Zum Inhalt springen

Pestalozzi (Die Gartenlaube 1896/2)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Theobald Ziegler
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Pestalozzi
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 21, 28, 30–31
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[21]

Pestalozzi unter den Waisenkindern von Nidwalden.
Nach einer Originalzeichnung von E. Klimsch.

[28]

Pestalozzi.

Zum 12. Januar 1896.
Von Professor Theobald Ziegler (Straßburg i. E.).
(Mit dem Bilde S. 21.)

Am 12. Januar feiern wir die 150jährige Erinnerung an den Geburtstag Pestalozzis. Die 150jährige! – sie begeht man nur in Ausnahmefällen, in weiteren Kreisen nur bei den allergrößten Menschen. Liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor? Gehört Pestalozzi zu unseren Allergrößten? Ich denke entschieden: ja!

Sieht man freilich auf das Leben des Mannes, so ist es ein Leben voll Enttäuschungen und ein Leben auch voll von Mißgriffen gewesen. Erst wollte er Theologie studieren, dann als Advokat dem unterdrückten Volke in seiner schweizerischen Heimat Hilfe und Rettung bringen, und schließlich wurde er Landwirt. Aber unpraktisch, wie er war, litt er auf seinem Gut, dem Neuhof bei Birr am Fuße des Brauneggberges, bald genng Schiffbruch: und als er hier inmitten aller seiner eigenen Not seinen wahren Beruf entdeckte und eine Armenschule gründete, mißlang auch das. Und ebenso folgte auf den großen und glücklichen Griff, den er mit seinem Volksbuch „Lienhard und Gertrud“ (1781) that, rasch wieder Rückschlag und Niedergang: die lehrhaften Fortsetzungen der Schrift fanden wenig Anklang und sein tiefstes Werk „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ (1797) hielten die meisten seiner Zeitgenossen, wie er selbst klagt, „für einen Gallimathias“; es schien, als könne und wolle ihn niemand verstehen.

Aber sein Tag sollte dennoch kommen! Noch bei seinen Lebzeiten erkannte man ihn in seiner ganzen großen Bedeutung unter allen Verhüllungen und Entstellungen des eigenen Mißgeschicks und des Mißerfolgs bei anderen, und es erkannten ihn, der nun ganz einfach und schlicht Schulmeister, nichts als Schulmeister werden wollte, gerade auch die edelsten und feinsten Geister seiner Zeit. Und daß es solche Männer damals auch im Rate der Völker und Fürsten gab, das ist sein und unser Glück gewesen. Erst war es sein Landsmann Stapfer, der Unterrichtsminister der verjüngten helvetischen Republik, der ihm zu Stans im Erzichungshaus der durch die Revolution und ihre blutige Niederwerfung zu Waisen gewordenen Kinder von Nidwalden die Gelegenheit verschaffte, zu zeigen, was er konnte, und noch vorher selbst erst zu lernen, was er wollte. Und Stapfer verlor auch dann den Glauben an Pestalozzi nicht, als auch dieses Unternehmen nach kurzem Bestand (vom Januar bis Juni 1799) scheiterte, sondern überwies ihm für die Fortführung seines Werkes die Hintersassenschule zu Burgdorf, die nun der Baum wurde, „dessen Aeste sich über den Erdkreis ausbreiten und unter dessen Schatten die Völker der Erde ohne Ausnahme ruhen“ sollten.

Wichtiger jedoch als das Schicksal der Pestalozzischen Anstalten erst in Burgdorf, dann in Münchenbuchsee und Yverdon, die nach raschem Aufblühen bei der völligen Regierungsunfähigkeit Pestalozzis und den beständigen Streitigkeiten unter seinen Mitarbeitern immer wieder dahinsiechten und dem Untergang verfielen, ist für uns heute und hier ein anderes – die Verpflanzung der Pestalozzischen Ideen nach Deutschland und der Einfluß, den sie auf uns geübt haben und immer noch ausüben.

