler Forschungen, von Hertlings und Bäumkers Untersuchungen zur Philosophie des Mittelalters, Dyroffs Pionierarbeit in der Zeit des Übergangs zur neueren Philosophie u. a. legen in der Gegenwart für das ungebrochene Interesse an der Philosophie der Vergangenheit und für den großen historischen Sinn bei aller Genauigkeit im Kleinen gewichtiges Zeugnis ab. Die Strenge der historischen Methode ist hier in einem Maße zur Anwendung gekommen, daß die Geschichtsschreiber der Philosophie beanspruchen können, von jedem Historiker und Philologen als ihresgleichen beurteilt zu werden. Man kann sehr verschiedener Meinung darüber sein, ob die starke Beschäftigung mit der Philosophie der Vergangenheit einen günstigen Einfluß auf die positive Entwickelung unserer Philosophie ausgeübt habe, und vielleicht bei der Erwägung des Für und Wider zu einiger Skepsis gegen die Annahme eines solchen Einflusses neigen. Aber daß die philosophiegeschichtliche Arbeit wesentlich dazu beigetragen hat, das Ansehen der Philosophie bei den Einzelwissenschaften zu heben und zu befestigen, unterliegt keinem Zweifel.
Untersuchung der Geisteswissenschaften.
Den Geisteswissenschaften, die sich erst im 19. Jahrhundert ebenbürtig neben die Mathematik und die Naturwissenschaften gestellt haben, ist aber auch eine besondere eingehende Untersuchung gewidmet worden. W. Dilthey und Wundt, Windelband und Rickert haben vor allen ihren Begriff und ihr Ziel, ihre Methode und ihre Einteilung von erkenntnistheoretisch-logischen Gesichtspunkten aus vielfältig behandelt, ihre Grundlagen in einer Psychologie oder einer Wertwissenschaft gefunden oder geschaffen und ihre Ergebnisse für eine Philosophie des Geistes fruchtbar gemacht, zu der namentlich auch [1152] Eucken und Münsterberg beigetragen haben. Den Philosophen wurde die Erfüllung dieser Aufgaben um so leichter, als sie durch die Ethik und Ästhetik, durch die Rechts- und Religionsphilosophie, durch die Sprachphilosophie und die Philosophie der Geschichte zahlreiche und alte Beziehungen zu den Geisteswissenschaften und ihren Problemen besaßen. Vor allem mußte es bei den Vertretern dieser Disziplinen großen Anklang finden, daß die Eigenart und Selbständigkeit ihres Verfahrens anerkannt und mit dem Vorurteil aufgeräumt wurde, als seien die Mathematik und die mathematische Naturwissenschaft die schlechthin vorbildlichen Wissenschaften und die Geisteswissenschaften erst in den Anfängen einer Entwickelung begriffen, die jene bereits zurückgelegt hätten.
Spezialarbeiten.
Bei all diesen Bemühungen der Philosophie, es den Einzelwissenschaften gleich und genug zu tun, hat sich auch der Geist des Verfahrens und Wesens der letzteren auf sie herabgesenkt. Besondere Gegenstände und Methoden wie die Einzelwissenschaften zu haben, ein eigenes Feld wie sie zu bebauen, von ihrer Gunst und Richtung dabei unabhängig zu sein – das war ein Hauptziel in dem großen Regenerationsprozeß der Philosophie geworden. Die Einzelwissenschaften gedeihen vor allem durch Einzelforschung, nicht durch Lehrbücher und Kompendien, die das erworbene Wissen bloß zusammenfassen. So ist auch die Philosophie diesem Beispiel gefolgt und hat sich auf allen Gebieten in Spezialarbeiten betätigt. Systemlosigkeit war für Hegel ein Zeichen der Unwissenschaftlichkeit gewesen. Jetzt schienen die Systeme ganz außer Kurs geraten zu sein. Die Wenigen, die es damit versuchten, fanden nicht sowohl mit ihrem System, als vielmehr mit einzelnen darin ausgebildeten Lehren Beachtung und Anerkennung. Untersuchungen über das negative Urteil, über die ästhetische Bedeutung des Rahmens, über das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen, über die Möglichkeit eines psychischen Maßes u. dergl. waren an der Tagesordnung. Damit wuchs das Bedürfnis nach Zeitschriften, den natürlichen Sammelstätten für solche Arbeiten. Wir haben in Deutschland allein gegenwärtig 5 Zeitschriften, die systematisch-philosophische Abhandlungen aufnehmen, dazu mehrere psychologische und eine ästhetische nebst einer ganzen Anzahl von einzelnen Philosophen herausgegebener Sammlungen von Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, sowie zur Psychologie. Man hat trotzdem den Eindruck, daß die Zahl dieser Periodika nicht ausreicht, und daß wir bald besondere Organe für Logik, Erkenntnistheorie, Phänomenologie, Ethik usw. erhalten werden und erhalten müssen.
Soziologie.
Das starke Durchflochtensein der Philosophie der Gegenwart mit einzelwissenschaftlichen Interessen und Aufgaben hat sie auch befähigt, einige ihrer Disziplinen als Einzelwissenschaften auszubilden und zu betreiben. Seit Comte eine Soziologie nach dem Muster der Mechanik als Lehre von der Statik und Dynamik der menschlichen Gesellschaft begründet hatte, sind die Bemühungen um eine solche Wissenschaft nicht erlahmt. Doch sind die Biologie, die Psychologie und die einzelnen Sozialwissenschaften, wie die Politik und die Nationalökonomie, dabei an die Stelle der Mechanik getreten. Namentlich hat sich eine Sozial- und Völkerpsychologie entwickelt, [1153] die den geistigen Wechselbeziehungen zwischen den Individuen als Gliedern einer Gemeinschaft und den Produkten dieser Beziehungen in Sprache, Kunst, Religion und Sitte nachgeht. Wundts seit dem neuen Jahrhundert erscheinende Völkerpsychologie ist die bedeutendste Repräsentantin dieser Bewegung. Daneben sind besonders Tönnies, P. Barth, L. Stein, G. Simmel und Vierkandt als Vertreter der Soziologie in Deutschland zu nennen.
Psychologie.
