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Phantasie (Lavant)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Phantasie
Untertitel:
aus: Der Wahre Jacob
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: J. H. W. Dietz
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Erscheinungsort: Stuttgart
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Quelle: Scan
Kurzbeschreibung:
Der Wahre Jacob, Nr. 60, Seite 474
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[474]

Phantasie.
von
Rudolf Lavant.

Ein stiller Herbsttag gießt Verklärungsschimmer
Auf bunten Wald und blumenlose Au.
Kein Wölkchen steuert, ein verlorner Schwimmer,
Durchs tiefe, dunkle, wunderbare Blau,

5
Und was da plötzlich, wie ein Wölkchen, oben

In scharfumriss’ner Kugelform sich zeigt,
Ist nur ein seidner Ball, von Gas gehoben,
Der rasch und stetig in die Lüfte steigt.

Tief unter ihm in wesenlosem Scheine

10
Die haßbewegte, leidenwunde Zeit,

Tief unter ihm das siegende Gemeine,
Tief unter ihm der Meinung wirrer Streit!
Entrückt dem Rauche und dem Dunst der Gassen,
Strebt unbeirrt, wie durch ein offnes Thor,

15
Verfolgt vom Jubelrufe dunkler Massen,

Zu ewger Klarheit siegend er empor.

Und dem Gedanken folg’ ich traumverloren
Und Stolz und Freude schwellen mir die Brust;
Ein Glied zu sein der Menschheit, die erkoren

20
Zu solcher Großthat, scheint mir Götterlust.

Wo stößt er sich an eine letzte Schranke,
Die zum Geständniß ihn der Ohnmacht zwingt,
Der ew’ge Funke in uns, der Gedanke,
Der in die Höhen, in die Tiefen dringt?

25
Und gleicht der Ball, dem die gewalt’ge Schwinge

Des Herrn der Luft, des kühnen Aars, geschenkt,
Dem Führer nicht, der mit Bedacht die Dinge
Und die Geschicke von Millionen lenkt,
Der zielbewußt und nur nach oben schauend,

30
Der Dumpfheit Fesseln abzuschütteln strebt

Und, seinem Stern und seiner Kraft vertrauend,
In kühler Klarheit der Betrachtung schwebt?

Nicht lange aber hab‘ ich so gesonnen,
Dann goß ich Wasser in des Stolzes Wein.

35
Am Boden hat im Stoppelfeld gesponnen

Ihr Netz ein Spinnchen schwarz und winzigklein.
Zum Stumpf verkürzt durch Sensenhieb die Halme
Um die das zierliche Gespinnst sich schmiegt,
Doch für die Spinne ragend wie die Palme,

40
Die über uns ihr Haupt im Winde wiegt.


Und von den Halmen löst in kühnem Wagen
Sie das Gewebe feucht vom Morgenthau;
Es treibt dahin, vom Wind emporgetragen,
Und silbern schimmernd schwebt es durch das Blau.

45
Zerreißt ihm wohl auf eines Berges Gipfel

Die feinen Fäden zackiges Gestein?
Verwirrt es sich in einer Tanne Wipfel,
Weht es der Wind in einen Teich hinein?

Auf solchem Fahrzeug, das ein Spiel der Winde,

50
Dem eine Lache Weltmeer ohne Grund,

Für das zum Sturme wird der Hauch, der linde,
Der friedlich kommt aus eines Kindes Mund,
Auf solchem Fahrzeug steuert, stille liegend,
Das arme Spinnchen hilflos, schwach und klein,

55
Die meilenweiten Lande überfliegend,

Gelass’nen Muthes in die Welt hinein!

Es thut uns gut, dergleichen zu bedenken,
Wenn uns der Stolz wie süßer Most berauscht,
Uns in die Welt des Kleinen zu versenken,

60
Wenn unsre Segel rascher Dünkel bauscht,

Und nicht dem Ball, von dem in eitlem Sinne
Die ganze Stadt drei volle Stunden sprach,
Ich sah der kleinen, unscheinbaren Spinne
Auf ihrer Fahrt ins Ungewisse nach.