Pfingstgebräuche im Thüringer Walde
Tausende und Abertausende wanderlustiger Menschen verlassen zu Pfingsten die Großstädte, und Dampfzüge über Dampfzüge rollen in die weite Ferne, um die Pfingstfahrer der freien Natur, den grünen Bergen, die im frischen Lenzschmuck prangen, zuzuführen. Auch Thüringen wird als dann von einem Strome wanderfroher Ausflügler überflutet, und wenn nur der Himmel einigermaßen ein Frühlingsantlitz zeigt, dann preisen tausend Zungen den unbeschreiblichen Zauber der Pfingsttage im grünen Thüringer Walde. Selbst der eingeborene Thüringer kann sich diesem Zauber nicht entwinden, und wie abhold der Geist der Neuzeit allen alten Volkssitten und Gebräuchen auch sein mag, tief im Walde hält noch der Thüringer an allerlei Veranstaltungen fest, welche den Reiz und die Weihe der Pfingsttage erhöhen, aus welchen blühende Frühlingsfreude uns entgegenlacht.
Wie der Wanderer in diesen Tagen die Heckenrose, den blühenden Zweig am Hut festnestelt, wenn es um ihn singt und duftet und leuchtet in berauschendem Ueberschwang; so sind diese uralten Pfingstgebräuche auch gleichsam durchwoben mit dem Grün, das in unerschöpflicher Fülle und Pracht die hochzeitliche Erde schmückt und dem armseligsten Fleckchen einen stillen Schimmer von Glück verleiht.
Eine der lieblichsten und rührendsten Sitten, denen ich noch im Thüringer Walde, vor allem in den Siedelungen und Städtchen der nordöstlichen Waldsaumstraße, begegnet bin, ist das pfingstliche Ausschmücken der öffentliche Laufbrunnen. Daß das Götzendienst und Heidenbrauch einst war – wer denkt heute noch daran? Welches von den Kindern, die diesen Kultus heute noch alljährlich üben, weiß etwas von den Quellnymphen und segenspendenden Göttern der Erde, denen die alten Germanen einst zur Frühlingsfeier an den Brunnen opferten, damit ihnen das köstliche Naß niemals versiege?!
Schon wochenlang vorher gehen Kinder von Haus zu Haus, um mittels Einschreiblisten kleine Beiträge einzusammeln, die nötigen Kosten des Brunnenschmuckes damit bestreiten zu können. Ausgeblasene Eier werden zierlich bemalt, Ketten von buntem Papier geklebt, Gewinde von Fichtenlaub hergestellt, Kränze gebunden und solche mit Bildern oder einem Bogen Papier ausgeflickt, auf dem ein kurzer Pfingstgruß, wohl auch ein selbstgereimtes Gedicht seinen Platz findet. Bandschleifen, Fähnchen vollenden dann den Schmuck.
Am Pfingstheiligabend bilden sich um die öffentliche Brunnen starke Gruppen von Kindern und Erwachsenen. Vier schlanke Lärchenbäume, ihrer unteren Zweige beraubt, werde zu Seiten der Brunnen im Viereck eingerammt. An und zwischen ihnen werden dann die Ketten und Gewinde von Grün, Eiern und Papier angebracht, die schwebenden Kränze befestigt, die Fahnen festgebunden. Und man steht herum, freut sich der vollendeten Arbeit und hält dann eine Wanderung von Brunnen zu Brunnen.
