Originale (Die Gartenlaube 1857/17)
Unter dieser Bezeichnung verstand man früher und versteht man wohl auch noch heute eine Gattung Menschen, die von ihren Nebengeschöpfen in Thun, Treiben und Denken bedeutend abweichen. Der Ausdruck ist nicht richtig, denn streng genommen sind wir Alle, wie wir da sind. Originale, wir mögen uns auch noch so sehr Muhe geben, schlechte Copieen zu sein. Gerade dieses Copiren Anderer ist wiederum etwas Originales, das heißt etwas Besonderes, uns als Individuum[WS 1] Anhaftendes, was freilich eine Menge Anderer mit uns gemein haben, aber immer nicht auf diese Art, wie wir es treiben. Millionen Blätter bewegen sich auf einem Baume und keines ist dem andern völlig glich. Doch immerhin, der Ausdruck ist nun einmal für die Sache gäng und gebe, so mag er denn gelten. Diese Originale nun sind heutzutage auf eine betrübende Weise selten geworden; kaum daß man noch hier und da, in irgend einem Winkel ein Exemplar entdeckt, das aber auch noch lange nicht die alten Prachtausgaben ersetzt, weit weniger noch sie überflügelt. Der Schreiber dieses hat aus seiner Jugend das Bild eines alten Herrn sich aufbewahrt, das für den psychologischen Curiositätensammler schon einigen Werth beanspruchen möchte. Hier ist der Mann.
Ganz oben an den finnischen Grenzmarken lebte in einem Städtchen am Anfang dieses Jahrhunderts ein Mann, den wir mit etwas umgeändertem Namen, denn die Familie blüht noch, Obrist Crollfuß nennen wollen. Obrist war er, hierin ist nichts verändert, und zwar hatte ihn die glorreiche Kaiserin Katharina, die er stets seine Imperatrice nannte, dazu gemacht. Er war klein von Wuchs, sehr behende in Bewegungen und Mienen, und erhielt sich, wie die Bewohner des Städtchens behaupteten, durch allerlei geheime Mittel sein schwarzes lockiges Kopf- und Barthaar bis in das Alter von achtzig Jahren. In eben so glänzendem Zustande befanden sich seine Zähne, und die Lebhaftigkeit und das Feuer seiner Augen könnte einem Jünglinge heutzutage willkommen sein.
Es ist bekannt, daß der Kaiser Alexander dem sächsischen Hofmaler Kügelgen den Auftrag gab, ganz Finnland zu bereisen, um Landschaftsbilder für die Gallerie der Eremitage in Petersburg zu malen. Bei dieser [240] Expedition befand sich der Erzähler und Biograph, der sich in dieser Skizze Dir vorstellt, lieber Leser, und zwar denke sein Haupt damals in Studentenmütze, und unter dem dreigefärbtem Bande auf der Brust schlug ein fröhliches Herz, das die Welt willkommen hieß und von ihr willkommen geheißen wurde. Das war alles ganz in der Ordnung. Wer mit einem Maler reist, braucht nicht dafür zu sorgen, daß er stets auf der Landstraße und in dem gehörigen gewohnten Reiseschlendrian bleibe; es war dies eine Reise im Zickzack, oder in’s Blaue hinein, wie man’s nennen will. Da gab es denn ganz prachtvoll schlechte Nachtquartiere, wahre Cabinetstücke von Unbequemlichkeit, einen Schmutz, ein wildes Durcheinander, das fast an geniale Ausgelassenheit streifte. Alles wurde ertragen, alles wurde erduldet. Ein Sonnenaufgang machte vieles gut, und vollends, wo die Phantasie im Schaffen begriffen, was kümmerte sich dann ein gequetschtes Bein, eine lahme Hüfte, ein hungernder Magen.
