Onkel Fabian
Der Regierungsrath von Sieveringk saß in seinem elegant ausgestatteten und mit allen Bequemlichkeiten versehenen Zimmer vor dem Schreibtische, jedoch ohne zu schreiben, und schlürfte mit dem Behagen, welches nur ein Epikuräer zu empfinden vermag, seinen aromatisch duftenden Mokka. Es war schon zehn Uhr vorbei, aber noch herrschte die Stille der Nacht in seinem Haushalte, und er schien, außer der Bedienung, der Einzige zu sein, welcher von den Freuden der Sylvesternacht ausgeschlafen hatte.
Herr von Sieveringk, ein Mann von funfzig Jahren, noch [134] gut conservirt bis auf die Spuren einer schnell um sich greifenden Kahlköpfigkeit, ließ wahrscheinlich die Leiden und Freuden des eben beschlossenen Jahres an sich vorüberlaufen. Sie schienen überwiegend heiter und freudenvoll zu sein, die Gedanken, womit er den zurückgelegten Zeitraum recapitulirte, denn ein Lächeln lag auf seinen schmalen Lippen und Zufriedenheit leuchtete aus seinen Blicken. Bisweilen blitzte ein sarkastischer Strahl über das feine, blasse Gesicht, und es sah sich an, als ob er sich über irgend etwas freue, was er Böses angestiftet hatte.
Eine Viertelstunde mochte unter diesen Gedankenspielereien verflogen sein, als er draußen im Vorsaale eine Männerstimme fragen hörte:
„Mein Onkel schon auf?“
„Aha, mon cher Cécil,“ murmelte der Regierungsrath aufstehend, und wieder flog das Spottlächeln über seine Züge, blieb aber dieses Mal in den Mundwinkeln hangen. „Der kommt mir sehr gelegen – kann seiner douche nicht entgehen, die ich ihm seit gestern Abend zugedacht habe.“
Er wendete sich kriegslustig gegen die Thür, welche sich in diesem Momente öffnete, um einen jungen Mann einzulassen, der ein richtiges Abbild des Regierungsrathes war und somit als Stammverwandter sich ankündigte.
„Bon jour, mon cher Cécil, bon, jour!“ rief er dem Neffen entgegen. „Ausgeschlafen und restaurirt? Hast Dich tapfer auf dem Schlachtfelde des langweiligen Cotillons gezeigt und die Orden ritterlich verdient, die Dir von der Schönheit und dem Liebreize in Person demüthig geweiht wurden. Hoffentlich trägst Du den Ballast der Cotillonsgeschenke heute dicht auf dem Herzen? Nicht?“
Der junge Mann lachte zu dem Spotte seines Onkels und verneinte die letzte Frage. Aber sein Lachen erschien gezwungen und das Nachdenken, das auf seiner Stirn lag, widersprach dem Ausdrucke der äußeren Heiterkeit.
„Es würde den knabenhaften Ansichten eines achtzehnjährigen Jünglings entsprechen, wollte ich mich dergleichen schuldig machen,“ antwortete er, „und ich bin zehn Jahre älter und um zwanzig Jahre vernünftiger, als ein Achtzehnjähriger, Onkel Fabian.“
Der Oheim verbeugte sich mit spöttischem Respecte und fuhr mit malitiöser Feierlichkeit fort:
„Auch die Bundesschleife der schönen Helena, deren Paris Du warst, solltest Du der Vergessenheit preiszugeben entschlossen sein?“
„Nein!“ rief Cécil erglühend, griff in seine Brusttasche und hob ein kleines rosarothes Schleifchen hoch empor. „Ich denke, dies Bändchen soll mir heute zu einem haltbaren Bunde für’s ganze Leben verhelfen!“
„Das wäre übereilt, mon cher Cécil! „Drum prüfe, wer sich ewig bindet,“ singt ein gewisser Schiller, der die „Glocke“ gedichtet haben soll, „der Wahn ist kurz, die Reue lang.““
„Ich habe drei Monate Zeit gehabt, mich zu prüfen,“ erklärte Cécil entschlossen, dem Spotte seines Onkels Trotz bietend, mit jener schönen feierlichen Demuth, die das Resultat echter Liebe zu sein pflegt. „Vielleicht bin ich nicht würdig, Helenens Gatte zu werden, aber ich will dies Glück zu verdienen suchen.“
Der Regierungsrath lachte.
„Immer die Sprache übertriebener Liebe vor der Verlobung, mon cher Cécil. Aber curios, gleich nach, der Verlobung steigt man wieder sachte auf die erste Stufe zum Throne schöner Selbstverehrung, erreicht dicht vor der Hochzeit die letzte Stufe und setzt sich acht Tage nach der Trauung, wupp! auf den Platz, der einem nach rein subjectivem Ermessen ganz gehörig ist.“
„Deinen Erfahrungen alle Ehrerbietung, Onkel Fabian,“ fiel Cécil ein, „allein ich fühle keinen Ueberfluß an Selbstverehrung, muß im Gegentheil behaupten, durch meinen Mangel an Selbstvertrauen und an Selbstständigkeit oftmals unglückliche Minuten verlebt zu haben. Jetzt steht mein ganzes Lebensglück auf dem Spiele –“
„Daher willst Du eilen, Helenens Hand und Herz zu erobern?“ unterbrach der Regierungsrath den jungen Mann, mit ausgeprägter Malice fragend. „Wahrhaftig, der beste Weg zum Glücke, wahrhaftig!“
„Wie soll ich das verstehen, Onkel? Was weißt Du von Helene? Ich halte Helene für ein vortreffliches Mädchen.“
„O ja, o ja!“ bekräftigte der Onkel mit Spottgebehrden.
„Helene ist schön –“
„O ja, o ja!“
„Sie ist liebenswürdig, mild, anmuthig –“
„O ja. o ja!“
„Ihre sprechenden schönen Augen verrathen eine reine Seele –“
„O ja, o ja!“
„Ihr liebliches Lächeln ein gutes Herz, ein gefühlvolles Herz und ein sanftes Gemüth!“
„Und wie tanzt sie?“ fragte Onkel Fabian, sarkastisch die Lobrede auf das Mädchen fortsetzend. „Wie Terpsichore selbst! Und welch’ eine Tournüre, welch’ ein Anstand, welch’ ein Grazie, welch’ eine Weiblichkeit! In jedem Athemzuge von ihr liegt eine Tugend, in jedem Worte, das sie hören läßt, eine Erhabenheit, und in der Art, wie sie den Bissen zum Munde führt, den sie zur Erhaltung ihres Lebens verschluckt, eine Genialität. Ja, so ist es immer, wenn man siedet in Liebe und glüht in Anbetung, mon cher Cécil!“
„Ich gebe gern zu, daß für einen gereiften Mann das Wallen eines jugendlich fühlenden Herzens etwas Komisches haben kann, Onkel Fabian,“ sagte der junge Mann gemessen und griff nach seinem Hute, „aber der Spott in Deinen Worten und Mienen ist eine unverdiente Kritik, da ich Dir meines Wissens noch keine Gelegenheit gegeben habe, mich zu der Classe der unvernünftigen Liebhaber zu zählen. Noch weniger aber begreife ich, womit Helene von Kursen Deinen Spott verdient. Helene ist der allgemeinen Anerkennung zufolge ein vortreffliches, geistig begabtes und sehr reizendes Mädchen.“
„Das bestreite ich keineswegs, mon cher Cécil,“ lachte der Regierungsrath, „und ich pflichte Dir sogar bei, daß sie Deiner anbetenden Liebe vollkommen würdig ist, aber so gern ich mich auch für dieses Urbild aller Vollkommenheit enthusiasmiren möchte, ich werde immer durch den Gedanken an eine Scene verhindert, wo ich sie belauschte, wie sie den Brezelkorb ihrer Tante um eine Brezel leichter machte, jedoch mit Kunstfertigkeit die Ordnung in demselben wieder herstellte, dann eine Torte um ein Stückchen betrog, allein ganz kunstvoll die geeignete Rundung wieder hervorbrachte. Und wie sie dann die geraubten Süßigkeiten in ihren „lieblich lächelnden Mund“ stopfte, um während des hastigen Kauens „ihre sprechenden schönen Augen“ begehrlich nach weiteren Eroberungen auszusenden. Mir wurde bange – die Kaffeegesellschaft der guten Tante Starkloff fing an, mich zu dauern, deshalb trat ich vor, begrüßte sie und fragte: Schmeckt’s, mein Fräulein?“
Ein schmerzlicher Widerwille hatte sich während dieser Erzählung über die Gesichtszüge Cécil’s gebreitet. Er zwang sich aber zu einem Lächeln und wollte, die geflissentliche Verhöhnung unbeantwortet lassend, den Onkel mit einigen Höflichkeitsfloskeln verlassen. Doch dieser hielt ihn durch die Bande des Respectes mit der Beharrlichkeit eines Mephisto fest und trieb seine Quälereien durch die speciellsten Schilderungen des verwirrten und verzweiflungsvollen Zustandes, worin die Dame verfallen war, bis auf die höchste Spitze.