Die Glocke läute das Fest ein, Schwalben wiegen sich zwitschernd in der Abendglut, aus den Gärten quillt der Duft von Flieder und Weißdorn, Wanderer schreiten zum Gebirge, da und dort kehrt noch ein reisigbeladenes Mütterchen aus dem Walde heim – reingefegte Straßen, Kindergesang und Kinderlachen – deutsche Kleinstadtpoesie! – –
In einigen Walddörfern, so in dem prächtige Winterstein, herrscht auch noch die Sitte der „Pfingstbräute“. Am zweiten Pfingstmorgen machen sich die Mädchen der Dorfschule auf und ziehen in kleinen Trupps, fünf bis sechs Kameradinnen gewöhnlich, singend von Haus zu Haus, freundlich verabreichte Gaben einzusammeln. Vor jedem Hause schließen die Mädels dann einen Kreis um die Pfingstbraut und lassen dabei ihre Pfingstbrautlieder ertönen. Letztere stellen ein zuweilen fast sinnloses Gemisch altheimischer Liebeslieder dar, die in ziemlich eintönigen aber doch rhythmischer Weise zum Vortrag kommen. Ungefähr vier Lieder wechseln dabei untereinander. Ehemals trugen die Pfingstbräute – entsprechend dem Feste und seiner Zeit – einen Kranz frischgepflückten Birkengrüns. Leider ist diese poetische und sinnige Zier mehr und mehr verdrängt worden. Nur die Armen halten noch daran fest. Die mehr Bemittelten tragen heute Kronen von Perlen und künstlichen Blumen mit bunten Tüchern und lang herabwallenden Bändern, welche fast die ganze Gestalt bedecken.
[365] Zu den echt thüringer Pfingstgebräuchen zählen ferner die auch sonst vielverbreiteten Maienfeste, welche sicherlich ein Ueberbleibsel der fröhlichen Veranstaltungen altheidnischer Frühlingsfeier darstellen. Vor der Dorfschenke oder auf dem Gemeindeanger wird der gewaltig und schlank wie ein Mastbaum aufragende Maienbaum aufgepflanzt. Er bildet nicht nur ein lockendes Ziel für alle kühnen Kletterer, die droben in der Krone des fast spiegelglatt abgeschälten Baumes hängenden Gewinne zu erringen – Taschentücher, Tabakspfeifen, mit geringem Inhalt gefüllte Geldkatzen –, er ist auch der Mittelpunkt der Stätte, auf der, periodisch wiederkehrend, die bäurischen Künstler irgend ein Volksstück mit heimatlichem Inhalte zur Aufführung bringen. Irgend ein dörflicher Dichter hat in seinen Mußestunden dieses ‚Drama‘ einmal zurechtgezimmert. Sein Inhalt ist mit Vorliebe der glänzenden Geschichte thüringer Sagen- und Landgrafenzeit entnommen. Ludwig der Springer, Ludwig der Eiserne, wie der Schmied von Ruhla sind Lieblingsgestalten. Auch der „sächsische Prinzenraub“ oder eine Episode aus dem Kriege von 1870 findet immer wieder lebhaften Anklang.
Der Vorwurf der „Meiningerei“ bleibt freilich diesen Volksaufführungen erspart. Weder im Kostüm noch in der Sprache legt man sich irgendwie beklemmende Fesseln auf. Aber dafür geht es höchst lustig her. An Jubel und Beifall mangelt es nie. Die Bühne ist der Anger, Coulissen und Hintergrund bilden die zusammengelaufene Schar Schaulustiger, die Dorfhütten und weiter hin die grünen, sonnbeglänzten Waldberge. Auch der Hanswurst der italienischen Komödie fehlt bei diesen Maienfesten nicht, wie schwer seine Zugehörigkeit zu dem Inhalt des Stückes auch zu beweisen bleibt. Diese „lustige Person“ erscheint gewöhnlich auf einer Kuh reitend, rückwärts, den Schwanz als Zügel führend. Natürlich giebt’s auf diesem Pfingstfeste auch Bier, Rostbratwurst, Musik und Tanz, ohne welche ja ein echt thüringer Volksfest undenkbar wäre.