Wir hatten uns bis hinauf an die Grenze durchgearbeitet. Immer schöner wurden die Gegenden, immer erbärmlicher die Nachtquartiere. Endlich hielten wir es kaum länger aus, und schmachteten nach einer Flasche Bordeaux, wie Hagar in der Wüste nach Wasser. Siehe, da wandelte uns eines Morgens die besagte Flasche entgegen, in ihrer ganzen Lieblichkeit und Frische und zwar in der Tasche obenbesagten Mannes und Obristen. An einen Grenzpfahl gelehnt, das volle Glas in der Hand, die Flasche nebenbei auf der Steinbank, sah dieser Treffliche mit vergnügten Blicken in das Thal hinab, aus dessen Nebeln wir soeben emporstiegen. Wir grüßten und empfingen den Gegengruß. Eine Stunde darauf war das Band der Bekanntschaft schon so fest geschlossen, daß auf dem Boden der Flasche eine Einladung für uns lag, den liebreichen Mann in seiner Behausung zu besuchen und darin zu bleiben, so lange es uns gefallen würde. Wer war zufriedener wie wir. Ich bin der Obrist von Crollfuß, sagte der Mann, bin unverheirathet, bewohne eine Viertelstunde vom Städtchen ein Haus, das ich mir nach meiner Weise eingerichtet habe, und wo ich mit Vergnügen Herren – wohl verstanden, nicht Damen – aufnehme, die ein Absteigequartier suchen, und denen mit dem häßlichen kleinen Gasthause im Städtchen übel gedient wäre. Kommen Sie, meine Herren, wir wollen geben, damit Sie ausruhen können, bevor Sie das Mittagsmahl einnehmen, denn Ruhe vor und nach der Mahlzeit ist eine Haupt- und Stammregel.
Ich will nun kurz erzählen, worin die Originalität des Obristen bestand. Erst die Kleidung. Es war der vollständigste Kinderanzug, den man sich denken kann, Jacke, Weste, Hose, alles in einem Stücke von grauer Leinwand, ein gleichfarbiges Mützchen mit weit hervorragendem Schild auf dem Kopfe, Schuhe und sehr saubere weiße Strümpfe. Es war ein altes Knäbchen, den Eindruck machte unser Mann; besonders komisch machte sich der Anzug von der Rückseite, wo eine Reihe Knöpfe vom Gürtel abwärts lenkte. An dem Gürtel hing ein Schlüsselbund, an dem ein Pfropfenzieher, ein Lederbecher, ein Tabaksbeutel und vieles Andere noch befestigt war, das mit einem Haken schnell angeheftet und wieder abgenommen werden konnte. Als wir unsern Mann fanden, lag der Schlüsselbund im Grase. Wir gingen eiligen Schrittes, denn unserem Führer, so wie uns, lag viel daran, bald unter Dach und Fach zu kommen, denn die Sonne fing an, ihre Mittagsgluth zu versenden. Der Eingang des Hauses bot nichts Ungewöhnliches; es war ein Landhaus ohne Säulen in einem zweckmäßigen einfachen Style erbaut. Unsere Zimmer lagen nach dem Garten hinaus und waren ganz geschaffen zu Schlaf- und Ruhegemächern, denn es herrschte eine tiefe Stille im weiten Umkreise des Hofes und des Gartens. Zu dem frugalen Mittagsmahle hatten sich ein paar Gäste aus dem Städtchen eingefunden, mit diesen spielten wir Schach, während der Hausherr seine Geschäfte besorgte; gegen Abend saßen wir in dem offenen Vorplatze und nahmen den Thee ein, den der Hausherr selbst bereitete. Hier war nun die Stunde des Plauderns gekommen und unser Obrist, nachdem er erfahren hatte, welche Art Leute wir waren, stand nicht an uns mitzutheilen, welche Schule ihm das Leben gewesen. Dabei kamen nun allerdings viele seltsame Aussprüche zu Tage, die aber hier mitzutheilen zu weit führen würde. Wir wollen vielmehr das Ganze des Bildes zusammenfassen. Ohne Begabung und Liebhaberei für den Militärdienst war der eben erst zum Jüngling gereifte Knabe in ein Militairinstitut gethan worden, und hatte dort sechs Jahre unter beständigem geistlähmenden Drucke aushalten müssen. Als Officier entlassen, machte er das wilde Leben der jungen Männer der Hauptstadt mit, jedoch ekelte es ihn bald an. Er trug um seinen Abschied an, allein die Kaiserin selbst, deren Gunst er erworben, bewog ihn, zu bleiben, und schenkte ihm einen reich mit Diamanten besetzten Ehrensäbel. Sie wollte noch mehr für ihn thun, sie trachtete danach ihn zu verheirathen, und zwar mit einer ihrer Hofdamen, die Schönheit, Rang und Vermögen hatte, aber da entwickelte der Widerspenstige seine ganze Energie. Er stürzte sich durch seine Weigerung in Ungunst, verlor seine Stelle und begab sich nun auf Reisen. Als er zwölf Jahre, der Himmel weiß wo, gesteckt hatte, denn aus Furcht, man könnte ihn einfangen und wieder zurückbringen, ließ er sich nirgends sehen, kehrte er in sein Vaterland zurück, wo er sein natürliches Erbe in Besitz nahm. Unterdessen war die Kaiserin gestorben; die Verhältnisse hatten sich in so weit geändert, daß er nichts mehr für seine Sicherheit zu fürchten brauchte; doch war ihm die Welt und alles weltliche Treiben so sehr zuwider, daß er, es koste was es wolle, in dem eigenen Vaterlande als ein Fremder, Ungenannter und Ungekannter leben und sterben wollte.
