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Philister und Plebejer

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Textdaten
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Autor: Adolf und Karl Müller
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Titel: Originalgestalten der heimischen Vogelwelt. 9. Philister und Plebejer
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 424–426
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[424]
Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
Thiercharacterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.


9. Philister und Plebejer

Vom feinen prächtigen gesangreichen Distelfink zum plumpen, schmutzig gefiederten, piependen Gesindel der Sperlinge – welch ein Gegensatz!

Da sitzt auf knospenreichen Obstbaumzweigen eine Gesellschaft Haussperlinge in der wärmenden Frühlingssonne. Ihre Strahlen erwecke auch in den Spatzen ein Gefühl des Behagens, aber wie äußert es sich? Nicht in melodiösem Gesang – wie zum Spotte gab die Natur dem lungernden Gaste unserer menschlichen Wohnstätten ein verkümmertes Gezwitscher, einen Mischmasch von Piepen und Gezirp. „Tschell, bell, dill! Zip, zip, schip, dell!“ so hämmert es aus den rauhen Kehlen der dickschnäbeligen Geschöpfe. Der Philister Spatz singt, oder vielmehr, er giebt sich den Anschein, als ob er ein Singvogel wäre. Aber bald macht diese pseudomusikalische Frühlingsanwandlung einer andern Laune Platz, die aus den Charakter unseres Helden ein bedenkliches Licht wirst. Statt mit Piepen beginnen sich seine Kiefer mit Picken zu beschäftigen, und das Opfer sind die Blüthen- und Blattknospen seiner Umgebung; eine um die andere verfällt den unbarmherzigen Beißmuskeln des derben Gesellen. Und es ist nicht einmal Nahrungstrieb, was ihn dazu verführt: es ist ein muthwilliges, unartiges Spiel, der reine Baumfrevel Wie könnte der Kerl sonst die abgebissenen Knospen, kaum daß er sie zwischen den [425] Kiefern hält, übermüthig zu Boden werfen! Wohl hat man geglaubt, der Sperling suche in solchen Fällen nach Insektenlarven und -eiern, aber genauere Beobachtung hat gelehrt, daß das nur Schein ist, denn keine Spur von Kerf-Resten zeigt sich in dem Mageninhalt der verschwenderischen Knospenvertilger.

Haussperlinge.
Nach einer Zeichnung von Adolf Müller.

Noch sind wir mit der Betrachtung der Gruppe auf dem Obstbaum beschäftigt, da fährt urplötzlich in das Gezweig der Nachbarbäume ein Haufe von Spatzen, die sich mit lautem Gezänk in einem Knäuel herumbalgen und denen sich im Nu auch einige von der Gesellschaft des Obstbaums zugesellen. Mitten in dem Wirrwarr von männlichen Sperlingen bemerken wir ein weibliches Exemplar, das sich seiner Haut verzweifelt wehren muß, denn von allen Seiten wird es gezerrt und gerupft daß die Federn stieben, Das ist – sollte man es denken – das Liebeswerben der Sperlinge! Auch hier erweisen sie sich als derbe, ungeschlachte, rohe Geselle. Plump und täppisch benimmt sich der Spatz vor der blaßgrauen Genossin, die er endlich gefunden, und wie in der Minne, so zeigt das Paar auch bei der Nestbereitung ein ungeschicktes linkisches Wesen. Da schleppen beide Gatten in unbehilflichem Flatterfluge wahllos aufgerafftes Geniste, darunter oft meterlange Strohhalme, nach der Spalte im Dachfirst oder nach dem Mauerloche, das sie sich zur Wohnung auserkoren; [426] unordentlich häufen sie dort die Baustoffe aufeinander und lassen sie obendrein noch liederlich in langen Enden heraushängen. Kaum haben sie dann durch einiges Drehen und Wenden dem Haufen eine flache Mulde gegeben und das Innere mit Garn, Zwirn oder dergleichen aus dem Hauskehricht oder mit Federn, die sie aus andern Nestern gestohlen oder Schwalben abgejagt haben, leidlich ausgestopft, so ist der Bau schon fertig. Hin und wieder wandelt den Sperling wohl die Sucht an, auch seinerseits als Baukünstler zu prahlen; er häuft dann einen unsauberen Klumpen von allerlei Zeug in den Zweigen eines Baumes zusammen. Aber weit häufiger siegt in ihm die Bequemlichkeit und er wird dann einfach zum Räuber an der Schwalbe. Als schlauer Gauner wartet er, bis die fleißige Arbeiterin das Gemäuer der Nestwand bis auf eine Oeffnung vollendet hat, die seinem beleibteren Körper noch hinlänglich Raum zum Einschlüpfen bietet, setzt sich ins beinahe fertige Nest und lauert hinterlistig, bis die emsige Künstlerin ebenfalls hereinschlüpfen will. Dann packt er sie mit seinem groben Schnabel und läßt sie eine Weile jämmerlich vor dem Flugloch zappeln, so daß sie den Muth zur Wiederkehr verliert. Der freche Unhold aber freut sich seines Raubes und macht sich breit im fremden Eigenthum.