Noch spezialwissenschaftlicher hat sich die Psychologie als Lehre von dem Seelenleben des Einzelsubjektes gestaltet. Namentlich die experimentelle Methode, die seit E. H. Weber und G. Th. Fechner in ihr heimisch geworden war, hat dazu beigetragen, ihr den Charakter einer Einzelwissenschaft immer deutlicher aufzuprägen. Die Institute, die an einigen deutschen Universitäten (zuerst in Leipzig von Wundt 1879), leider noch nicht überall, errichtet worden sind, haben zu einer Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnis der Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens geführt, die von jedem Standpunkte aus willige Anerkennung verdienen und finden sollten. Die Anwendungen der neuen Gesichtspunkte, Methoden und Ergebnisse für andere Gebiete der menschlichen Kultur lassen sich noch kaum übersehen. Einen Einblick in ihre Mannigfaltigkeit und Fruchtbarkeit hat kürzlich Marbe in einer lehrreichen Zusammenstellung eröffnet. Es gibt schlechterdings kein Gebiet menschlichen Wissens und Wollens, das nicht in das Licht einer psychologischen Betrachtung gestellt werden und dadurch eine eigenartige Beleuchtung erfahren könnte. Bei dieser Bedeutung der modernen Psychologie muß es verwunderlich und unerfreulich erscheinen, daß ihre selbständige Entwickelung noch so sehr gehemmt ist. Wenn irgendwo das Bedürfnis nach Ablösung einer Einzelwissenschaft von der traditionellen äußeren Verbindung mit der Philosophie besteht, so wird man es hier behaupten dürfen. Wir laufen sonst Gefahr, daß Deutschland, das Mutterland der experimentellen Psychologie, durch andere Staaten in seinen Leistungen für diese Wissenschaft überholt werde.
Ästhetik – Pädagogik.
Dabei hat diese sich auch für zwei andere, gewöhnlich zur Philosophie gerechnete Disziplinen besonders fruchtbar erwiesen, nämlich für die Ästhetik und die Pädagogik. Die experimentelle Ästhetik und die experimentelle Pädagogik sind triebkräftige Ableger der experimentellen Psychologie. Während die erstgenannte Disziplin noch in den Anfängen einer umfassenderen Entwickelung steht, hat dagegen die experimentelle Pädagogik, besonders dank den Bemühungen von E. Meumann und infolge der lebhaften Anteilnahme von seiten der Lehrer, eine reichhaltigere und eingehendere Bearbeitung erfahren.
Ethik und Metaphysik.
Auch die Ethik hat sich für diesen Zug der Zeit empfänglich erwiesen und sich z. B. bei Cohen mit der Rechtswissenschaft, bei Wundt mit der Völkerpsychologie, bei Unold mit der Biologie und Soziologie verbunden. Dabei haben die meisten Forscher auf diesem Gebiet, den Tendenzen der neueren Philosophie entsprechend, eine Unabhängigkeit der Ethik [1154] von den Voraussetzungen einer bestimmten Weltanschauung erstrebt. Selbst die Metaphysik wird heute, nachdem besonders Wundt in seinem großangelegten System der Philosophie dafür eingetreten ist, im Sinne der empirischen Einzelwissenschaften und als deren Vollendung und Krone aufgefaßt und behandelt. Es bleibt dabei freilich nicht aus, daß sie je nach der Betonung der einzelwissenschaftlichen Grundlage einen verschiedenen Charakter annimmt. Materialistisch oder monistisch pflegt sie auszufallen, wenn die Naturwissenschaften ihre einzige oder wichtigste Stütze bilden, spiritualistisch wird ihre Tendenz, wenn Psychologie und Geisteswissenschaften ihre Durchführung in erster Linie bedingen. Doch gibt es daneben auch heute noch Philosophen, die eine Weltanschauungslehre in wissenschaftlicher Form nicht für möglich halten und es den Einzelnen überlassen, dahin zielende Bedürfnisse nach eigenem Geschmack und auf eigene Hand zu befriedigen.
Relativismus.
Die Ansprüche der absoluten Philosophie werden bei dieser einzelwissenschaftlichen Wendung vielfach aufgegeben, und es droht ein Relativismus Platz zu greifen, der alles auf Erfolge hin wertet, die erzielt werden sollen, oder die alte sophistische Weisheit von dem Menschen als Maß aller Dinge erneuert. Pragmatismus und Humanismus nennt sich diese besonders in England und den Vereinigten Staaten groß gewordene Richtung. Letzte Werte und Wahrheiten erkennt sie nicht an. Unmittelbare Einsichten, wie sie z. B. den Axiomen zugeschrieben worden sind, gelten ihr nichts. Oft, aber vergeblich, ist darauf hingewiesen worden, daß dieser Relativismus zum Skeptizismus führe und sich selbst aufhebe: zur Kritik einer Lehre bedürfe man des sicheren Maßstabs, zur Behauptung einer Ansicht der zuverlässigen Voraussetzung. Aber als bloße Konstatierung einer Tatsache, eben der Relativität aller Wahrheit, ist der Pragmatismus gegen solche dialektischen Einwände geschützt. Es kann da nur noch gefragt werden, ob diese Tatsache besteht und ob die Konstatierung richtig ist. Sicherlich gilt sie für viele Fälle, wie das Verfahren der Einzelwissenschaften zeigt. Man denke nur an die Arbeitshypothesen, an die Aufstellung zweckmäßiger Hilfsannahmen, an die Unbeweisbarkeit der Axiome, an die Willkür der Definitionen und die Abhängigkeit aller spezielleren Sätze von ihnen. Aber irgendein Absolutum, und sei es auch nur das eigene liebe Ich, ist auch für den Relativisten vorhanden, und so pflegt er das Leben und seine Forderungen oder den Menschen und seine Bedürfnisse oder das höchste Ziel eines Übermenschentums stillschweigend oder ausdrücklich als letzten Maßstab aller Wahrheit zu benutzen und anzuerkennen.