Und so denken wir zuerst an das, was Pestalozzi dem deutschen Volke in seinen schwersten Stunden – nach der Schlacht von Jena – gewesen ist. Auch da war es ein Staatsmann, der größten einer, der Freiherr vom Stein, der zur Wiederaufrichtung Preußens aus tiefem Fall und zu dem großen Kampf, den er gegen die Gewaltherrschaft Napoleons vorbereitete, auf diesen „Schulmeister“ zurückgriff und in seinem Werk und Wirken das Mittel zur Rettung, die tiefste und gründlichste Hilfe in der Not erkannte; der Gedanke, daß die Erziehung durch eine auf die innere Natur des Menschen gegründete Methode jede Geisteskraft von innen heraus entwickeln müsse, leuchtete ihm ein. Denn just das brauchte in diesem Augenblick das preußische Volk, die Entbindung aller geistigen und sittlichen Kräfte zur Selbsthilfe. Daher die Befreiung des erbunterthänigen Bauernstandes, die Einführung der Selbstverwaltung, die Wehrbarmachung des ganzen Volkes, und Hand in Hand damit die Idee der Pestalozzischen Pädagogik: die gesunkene Menschheit vom Verderben emporzuheben durch Weckung und Stärkung ihrer besten, echt menschlichen Kräfte, ihr zu helfen durch Erziehung zur Rettung aus eigener Kraft. Denn daß Pestalozzis Art zu erziehen in der That „die Selbständigkeit des Geistes erhöhe, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle der Menschen errege, das Leben in der Idee befördere und den Hang zum Leben im Genuß mindere und ihm entgegenwirke“, davon war dieser preußische Minister mit seinen hohen Gedanken von den sittlichen Kräften im Volk und Staat aufs tiefste überzeugt. Und in diesem selben Sinn hatte ja auch schon Fichte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ auf Pestalozzi hingewiesen und ihn mit Luther zusammengestellt als einen, an dem „die Grundzüge des deutschen Gemütes aufgezeigt und der erfreuende Beweis geführt werden könne, daß dieses Gemüt in seiner ganzen Wunder wirkenden Kraft in dem Umkreis der deutschen Zunge noch walte bis auf diesen Tag.“

Nun aber das ungeheure Glück, daß in diesem Augenblick auch das preußische Unterrichtswesen in die Hände von Männern gelegt werden konnte, die ebenso hoch und rein empfanden wie Stein und Fichte und darum Pestalozzis hohen und reinen Ideen dasselbe feine Verständnis entgegenbrachten wie jene: Nicolovius, der schon seit 1791 ein Freund Pestalozzis war, Süvern, der es jetzt wurde, und über beiden der neue Chef der preußischen Unterrichtsverwaltnng, Wilhelm v. Humboldt, der nun zeigen sollte, was die höchste individuelle Bildung, gestellt in den Dienst des Ganzen, für dieses wert sei und leisten könne. Und so wurde denn alsbald eine Reihe von jungen Männern, die Schulmeister werden wollten, von der preußischen Regierung nach Yverdon geschickt, um bei Pestalozzi zu lernen, wie man in den Kindern Kraft wecke und Kraft entbinde, wie man unterrichte und erziehe zugleich: und nach Königsberg berief man – freilich keine ganz geschickte Wahl – den Pestalozzianer Zeller, daß er dort ein Lehrerseminar und eine Musterbildungsanstalt nach der neuen Methode einrichte und in besonderen Kursen Geistliche und Lehrer in dieselbe einführe.

Es ist klar, daß an der Erhebung und an den Siegen Preußens in den Jahren 1813 bis 1815 die Pestalozzische Schule noch wenig Anteil haben konnte, aber es war doch derselbe Sinn und Geist, der in ihr waltete und der im Felde draußen die Schlachten schlug, der Geist eines sich seiner Kraft bewußt gewordenen und sie zur Selbsthilfe anspannenden Volkes. Das zeigte sich auch daran, daß die Pestalozzischen Ideen damals nicht beschränkt blieben auf die Neugestaltung der Volksschule, sondern dem Schul- und Bildungswesen überhaupt zu gute kommen sollten; auch auf den Universitäten und in den Gymnasien galt es, Kraft zu wecken, Menschen zu bilden und Menschen zu begeistern und mit Geist zu erfüllen!