Was der arme junge Liebhaber unter dieser Tortur litt, ist leicht zu begreifen. Man denke sich nur die Situation dieses liebeentflammten Herzens, welches das Bild seiner Erwählten wie eine Gottheit in sich trug und man denke sich diesen Wassersturz einer demüthigenden Wirklichkeit auf eine glühende, im höchsten Schmucke der Idealität prangende Phantasie! Wer kann es ihm verargen, daß er still resignirend sein Atlasschleifchen tiefer in die Brusttasche schob, daß er, die Treppe endlich hinabeilend, Entschlüsse voll barbarischer Härte faßte und nicht, wie er sich vorgenommen hatte, auf den Flügeln der Liebe die Straße hinab zu dem Hause der Stillgeliebten eilte, sondern zur Eisenbahn ging und ein Billet löste, um eine verwandte Familie zu besuchen.
Der Regierungsrath, der von der Einladung dieser Familie Kenntniß hatte, mochte diese muthvolle Entschließung ahnen. Er blickte seinem Neffen nach, rieb sich schadenfroh die Hände und murmelte mit dem Ausdrucke des höchsten Behagens:
„Gut so, mon cher Cécil! Gut so! Der Wassertropfen in die glühenden Visionen Deines Herzens wird Deine Vernunft befruchten und Dich befähigen, Deine Entschlüsse reiflich zu erwägen. Man muß kein Mitleid mit solchen Liebesphantastereien haben, und ich gebe mich der beruhigenden Ueberzeugung hin, daß die brennenden Gefühle für Fräulein Helene auf einige Tage gedämpft sind, und nur Rauch aufsteigen lassen. Stürmische Herzen müssen in Wasser gebadet werden, und es ist doch wirklich ein ganz absonderlich [135] süßes Vergnügen, Feuersbrünste im Menschen mit der nassen Wirklichkeit zu löschen. Mon cher Cécil hat noch Zeit, glücklich zu werden, und Fräulein Helene mag ihr stolzes, rosig blühendes Köpfchen ein wenig senken. Es schadet Beiden nichts, ma foi! Der gute Cécil würde aber schwerlich so jähe geflohen sein, wenn er wüßte, von welchem Datum die Geschichte wäre! – Es ist ridicule, wie blind und taub der Mensch im Liebesstadium ist.“
Hier wurde sein Monolog von dem Eintritte seiner beiden Kinder, eines Zwillingspaares, unterbrochen, die jubelnd mit einer Neujahrsgratulation hereinstürmten. Sogleich verschwand der Spott von den Lippen des Herrn von Sieveringk und eine strahlende Freude verklärte sein Angesicht, als die kleine, Meta pfeilgeschwind an ihm hinaufkletterte, um den Platz an seiner Brust zu erobern. Der phlegmatische Leopold stand ruhig dabei, mit schmollender Miene die gelungenen Kletterkünste seines Schwesterchens betrachtend, und sagte dann bittend:
„Papa nimmt mich auf den andern Arm.“
„Praktisch gedacht, petit Léo!“ rief der Regierungsrath, und hob ihn auf das andere Knie.
Zwischen den Kindergesichtern eingeklemmt, von beiden Seiten geküßt und mit kindischen Neujahrswünschen überschüttet, erschien der Mann ein ganz Anderer, wie in der eben beschriebenen Scene. Man hätte an eine Verzauberung glauben können, an eine Metamorphose in bester Form, wenn man den Glanz in seinen Augen und das gütige Lächeln seines Mundes belauschte, womit er sich den sehr zutraulichen und liebevollen Liebkosungen seiner Kinder hingab. Die Achillesferse dieses gefährlichen Mannes war also die Vaterliebe, und in ihr allein ruhten die Elemente seiner Besserung, wenn sie sonst noch möglich war.
Seine Gattin, Frau Olga von Sieveringk, erschien auch in seinem Zimmer. In reizendem Morgenanzuge, umwoben von einem merkwürdigen und fremdartigen Zauber, dem eine sonderbare Hurtigkeit und Hastigkeit etwas Gespenstisches beimischte, trat sie auf die Gruppe zu, die ihr Gatte mit den Kindern bildete, und lächelte auf sie herab. Nur einen Moment dauerte das, nein, nur den vierten Theil eines Momentes, dann war sie wieder fort, verschwunden, aus dem Zimmer, ohne daß man es gehört hatte, als sie ging. Ihre kleine Gestalt, im vollendetsten Ebenmaße, von der zierlichsten Art, bewegte sich so schnell und geräuschlos, daß man sie selten kommen und gehen hörte. Sie war da und sie war fort! Nahm man zu dieser Eigenthümlichkeit noch ein scheues, unstätes Wesen, umhüllt vom Schleier einer angebornen Schüchternheit und ihre vollkommen ideale Geistigkeit, so mußte man den Namen „Undine“, den ihr das Publicum gegeben hatte, vollständig natürlich finden. Wer Frau Olga von Sieveringk zum ersten Male an der Seite ihres stattlichen, stolz und hoch gewachsenen Mannes sah, fragte gewiß: „Wie ist der Mann zu dieser Frau gekommen, die so unheimlich blickt, so seltsam lacht, so wenig spricht und so spurlos verschwindet?“ Man erwartete als Erklärung ein besonderes Begegniß, ein abenteuerliches Erlebniß zu hören. Keinesweges. Die Geschichte zeigte sich ganz gewöhnlich und alltäglich.
Der Herr Fabian von Sieveringk war in seiner Jugend der Lion der Residenz gewesen. Seine hervorragende Persönlichkeit, verbunden mit einem glücklichen Humor und der vollendeten Kunst, sich interessant zu machen, hatte ihm dazu verholfen, als ein Schmetterling ersten Ranges sich den holdesten und edelsten Blumen der Haute Volée nähern zu können, und es würde ihm überall eine günstige Antwort geworden sein, wenn er als Bewerber aufgetreten wäre, allein – er verpaßte seine Zeit, und es passirte ihm eines Tages, daß er sich von schönen Lippen, denen er mit Aufbietung aller seiner Liebenswürdigkeit ein Lächeln des Beifalls zu entlocken strebte, hinterrücks „Onkel Fabian“ nennen hörte. Diese Erfahrung verscheuchte plötzlich seinen reizvollen und entzückenden Humor. Er dachte nach, nahm auf mehrere Jahre Urlaub, um die Welt zu durchstreifen, und verschwand vom Horizonte des glänzenden Cirkels, wo er bis zum „Onkel Fabian“ degradirt worden war.
Er besuchte Paris und Rom nebst Allem, was dazwischen lag, ging nach dem Nordpol, besuchte die Finnen, zu denen er seit Mügge’s „Afraja“ eine ganz absonderliche Zuneigung gefaßt hatte, und schlich dann peu à peu, wie er selbst sagte, wieder der Heimatherde zu, als ihm einfiel, daß eine seiner Ur-Urgroßmütter vor hundert und einigen Jahren in irgend einem Winkel der Erde, umflossen von Meeresarmen, einen Mann geheirathet hatte, der Simon von der Höllbork hieß, und er erinnerte sich gerade noch zur rechten Zeit, daß dieses Simon’s Wittwe den Tod ihres Mannes der Familie angezeigt und dabei den Wunsch ausgesprochen hatte, mit dem Stamme Sieveringk in nähern Rapport zu treten.
Herr Fabian machte in seiner Reisetour eine Schwenkung nach Osten, und kam glücklich auf Höllbork an, als gerade Fräulein Olga von der Höllbork wie ein aufgeblühtes Röschen der Stolz und die Zierde der engbegrenzten Heimath war.
Was war natürlicher, als daß sich der fünfundvierzigjährige Lion der Residenz für fähig hielt, das schöne Cousinchen mit seiner Liebe zu beglücken, obwohl er ein Vierteljahrhundert älter war, als sie. Er fand es ganz in der Ordnung, daß Fräulein Olga ihn vor den vierschrötigen Landjunkern ihrer Heimath auszeichnete, und konnte nicht begreifen, weshalb die Mutter des jungen Fräuleins mit einiger Angst und Beklemmung Einwendungen gegen diese Heirath erhob.
Herr Fabian von Sieveringk besiegte ihren Widerstand, der keineswegs seiner Persönlichkeit zu gelten schien, und führte seine bildhübsche kleine Frau triumphirend in die Residenz, wo er förmlich mit ihr Staat und auch Aufsehen machte.
Im zweiten Jahre dieser Ehe wurde dem Regierungsrathe sein Zwillingspärchen geboren, und dabei zeigte sich zum ersten Male, daß unter seiner pomphaften Oberflächlichkeit ein regsames Gemüth verborgen lag. Die Kinder waren seine Leidenschaft und die Kinder waren sein Glück. Alles Andere, selbst seine hübsche Frau, brachte er unter die Loupe des ausgearteten Humors, und regierte Alles mit der Spottsucht. So schonungslos er aber dabei verfuhr, eben so empfindlich war er selbst über Beurtheilungen des allgemeinen Publicums, und er hütete sich mit allen seinen Verhältnissen krankhaft penible vor der Offenbarung von Begebenheiten, die der Spötterei zum Opfer dienen konnten.