Die Tendenz der Vertreter der Einzelwissenschaft ist in der Gegenwart zumeist eine positivistische, d. h. sie treiben eine philosophische Theorie ihrer Wissenschaft und empfinden keine Veranlassung, über deren Ergebnisse hinauszugehen. Dabei gilt es manchen Naturwissenschaftlern als geboten, die Erfahrung in ihrer ursprünglichen, dem Bewußtsein des Forschers gegebenen Form als den Gegenstand der Erkenntnis zu betrachten und dadurch in einen Zwiespalt mit der offenkundigen Intention ihrer Wissenschaft zu geraten. Daneben wird von Begriffen gesprochen, deren wichtigste Grundlage ein denkökonomisches Verfahren bilden soll. Es gibt auch Philosophen, [1155] welche sich dieser Auffassung anschließen, die nur noch die Einzelwissenschaft als eigentliche Wissenschaft anerkennen und damit auf alle Sonderaufgaben und -interessen der Philosophie verzichten. Aber die letzten 25 Jahre haben dem Positivismus in dieser Gestalt kaum einen Zuwachs gebracht. Die Richtung auf Absolutes ist erstarkt, die selbständige Energie und Schöpferkraft der Philosophie ist wieder erwacht, und so fehlt es auch nicht an Einzelforschern, die nach dem metaphysischen Lorbeer greifen, die ihre Gegenstände und ihre Erkenntnisse verabsolutieren und zu einer Weltanschauung erweitern und verdichten.
Materialistischer Monismus.
Haeckels Welträtsel sind dafür ein unerfreuliches und bezeichnendes Beispiel. Sein Materialismus oder Monismus ist genau so unklar und philosophisch unorientiert, genau so anspruchsvoll und unvorsichtig wie der seiner Vorgänger Moleschott und Büchner. Von einer Auseinandersetzung mit erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten oder abweichenden Theorien ist kaum die Rede. Ein Popanz von Dualismus wird aufgerichtet und mit wohlfeilen Kraftausdrücken niedergeworfen. Dieser seichte Dogmatismus hat in wissenschaftlich und philosophisch gebildeten Kreisen Ablehnung und Widerlegung gefunden. Aber er ist von der großen Masse Urteilsloser, die sich dem autoritativen Einfluß ihrer Kirche entzogen hatten, um so lieber als das „Resultat der Wissenschaft“, als die Weltanschauung des Naturforschers begrüßt und angenommen worden. Gewiß ist das kein günstiges Zeichen für die Höhe unserer geistigen Kultur. Aber darum braucht man noch nicht nach der staatlichen oder kirchlichen Polizei zu rufen. Auf diesem Felde sollte der Kampf nur mit geistigen Waffen geführt werden. Die Urteilslosen sind die Sachunverständigen. Belehrungen, nicht Befehle, Aufklärung, nicht Verfolgung, Erziehung zu selbständiger Einsicht, nicht Knechtung, Bestrafung und Drohung sind zu ihrem Besten aufzubieten und anzuwenden.
Materialistische Geschichtsauffassung.
Der materialistischen Naturbetrachtung ist eine materialistische Geschichtsauffassung zur Seite getreten, die namentlich von einer bestimmten politischen Partei, der sozialdemokratischen, anerkannt wird, seit das kommunistische Manifest von Marx und Engels im Jahre 1849 die Grundzüge dafür aufgestellt und das Hauptwerk des erstgenannten eine nähere Ausführung darüber gegeben hatte. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt hiernach den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Die Ideen, die früher, auch noch den Philosophen der französischen Revolution, als die treibenden Kräfte galten, sind hier zu bloßen Reflexen, Begleit- und Folgeerscheinungen eines materiellen Mechanismus geworden. Es liegt auf der Hand, daß auch diese Lehre einen bestimmten Vorgang verabsolutiert, eine zweifellos bestehende Entwicklungsrichtung einseitig zur alleingültigen erhebt. Eine genauere Würdigung der zu deutenden Tatsachen zeigt immer klarer und unwiderleglicher, daß in der sozialen wie in der individuellen Sphäre die Wechselwirkung zwischen geistigen und materiellen Faktoren die Regel ist.
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Naturalismus.
Auch der Naturalismus, der sich in den 80er und 90er Jahren in Deutschland zur Herrschaft brachte, lebte und zehrte von dem engen Anschluß an die Naturwissenschaft. Des Menschen Leben, Wollen und Handeln wurde unter ihre Gesichtspunkte und damit unter eine äußere und mechanische Gesetzmäßigkeit gestellt. Die Sinne werden von dem empirischen Naturforscher als letzte Instanz der Erkenntnis angesehen – die Triebe und Instinkte wurden entsprechend als letzte Kräfte und Maßstäbe dem Wollen und Handeln zugrunde gelegt. Aufgaben über ihn gab es demnach für den Menschen nicht mehr. Seine Ziele fielen mit seiner Natur, seinem sinnlichen und triebhaften Wesen zusammen. Wie ein ökonomisches Verhältnis zwischen den Begriffen der Wissenschaft und den durch sie auszudrückenden Tatsachen nach positivistischer Theorie besteht, so regelt auch eine ökonomische Beziehung für den Naturalisten die Stellung zur Welt und zu anderen Menschen. Im Zeichen des Nutzens, der Brauchbarkeit für das selbstherrliche Ich hat sich alle Entwickelung danach vollzogen. Wir sind über solche bei Stirner und Nietzsche vertretenen Anschauungen bereits hinausgewachsen. Wir scheuen uns nicht, Ideale anzuerkennen und zu verehren, die nicht von dieser Welt der Sinne und Triebe sind, Natur und Norm zu unterscheiden und uns in den Dienst großer sachlicher Aufgaben und einer umfassenden Gemeinschaft zu stellen. Die Uhr des Naturalismus ist heute abgelaufen, und schon bei Nietzsche finden wir Gedanken, die über sie hinausweisen.
Nietzsche.