Der Zufall entschied für jenes entlegene Grenzstädtlein und so langte er als ein dreißigjähriger Mann daselbst an und er war nahe an Siebenzig, als wir ihn kennen lernten. Fünfunddreißig Jahre hatte er demnach hier wie ein Einsiedler gelebt. Er vereinigte fast alle Gewerbe und Kunstbetriebe in seiner Person; er war Schreiner, Schuster, Schneider, Drechsler, Maler, Gärtner, Arzt und Apotheker, und zwar hatte er es in einigen dieser Zweige zu einer ungewöhnlichen Geschicklichkeit gebracht. Der Anzug, der ihn umhüllte, war von ihm selbst erfunden, zugeschnitten und umnäht, die Knöpfe daran hatte seine Drehbank geliefert, die Schuhe waren von ihm, wenn auch nicht gemacht, doch verbessert; nur Halstuch, Hemde, Strümpfe und Hut waren aus den Kaufläden. Handschuhe zu tragen, hielt er für eine Verweichlichung; den Bart ließ er wachsen, doch nicht übermäßig lang. denn häßlich wollte er nicht sein, und eine Karrikatur wollte er auch nicht vorstellen. In Rohheit und Schmutz untergehen, war nicht seine Sache, im Gegentheil, er konnte für einen zierlichen, in seiner Art geputzten alten Herrn gelten.
War er wegen seiner Apotheke und seiner Recepte bereits mit der medicinischen Facultät in Streit gerathen, so verfiel er in noch ärgeres Zerwürfniß mit den Theologen, als er auf den Einfall kam, eine Kirche zu bauen nach seiner Art, und die Leute einlud, in diese Kirche zu gehen, um daselbst ihre Andacht zu verrichten. Er selbst war nach der damals herrschenden Schule der Encyklopädisten gebildet, und setzte als das Höchste einen Naturdienst fest, der aber dabei nicht ohne ethische und selbst religiöse Elemente war, nur daß diese dem Blicke des oberflächlich Betrachtenden nicht sogleich in die Augen fielen. In dieser benannten Kirche stand auf dem Altar statt des üblichen Bildes eine große Tafel, auf der die Worte geschrieben standen: „Seid thätig, hülfreich, mitleidig, lebt mäßig, hofft und erwartet dafür keine künftigen Belohnungen, und ihr werdet keinen Fürsprecher nöthig haben.“ Mit kleiner Schrift hatte der Oberst die Worte unten hinzugesetzt: „Ihr Hallunken! es ist euch wohl bequem, eure Laster und Schandthaten, eure Faulheit und Liederlichkeit einem Andern aufzuladen, der’s für euch ausbaden soll! Aber so darf es nicht sein!“ – Obiger Spruch und die Nutzanwendung unten wurden beide von der Hand der Kircheninspection ausgelöscht. Die Kirche selbst war eine geräumige Halle, freundlich und hell und mit Tischen versehen, auf denen Erfrischungen gereicht wurden, natürlich unentgeltlich. „Denn,“ sagt der Oberst, „der liebe Gott ist ein gütiger Gastgeber; er trifft’s immer mit seiner Speisekarte auf’s beste, und wenn ein armer Teufel den weiten Weg gemacht hat, so ist’s lieblich und löblich, daß der Herr, den er zu besuchen kommt, ihn speise.“ Auch die Gastgeberei in der Kirche wurde untersagt. Es blieben nur die gemeinnützigen Vorlesungen, wie man dem Obersten seine Predigten zu nennen befahl. Nämlich er ging selbst in die Kirche, stellte sich an einen beliebigen Ort hin und trug den Leuten Gesundheits- und Verhaltungsregeln vor, machte sie auch damit bekannt, wie sie Processe vermeiden und mit ihrem Nachbar in gutem Frieden leben könnten. Man durfte ihm Einwände machen, zu einem langen Disput durfte es aber nie kommen. Seine Moral kleidete er in lustige Geschichten, in Erzählung von Abenteuern aus seinem Leben. Oft war die Kirche drei, vier Tage hintereinander geöffnet, dann wieder wochenlang geschlossen. „Denn,“ sagt der Oberst, „man muß den geistigen Acker auch oft brach liegen lassen, dann, zur guten Stunde, trägt er doppelt und gehaltvollere Früchte. Es gibt einen Geist, der sich freiwillig gibt und einen, den man durch künstliche Mittel herauspurgirt.“