Bald, oft noch im März, sind aus dem Gemisch des außerordentlich mannigfaltigen Geleges vier bis sechs junge Spätzchen geschlüpft. In der ersten Zeit des Ehelebens und der Familiensorgen nun lenkt auch unser Sperling in die Bahn einer ökonomisch nützlichen Beschäftigung ein. Man sieht ihn jetzt suchen auf den Gartenbäumen und u. a. die schädlichen Räupchen des Frostspanners aus den zusammengerollten Gespinstblättern herausklauben, auch weiterhin seine Jagd auf Kerfen aller Art in Garten, Wiese und Feld ausdehnen. Aber leider dauert dieser lobenswerthe Eifer nicht lange. Sobald die Jungen befiedert sind, wenden sich die Alten anderen Fütterungsmitteln zu, vor allem ihrer Hauptnahrung, den Körnerfrüchten. Bequemlichkeit ist unter allen Umständen die Losung des Haussperlings. Die Federviehhöfe, die Fruchtböden, Mälzereien, die Plätze mit dem Abfall der Metzgereien, das alles sind Erntefelder, deren Plünderung unser Lumpaci-Vagabundus der mühsamen Kerfjagd bei weitem vorzieht. Dieser Hang zur Bequemlichkeit im Aufsuchen der Nahrung für die Jungen macht sich bei der zweiten Brut Ende Mai in verstärktem Maße geltend, und gar bei der dritten vermag die genaueste Untersuchung der Mägen alter Sperlinge nur äußerst wenig Kerf-Reste zu entdecken.

Daß der Spatz eine lange Pflege seiner Sprößlinge nicht liebt, versteht sich nach dem Gesagten von selbst: auch sie wird ihm auf die Dauer zu unbequem. Die jungen Spätzchen dagegen zeigen ebenso natürlich als die getreuen Erben des elterlichen Geistes das Bestreben, den behaglichen Zustand des langen Verbleibens im Neste möglichst lange auszudehnen. Da kann man denn die pfiffigsten Anschläge der Alten beobachten, die ihre Nachkommenschaft um jeden Preis zum Verlassen der heimischen Niststätte bewegen möchten. Sie lassen die Brut eine Zeit lang darben, nähern sich dann mit den ausgesuchtesten Leckerbissen, die Freßgier der Nestlinge aufs äußerste zu reizen, flattern hierauf unter langgezogenen Locktönen in die nächste Umgebung, um hier das Locken noch eifriger fortzusetzen und wiederholt das verführerische Futter anzubieten. Endlich treibt der Hunger die Sippschaft aus den Löchern, und siehe da, das junge Volk vermag bereits den nächsten Baum, das nächste Dach flatternd zu erreichen. Will aber der beschriebene Kunstgriff allzu lang nicht wirken, so brauchen die Herren Eltern, wie von uns mehrfach beobachtet worden ist, einfach Gewalt. Sie packen ein Junges um das andere und zerren es aus dem Neste.