Der ursprüngliche Wert, nach dem sich, wie Nietzsche in der letzten Periode seiner schriftstellerischen Arbeit lehrt, alle anderen zu richten haben, ist das Leben, und dieses ist nicht einfach Wille zum Dasein, sondern Wille zur Macht. An dem Quantum gesteigerter und organisierter Macht mißt sich objektiv allein der Wert eines Zieles, das wir uns setzen. Dabei ist der Wille zur Macht ein ursprünglicher Instinkt, der schon in der Pflanze sich offenbart. Aus seiner Wirksamkeit, aus seiner Geltung ergibt sich Bejahung des Lebens, Steigerung des Lebensgefühls, sieghafte Stimmung, Fortschritt an Kraft und Größe, körperliches und geistiges Wachstum. Nietzsche hat damit das Aktivitätsbewußtsein im Gegensatz zur Entsagung, zur demütigen Ergebung in sein Schicksal, einen Voluntarismus schöpferischer Absicht und Kraft im Gegensatz zu kontemplativer Passivität und unproduktivem Genußleben zum lebendigen Ausdruck gebracht. So ist er Herold und Prophet aller jener Stimmungen und Strömungen geworden, die das neue Deutsche Reich entstehen ließen und durch seine Gründung und Erhaltung entfesselt und stark geworden sind. Nietzsches Dichtung vom Übermenschen ist das hohe Lied auf den kraftvollen, erfolgreichen, in der Gestaltung und Schaffung von Lebenswerten rastlos tätigen, von vollberechtigtem Selbstbewußtsein erfüllten und sich immer zu immer neuen Taten anspornenden und erziehenden Willen. Nach Schopenhauer war dieser die Quelle aller Leiden, und nur in quietistischer Askese konnte Seelenfrieden, Sittlichkeit und Größe erlangt werden. Nach Nietzsche ist der Wille Quelle der größten und wertvollsten Freuden. Nur wer sich seine Stellung in der Welt selbst erobert, wer immer strebend sich bemüht, erringt sich volle Befriedigung. Folgte der Pessimismus aus dem Schopenhauerschen, so folgt der Optimismus [1157] aus dem Nietzscheschen Theorem über den Willen. Jener erwuchs in der Restaurationszeit, die viele Hoffnungen unerfüllt, viele unüberwindlichen Widerstände einem tatendurstigen Geschlecht entgegenstarren ließ, dieser in der Zeit nach der Gründung des Reiches, unter dem überwältigenden Eindruck eines Werdens und Gelingens auf allen Gebieten.
Richtung auf Absolutes.
In allen diesen bisher geschilderten Bestrebungen zeigt sich der einzelwissenschaftliche Geist in der Philosophie unserer Tage wirksam. Sie ist dadurch eine Wissenschaft neben anderen geworden und wird als solche wieder mit Achtung von den Schwestern behandelt. Aber der neue Sinn, das lebhafte, persönliche Interesse, das besonders in unserer hochgestimmten Jugend wieder für die Philosophie erwacht ist, gehört nicht der einzelwissenschaftlich sich gebenden und begründenden, nicht der relativistischen und biologischen Philosophie, ja selbst nicht einmal mehr den Träumen von der Welt als Wille und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, sondern der echten, angestammten, auf Absolutes gerichteten Philosophie, und es sind mannigfache Wege, die heute eingeschlagen werden, um wieder zu ihr zu gelangen.
Wiederbelebung der nachkantischen Philosophie.
Der nächste schien sich in der Wiederbelebung der nachkantischen Philosophie eines Fichte, Schelling und Hegel zu eröffnen. Solches Zurückgreifen auf die romantische Vergangenheit hat uns einen Neuhegelianismus beschert, nachdem bereits Eduard von Hartmann eine Synthese von Schopenhauer, Schelling und Hegel vollzogen hatte. So erfreulich es ist, daß dem großen Denker nach 100 Jahren wieder der Lorbeer gereicht wird, den ihm eine verständnislose Nachwelt vom Haupte gerissen hatte, so sehr muß bezweifelt werden, daß ein über Probleme, Ideen und Aufgaben hinausgehender Anschluß an ihn unserer Zeit die Philosophie schenken wird, deren sie bedarf. Offenbare Mängel in der Ausführung der großen Ideen verhindern eine engere Rückbeziehung auf Hegel. Die dialektische Methode der Selbstbewegung der Begriffe, der Selbstentfaltung des Absoluten, war schon den Zeitgenossen anstößig gewesen und artete bei den Nachfolgern in ein ödes und trockenes Schematisieren aus. Sie wird auch von den Hegelianern zumeist preisgegeben. Von Hegel selbst haben wir ja gelernt, daß die Philosophie der Ausdruck und der Rechenschaftsbericht eines Zeitalters ist. Nicht eine literarische Angelegenheit, eine Tradition der Bücher und Systeme, nicht ein unselbständiges Repetieren früherer Gedanken und Lehren kann und darf sie hiernach sein, sondern das Ergebnis der Kultur ihrer Zeit in Wissenschaft und Kunst, Sittlichkeit und Religion, Wirtschaft und Recht, Lebens- und Weltanschauung. Und nicht in einer einzelnen philosophischen Richtung und Bewegung, sondern in der entwickelten Totalität aller hatte man nach Hegel die absolute Philosophie zu suchen.
Intuitive Philosophie.
Es fehlt unserer Zeit wahrlich nicht an diesen aus ihr selbst herausgeborenen Tendenzen auf Absolutes. Da ist zunächst die immer mehr erstarkende intuitive Philosophie, die eine besondere [1158] Erkenntnisart für alle Gegenstände, die in unseren Gesichtskreis fallen, durchzuführen sucht. Der von seinen begeisterten Verehrern für den größten Philosophen der Gegenwart erklärte Bergson, ein zweifellos sehr eindrucksvoller Vertreter dieser Richtung, hat in selbständigen und tiefgehenden Untersuchungen einer neuen Metaphysik das Wort geredet, die den Dingen gewissermaßen ins Herz schauen soll und damit ihr absolutes Wesen, nicht ihre mannigfaltigen Erscheinungs- und Darstellungsformen zu erfassen hat. Wie wir uns selbst als einen einheitlichen und schöpferischen Strom des Werdens intuitiv erkennen, so können wir uns in das Innere aller Gegenstände versetzen und es intellektuell miterleben. Die Einzelwissenschaften verlieren sich an die Gesichtspunkte, unter denen wir unseren Begriffen gemäß die Dinge bestimmen. Solche stabilen Festsetzungen mögen praktischen Wert haben, der Einsicht in das Wesen der Gegenstände dienen sie nicht. Die mathematische Naturwissenschaft hat das ja auch anerkannt, indem sie von mechanischen Bildern spricht, die sie von der realen Natur entwerfe. Nur durch die Intuition wird es möglich, den starren Symbolen, mit denen wir in den Einzelwissenschaften arbeiten, den vollen Strom einer lebendigen Wirklichkeit gegenüberzustellen und die Metaphysik im Unterschiede von der relativierenden, alles in Beziehungen auflösenden und ausdrückenden positiven Wissenschaft das absolute Wissen finden und lehren zu lassen.