Mit dem Pfingstfeste tauchen auch die sogenannten „Laubmänner“ auf, deren Herkunft und Bedeutung mir allerdings bis heute ein Rätsel geblieben ist. Sie beleben für die nächsten paar Wochen das öffentliche Bild. Es sind zumeist halbwüchsige Burschen, die vom Kopf bis zu den Füßen vollständig in frisches Laub gehüllt erscheinen, so dicht vermummt, daß weder Gesicht noch Hände sichtbar werden. In der Rechten halten sie eine Gerte, mit der sie nach allen Seiten in die lachend auseinanderweichende, jugendliche Menge tapfer Schläge austeilen. Hinter irgend einer Hecke, irgend einer Thür purzeln sie plötzlich hervor, wie aus der Erde gewachsen. Kaum sind sie in die Erscheinung getreten, so beginnt die wilde Jagd. „Laubmann! Laubmann!“ tönt es von allen Seiten. Dann tollt der immer mehr anwachsende Haufen über Markt und Gassen, bis der müde gewordene grüne Unhold irgendwo wieder den Blicken entschwindet.
Althergebracht ist auch ein Spaziergang zu Pfingsten in aller Morgensfrühe. Man will da gleichsam die Natur in ihren ersten Atemzügen des Erwachens belauschen. Oft wenn es noch graut, wandert man in die grünen Berge hinein. Da rauscht es noch einmal so feierlich; die Vöglein beginnen ihre Sinfonien, über das tauige Gras der stillen Bergmatten schreiten Hirsch und Reh, während im Osten höher und höher das lichtbringende Tagesgestirn aufsteigt. Was wäre dem Thüringer wohl mehr ans Herz gewachsen als sein Wald, sein prächtiger, unübersehbarer, immergrüner Wald?!
Wen es aber zu Pfingsten doch etwa daheim hielt: acht Tage später, am Trinitatisfeste, da läßt es keinen echten Thüringer in seinen vier Pfählen, da zieht es ihn magnetisch hinaus in die prangende Natur. Das ist ein Tag im Jahr, wo auf allen Wegen und Stegen helle Kleider blinken, frohe Menschenstimmen schallen, wo es lebt und webt im Walde, drunten auf bequemen Wegen, droben zwischen Gestein und Tannicht, auf Matten und an Berghängen hin.
Gilt’s dem einen Teil auch nur, Waldluft und Freiheitshauch zu genießen, ein anderer Teil, der stillere von beiden, zieht aus, der alten guten Sitte gläubigen Herzens folgend. Denn an diesem Tage gilt es, heilkräftige Wurzeln und Kräuter, Zweige und Pflanzen einzusammeln. An diesem Tage ist die blühende Natur gesegnet mit doppelter Kraft, und was man heute pflückt, hat vermehrte geheime Gabe, Krankheiten und Gebrechen zu heilen. Darum nennt auch der pflanzenkundige Thüringer diesen Tag nicht mit kirchlichem Namen. Ihm ist er seit langer, langer Zeit der „Goldene Sonntag“.
Dieser Glaube hat sich noch bei Vieltausenden erhalten. Gläubig sammelt man daher an diesem Tage, was man für den Hausbedarf, des Leibes Schmerzen und Ungemach für nötig erachtet. Wenn dann der Winter draußen auf den Bergen wohnt, tief verschneit Wege und Stege liegen, der Schneesturm an den Fensterladen rüttelt, dann sitzt es sich gut im kleinen, scharf geheizten Stübchen.
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Die Hausindustrie beschäftigt alle Hände.
Auf der Ofenbank aber sitzt Großmutter und schlürft behaglich ihren Waldkräuterthee. Mag immerhin das junge Volk lachen. Sie weiß es besser, das Mittel hilft doch; denn sie glaubt daran. Und während die Alte den aufsteigenden Würzeduft einatmet, ruft ihr die Erinnerung den vollen Zauber des „Goldenen Sonntags“ vor die Seele.
Sie hört die Wälder rauschen. Vogelsang mischt sich mit Quellengemurmel. Der Himmel blaut, es duftet und grünt und blüht, und über alles schüttet die Sonne Ströme goldigen Lichtes aus. Solch Erinnern belebt.
Pfingszeit – Jugendzeit! Selige Tage des Hoffens und Glaubens!