Im Hause des Obersten gab es ein Gemach, das gleichsam das Allerheiligste des Hauses war und dieses Zimmer hieß „der Tempel der Wandlungen.“ Hier gab es eine originelle Zusammenstellung. In fünf Nischen waren fünf besondere Schaustellungen angebracht, die alle fünf zusammen gleichsam eine Geschichte der Lehre, der unser Freund ergeben war, darstellten. Er hatte sich selbst gewählt, um daran sein System, das seine Hoffnungen und seinen Glauben enthielt, klar zu machen. In der ersten Nische befand sich ein Sarg und in diesem lag ein Wachsbild, das ihn selbst im Tode zeigte. In der zweiten Nische war derselbe Sarg sichtbar, aber das Gebilde darin zeigte ein furchtbares Bild der Zerstörungen, die der Proceß der Verwesung anrichtet. Schlangen, Würmer, allerlei Gethier, täuschend dem Leben nachgemacht, durchkroch die zerfressenen Seiten des schon bald zum Gerippe gewordenen Leichnams. Man konnte nur mit Grausen auf diese Darstellung sehen; aber die darauf folgende Nische gewährte Trost. Ein Baum zeigte sich, mit Früchten beladen, der aus dem Grabhügel emporgewachsen war. Neben diesem Baum einige Kornähren, und zur Seite ein Bächlein, durch dessen klare Wellen Fische dahinglitten. Früchte, Aehren und Fische – sie alle waren Verwandlungen; sie trugen in ihrer Bildung Jedes etwas von jenem Leibe, der der Erde übergeben worden. In der vierten Nische saß ein Pärchen bei Tische; der junge Gatte legte der hübschen Frau vor von einem Gericht Fische, und auf dem Tische stand nebenbei ein Körbchen mit Aepfeln, ein anderes mit frischen Semmeln gefüllt. Die fünfte Nische endlich zeigte die Taufe eines neuen Erdenbürgers. Das Glied der Kette, das in das erste eingreifen sollte, war gegeben. Die Nutzanwendung und Erklärung konnte leicht Jeder sich selbst machen. Man sieht, noch lange vorher, ehe unsere neuen Chemiker die Lehre vom Stoffwechsel aufgebracht, hatte dieser einsame Sonderling sie schon praktisch sich zurecht gelegt und in instructive Bilder gebracht.
Ich muß bekennen, daß dieses Zimmer einen tiefen Eindruck auf mich machte, und ich bemerkte, daß es meinem Reisegefährten nicht anders erging. Wer konnte auch das Treiben dieses wunderlichen Mannes mit Gleichgültigkeit ansehen. Und nun ihn stehen zu sehen vor seinem eigenen Sarge, und ihn lächelnd ausrufen zu hören: „Wo sind sie, diese so gefürchteten Schrecken des Todes?“ konnte machen, daß man ihn lieb gewann. Sein Sterbliches wurde von der Natur genommen, um neues Leben daraus zu bereiten, sein Geist streute Saamen aus zum Wachsthum der Menschenliebe und Menschentröstung. Das war sein Fortleben.
Wir nahmen mit dankbarem Herzen von ihm Abschied. Einen solchen Mann nannte man damals ein „Original.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Inviduum