In typischer Form tritt uns hier das auch unsere Zeit beherrschende spiritualistische Vorurteil entgegen, daß die Selbsterkenntnis die einzig zuverlässige, das Wesen ihres Gegenstandes unmittelbar ergreifende, und alle andere Erkenntnis an die Befolgung ihres Verfahrens und an die Benutzung ihres Ergebnisses gebunden sei. Aus dem mühseligen Entwickelungsgange der Psychologie sollte man gelernt haben, daß uns die Selbsterkenntnis nicht durch bloße Intuition in den Schoß fällt, so wenig wie die Erkenntnis der Außenwelt durch intellektuelles Miterleben, durch eine Einfühlung in ihr inneres Sein erworben werden kann. Aber auch die alte Neigung, der Philosophie einen besonderen Königsweg zur Einsicht in die Welt zuzusprechen, einen Weg, dessen erfolgreiche Beschreitung nur wenigen Sterblichen und auch diesen nur in seltenen Stunden der Inspiration freisteht, zeigt sich hier wirksam. Man fragt sich unwillkürlich, warum die positive Wissenschaft, deren größte Fortschritte auch nur auf diesem Wege errungen sein sollen, überhaupt einen anderen betreten hat, der ihr nur ein Surrogat bieten konnte, und wie ein praktischer Vorteil mit dem Gebrauch von Symbolen verbunden sein kann, die die Erkenntnis nicht fördern, sondern sich wie ein undurchdringlicher Schleier zwischen den Forscher und seinen Gegenstand breiten. Gewiß gibt es glückliche Offenbarungen, die in allen Wissenschaften weiter tragen, als die kleinen Schritte, die wir in alltäglicher Arbeit zurücklegen. Aber sie verhalten sich zu diesen nicht wie die seltenen Treffer zu den Fehlschüssen oder wie das große Los zu den Nieten, sondern wie ein Erkundungsflug, der weite Gebiete überschauen und große Aufgaben bestimmen läßt, zu der langsamen Durchwanderung und zu der gründlichen Urbarmachung eines schwierigen Geländes. Entkleiden wir Bergsons Ideen des ästhetischen und mystischen Zaubers, der sie umschwebt und nicht zum mindesten an den glänzenden Symbolen haftet, in die sie gekleidet sind, so verblaßt ihr leuchtender Anspruch auf absolutes Wissen, so weit er nicht [1159] an der gleich zu erwähnenden, sich ebenfalls eines intuitiven Verfahrens bedienenden Phänomenologie teilnimmt.
Husserl’s Phänomenologie .
Diese fordert und übt ein ausgezeichneter deutscher Philosoph, der in Göttingen wirkende Husserl. Von einer gründlichen Kritik des Psychologismus, in den er selbst verstrickt war, ausgegangen, hat er zunächst der Logik durch eine virtuos gehandhabte Bedeutungsanalyse die wissenschaftliche Selbständigkeit geben wollen. Aber das an den Bedeutungen erprobte Verfahren ihrer Klärung, der Erfüllung ihrer Intentionen wurde alsbald auf beliebige Phänomene angewandt und erwies sich auch ihnen gegenüber als eine überaus fruchtbare Methode. Alles, was zur unmittelbaren Gegebenheit gebracht werden konnte, ließ sich auf sein Wesen untersuchen und die hinreichende Prüfung des Ergebnisses an dem jederzeit in klarer Vergegenwärtigung erfaßbaren Phänomen vornehmen. Wesensschauung nennt sich diese Intuition. Sie ist streng durchführbar und macht die Philosophie, die sich ihrer bedient, zur strengen Wissenschaft, die sie bisher noch nicht gewesen. Hier ist absolute, restlose Einsicht möglich und damit ein Fundament für alle Erkenntnistheorie zu gewinnen, das sich an Solidität mit der Mathematik messen kann. Auch schon vorher war auf die Tatsachen des Bewußtseins als einen Gegenstand der Erkenntnis, ja selbst der Naturwissenschaft hingewiesen worden. Daß man aber an ihnen eine besondere Aufgabe zu lösen, ihr Wesen zunächst einmal für sich festzustellen habe, war jenen Immanenzphilosophen nicht eingefallen. Das Selbstverständliche wird – so zeigte sich auch hier – am spätesten zum Problem.
Ein unabsehliches Arbeitsfeld tut sich hier in der Tat auf. Die Gesamtheit unserer Erfahrung, unserer Bewußtseinswirklichkeit, die wir durch eigenes Erleben so gut zu kennen glauben, und für die wir viele Namen seit langer Zeit zur Verfügung haben, wird zum aufklärungsbedürftigen und einer vollen und strengen Einsicht in sein Wesen zugänglichen Gegenstande. Unser Wollen und Fühlen, unsere Empfindungen und Vorstellungen, die vorgefundene Innenwelt in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit und daneben die farbige, tönende, über weite Räume verteilte Außenwelt des naiven Bewußtseins kann der genauesten Analyse unterworfen werden. Nicht bloß zum Zweck der Verständigung über die Erfahrung zwischen verschiedenen Subjekten, nicht bloß als Ausgangspunkt einer auf reale Objekte gerichteten Beobachtung und Forschung, sondern als Selbstzweck stellt sich diese Phänomenologie auf den Plan. Sie darf beanspruchen überall beachtet, berücksichtigt und betrieben zu werden, wo Gegebenes, wo reine Erfahrung eine Rolle spielt. Schon R. Avenarius hatte eine solche Richtung einzuschlagen versucht. Aber indem er die psychophysischen Beziehungen zu einem realen System, dem Gehirn, zur Hauptsache für seine reine Erfahrung machte, entglitt ihm die unmittelbare Analyse des Gegebenen selbst. Hier dagegen ist die Erfahrung ohne Voraussetzung einer solchen Theorie zum letzten und eigentlichen Gegenstand der phänomenologischen Erkenntnis geworden. Unbefangene Einstellung auf den bloßen Gehalt der vorgefundenen Wirklichkeit, das Gerichtetsein auf einen Bestandteil desselben, unabhängig von seinem Verflochtensein in ein Reich realer Beziehungen, von seiner Bedeutung für anderes, von idealen Bestimmungen [1160] und Verwendungen, kann allein zur phänomenologischen Aufklärung über das, was es als dies Wirkliche ist, führen.