In seinem jetzigen Aufenthaltsorte, einer stark bevölkerten Mittelstadt, befand er sich erst seit Jahresfrist, und er hatte die Frau Justizamtmann Starkloff nebst ihrer Nichte, Helene von Kursen, die er beide in der Residenz kennen gelernt, zu seinem Erstaunen hier ansässig getroffen. Frau Starkloff hatte sich nur wegen der Ausbildung Helenens in der Residenz aufgehalten, und als diese vollendet war, hatte sie sich beeilt, in ihr ererbtes Elternhaus zurückzukehren, worin sie mit Helenens Mutter die Freuden der Jugendzeit erlebt hatte. Auch in dieser Stadt brillirte Herr von Sieveringk mit seiner jungen hübschen Frau, mußte aber nach wenigen Monaten schon die unangenehme Bemerkung machen, daß sich eine gewisse Mißliebigkeit gegen dieselbe zeigte. Da er seinen Aufenthalt aber nur als eine Zwischenstation betrachtete, um reif zu irgend einem Präsidentenstuhle zu werden, so forschte er der mysteriösen Abneigung gegen Frau Olga nicht nach, sondern schob sie ohne Weiteres auf die unfertige Bildung der Ortsbewohner, die nicht fähig waren, eine Natur wie seine Frau zu beurtheilen.
Während Herr Fabian von Sieveringk über sein gelungenes Spottwerk triumphirte, war das Herz des Fräulein Helene von Kursen von tiefer Trauer erfüllt und ganz nahe daran, ein Anathema über alle Männerherzen auszusprechen. Aber nur die ersten acht Tage verfiel sie willenlos in den Zustand innerer, aufreibender Schmerzen, dann erhob sich ihr Gemüth und sie stellte muthig feste und gediegene Vorsätze vor ihr Herz, um sich nie wieder einer solchen Verzweiflung überantwortet zu sehen.
Sie gestand es sich selbst gern zu, daß sie Cécil von Sieveringk lebhaft zugethan gewesen sei, daß sie schwerlich Jemand wieder so lieb gewinnen werde, daß sie aber von seinem abscheulichen Betragen dergestalt beleidigt wäre, um ihn für immer zu verachten. Mädchenherzen verachten und hassen immer, wenn sie in ihren Liebesvoraussetzungen getäuscht werden, allein die Verachtung und der Haß pflegt stets eben so rasch wieder zu verschwinden, wie er gekommen ist, wenn der Gegenstand der Liebe reuevoll sein Unrecht einsieht.
Weit weniger ist dem Hasse zu trauen, den die Mütter oder Tanten der Betrogenen in sich aufspeichern, und zwar zeigt er sich um so gefahrdrohender, wenn Frauen vom Charakter der Tante Starkloff ihn in sich aufzunehmen Gelegenheit finden.
Die Frau Justizamtmann Starkloff gehörte zu den „weisen Damen des Morgenlandes“, wie der Onkel Fabian von Sieveringk [136] die hülfreichen Frauen des Frauenvereines spöttisch getauft hatte. Sie war eine jener resoluten und entschlossenen Naturen, die immer bereit sind, Jedem die Wahrheit und die eigene Meinung straff in’s Gesicht zu sagen, wobei sie selbst gelegentlich ihre Grobheit als eine Charakterstärke bewundern und sich etwas darauf zu Gute thun. Wer solchen Frauen näher steht und ihren inneren Werth von der äußeren bitteren Schale trennt, der liebt sie. Von allen anderen Menschen aber werden sie wegen ihrer offenherzigen und vorlauten Urtheile gefürchtet. Frau Amtmann Starlloff befand sich in diesem Falle. Da sie aber in der Stadt geboren und erzogen worden war, so fiel derjenige Kreis von Leuten, der sie ihrer wackeren Tüchtigkeit wegen liebte, überwiegend aus. Sie fußte darauf und maßte sich in weiterer Ausdehnung, als gut und nöthig war, die Rolle des Rathgebers an.
Voll Gift und Galle trat sie acht Tage nach dem Neujahrstage zu ihrer Nichte, die sie mit ganzer Hingebung liebte, in das Zimmer, in der rechten Hand einen Blumenwedel, in der linken einen nassen Schwamm, dem gelegentlich ein Tröpfchen entfiel, was sie jedoch in ihrem wilden Eifer gar nicht bemerkte.
„Weißt Du denn, Helene, wo Dein abtrünniger Anbeter, der Herr Cécil, eigentlich steckt?“ fragte sie, Hochroth im Gesichte und mit so starker Stimme, als solle das ganze Haus sie hören.
Helene richtete, unangenehm von der Ausdrucksweise ihrer Tante berührt, den Kopf von ihrer Stickerei auf und entgegnete mit möglichster Unbefangenheit:
„Laß ihn stecken, wo er will; was kümmert es mich, Tantchen?“
„Pfui, heuchele nicht, Helene; ich habe wohl gesehen, daß Du von seinem Betragen verletzt bist,“ eiferte die Amtmännin und schwang den Blumenwedel, als wolle sie ihr die Grillen wegscheuchen.
„Ach, wie gut, daß sie nicht Alles weiß!“ dachte Helene, sagte aber laut:
„Verletzt könnte ich mich doch nur fühlen, wenn ich Rechte hätte, sein Betragen zu tadeln, liebe Tante.“
„Bah, bah – Du heuchelst, Kind!“ schrie Frau Starkloff. „Denke Dir, er ist beim Oberförster Hanstein, der vier schöne Töchter hat und für’s Leben gern Alle vier verheirathen möchte.“
„Aber doch hoffentlich nicht Alle an den armen Herrn Cécil,“ scherzte Helene, obwohl es ihr wie schwarze Nebel vor den Augen flimmerte.
„Bah, bah, zwinge Dich nur nicht zum Spaß, Kind. Die Jüngste von den Fräulein Hanstein’s ist schon längst Cécil’s bestimmte Braut – aber er hat sie bis jetzt nicht gewollt.“
„Wer hat Dir denn diese speciellen Nachrichten überbracht?“ rief Helene mit erkünsteltem Lachen.
„Bah – bah – lache nur nicht, Kind. Der Regierungsrath ist eben bei mir vor dem Fenster gewesen und hat mir’s erzählt und hat sich gerühmt, daß er seinen Neffen fortgeschickt habe.“
„Das glaube ich,“ flüsterte Helene sehr leise und senkte ihr erbleichtes Gesicht wieder tief auf ihre Arbeit. „Seine spöttischen Mienen ließen dergleichen fürchten, als Cécil am Sylvesterabend so verrätherisch glühend wurde. O, mein Gott, wie schärft der Stolz meinen Kummer! Wenn doch nur erst das Gerede darüber ein Ende nähme! Mit mir selbst will ich schon fertig werden.“
Sie stickte sehr eifrig und erwiderte gar nichts mehr, als ihre Tante heftig drohenden Tones fortfuhr:
„Wenn ich wüßte, daß der Regierungsrath seine Hand hier im Spiele hätte, so würde ich ihm den Streich vergelten und ihm ein Capitel über seine „Undine“ vorlesen, das auf mehrere Nächte den Schlaf aus seinen Augen bannen sollte. Er mag mich nicht reizen – er mag sich hüten! Wenn ich ein Wort sage, bricht der ganze Bau zusammen, das weiß ich und darum habe ich immer um Schonung gebeten, wenn man sich Raths bei mir erholte. Nun, Helene, antworte doch – was meinst Du?“
„Ich meine gar nichts und wünsche gar nichts, mein Tantchen,“ sprach das Mädchen ganz kalt und stolz, „als daß man mich in Frieden lasse. Der junge Herr von Sieveringk hat sich keiner weiteren Sünde schuldig gemacht, als daß er mich einige Tage als Tänzerin auszeichnete. Wäre ich so thöricht gewesen, weitere Pläne auf diese Auszeichnung zu bauen, so verdiente ich Dein Bedauern, und zwar meiner Dummheit wegen. Sei so freundlich, und laß die Sache nun ruhen. Was den Regierungsrath betrifft, so werden ihm ohne Dein Zuthun eines Tages die Augen über seine unglückselige Frau aufgehen – eine Strafe für sein Vergehen gegen mich soll es aber keinen Falls abgeben. Mir thun nur die Kinder leid. Gott mag ihre jungen Seelen vor dem Erbgifte bewahren!“ Sie schwieg und stickte weiter.
[149] Frau Starkloff, abgewiesen und zur Ruhe gebracht, entfernte sich mit ihrem Blumenwedel und dem nassen Schwamme, der eine kleine Pfütze auf dem Fußboden hinterlassen hatte. So wie sich die Thür hinter ihr schloß, sprang Helene auf, schob den Riegel vor und überließ sich nun einem verzweiflungsvollen Weinen.
„Liebe ihn doch nicht mehr!“ befahl die Stimme der Vernunft in ihr, „achte ihn doch nicht mehr, hasse ihn doch!“
„Ja, ja!“ antwortete die Stimme des Herzens, „ja, ich will ihn hassen, will ihn nicht mehr lieben, will ihn verachten!“
Und dabei weinte sie fort, bis der Kopf ihr schmerzte, bis die Augen halb blind waren und eine schwere Mattigkeit sie umfing.
„Womit habe ich mein Schicksal verdient?“ fragte sie sich jammernd. „O, daß ich meinen Blicken erlaubt habe, Verrath zu üben, daß ich meiner Zunge nicht Stillschweigen gebot, als er leidenschaftliche Fragen an mich richtete – er wird, er muß mich ja jetzt verhöhnen mit meiner Hingebung. – „Morgen früh,“ sprach er mit einem Blicke voller Zärtlichkeit, „morgen früh!“ Und er reiset zum Hause des Mannes, dessen Tochter auf seinen Antrag wartet? Und er bleibt Tage lang dort? Es ist vorbei! Keine Entschuldigung möglich – es gibt keine im ganzen, großen, weiten Weltall – vorbei!“
Sie trocknete ihre Augen und setzte sich wieder ruhig an ihre Arbeit.