Dieses großen Zusamenhangs zwischen allen den verschiedenen Stufen und Stätten wahrer Menschenbildung war sich Pestalozzi selbst am deutlichsten bewußt. In einem berühmt gewordenen Gleichnis hat er sich darüber ausgesprochen und den Mangel an einem solchen Zusammenhang als ein Grundgebrechen seiner Zeit beklagt. Das ganze Erziehungswesen, sagt er, „kam mir wie ein großes Haus vor, dessen oberstes Stockwerk (d. h. die Universität) zwar in hoher vollendeter Kunst strahlt, aber nur von wenigen Menschen bewohnt ist; in dem mittleren (dem Gymnasium) wohnen dann schon mehrere, aber es mangelt ihnen an Treppen, auf denen sie auf eine menschliche Weise in das obere hinaufsteigen könnten, und wenn etwa einige Gelüste zeigen, in ihrem Notzustand etwas tierisch in dieses obere Stockwerk hinaufzuklettern, so schlägt man ihnen, wo man das sieht, ziemlich allgemein auf die Finger und hier und da wohl gar einen Arm oder ein Bein, das sie bei diesem Hinaufklettern anstrengten, entzwei: im dritten unten (der damaligen Volksschule) wohnt dann endlich eine zahlreiche Menschenherde, die für Sonnenschein und gesunde Luft vollends mit den obern das gleiche Recht hat: aber sie wird nicht nur in ekelhaftem Dunkel fensterloser Löcher sich selbst überlassen, sondern man macht ihnen durch Binden und Blendwerk die Augen sogar zum Hinausgucken in dieses obere Stockwerk untauglich“. [30] Aber auch Wilhelm v. Humboldt sah in seinem Bemühen um die Gründung der Berliner Universität und in seinem Eintreten für die Einführung des neuhumanistischen Geistes in unsere Gymnasien nur eine besondere Anwendung dessen, was Pestalozzi für die ganze Volkserziehuug verlangte: Kraftentwicklung; und in dem von Süvern ausgearbeiteten Entwurf eines allgemeinen Schulgesetzes für Preußen fand die Forderung dieses Zusammenhanges zwischen den verschiedenen Bildungs- und Schulstufen ihren ganz bestimmten Ausdruck.

Als aber die Schlachten geschlagen und die Fremdherrschaft gebrochen war, da wurden allmählich die dunklen Geister in Deutschland Meister, von denen einer, der bekannte reaktionäre Staatsrechtslehrer Ludwig von Haller, über Pestalozzi schrieb: „Die Methode Pestalozzis sei dahin berechnet, den Zöglingen Gleichgültigkeit und Abneigung gegen die christliche Religion, Haß gegen alle natürlichen Oberen, Unzufriedenheit mit den sozialen Zuständen und revolutionäre Gesinnungen einzuflößen.“ Und so dämpfte man wie überall so auch hier den Geist und ließ das Beste von dem, was Pestalozzi gedacht und erstrebt hatte, unausgeführt. Allein die Schätze, die bei ihm zu holen waren, waren auch in dieser Verengung und Beschränkung noch groß genug; wenigstens in der deutschen Volksschule ging der Same, den er ausgestreut hatte, auf und trug reiche Früchte; Männer wie Dinter, Diesterweg und viele andere in allen deutschen Ländern und Staaten haben seinem Geiste hier den Weg gebahnt und zum Sieg verholfen. Seine Bedeutung lag nun bis auf weiteres darin, daß durch ihn die deutsche Volksschule einen Inhalt erhielt, der ihr bis dahin noch abgegangen war.