Wenn eine Philosophie den Namen einer Wirklichkeitswissenschaft verdient hat, so ist es diese. Damit ist zugleich gesagt, daß sie nicht die ganze Philosophie ist und sein kann. Vielleicht wird sie dereinst zu einer das Wesentliche heraushebenden Lehre von den Gegebenheiten des Bewußtseins und damit zu einer Grundlage für die Wissenschaften von den realen und den idealen Objekten werden. Wie dem auch sein mag, jedenfalls hat die Philosophie sich auch hier schöpferisch erwiesen und eine Aufgabe ergriffen, deren Fruchtbarkeit in Erstaunen setzt, nachdem sie so lange unverstanden geblieben war. Gewiß ist noch manches an der hier eingeschlagenen Methode unklar, gewiß sind auch die Ergebnisse noch nicht so einwandfrei und allgemeingültig, wie erwartet und verkündet wird. Auch werden schwierige Auseinandersetzungen mit der Psychologie und mit der Erkenntnistheorie nicht zu vermeiden sein. Aber unsere Zeit hat sich mit dieser Phänomenologie und ihrer intuitiven Methode das Verdienst erworben, der wissenschaftlichen Entwickelung eine neue weithin sich erstreckende Bahn eröffnet zu haben. Dabei wird etwas Absolutes, die Tatsache schlechthin, in ihrer eigentlichsten Bedeutung, gefaßt und bestimmt.
Windelbands Philosophie der Werte.
Wieder in anderer Weise wird die Tendenz zu einer absoluten Philosophie in der Windelbandschen Philosophenschule erkennbar, welche im Sinne einer schon von Lotze gewiesenen Aufgabe die allgemeingültigen Werte als den Gegenstand betrachtet, mit dem sich die Philosophie zu beschäftigen habe, und demgemäß eine Logik als Lehre von der Wahrheit, eine Ethik als Lehre von der Gutheit und eine Ästhetik als Lehre von der Schönheit unterscheidet. Die metaphysische Realität eines diese absoluten Werte zusammenfassenden Normalbewußtseins ist der Gegenstand der Religion, welche die Zugehörigkeit zu einer Welt geistiger Werte zum Ausdruck bringt. Die Selbständigkeit gegenüber den Einzelwissenschaften wird der Philosophie hier durch die ihr eigentümliche kritische Methode gesichert, die alle menschlichen Vernunfttätigkeiten daraufhin untersucht, wie weit darin allgemeine, von den spezifischen Bedingungen der Menschheit unabhängige, rein sachlich in sich begründete Vernunftinhalte zum Bewußtsein und zur Geltung gelangen. Empirisch gegeben sind die psychischen Funktionen des Vorstellens, Fühlens und Wollens und die historischen Gestaltungen der Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst. An ihnen sind die Vernunftinhalte von übergreifender Bedeutung durch die kritische Besinnung aufzudecken.
Diese Lehre bringt die große Wahrheit zum Ausdruck, daß unsere Werturteile eines letzten Maßstabes, einer höchsten Norm in jedem Wertgebiet bedürfen, daß unsere Bestrebungen ebenso die Richtung auf ein fernstes Ziel einschlagen, daß wir somit ein einheitlich abgestuftes Wertsystem bilden und brauchen, in dem die untergeordneten Glieder nur insofern Werte sind und Wert haben, als sie an den obersten Bestimmungen teilnehmen. Ob freilich diese letzten Instanzen, an die wir urteilend, wollend und schaffend appellieren, keine unausgleichbaren individuellen Unterschiede [1161] zeigen, also allgemeingültig sind, ist damit noch nicht entschieden. Auch bleibt es fraglich, ob die Wahrheit in demselben Sinne ein absoluter Wert genannt werden darf, wie Gutheit und Schönheit. Jene behält ihre Bedeutung, auch wenn es gar keine wertenden Subjekte gäbe, ist also gewiß von den spezifischen Bedingungen der Menschheit unabhängig. Dagegen sind gut und schön Prädikationen, die an die menschliche Sphäre gebunden erscheinen, sofern man von übermenschlichen Realitäten absieht. Man kann deshalb auch zweifelhaft sein, ob überhaupt die Logik in einer Philosophie als Wertwissenschaft zutreffend unterzubringen ist. Die Merkmale wahr und richtig haften an den Urteilen, denen sie zukommen, auch wenn ihnen keinerlei Anerkennung zuteil wird, und das transzendente Sollen, unter das man das Anerkennen gestellt hat, ist für die Wahrheit eine ebenso überflüssige Zutat, wie das Anerkennen selbst. Dagegen dürfte es schwer werden zu sagen, was denn gut und schön überhaupt noch seien, wenn von einer Billigung und einem Gefallen gänzlich abstrahiert würde, wenn sie nicht wenigstens in einer möglichen Beziehung dazu blieben.
Aber diese Einwände, die sich noch durch den Hinweis auf die allzu enge Fassung der philosophischen Aufgaben bei der Verabsolutierung des Wertgesichtspunktes und auf die einseitige und auch sonst angreifbare Würdigung der kritischen Methode vermehren lassen, heben die Tatsache nicht auf, daß auch hier ein echtes Stück absoluter Philosophie erfaßt ist. Die Idee eines Eigenwertes, um des willen alle anderen bloße Wirkungswerte sind, konstituiert hier den Begriff des Absoluten. Zugleich ist damit ein Ziel und die Möglichkeit seiner Verfehlung gesetzt. Wahrheit, Gutheit und Schönheit werden zu Aufgaben, zu Idealen, und die Bedingungen, von deren Erfüllung es abhängt, daß jenes Ziel erreicht wird, zu Normen und praktischen Gesetzen.
Marburger Schule. Das Absolute als Gesetz.