„Für solche Sünden gibt es keine Strafen,“ sprach sie eine Stunde später ganz gefaßt, „die Folgen derselben müssen also nicht lebensgefährlich sein. Geduld und Demuth werden mir beistehen, wenn ich ihre Nachwirkungen zu überwinden trachte.“
Aber sie senkte nicht ihr „rosig blühendes Köpfchen,“ wie der Regierungsrath ironisch gemeint hatte, sondern sie hob die Stirn im Gefühle ihrer Unschuld und zeigte sie in gewohnter Klarheit, als sie ganz grundsätzlich an demselben Abende zu einem Balle sich bereit machte, wo Cécil natürlich nicht erschien, wohl aber der Regierungsrath von Sieveringk mit seiner auf das Kostbarste geschmückten Frau.
Was sie dabei empfand, als sie mit sehr bezeichnendem Erstaunen überall von der Verlobung des Assessor Cécil von Sieveringk mit Fräulein Hanstein reden hörte, wollen wir nicht weiter erörtern, aber angesehen hat ihr Niemand die Thränen, die sie vorher darüber geweint.
Dem Verbreiter dieser Nachricht entging dadurch der Triumph, ein liebesieches Herz verspotten zu können, und es durchschlich ihn ein leises Gefühl der Achtung, indem er die vollkommene Selbstbeherrschung des jungen Fräuleins beobachtete.
„„Der Mensch versuche die Götter nicht“ sagt ein gewisser Schiller, der den „Taucher“ gedichtet haben soll,“ sprach der Regierungsrath, laut lachend einen Brief zusammenfaltend, den er eben gelesen hatte. „Liegt mon cher Cécil fieberheiß beim Vetter Hanstein zu Bette und läßt sich von acht weichen Mädchenhänden pflegen! Da wird denn wohl ein Fieber vom andern vertrieben werden und eine Hochzeit mit Schönbella steht in Aussicht! Das ist trostvoll für mich, denn ich fürchtete schon, als Menschenmörder vor das Forum der allgemeinen Menschheit gezogen zu werden! Das war der erste Brief, der mir in die Hand fiel – hier liegen noch einige,“ fuhr er fort und griff zur Scheere, um sie aufzuschneiden.
Er las, und sein Lachen verstummte. Er las noch ein Mal, und der Spott verkroch sich. Er las zum dritten Male und stampfte wüthend auf den Fußboden. Beim dritten Briefe dasselbe Manöver; beim vierten schlug er verzweiflungsvoll die Hände über den Kopf und begrub dann sein Gesicht darin.
Spötter, Spötter, Dein kaltes Herz zittert Dir in der Brust, die rächende Nemesis preßt Dir das Blut in diesem kalten Herzen zusammen, daß es zu zerspringen droht. Was begegnete Deinem Auge, daß Du ohnmächtig und machtlos zusammenbrichst?
Herr von Sieveringk raffte sich auf und stürzte wie ein Wahnsinniger zu seiner Frau hinüber. Sie war allein. Er legte die Briefe vor ihr nieder und flüsterte athemlos:
„Was heißt das? Ist das wahr? Was steht da – lies – lies – lies, daß ich es höre –!“
Frau Olga neigte das Haupt und las nicht. Sie wußte ja schon, was da stand.
„Lies!“ befahl Sieveringk.
Sie folgte dem Befehle nicht, aber sie weinte und zitterte auch nicht, sondern saß nur still und geduldig da.
„So will ich lesen,“ knirschte der Mann zwischen den Zähnen hervor.
„Rechnung über ein Armband – ohne unser Wissen unserm Lager entnommen – ist das wahr?“
Frau Olga neigte ihr Haupt tiefer.
[150] „Ehrlos? Eine Diebin? Ist das wahr?“ fragte er nochmals mit furchtbarem Ausdrucke. „Antworte mir!“
Sie antwortete nicht. War dies nicht eine Antwort? Aber es genügte ihm nicht, seine Hand legte sich schwer auf ihre zarten Schultern. Er rüttelte sie.
„Wie bist Du dazu gekommen? Sprich – rede! Wie bist Du zu diesem fürchterlichen Vergehen gekommen – sprich, um Gotteswillen, sprich!“
„Ich kann es nicht lassen,“ drang es wie ein Hauch aus Frau Olga’s Munde, aber für ihren Gatten war es ein niederschmetternder Donner.
„Du kannst – allmächtiger Gott – Du kannst es nicht lassen! Also ein tiefwurzelndes Gift, vielleicht eine Erbsünde! – Allmächtiger, gnädiger Gott, meine Kinder – meine Kinder!“
Der starke Mann stürzte überwältigt, wie zerbrochen auf einen Sessel nieder. Eine Todtenstille herrschte im Zimmer. Als er wieder aufsah, war Frau Olga verschwunden. Er hatte sie nicht gehen sehen und nicht gehen hören. Ein kalter Schauer überlief ihn und jetzt plötzlich verstand er die sonderbare Angst seiner Schwiegermutter vor ihrer Verheirathung, ihre sonderbar bedenklichen Einwendungen. Wilde Bilder erhoben sich in seiner Seele. Tod – Verbannung – unabsehbares Elend – herzzerreißende Trauer über angeborene Laster.
„Meine Kinder!“ schrie die Verzweiflung in ihm.
Dem finstersten Brüten hingegeben, zogen eine Menge kleiner Erfahrungen, dunkel und mystisch, wie die Bilder einer Laterne magika, an ihm vorüber und sie waren, trotz ihrer nebelhaften Existenz, hinreichend, um die vorliegenden Thatsachen zu bekräftigen. Was ihm zu thun oblag, wußte er schon. Aber seine Kinder – seine Kinder! Trugen sie die Spuren des Erbübels schon in sich? O, wer ihm hier Beweise hätte liefern können! Sein Auge richtete sich zum ersten Male hülfeflehend zum Himmel und seine leichtsinnigen, blasphemirenden Philosophien wurden durch die Offenbarung einer höheren Gerechtigkeit, die ihn zu strafen schien, vollständig erdrückt.
„Nur meine Kinder mag mir Gott lassen, nur meine Kinder!“ rief er, laut aufschreiend vor Jammer, als er lange, lange Zeit klagelos und stumm verharrt hatte.
Er erhob sich, um in sein Zimmer zu gehen. Dort empfing ihn lautes kindliches Gelächter. Die Kleinen waren mit ihren Spielsachen bei ihm eingedrungen und hatten ihn gesucht. Meta thronte auf seinem Arbeitssessel, ehrbar die Puppe im Arme, Leopold saß auf der Erde und baute Schlösser von Holzklötzchen.
„Führe sie in Versuchung!“ rief eine Stimme in ihm, als er von dem süßen Lächeln des kleinen schmeichelnden Mädchens begrüßt wurde. „Prüfe sie sogleich und bestehen sie nicht, so reiße sie gewaltsam aus Deinem Herzen, wie ein Gift, das Deinen Lebensfrieden zu zernagen droht. Fort mit ihnen, auf ewig fort mit ihnen, wenn sie mit der Muttermilch das Böse eingesogen haben.“
Zitternd vor innerer Aufregung öffnete er ein Schränkchen, worin er kleine Näschereien für seine Lieblinge aufzubewahren pflegte. Aufjauchzend in Lust, reckte Meta das Köpfchen empor, als sie dies sah, und Leopold erhob sich schwerfällig vom Boden, um mit begierig blitzenden Augen näher zu treten.
Zitternd legte der Vater zwei Stücke Marzipan, ein selten erlaubter Leckerbissen für die Kleinen, auf den Tisch und sprach:
„Das möchtet Ihr wohl?“
Die Kinder klatschten jubelnd in die Hände und setzten sich zurecht, um die Gabe zu empfangen und zu verspeisen. Der Vater zerbrach die Stücke und legte sie, wie in unschlüssigem Zaudern, auf ein Papier neben sich. Er zählte aber genau die Stückchen und verließ, ohne ein Wort zu sagen, schnell das Zimmer.
Betrübt schauten die Kleinen ihm nach und Meta postirte sich bei der Näscherei, während der Knabe unter einem tiefen Seufzer sich wieder niederließ zu seiner Spielerei.
Draußen an dem Schlüsselloche lauschte der Vater. Sein Herz schlug und sein Athem stockte. Als sein Knabe heroisch jeder Versuchung aus dem Wege ging, indem er sich ernstlich beschäftigte, da zitterte ein Freudenlaut von seinen Lippen, aber Meta? Meta? Sein Herz schlug noch stärker, denn Meta war sein Liebling, der Frühlingsträume in seine Brust senkte, der weiche Gefühle in ihm weckte, der die edelsten Regungen in ihn verpflanzte. Meta blieb stehen und betrachtete lüstern die Marzipanstückchen.
„Ob der Papa bald wiederkommt?“ fragte sie endlich den Bruder.
„Weiß nicht,“ entgegnete der kleine Herr lakonisch und spitzte sein Mäulchen zu einem unharmonischen Pfeifen.