Die deutsche Volksschule ist nicht das Kind der Kirche – weder der alten katholischen des Mittelalters noch der jüngeren protestantischen der Reformationszeit, sondern sie ist eine Schöpfung des Staates. Wohl hat Luther auf die Notwendigkeit einer allgemeinen Schulbildung für alle, Arme und Reiche, Mädchen und Knaben, hingewiesen; aber zur Wirklichkeit wurde diese Forderung erst, als der Staat diese allgemeine Elementarbildung erzwang. Mit diesem staatlichen Schulzwang ging Weimar im Jahre 1619 allen anderen deutschen Staaten voran, Preußen folgte erst 1717 nach und das Generallandschulreglement Friedrichs des Großen mußte im Jahr 1763 die allgemeine Schulpflicht aufs neue einschärfen. Aber was helfen Schulen ohne den rechten Meister der Schule, ohne Lehrer, die Schule halten können? Was hilft der Schulzwang, ohne daß gleichzeitig von seiten des Staates für Lehrerbildung gesorgt wird? Auch das hat der Staat im 18. Jahrhundert als Pflicht anerkannt: 1732 wird in Stettin das erste preußische Lehrerseminar eingerichtet und unter Friedrich dem Großen fällt es der von Hecker gestifteten Realschule in Berlin zu, „die Landschulen in den Königlichen Aemtern mit guten Subjektis aus dem Seminario zu versorgen“. So war der Rahmen geschaffen, die Volksschule war da; aber sie hatte für ihren Unterricht noch keinen genügenden Inhalt und noch keine richtige Methode; die Bemühungen des wackeren Erbherrn von Rochow blieben infolge des Widerstandes der agrarischen Junker vereinzelt, und die Experimente der Philanthropinisten waren nicht auf die Volksschule berechnet. Durch Pestalozzi kam nun mit einem Schlage beides, Inhalt und Methode. In der Schrift „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801) deckte er die Gebrechen des bisherigen Unterrichtsbetriebes auf: das Buchstabenwesen, das Reden ohne Anschauung, „das Maulbrauchen und die Mauldrescherei“ – das ist es, „was die letzte Spur des Flammengriffels auslöscht, womit die Natur ihren Geist in unserem Busen zeigen will.“ Darum weg damit! Und im Gegensatz dazu weist er dann hin auf die Anschauung und Bethätigung der Sinne und verlangt überall das Zurückgehen auf Selbsterlebtes, Selbstempfundenes. Indem er sich aber bemüht, die elementarsten und natürlichsten Gesetze für den Gang des Unterrichts aufzufinden, glaubt er in Schall, Form und Zahl die von der Natur selbst anerkannten Ausgangspunkte aller Elementarbildung entdeckt zu haben. So wollte er die Erziehung – wie er selbst ungeschickt genug sagt: mechanisieren; richtiger hieße es: sie psychologisieren. Die zunächst sichtbaren Wirkungen dieser psychologischen Begründung der Unterrichtsmethode waren aber neben der Betonung der Anschauung in allen Fächern die Aufnahme von Gesang und Zeichnen in den Kreis der Schulfächer und die erstmalige sichere Fundamentierung des bis dahin noch fast völlig vernachlässigten Rechenunterrichts.

So wurde Pestalozzi der große Organisator der Volksschule, und durch den Anschluß an ihn wurde die deutsche Volksschule eine Pestalozzischule. Deshalb hat auch im Jahre 1846 vor allem die deutsche Lehrerwelt Pestalozzi gefeiert – als den großen Volksschulpädagogen. Das war nicht falsch; denn das war Pestalozzi. Aber es war zu eng; denn er war mehr; und es war zu wenig, wenn das Fest nur seitens der Volksschule und ihrer Vertreter begangen wurde. Damit verkannte man ja seine große Lehre von der Notwendigkeit des Zusammenhangs aller Schulen und Bildungsstufen, die er aufgestellt und die die preußischen Schulräte und Minister in der ersten Begeisterung so ganz begriffen und so freudig erfaßt hatten. Man verkannte sie aber deswegen, weil man das Tiefste in Pestalozzis Wesen und Wirken überhaupt nicht mehr begriff und ganz auch noch nie begriffen hatte, das Soziale.

Völlig zwar war auch diese Seite zu Anfang nicht übersehen worden; das bewies in der Schweiz die pädagogische Kolonie des Freiherrn von Fellenberg in Hofwyl, und bewies in Deutschland die Gründung der ersten Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder durch Johannes Falk im Jahr 1813. Als 1839 der Pcstalozzianer Fröbel den ersten Kindergarten einrichtete, da wirkte auch dabei das soziale Pathos mit; und daher war auch das Verbot dieser Kindergärten durch Preußen im Jahre 1851 nicht so gar verwunderlich, wenn es unter anderem damit motiviert wurde, daß dieselben sozialistisch seien. Darin lag doch eine ganz richtige Witterung von dem wahren Wesen des Pestalozzischen Geistes. Denn daran ist kein Zweifel: Pestalozzi ist erfüllt von sittlich sozialen Ideen, seine Pädagogik ist Sozialpädagogik, und man thut ihm kein Unrecht, wenn man ihn nicht nur um seines vernachlässigten und saloppen Aeußeren willen und wahrlich nicht um ihn zu tadeln – den großen Proletarier unter den Pädagogen nennt.