Das Absolute wird innerhalb einer dritten Philosophenschule der Gegenwart in einem ähnlichen Sinne namentlich auf das Gesetz und das in der Unendlichkeit liegende Ziel alles Forschens bezogen. Absolute Geltung hat hiernach nicht ein bestimmtes Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern nur das Gesetz ihres Fortschritts, und so tritt zu der absoluten Tatsache und dem absoluten Wert das absolute Gesetz, die ewige Methode der Erzeugung von Gegenständen, der Erkenntnis und des Denkens. Dazu haben wir auch die letzten Prinzipien zu rechnen, die axiomatischen Voraussetzungen, deren Geltung aller abgeleiteten Einsicht zugrunde liegt. Es sind besonders die exakten Wissenschaften und die idealen Gegenstände, denen diese in Marburg entstandene, von Cohen und Natorp geleitete Philosophenschule Rechnung zu tragen versucht.
Das System der Philosophie, das Cohen in seinen drei ersten Teilen, der Logik, Ethik und Ästhetik bereits vorgelegt hat, schreitet auf hohem Kothurn einher, in getragener und prägnanter, mit sentenzartigen Wendungen durchsetzter Rede und mit eigenartigen und tiefsinnigen Bildern. Die reine Erkenntnis, die nicht an ein Gegebenes, d. h. außerhalb des Denkens Bestehendes gebunden ist, die ihre Gegenstände erzeugt, gilt der Marburger Schule als Typus aller Wissenschaft. Die gesetzmäßigen Bestimmungen an diesen Gegenständen und die Methoden, die zu ihrer Auffindung angewandt [1162] werden, sind der bedeutungsvolle und bleibende Inhalt aller Forschung. Der Rechtsgrund aller Einsicht muß dabei letzten Endes in der Vernunft selbst nachgewiesen werden. Die Logik erscheint in diesem System als der Inbegriff der theoretischen Philosophie und als die Grundlage der anderen philosophischen Wissenschaften. So kann die Ethik als eine Logik der reinen Willensgestaltung und die Ästhetik als eine Logik der reinen Kunstgestaltung angesehen werden. Die unbedingte Setzung und damit das unbedingt Gesetzliche werden in dem Idealismus der Marburger Schule am meisten gewürdigt, und so entsteht die Richtung auf das absolute Gesetz, das von dem Wechsel der Erscheinungen unabhängig ist und zugleich in allen gilt.
Das Absolute als Realität.
Ist nun mit diesen drei Formen alles erschöpft, was überhaupt absolut sein und zur absoluten Philosophie gerechnet werden kann? Man hat es gemeint und im Anschluß an Lotze alle Bestimmungen auf Tatsachen, Prinzipien und Werte zurückzuführen gesucht, denen noch eine theologische Ergänzung zugestanden wurde. Aber damit erhält man drei ganz getrennte Arten des Absoluten. Die letzte Tatsache, der letzte Wert und das letzte Gesetz haben eine so verschiedene Bedeutung, daß sie sich gar nicht zu einem wirklichen System vereinigen lassen, und so wird man genötigt, von einem relativen Absoluten, nämlich von einem Absoluten mit Rücksicht auf das Gebiet zu reden, für das es gilt. Ein Blick auf die absolute Philosophie vor hundert Jahren zeigt uns sofort, woran das liegt. Sie war von der Tendenz beherrscht, Denken und Sein unter die gleichen Gesichtspunkte und Entwicklungsgesetze zu bringen und damit weder die Phänomene von dem, was erscheint, noch die Erkenntnis von ihren Gegenständen, noch die Werte von einer Welt zu trennen, in der sie gesetzt, beurteilt und verwirklicht werden. Wir bedürfen somit noch eines vierten Absoluten, um die Einheit aller herstellen zu können, nämlich eines realen Seins und Geschehens, das zur Tatsache für uns werden kann, das Werte in sich aufnimmt und zur Herrschaft gelangen läßt, das endlich nach Gesetzen sich richtet und eine Erkenntnis des Ursprungs aller Geltung ermöglicht. Aus dem Kelche dieses Absoluten schäumt uns wahrhaft die Unendlichkeit. In sich selbst gegründet und ohne Grenzen seines Reiches ist es der Ankerplatz, der alle Kulturgüter aufnimmt und schützt, und der auch unseren religiösen Anschauungen und Gefühlen ihren Halt und ihr Recht gibt.
Die Frage, wie wir zur Erkenntnis dieses nicht unmittelbar zu ergreifenden Absoluten kommen, ist eine Fundamentalfrage der Erkenntnistheorie. Ihre positive und detaillierte Beantwortung ist durch Bedenken und Einwände erschwert und verzögert worden, die uns künftig zumeist als unfruchtbarer Subjektivismus und Skeptizismus erscheinen werden. Man kann auch sagen: wo die Normalwege zur Befriedigung des Erkenntnistriebes infolge übergroßer Vorsicht zugebaut werden, da öffnet sich an einer nicht allen zugänglichen Stelle ein neuer Pfad, Glaube, Ahnung, Extase genannt, um diesem Absoluten zueilen zu können. So ist Bergsons Intuition ein Versuch, an der langsam und methodisch hinführenden Straße vorbei mit einem kühnen Vorstoß an das Ziel zu gelangen. Es beginnt aber jetzt die Einsicht durchzudringen, daß es einen [1163] zuverlässigen Weg zu diesem Absoluten nur in der Form gibt, in der die einzelnen Realwissenschaften ihn sich gebahnt und mit entschiedenem Erfolg beschritten haben, und daß auch die Metaphysik an diese Marschroute gebunden ist, wenn sie nicht in wilde Spekulation und phantastische Willkür ausarten soll. Freilich fällt ihr die eigentümliche Aufgabe zu, eine Totalität des an sich Seienden und Geschehenden mit Hilfe der von den einzelnen Realwissenschaften gewonnenen Erkenntnisse in einer Universalwissenschaft darzustellen, und das ist keine äußerliche Zusammenfassung, sondern verlangt eine Würdigung und Synthese aller besonderen Realitätsbestimmungen. Die Aneinanderlegung einzelner Zipfel ergibt noch keine Kleidung, die bloße Anhäufung einzelner bunter Steinchen noch kein Mosaikbild. Aber ohne systematische Verwertung der Beiträge von seiten der Realwissenschaften käme, wie das besonders von unserem großen Systematiker Wundt gezeigt worden ist, jedenfalls keine wissenschaftliche Metaphysik zustande.