„Ob wir unser Marzipan nicht essen dürfen?“ fragte sie nach einer Weile wieder.
„Nein, es ist noch nicht unser,“ replicirte der Knabe.
„Ich möcht’s wohl kosten,“ meinte Meta kleinlaut.
„Ich nicht!“ entgegnete Leopold und sah zu der Schwester empor. Er lachte dabei gerade so spöttisch, wie sein Herr Papa zu thun pflegte, wenn er menschlichen Schwächen begegnete.
„O, ich thue es auch nicht,“ erklärte Meta eifrig und trat sogleich mehrere Schritte von dem Tische hinweg. „Weißt Du wohl, was uns Tante Helene gesagt hat, weißt Du?“
„Freilich weiß ich,“ brummte der Knabe. „Naschen ist Sünde, naschen ist stehlen!“
„O, und noch mehr!“ plauderte sie mädchenhaft geschwätzig weiter. „Tante Helene hat uns erzählt, daß sie auch gern genascht habe, daß aber gleich unser Papa es gesehen habe, und unser Papa sähe Alles –“
„Nein, nicht unser Papa,“ corrigirte der Knabe ganz indignirt mit Stentorstimme, „der Vater im Himmel, der Gott heißt, der sähe Alles, der bestrafe und belohne Alles!“
„Ja, der Papa im Himmel,“ gab Meta kleinlaut zu. „Aber unser Papa belohnt auch, Leo; er gibt uns Marzipan, wenn wir nicht naschen, und hat uns lieb, nicht wahr, das hat Tante Helene auch gesagt? Ich nasche lieber nicht, ich fasse gar nichts an, was mir nicht gehört; nein, unser Papa im Himmel sieht ja Alles!“
Jetzt rollten Freudenthränen aus den Augen des Regierungsrathes und er trat, unbekümmert um die nassen Wangen, schnell in das Zimmer zurück, um seinen Sohn und seine Tochter mit nie gefühlten Empfindungen an seine Brust zu pressen. Die Kinder bemerkten sehr wohl die seltsame Stimmung des Vaters, sie sahen die Thränen in seinen Augen und fühlten die gesteigerte Liebe in seinem Kusse, allein ihr Kinderherz vergaß unter dem jetzt erlaubten Schmaußen der Leckerbissen das, was ihnen momentan auffällig gewesen war.
Den leisen Hauch der Verstörung, der seit dieser Stunde durch das ganze Haus lief, den konnte ein Kinderauge freilich nicht bemerken. Es währte aber nur einen Tag und dann brach das mühsam von entschlossener Selbstbeherrschung zusammengehaltene Familiengebäude des Onkel Fabian zusammen. Er hatte viele Wege gemacht, von jedem kam er düsterer nach Hause. Er hatte Conferenzen gehabt, hatte kein Geld geschont, hatte Aerzte zu Rathe gezogen und dabei war das Zimmer der Frau Olga verschlossen worden und sie der Dienerschaft als „krank“ gemeldet.
Als ein neuer Morgen tagte, nahm Herr von Sieveringk seine Kinder an die Hand und ging mit ihnen nach dem Hause der Frau Justizamtmann Starkloff.
Gerüchte verschiedener Art waren ihm schon vorausgelaufen, weshalb die alte Dame ihm mit hochgespannter Erwartung und Helene mit dem Ausdrucke unendlichen Erbarmens entgegentraten.
„Was mag er wollen?“ murmelte Frau Starkloff und ihr Gewissen regte sich. Aber dessen unbeachtet blickte sie ihm unter dem festen Vorsatze, – „mit dem schweren Geschütze ihrer Offenherzigkeit einen Sieg zu erfechten, wenn es ihm beifallen sollte, den Kampf mit seinen widerhakigen Pfeilen des Spottes zu eröffnen,“ sehr muthig in’s Auge.
Helene aber erröthete und erbleichte, als er mit respectvoller Galanterie ihre Hand an seine Lippen führte, und dachte ebenfalls höchst beklommen: „Was mag er wollen?“
Herr Fabian von Sieveringk bat die beiden Damen mit einfachen Worten, seine Kinder auf acht Tage in ihre Obhut zu nehmen, da Familienverhältnisse eine Reise mit seiner Frau nothwendig machten.
Frau Starkloff riß ihre großen, braunen, muthigen Augen weit auf bei diesem Ansinnen, das ihr völlig unerwartet kam.
„Wie kommen wir denn zu der Ehre, mein Herr Regierungsrath?“ fragte sie, als Erwiderung dieser Bitte, und blickte ihm forschend in’s Gesicht, um aus dem Ausdrucke desselben zu errathen, wie viel Spott in diesem Anliegen ruhen möchte. Keine Spur von Humor lag in seinem vollkommen ruhigen Antlitze und die Kunst des Spottens schien vollständig von ihm vergessen worden zu sein.
[151] „Ich fühle, daß ich sehr viel verlange,“ antwortete er sehr schnell, zu Helene sich wendend, „allein dennoch wiederhole ich meine Bitte und beanspruche Ihr Fürwort, mein Fräulein.“
Das junge Mädchen streckte willfährig ihre Hände den Kindern entgegen und diese schmiegten sich sogleich an die alte Bekannte an.
„Ich bin es gewohnt, dem Unverstande und der Uebereilung rächend zur Seite zu stehen,“ rief Frau Starkloff mit der ganzen Kraft ihrer gewöhnlichen Offenherzigkeit, „und da Sie so gut wie wir das kaum zur Ruhe gegangene Getratsch der Stadt kennen, welches den Namen Ihres Neffen mit dem Namen meiner Nichte verbunden hatte, so finde ich es einigermaßen gewagt, um nicht zu sagen unverschämt, daß Sie uns Ihre Kinder aufbürden wollen.“
„O, Tante!“ flüsterte Helene bittend, zog sich aber ohne weitere Kundgebungen ihrer Ansicht sogleich verlegen in den Hintergrund zurück, wobei sie die Hände der Kinder nicht losließ. Sie setzte sich hastig nieder, umschloß sie mit ihren Armen und zeigte in dieser Stellung, daß sie sehr willig war, der Bitte des Herrn von Sieveringk nachzukommen.
„Sie sehen, meine Gnädigste, daß Ihre Einwendungen machtlos an dem Willen Ihrer Nichte zerschellen,“ sprach er mit so entschieden wehmüthig freundlichem Ausdrucke, daß an Spott gar nicht zu denken war. „Sie sind ja sonst eine so milde Mutter aller verlassenen Waisen.“
„Ja, ja, eine weise Dame des Morgenlandes, wie Sie uns zu nennen belieben,“ fiel sie ein.
„Deshalb hege ich das Vertrauen, daß Sie mein kleines Zwillingspaar aufnehmen und ihm auf einige Tage eine Freistatt gewähren werden,“ schloß Sieveringk.
Sein Blick ruhte dabei mit wahrhafter Bewunderung auf Helene, die ihm nie so reizend erschienen war, als in der kleinen Handlung einer himmlischen Vergebung, welche zwar vielleicht auf neuerstandenen Hoffnungen beruhte, aber immerhin höchst liebenswürdig war. So wenig geneigt er zu Sentimentalitäten war, so bereute er doch in diesem Momente seine Eingriffe in ihr Lebensglück tief und bitter, zumal sie sich entschieden als ein Schutzgeist seiner Kinder bewiesen und den jungen Seelen auf eine Weise den Begriff des Mein und Dein eingeimpft hatte, die von seltener Selbstverleugnung sprach.
Er wünschte von Grund seines Herzens seine Unbill zu vergüten und die ungerechte Verunglimpfung des schönen Mädchens zu redressiren. Freilich des Schicksals ungeahnte Verkettung, die seinen Neffen Cécil in dem Hause des Oberförsters Hanstein, umgeben von reizenden Pflegerinnen, krank werden ließ, gestattete ihm wenig Aussicht, daß dieser junge, leicht entflammte Mann freien Herzens wieder in sein altes Quartier einrücken würde, wenn er genesen vom Schnupfenfieber zurückkehrte. Mit dem windschnellen Fluge der Erinnerung hafteten seine Gedanken an hundert ähnlichen Fällen, die ihm in seiner Jugend vorgekommen waren, wo er mit dem besten Willen nicht treu bleiben konnte.
Zum ersten Mal schlich ein brennendes Gefühl der Angst durch seine Seele, daß ihm jetzt vielleicht sein frivoler Lebenswandel vom Schicksal vergolten und daß ihm noch schweres Herzeleid widerfahren könnte, wenn einst seiner Tochter auch ein derartiger Herzenskampf bereitet würde.
Mit gutmüthigem Lächeln beschloß er den Wettlauf dieser peinlichen Gedanken und sagte, herzlich die Hand der Amtmännin zum Abschiede ergreifend:
„Es hilft Ihnen nichts, Gnädige, daß Sie bärbeißige Mienen ziehen, ich kenne Ihr Herz und weiß, daß Sie trotzdem meine lieben Kleinen weder hungern noch dürsten lassen, daß Sie dieselben wie Ihren eigenen Augapfel behüten und wie die zärtlichste Mutter für sie sorgen. Das haben Sie davon, daß Sie mit der Wahrheit Ihrer Empfindungen so wenig Haus halten und die Kraft Ihres Gemüthes so schleierlos zeigen. Man glaubt Ihnen nicht, wenn Sie mit pommerschen Kolbenschlägen Ihre feindseligen Absichten documentiren wollen.“
Frau Starkloff lachte herzhaft. Was sollte sie auch gegen diese gutgemeinten Worte einwenden? Mit ihrer großartig offenherzigen Ablehnung hatte sie die Munition verschossen, die ihr zu Gebote stand, und sie sah aus der ganzen Stellung ihrer Nichte, daß sie in ihr eine gefährliche Widersacherin finden würde.