Und eben diesen, den Proletarier, den Bannerträger eines sittlich sozialen Geistes, feiern wir dieses Mal im Zeitalter der sozialen Frage, weil und soweit diese eine sittliche und eine Erziehungsfrage ist. Ihn jammerte des Volkes: das ist der tiefste Ausgangspunkt für seine pädagogische Reform; in diesem Sinn wurde er Sozialist mit einem Herzen voll Liebe und Hilfsbereitschaft, und als das einzige Mittel zu helfen erschien ihm eine Volkserziehung von unten auf und von innen heraus, bei der es galt, die gebundenen Kräfte zur Selbsthilfe zu entwickeln und zu entfesseln. Darum gründete er schon auf dem Neuhof seine erste Armenschule: mit den 50 Zöglingen derselben wollte er im Sommer das Gut bebauen und im Winter Baumwolle verarbeiten, und während der Arbeit und durch sie sollten dann die religiösen, ethischen und intellektuellen Kräfte dieser vernachlässigten Bettelkinder geübt und dieselben dazu erzogen werden, um „die Pflicht in ihrem ganzen Umfang über den Hang in allen seinen Richtungen herrschend zu machen“; die Liebe aber sollte der gute Geist des Hauses sein.

So fand er, der zunächst wohl nur daran gedacht hatte, seine Anstalt durch die Arbeit der Kinder aus sich selbst heraus zu erhalten, wie Saul, der ausgezogen war, um seines Vaters Eselinnen zu suchen, ein Königreich, das neue Reich einer wahrhaft sozialen Pädagogik; denn dabei ging ihm das Verständnis für den Wert der Arbeit und der Gedanke auf, sie für die Erziehung nutzbar zu machen und zu organisieren, als Idee, als die große Aufgabe und als der Leitstern seines Lebens und Wirkens. Durch Arbeit wird man erzogen zur Arbeit, durch sie werden alle physischen und psychischen, die intellektuellen und die moralischen Kräfte entwickelt und entfesselt: der Zweck der Verstandesbildung wird in der Arbeit gefördert, weil bei ihr Natur und Naturgesetz zu unmittelbarer Anschauung kommt, ein Selbsterlebtes und Erfahrenes wird. Und ebenso hat der sittlich soziale Gedanke vom Wert der Arbeit als einer Menschen verbindenden Macht in diesem Selbsterlebten seinen Ursprung. Nur denke man dabei nicht an etwas Großes und Besonderes, sondern ganz einfach an das Zusammenarbeiten der Kinder mit der Mutter im Haus. Die Mütter – in ihre Hände legt Pestalozzi die erste Bildung des Volkes! Die Wohnstube ist die erste Erziehungsstätte, durch die Mutter wird sie zu einem wahren Heiligtum; denn sie gleicht „der Sonne Gottes, die vom Morgen bis zum Abend ihre Bahn geht: dein Auge bemerkt keinen ihrer Schritte und dein Ohr hört ihren Lauf nicht; aber bei ihrem Untergang weißt du, daß sie wieder aufsteht und fortwirkt, die Erde zu erwärmen, bis ihre Früchte reif sind“. So wird durch ihr Walten das bloß äußerliche Thun der Arbeit [31] zu einem innerlich sittlichen. „Sie spinnen so eifrig, als kaum eine Taglöhnerin spinnt; aber ihre Seelen taglöhnern nicht“, heißt es von Gertrud und ihren Kindern. Dieser große Gedanke, daß man mitten in der schweren Arbeit des Tages vor allem müsse Mensch bleiben können, das ist wirklich der Schlüssel zur Lösung der sozialen Frage, das ist ihr sittliches Postulat!

Wie ganz erfüllt aber Pestalozzi von sozialen Ideen war, das zeigt sein Buch „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, in dem er seine Gedanken über Eigentum und Erwerb, über Regierung und Recht, über Staat und Religion, über Freiheit und Gesellschaft mit aller Kühnheit entwickelt hat. „Gehört,“ so fragt er hier, „unseren Mitmenschen, die mit gleichen Naturrechten wie wir geboren und den Besitzern der Erde mit gleichen Ansprüchen ins Angesicht sehen, gehört diesen Staatsbürgern, die jede Last der gesellschaftlichen Vereinigung siebenfach tragen, keine ihre Natur befriedigende Stellung in unserer Mitte? Fürchtet euch nicht, Besitzer der Erde, es ist hierin wahrlich mehr um Grundsätze als um Almosen, mehr um Rechtsgefühl als um Spitäler, mehr um Selbständigkeit als um Gnaden zu thun!“ Dabei klingt vieles revolutionär, aber stets handelt es sich um eine Revolution in den Ideen und Grundsätzen, um die sittliche Revolution des Menschen als Grundlage einer sozialen Reform der Einrichtungen. Wir aber begreifen nun, warum ihn damals so wenige verstanden und das ganze Buch für einen „Gallimathias“ angesehen wurde. Es war die Stimme eines Propheten, freilich damals noch eines Propheten in der Wüste.