Auf die speziellen Richtungen, die in der Gegenwart das absolut Reale zu fassen suchen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Im allgemeinen ist eine ausgesprochen spiritualistische Tendenz erkennbar. Ihr huldigen die Monisten, welche die körperliche Welt als die Erscheinungsweise der geistigen, allein realen betrachten, ebenso wie die Erneuerer eines Leibniz-Herbartschen Pluralismus, auch wenn sie mit Wundt den vorstellenden Einzelwesen wollende substituieren, und Eucken, der unermüdliche Verfechter einer selbständigen Einheit des Geisteslebens, die sich geschichtlich bewährt und deren Entwickelung an den Kulturmächten offenbar wird. Daß es bei dieser exklusiven Bevorzugung der geistigen Realität bleiben wird, ist schwerlich anzunehmen. Eine dualistische Metaphysik, zu der ein so geistvoller und scharfsinniger Philosoph wie C. Stumpf hinneigt, dürfte dem heutigen Stande der realwissenschaftlichen Einsicht immer noch am besten entsprechen und an den vorurteilsvollen Einwänden, die man gegen sie zu richten pflegt, gewiß nicht zu scheitern brauchen. Erst eine vollausgebildete Theorie der Realisierung wird darüber urteilen lassen, welche Möglichkeiten wissenschaftlich offen stehen und welche Kriterien für die Setzung und Bestimmung realer Objekte anzuwenden sind. Auf alle Fälle haben wir es auch hier mit absoluter, d. h. einer auf Absolutes gerichteten Philosophie zu tun.
Ausblick.
Wir sind mit dem Jahre 1913 in die Säkularfeier jener herrlichen Zeit der Befreiungskriege eingetreten, die uns durch ihr erhabenes Beispiel zeigt, daß ideale Gesinnung eine sehr reale Macht werden und alle Widerstände wie ein entfesselter Bergstrom brechen und vor sich hertreiben kann. Wir sollten aber nicht vergessen, daß die absolute Philosophie eines Fichte, Schelling und Hegel die Philosophie dieses Zeitalters war. Fichte, der die Reden an die deutsche Nation gehalten hatte und das preußische Heer als weltlicher Prediger begleiten wollte, vertraute der edlen Form der klaren Einsicht als einem Prinzip alles Fortschritts. Schelling, der von einer herrschenden Religion oder Philosophie die Herstellung des alten Nationalcharakters der Deutschen erwartete, sah in der Staatsverfassung ein Bild der Verfassung des Ideenreiches. Und Hegel überzeugte sich täglich mehr, wie er schreibt, daß die theoretische Arbeit mehr zustande bringe in der Welt, als die praktische. Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, [1164] so hält die Wirklichkeit nicht aus. Was im Leben wahr, groß und göttlich ist, ist es durch die Idee. In dieser Betonung der Idee als der Bedingung aller Besserung und Vervollkommnung liegt der Primat des Absoluten vor dem Relativen und die Bedeutung der absoluten Philosophie ausgedrückt. Der Höhe des Ziels entspricht die Höhe der Leistung, der vollen Hingabe an das absolute Ziel entspringt die Fähigkeit, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.
So mag auch das lebendige Interesse der Gegenwart an philosophischen Problemen und Betrachtungen in den geschilderten Ansätzen zur absoluten Philosophie, in der Richtung auf letzte Tatsachen, Werte, Gesetze und Realitäten seine Befriedigung, seine Erhebung und seine fruchtbare Ergießung über alle Gefilde des Lebens und der Wirksamkeit finden! Es ist heute freilich einem einzelnen kaum mehr vergönnt, alle Formen zu einer grandiosen Einheit zu verbinden. Wir sind zu vorsichtig und gründlich, zu spezialistisch und von der gewaltigen Entwickelung der Einzelwissenschaften zu sehr bedrängt und abhängig, als daß im gleichen Maße Phänomenologie und Wertlehre, positivistischer Kritizismus und Metaphysik von einem einzigen ausgestaltet und zu einer absoluten Philosophie vereinigt werden könnten. Aber keine Zeit hat zugleich das Prinzip der Arbeitsgemeinschaft, der Bündnisse und Verträge, die Selbständigkeit der Verbände gegenüber ihren Gliedern und der alle Schranken der Individualität überfliegenden Kulturbewegung so konkret ausgebildet und sich so praktisch angeeignet, wie die unsrige. Vor 100 Jahren wurde ein Rivale Hegels um die Palme der absoluten Philosophie, K. Ch. F. Krause, kriminalistisch verfolgt, weil er die höchst gefährliche Stiftung eines die Lebewesen aller Himmelskörper umfassenden Menschheitsbundes unternommen hatte. Wir brauchen nur an dieses tragikomische Ereignis zu denken, um uns der Freiheit unseres Koalitionsrechtes mit freudigem Stolze bewußt zu werden. So dürfen wir hoffen, daß sich die auseinanderstrebenden Tendenzen unseres philosophischen Zeitalters aufeinander beziehen und miteinander zusammenschließen lassen werden.
Es ist der Fluch der Vereinzelung, daß sie zur Einseitigkeit und Exklusivität führt und über dem Ich denke und dem αντός εφα das Denken und Reden der anderen überhört und abweist. Nach Anlage, Entwickelung und Bestimmung erreichen wir in dieser besten der möglichen Welten nicht als Einzelwesen die Vollendung, wie selbst der Traum des Übermenschentums noch zu erhoffen wagte, sondern in der Gattung, und so repräsentieren wir nur in der vielgliedrigen Körperschaft der Suchenden und Erkennenden und nicht in einem einzigen, noch so bedeutsamen Teile derselben die Universalität der geistigen Kultur. Die absolute Philosophie, der jetzt wieder Herz und Sinn sich öffnen, ist nicht schlechthin bei einem Philosophen, in einem Buche oder an einer Universität zu finden, sondern das Ergebnis mannigfacher Arbeit vieler Orte und Geister. Sie ist das große stille Leuchten, das zahlreiche und weit verstreute Flammen ausstrahlen. Wenn die künstlichen Schirme, durch die sich diese gegeneinander abschließen, fallen, wenn es nicht mehr darauf ankommen wird, was jede von ihnen zur Erleuchtung beiträgt, dann erst wird voller Tag werden und das Zentralfeuer der Philosophie, von allen Brennstoffen des Wissens gespeist, seine Helligkeit und Wärme nach allen Richtungen spenden.