Sie schloß Frieden mit Herrn von Sieveringk und begleitete ihn freundschaftlich bis zur Hausthür.
Als sie zurückkam, setzte sie sich in einiger Verdrießlichkeit, die stark mit Verlegenheit gemischt war, ihrer Nichte gegenüber und betrachtete sich moquant die Zärtlichkeit, welche zwischen ihr und den Kindern herrschte.
„Das ist eine ärgerliche und zugleich possierliche Geschichte,“ begann sie halblaut. „Die Reise des Regierungsrathes hängt doch ganz gewiß mit den verdrießlichen Erfahrungen zusammen, die er an seiner Frau gemacht hat und ich –“ Helene hob fast erschrocken den Kopf zu ihr auf – „und ich hänge wieder mit diesen Erfahrungen zusammen. Ja, Kind, sieh mich nur nicht so tadelnd an – es ist einmal geschehen und nicht mehr zu ändern!“
„Du hast Frau Olga angeklagt?“ fragte Helene tonlos. „Tante, hast Du wohl an die Folgen gedacht?“
„Bah – bah, Kind! Ich hatte nichts anzuklagen, aber ich gestehe frank und frei, daß ich dem Juwelier Schmidt, dem Bijouteriehändler Meier und noch einigen andern Kaufleuten auf ihr Befragen geradezu gerathen habe, dem Regierungsrath eine Rechnung über die „ausgeführten“ Gegenstände zu überschicken und sich des ominösen Wortes „entnommen“ zu bedienen. Schüttle nicht so tadelnd Dein Köpfchen, Kind – es ist geschehen und nun nicht zu ändern. Du hast gesehen, der Mann ist nicht vor Schreck des Todes verblichen, und die Frau wird auch nicht davon sterben. Was er nur beabsichtigen mag? Er hat insgeheim Nachforschungen an allen Orten anstellen lassen, hat bezahlt, was irgend zweifelhaft im Besitze der Frau war, und hat sie für krank erklärt!“
Helene holte tief Athem. Im Grunde hegte sie die Ueberzeugung, daß die Enthüllung dieser Vergehen eher zu spät, als zu zeitig gekommen sei, aber es regte sie peinlich auf, ihre Tante darin verflochten zu sehen. Lag es nicht wie ein schwerer Zauber von bösen Geistern auf den Schicksalen, die sie jetzt trafen? Was mußte Cécil denken, wenn er hörte, daß sie eine Rolle in den entehrenden und demüthigenden Aufklärungen über seines Onkels Gattin spielten?“
„Es thut mir nur leid,“ begann Frau Starkloff wieder, „daß ich nicht meiner gewohnten Wahrheitsliebe gefolgt bin und dem Regierungsrathe sogleich mitgetheilt habe, wem er die Eröffnung des Scandals zu verdanken hat. Es ist mir fatal, daß er das nicht weiß!“
„Habe nur Geduld, Tante, er wird es früh genug erfahren!“ tröstete die junge Dame sie mit einem Ausdrucke, der nahe an Unmuth streifte.
Mit welch gläubiger Zuversicht hatte sie dem Glücke einer ungetrübten Zukunft entgegen gesehen, und mit wie kindlichem Gemüthe dem Manne vertraut, dem sich ihre Seele erschlossen hatte! Warum mußte sich denn das Alles mit einem einzigen Schlage verändern? Warum trieb sie denn das Schicksal, auf Irrwegen und doch so sicher, einem Leben voller Verwirrung und Unannehmlichkeit zu? Würde ihre Tante zu den Maßregeln gerathen haben, wenn sich nicht Disharmonien in dem sonst so freundschaftlichen Verkehr zwischen Sieveringk’s und ihnen entsponnen hätten? War der Unmuth nicht gerechtfertigt, der sie bei den Geständnissen ihrer Tante überschlich, wenn sie bedachte, daß ihr Edelsinn bezweifelt werden könne? O, wie dankte sie Gott, daß sie in der Sorgfalt für die Kinder beweisen konnte, daß sie sich an nichts betheiligte, was dem Hause Sieveringk Nachtheil zu bringen im Stande war! Ihre Gedanken wanderten noch immer allzu gern zu der Zeit zurück, wo die Tagesstunden ihre Weihe durch einen Gruß Cécil’s erhalten hatten, wo er das Ideal ihrer Träume und doch zugleich der Gegenstand ihrer Sorge gewesen war, wenn sie sehen mußte, wie frisch und gluthvoll er sich dem Leben mit seinen Freuden hingab. Sie trauete ihm nie, weil er seinem Onkel Fabian so sehr ähnlich sah, und sie hatte ihm im Scherze oftmals die Antecedentien dieses gefährlichen Onkels in’s Gedächtniß zurückgerufen. Seine ernsten Blicke waren ihr dann heiligere Betheuerungen gewesen als Worte, und ungeachtet des tiefen Gefühles, das sie ausgesprochen hatten, scheiterte ihr Herzensglück doch so bald. Wie ein Blitz durchzuckte sie freilich manchmal der Gedanke: Es ist unmöglich, daß er, seines Willens frei und unbeschränkt Herr, so dich verlassen konnte - er muß durch Umstände gehindert sein oder durch eine fremde Macht gehemmt. Aber von welcher Macht, da er allein in der Welt stand, da sein Vater todt, seine Mutter längst, längst begraben war und ihm nur in dem Onkel Fabian eine Art Autorität zur Seite stand?
Helene widmete sich mit ganzer Seele der Pflicht, die ihr das [152] Vertrauen des Regierungsrathes auferlegt hatte, und sah fast mit Bangen der Zeit entgegen, wo ihr die Kinder wieder genommen werden würden.
Herr von Sieveringk war mit seiner Gattin abgereist. Wohin, das wußte Niemand. Ein dumpfes Gerücht nannte als Ziel seiner Reise „das Irrenhaus“!
Ein Schauer des Entsetzens durchlebte die sonst so starke Brust der Justizamtmännin, als sie diese Nachricht hörte. Es schien ihr nach dem Charakter des stolzen Edelmannes glaublich, daß er lieber vor den Augen der Welt eine irrsinnige Frau besitzen wollte, als eine verbrecherische. Und dann, hatte er denn Unrecht, Olga’s Fehlen als eine wahnwitzige Idee zu betrachten? Es lag Wahnsinn in ihrem Beginnen, obwohl ihr übriges Thun genugsam Verstand aufwies, um den Trieb dazu bekämpfen zu können. Aber der Gedanke blieb doch entsetzlich, eine junge schöne, dem weltlichen Leben blind ergebene Frau in’s Irrenhaus zu liefern, um sie in Ehren los zu werden. Denkbar war es, daß er es that. Er war herzlos, er war ein Spötter, ein Gottesleugner, ein Bonvivant, er war stolz, hochmüthig und gefühllos – genug, Herr Fabian von Sieveringk wurde unter der Voraussetzung, daß er seine Frau unschädlich machen und unter jeder Bedingung ganz aus seinem behäbigen Lebenskreise entfernen wollte, durch die Phantasie der ehrenwerthen Frau Justizamtmann Starkloff ein Unmensch, gegen den selbst die Kannibalen mit ihrer Neigung zum Menschenfleische wahre Engel waren. Sie redete sich ordentlich in Wuth, wenn sie ihrer Nichte den Egoismus zergliederte, von dem sich dieser entsetzliche Mann leiten ließe, und die entwürdigenden Vergehen der Frau Olga, deren gespenstisches Schleichen und scheues fremdartiges Wesen sie nie hatte ausstehen können, schrumpften unter den Vergleichungen mit ihrer möglichen Strafe zu einem Nichts zusammen. Sie schwor mit kräftigen Ausdrücken dem Herrn Fabian von Sieveringk eine derbe Empfangsrede zu, wenn er es sich hätte einfallen lassen, sein armes, beklagenswerthes Weib in ein Irrenhaus zu bringen, wo ihr partieller Wahnsinn durch die Zwangsjacke erst zu förmlichem Irrsinn ausgebildet werden würde.
Mit diesen welterschütternden Vorsätzen erwartete Frau Starkloff den Regierungsrath, allein er blieb klüglich so lange aus, daß ihre Entschlüsse Zeit hatten, zu verrauchen und bessern Einsichten Platz zu machen.
Der Regen strömte vom Himmel herab, als wollte er den Winter mit seinem Eis- und Schneemantel mit Gewalt von der Erde vertreiben, als an einem Februarabende der Bahnzug ganz gemüthlich daher schob und unter dem Wetterdache des Bahnhofes anhielt. Sogleich öffnete sich das Fenster eines Waggons und ein Herr rief mit der Herrscherstimme eines wohlgeschulten und eingeübten Reisenden: „Eine Droschke!“
Dicht neben ihm öffnete sich gleichfalls das Fenster, aber der Herr, welcher dort herausschauete, musterte blos verwundert die Stelle, von wo der Befehl erschallt, und zog dann mit leichten Gebehrden des Zweifels sein junges, wohlfrisirtes Haupt wieder zurück.