Da sitzt nun die hoffnungsvolle Schar im Spatzenschlaraffenland! Mit unheimlicher Geschwindigkeit wächst sie heran und vermag bald den Alten überall hin zu folgen. Die Schule der Erfahrung beginnt, eine wahre Gaunerabrichtung, und bald haben die gelehrigen Sprößlinge alle Schliche und Kniffe der Eltern los. Es geht hinaus auf die Straßen, in die Höfe und Gärten, vom Futter des Federviehs werden die Zehnten erhoben, die Abfälle der Küchen durchwühlt, die Beete der Hausgärten ihrer Sämereien beraubt, die Erbsenrabatten geplündert. Wenn die Kirschen reifen, ist unser Spatz gewiß mit seiner gesamten Sippschaft der erste auf dem Platze, um Auslese zu halten. Und so geht’s fort, die ganze liebe Sommers- und Herbstzeit von einem Obstsegen zum andern, und regelmäßig genießen die edelsten Sorten seine besondere Bevorzugung. Mit seinem harten Kegelschnabel pickt er die Frucht an, schluckt lüstern den herausfließenden Saft, um dann auch das Mark auszuhöhlen. In Flügen bis zu vielen Hunderten sammeln sich die Familien, deren junge Glieder indessen zu vollkommenen Ebenbildern der Eltern ausgewachsen sind, und fallen plündernd in die Fruchtfelder in der Nähe der Ortschaften. An dem noch nicht reifen Weizen wird angefangen. Unter dem Gewicht der aufsitzenden Vögel knicken die Halme zur Erde, die Aehren werden auseinandergezerrt, und oft fällt ein Viertel des Ertrags den wiederholten Raubzügen zur Beute. Was helfen da die abgestellten Wächter mit Flinten und Klappern. Höchstens wenn ein paar Kameraden, von Schroten getroffen, zu Boden gestürzt sind, verläßt das Gelichter die gefährliche Gegend, um einen anderen, unbewachten Acker heimzusuchen. Bloße Vogelscheuchen aber in Form von ausgestopften menschlichen Figuren erkennt der pfiffige Spatz sofort als ungefährliche Popanze, unbeirrt haust er rings um sie herum und hält dann wie zum Hohn auf dem ausgestreckten Arme des Schreckbildes Siesta. Wie dem Weizen, so spielt er auch dem Hafer, dem Hanf, der Hirse und dem Mohn mit.

Jetzt reift die Traube – und damit ist der Höhepunkt im Genußleben des Sperlings gekommen. Wie macht er sich's bequem im schattigen Versteck des Spaliers. Und ist es auch vom schützenden Netze überspannt, immer weiß er ein Loch, einen Eingang zu finden, um hinter die Maschen zu schlüpfen und da drinnen zu schlemmen und zu prassen bis er keucht vor Uebersättigung. Draußen aber in den Weingärten hausen seine Genossen in dichten Schwärmen, und auch hier vermögen die menschlichen Gegenmaßregeln sie nicht ganz und dauernd zu verscheuchen.

Selbst im Winter weiß der mit allen Einrichtungen menschlicher Betriebsamkeit Vertraute Rath. Jetzt ersieht er sich die Scheunen und Fruchtböden zum Tummel- und Futterplatz, dringt in die Vorrathskammern, geht an das Fleisch der Metzgerläden, an das vor den Küchenfenstern ausgehängte gerupfte Geflügel – und ist bei aller Frechheit doch so mißtrauisch und vorsichtig, wie nur der geriebenste Schlingel es fertig bringt. Tritt wirklich einmal in einem langen und strengen Winter Mangel und Noth auch an ihn heran, so bietet das menschliche Mitleid ihm, all seiner sommerlichen Spitzbübereien vergessend, die milde Hand und schafft ihm künstliche Futterplätze. Und nirgends tritt die gewaltthätige herrische Natur des Sperlings greller zu Tage als hier: mit bissigen Schnabelhieben verjagt er die anderen hungernden Vögel, so daß es dem Menschen oft schwer wird, den freundlichen Sängern des Lenzes ihren Antheil zukommen zu lassen. – –

Des Haussperlings naher Verwandter, der Feld- oder Ringelsperling, ist zwar im Aeußeren jenem ähnlich, aber kleiner und niedlicher von Gestalt. Die Färbung entspricht im allgemeinen der charakteristischen Spatzenfarbe, nur ist sie entschieden röthlicher und lebhafter als die des Haussperlings und der schwarze Kehlfleck kleiner und zierlicher. Die Seiten des Halses sind von einem weißen Halbring umgeben, woher der Name „Ringelspatz“ rührt, und auf den Flügeln erscheinen zwei Reihen weißer Binden.

Die Untugenden und das täppische plumpe Wesen treten bei dem Feldsperling nicht so schroff auf. Er ist geschmeidiger in Haltung und Bewegung, bescheidener und zurückhaltender in seinem Gebahren, kurz eine etwas verfeinerte Ausgabe seines derben Vetters. Schon mit Rücksicht darauf, daß er vorherrschend Kerbthiere, besonders Blattläuse vertilgt, verdient er mehr Anerkennung und Schonung. Er schädigt nicht das Obst und die keimenden Gartenpflanzen; nur seine Brut füttert er zeitweilig mit unreifem milchigen Getreide, und die Weizen- und Hirsefelder sucht auch er nach dem Vorbilde seines Vetters heim. Nichts ist bezeichnender, als daß selbst der stolze Patrizier Hänfling auf seinen Rundflügen im Herbste und Winter den artigeren Feldsperling wenn nicht in seinen Reihen, so doch in seiner Nähe duldet, während er den Tölpel Hausspatz niemals seiner Gemeinschaft würdigt.


  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1892, Nr. 41