Wir wissen aber heute allerdings auch, daß die Verhältnisse, aus denen heraus Pestalozzi redete, nicht genau mehr die unsrigen sind: er denkt vor allem an die Hausindustrie und daher kann er mitten in der Arbeit die Wohnstube zum Ausgangspunkt und die Mutter zur Mittlerin der neuen sozialen Erziehung machen. Heute ist die Hausindustrie fast völlig erdrückt von den Riesenarmen der Maschinenarbeit in den Fabriken. Aber sind dadurch Ziel und Aufgabe andere geworden? Oder gilt es nicht vielmehr noch jetzt und immer mehr jetzt, aus „Händen“ Menschen zu bilden und sie aufhören zu machen, auch geistig zu tagelöhnern? Und ist es nicht erst recht unsere Pflicht, die Mütter wieder zu Müttern werden zu lassen und sie ihrer Familie d. h. ihrer nächsten und höchsten Aufgabe zurückzugeben? Nur die Mittel werden heute vielfach andere, kompliziertere sein müssen. Gewiß würde Pestalozzi in vielen Veranstaltungen unserer Tage auf dem Gebiet der Gesetzgebung sowohl als der Erziehung Verwirklichungen seiner Ideale und Forderungen freudig begrüßen; aber er würde anderseits auch finden, daß noch immer zu viel Tagelöhnersinn und zu wenig Liebe in der Welt sei.“ Und in der Pädagogik würde er – darin hatte schon Fichte mit seinem Vorwurf recht – sich nicht darauf beschränken dürfen, nur den „äußerst vernachlässigten Kindern aus dem Volke die notdürftigste Hilfe zu leisten“, sondern er müßte auch oben Hand anlegen, weil auch in den beiden oberen Stockwerken viel zu einseitig nur an Berufsbildung und viel zu wenig an Menschenbildung gedacht wird und weil das Ideal der allgemeinen Elementarbildung, der wahrhaft allgemeinen Volksschule als einer Schule für alle, auch heute noch nicht verwirklicht ist.

Fraglos sind wir über Pestalozzi hinausgeschritten in der Technik der Volksschulpädagogik; da ist manches von dem, was er ersonnen hat mit heißem Bemühen, inzwischen veraltet. Obgleich auch hier zweierlei noch immer von ihm zu lernen ist: derselbe Mann, der sich hinreißen ließ, zu sagen, er wolle die Erziehung „mechanisieren“, hat allem Mechanischen entgegen die Liebe als den Grund und Kern aller Erziehung erkannt; und daß die Aufgabe der Volksbildung zu den schwierigsten und wichtigsten gehört, das wird von unserem heutigen Staat weder durch genügende finanzielle Aufwendungen, noch durch ausreichende Fürsorge für eine fortschreitende Hebung und Besserung der Lehrerbildung anerkannt; in beidem standen die leitenden Männer Preußens vor achtzig und mehr Jahren unter dem mächtigen Einfluß Pestalozzis höher als die meisten Regierenden von heute. Nicht hinausgeschritten aber sind wir, sondern eben jetzt wachsen wir langsam erst hinein und heran an das Centrum der Pestalozzischen Idee von einer wahrhaft sozialen und humanen Aufgabe der Erziehung. Wir haben sie erfaßt, aber noch nicht durchgeführt, überall sind es Forderungen, Ideen, Ideale, in Wirklichkeit aber höchstens erst Anfänge und Versuche.

Und darum ist es kein müßiges Rückwärtssehen und Ausruhen im stolzen Bewußtsein des schon Erreichten, wenn wir am 12. Januar Pestalozzis Andenken feiernd erneuern, sondern ein Gelöbnis mehr und ein ernstes Mahnen. Einst war er uns Deutschen der Mithelfer zur nationalen Erneuerung unseres Volkstums und Staates; dann wurde er der Begründer eines inhaltlich wertvollen und methodisch sich aufbauenden Kinderunterrichts; heute ist er einer der tiefgründigsten Führer bei unserem Bemühen um eine wahrhaft soziale Gestaltung der äußeren und inneren Formen unseres gesellschaftlichen Lebens. Sorgen wir dafür, daß ihn unsere Kinder und Enkel, wenn sie im Jahre 1946 den Tag aufs neue festlich begehen, gerade dafür zu segnen und zu feiern Grund haben!