Gleich darauf wurden vom Schaffner die Thüren geöffnet, der zweite Herr sprang eilig heraus und kam gerade zu rechter Zeit, um dem andern hülfreich die Hand bieten zu können.
„Wahrhaftig! Ich habe mich also nicht getäuscht, als ich meines ehrenwerthen Onkel Fabian’s Stimme zu erkennen glaubte!“ rief Cécil. „Das ist doch aber grundkomisch, daß wir wahrscheinlich Rücken an Rücken einige Dutzende von Meilen gefahren sind, ohne es zu wissen. Wo bist Du denn gewesen, Onkel?“
„Das frage ich Dich, mon cher Cécil!“ erwiderte der Regierungsrath. „Du kommst mir sehr gelegen, um mir die erste schmerzlich trübe Einsamkeit meines Hauses weniger fühlbar zu machen. Du fährst mit mir! Meine Leute erwarten mich. Wir finden aufgewärmte Zimmer und erquickliche Speisen.“
Dem jungen Manne kam diese Beschlagnahme seiner Person nicht „gelegen“. Sein Herz hatte sich an Träumereien erquickt, deshalb brauchte er keine Speisen zu diesem Zwecke. Aber der Ton, womit sein Onkel sprach, klang ihm sonderbar. Auch verstand er die Worte nicht zu deuten, und als jetzt der volle Lichtglanz einer Gaslaterne auf das Gesicht desselben fiel, da erschrak er vor seinem bleichen und hohlen Antlitze, das sich um zehn Jahre älter auswies.
Mit einigem Widerstreben folgte er der herrischen Einladung. Wollte denn das Geschick durchaus die Kette nicht lösen, die ihn an den Mann fesselte, der stets auf seine Entschließungen dämonisch einwirkte? Was half ihm seine längere Abwesenheit, was halfen ihm die Schritte, die er zu seinem eigenen Besten ohne Vorwissen seines Onkels gethan hatte, um auf immer aus seiner Nähe zu kommen, und wo möglich das Glück seines Lebens vor seinen Spottblicken zu retten und zu sichern, was half ihm das? Gleich beim ersten Schritte in die heimathlichen Fluren packte ihn das Schicksal wieder und gab ihn dem Schlepptau seines Peinigers anheim.
Die befohlene Droschke kam vorgefahren und unter dem schönsten herniederrauschenden Regengusse stiegen beide Herren ein, um den ziemlich halbstündigen Weg zur Stadt zu fahren.
Zuerst schwiegen Beide; der Regierungsrath unter dem Drucke seiner unangenehmen Verhältnisse, die er mindestens dem Neffen gegenüber vom Schleier des Geheimnisses befreien mußte; Herr Cécil aber unter der Einwirkung eines stillen, grimmigen Trotzes, der ihm vortreffliche Rathschläge zuzuraunen beflissen war.
Das polternde Geräusch des Regens oberhalb ihrer Köpfe war eben nicht ermunternd zu einer vertraulichen Conversation, da sie jedenfalls mit übertriebener Lungenanstrengung verknüpft gewesen wäre, also schwiegen sie!
Endlich ließ das Prasseln nach und der Wagen fuhr etwas langsamer in einen aufgeweichten Fahrweg ein.
„Wo kommst Du her, Cécil?“ fragte Herr von Sieveringk, nun sich aufraffend, mit einiger Hast. „Bist Du bis jetzt beim Vetter Hanstein gewesen?“
„Nein,“ entgegnete der junge Mann kurz und fest. „Ich verließ die Oberförsterei, sowie mein Zustand besser wurde. Gerade heut vor vier Wochen!“
„Hast Du Dich mit Bella verlobt? Hast Du Helene von Kursen vergessen?“
[161] Cécil von Sieveringk horchte erstaunt auf den Stimmenausdruck seines Onkels, dem nicht der geringste Spott, eher aber eine sonderbare Aengstlichkeit anhing.
„Wenn ich mich mit Bella zu verloben Lust gehabt hätte, so konnte ich dies Vergnügen schon vor Jahresfrist haben,“ warf er ruhig ein. „Eine Helene von Kursen vergißt man übrigens so leicht nicht.“
„So, so! Das ist mir lieb!“ stieß der Onkel Fabian hervor und schwieg dann wieder eine lange Zeit, bevor er weiter fragte: „Wo bist Du sonst noch gewesen?“
„In der Residenz, von dort aus nach Ballberg, um mich der Gräfin Theodora zu präsentiren und Ihre Erlaucht zu bitten, mir die erledigte Stelle eines Kammerrathes in ihrem kleinen Staate zu übertragen, was sie mir auch huldreichst auf die ganz specielle Empfehlung des Oberpräsidenten gewährt hat.“
„Bist Du toll, Cécil? Kammerrath in einem Winkelstaate – Du, einer vom Stamme Sieveringk!“ rief Onkel Fabian ganz entrüstet.
„Es würde mir leid thun, wenn ich mir Deine Ungnade zugezogen haben sollte,“ entgegnete der junge Mann sehr gleichmüthig, „allein die Sache ist nicht mehr zu ändern und ich bin jetzt nur hierher zurückgekehrt, um mein geheimnißvolles Verschwinden in den Augen derjenigen zu rechtfertigen, die ein Recht hat, mich zu tadeln. Gelingt es mir, den trüben Eindruck einer unverzeihlich kindischen Flucht vor dem Bilde einer „genaschten Brezel“ zu beseitigen, so ziehe ich als glückseliger Mensch in die Hallen des alten Schlosses ein, das ich theilweise bewohnen werde.“
„Wir fahren zuerst zu ihr,“ fiel Onkel Fabian zerstreut in seine Rede. „Ich muß meine Kinder noch sehen. Willst Du mit aussteigen? Nein? – Auch gut!“
Die Droschke erreichte in diesem Momente das Steinpflaster des Stadtthores und rollte, donnernden Kanonenwagen gleich, dahin. Beide Männer verstummten wieder, aber Cécil recapitulirte sich mit steigender Verwunderung das ganze bis dahin geführte Gespräch bis zu den merkwürdigen Schlußworten, die er unmöglich richtig verstanden haben konnte.
Und dennoch! Der Wagen hielt, der früher schon gegebenen Ordre gemäß, richtig vor dem hübschen, einstöckig langausgestreckten Hause der Justizamtmännin Starkloff und der Regierungsrath verließ mit Jünglingseifer denselben, um mit der Sicherheit eines gerngesehenen Bekannten rasch die Klingel an der Hausthür zu ziehen. Cécil blieb sitzen, lehnte sich weit aus dem Wagenschlage und starrte wie ein Träumender auf seinen Onkel, auf das Haus, das seine schönste Erdenfreude in sich barg, und auf die holde Gestalt Helenens, die selbst an der Pforte erschien, um mit der weichen Stimme des Bedauerns zu rufen:
„Ach, nun schlafen sie schon; wie sehnsüchtig haben die kleinen Herzen Minute auf Minute gezählt, bis der Schlaf die Worte „der Papa kommt“ von ihren Lippen nahm. Kommen Sie, Herr von Sieveringk, und sehen Sie die Kinder, aber wecken Sie sie nicht.“
Sie verschwand von der Thür und der Regierungsrath folgte ihr. –
Cécil begriff nichts, konnte auch nichts begreifen, verzehrte sich aber beinahe in dem heißen Wunsche, den Zusammenhang dieser abenteuerlichen Ereignisse zu erfahren. Wo war die Mutter dieser Kinder, daß sie der schützenden Obhut einer Fremden anvertraut waren? Sollte sie gestorben sein während der Zeit? Nein. So sah sein Oheim nicht aus, obwohl eine merkliche, ganz wesentlich einwirkende Wehmuth den Ton seiner Stimme dämpfte und den Inhalt seiner Rede stempelte. Eine Viertelstunde verweilte der Regierungsrath in dem Hause der Amtmännin, dem jungen Manne im Wagen däuchte es eine Ewigkeit. Die wenigen Wochen selbstgeschaffener Pein hatten seinem Charakter die nothwendige Reife des Mannes verliehen und ihn aus dem träumerischen Exaltationsstadium überschwenglicher Huldigung und Liebe zu den prosaischen Ueberlegungen für eine standesgemäße Existenz gebracht. Unter der Einwirkung dieser Gemüthsverwandlung hatte er sich um das Amt in der Besitzung der Gräfin Theodora von Ballberg beworben, dessen Verleihung ihn nun in den Stand setzte, als Bewerber um Helenens Hand in aller Form aufzutreten, während er vor sechs Wochen nur als leidenschaftlicher Liebhaber ihr Herz in Anspruch zu nehmen vermochte. Es war die Ruhe der Gewißheit eingekehrt, wo sonst die Wallungen idealer Ueberschätzungen gewaltet hatten, aber mit dieser Veränderung der Herzenstemperatur war die feste und edlere Zärtlichkeit des Mannesherzens in ihm aufgewacht, das nicht feig vor dem Urtheile der Welt zurückweicht, sondern mit seinem eigenen Leben und Blute den hohen Werth der Geliebten zu vertreten bereit ist.
Er war entschlossen gewesen, um Helenens willen mit seinem Onkel Fabian zu brechen, ihn zu meiden und dem Einflusse seiner Spöttereien Trotz zu bieten. Und siehe da! – er fand seinen Onkel Fabian in der Laune, den Freund des jungen Mädchens, das er spöttisch verunglimpft hatte, zu spielen. Was war vorgefallen, um [162] die Meinung, um die Stimmung und Handlungsweise dieses Onkels zu verändern? Ihm brannte das Herz, Helene zur Vertrauten seiner überstandenen Herzensqualen, die auf nichts begründeten, zu machen, aber dazu mußte er ihr allein gegenüber stehen, um die Demüthigung der Liebe nicht profanirt zu sehen. Sein Zustand enthielt Tantalusmarter, als er sich dicht vor ihrer Thür in den Wagen gebannt sah, während sich der Mann, der die Schuld an dem Zerwürfnisse zwischen ihnen trug, in ihrem Lächeln sonnen und die milde Freundlichkeit ihrer Worte genießen durfte. Schicksalstücke schien zu walten, um seine Strafe für die Feigheit, womit er vor dem Spotte des Onkel Fabian geflohen war, zu erhöhen. Es erschwerte seine Stellung gegen die Bewohnerinnen dieses Hauses, daß er vor ihrer Thür hielt und ruhig wartete, ohne von Sehnsucht getrieben zu werden, zu Helenens Füßen Abbitte für sein unverantwortliches Verschwinden zu leisten.
Jetzt nahten sich die Stimmen, die er nur ganz von fern und undeutlich vernommen hatte – das rauhe kräftige Organ der Tante Starkloff mischte sich mit den weichen, klingenden Tönen der jungen Dame und sein würdiger Oheim scherzte mit Beiden im anmuthigsten Dolce seiner Stimme. Ein stürmisches Gefühl packte ihn und unterjochte alle mühsam gepflegte Besonnenheit. – Er mußte Helene sehen! – Was sollte sie denken, wenn Onkel Fabian gesagt hatte: „mein Neffe Cécil wartet auf mich!“ Im Nu verließ er den Wagen und als die Damen den Regierungsrath abschiednehmend bis zum Hausflure begleitet hatten, stand der junge Mann plötzlich, wie aus der Erde gezaubert, vor Helene, faßte ihre Hände, preßte sie mit unbeschreiblicher Aufregung an seine feuchten Augen, an seine heißen Lippen und flüsterte:
„Helene! O Helene! – Morgen früh! – Darf ich kommen? Darf ich?“
„Ja,“ entgegnete fast bewußtlos vor Schreck das Mädchen. „Ja, morgen früh!“
„Morgen früh,“ jubelte Cécil und war wieder verschwunden. Gleich darauf rollte der Wagen die Straße hinab.
„Hilf Himmel, wer war denn das?“ schrie Frau Starkloff, zurückprallend und in großer Bestürzung ihre Nichte anstarrend, die sich bebend an ihre Schulter lehnte. „War es nicht Cécil? Der hat das Kommen und Verschwinden wohl seiner preiswürdigen Tante Olga abgelernt? Was sagte er, Kind, was?“
„Morgen früh!“ flüsterte das Fräulein ganz leise.
„Das scheint seine Devise zu sein!“ meinte die Dame trocken und zog ihre zitternde Nichte in’s Zimmer zurück. „Morgen, morgen, nur nicht heute – Kind, hoffe nicht wieder auf „morgen früh!““
Helene blickte zu ihr auf. Eine schwärmerische, glühende Freude verklärte ihr schönes Auge und verbreitete einen Heiligenglanz um ihr Haupt, aber sie gab ihren Gefühlen keine Worte, sondern hob nur bittend ihre Hände zu ihr empor.
„Nun, nun! Ich habe ja nichts dagegen,“ erwiderte Frau Starkloff, erschüttert von dem lebendigen Ausdrucke einer inneren Glückseligkeit, die der beste Beweis vom Dasein unveränderter Liebesgefühle war und sie zugleich belehrte, daß sie im großen Irrthume über die vernünftige Ruhe Helenens geschwebt hatte. „Wenn er nur „morgen früh“ wirklich kommt und sich einen tüchtigen Vorrath von gehaltvollen Entschuldigungsgründen mitbringt. Dein Glück ist mein zärtlichster Wunsch, Kind meiner Schwester, und ich habe, außer der sechswöchentlichen Abwesenheit Cécil’s ohne Urlaub, gar nichts gegen Deine Wahl einzuwenden.“
Ein prächtig durchwärmtes Zimmer, mit luxuriöser Beleuchtung und allen erforderlichen Anstallen zu einem späten Diner, empfing die beiden Herren von Sieveringk, als sie im Hause des Regierungsrathes ankamen. Doch nach der Hausfrau blickte sich Cécil vergeblich um.
„Ich muß wissen, was hier geschehen ist, was das zu bedeuten hat,“ dachte der junge Mann, sich schnell seines Reisepelzes entledigend, während sein Onkel vom Bedienten im Nebenzimmer umgekleidet wurde.
Gleich darauf trat der Regierungsrath zu ihm, warf sich tief athmend auf einen Sessel nieder und ließ seine Blicke rundum laufen. Sein Auge glänzte von einer zurückgehaltenen Thräne, als er es dann zu Cécil emporschlug, der voller Verwunderung zu ihm niederschaute.
„Ich habe doch noch mehr von dem Dinge, was man Herz nennt, in meinem halbhundertjährigen Körper, als ich selbst geglaubt habe, mon cher Cécil,“ begann er, mit dem besten Willen, sich selbst diesmal zur Zielscheibe seines Spottes zu machen. Er fühlte jedoch, daß es ihm mißlingen werde, und fuhr wehmüthig fort: „Sie wird mir fehlen, überall fehlen! Ich habe sie lieb gehabt mit ihrem sonderbaren, fast gespenstischen Wesen! Es wird mir oft sein, als husche sie hinter meinem Rücken in’s Zimmer, und wenn ich mich umschaue, wird es mir vorkommen, als sei sie, wie sonst wohl, eben wieder verschwunden!“
„Aber um Gotteswillen, Onkel, erkläre mir –“
„Still!“ unterbrach ihn der Regierungsrath, „still, laß mich in Frieden – ich will nun Ruhe haben!“
„Es thut mir leid, wenn ich Dich quäle, allein ich muß wissen, was geschehen ist, um den Bann gehoben zu sehen, in welchem jedes meiner Worte liegt, so lange ich, nicht unterrichtet, befürchten muß, eine wunde Stelle zu treffen. Wo ist Tante Olga? Was ist’s mit ihr, daß ich sie nicht finde?“
„Wo Olga ist?“ wiederholte Herr von Sieveringk mit einem Anklange tiefer, feierlicher Empfindung. „Bei ihrer Mutter ist sie – im Elternhause, bei ihrer Mutter, einer herrlichen, gütigen Frau, die, barmherzig und mild, sanft und geduldig das Joch tragen will, das der Wille des Höchsten ihr auferlegt hat. Was mit meiner Frau ist, weshalb sie von mir entfernt wurde? Ja, wie sage ich Dir das, ohne Dein ehrliches Sieveringk’sches Herz mit Entsetzen zu erfüllen? Olga hat die Natur der Elster, sie kann nichts Blankes sehen, ohne es – ohne es zu stehlen,“ schloß er dumpf und setzte sogleich hinzu, als Cécil eine Gebehrde des Abscheues machte: „Ruhig, kein Wort des Tadels! Ich betrachte sie als wahnwitzig! Und irre ich denn? Ist’s nicht ein Wahn, der zu stark ist, um von der Vernunft gefesselt zu werden? Ich habe sie lieb gehabt, sie ist die Mutter meiner theuren Kinder und um deswillen ehre ihr Andenken, tadele sie nicht!“
„Wirst Du auch auf Scheidung antragen?“ fragte Cécil beklommen.
„Nein! Wozu denn Scheidung? Trennung ist ja hinreichend, Trennung auf Nimmerwiederschen.“
„Wie hat Tante Olga aber in diese Trennung gewilligt, da sie ihre Kinder dabei eingebüßt?“ forschte Cécil theilnehmend.
Der Regierungsrath sah nachdenklich vor sich hin.
„Es ist etwas Eigenes in dieser Natur, was ich nicht begreife. Sie erkennt die fürchterliche Ehrlosigkeit ihrer Handlungen nicht an und bekämpft jeden Tadel mit dem Ausspruche: „Ich kann es nicht lassen!“ Hingerissen von meiner Empörung, versuchte ich das Aeußerste, um ihr das Licht der Erkenntniß anzuzünden. Vergeblich. Darnach faßte ich meine Entschlüsse. Ich mußte sie fassen, Cécil, und wenn es mein ganzes zeitliches Wohlbehagen gekostet hätte. Was sollte aus meinen Kindern werden?“
Der junge Mann neigte beistimmend sein Haupt und sein Oheim fuhr fort:
„Mir ist nur unbegreiflich, wie ich fünf Jahre mit Blindheit geschlagen neben Olga leben konnte, ohne Erkenntniß dessen, was in ihr lebte. Bei meiner Menschenkenntniß, bei meiner Welterfahrung, bei meiner Beurtheilungskraft – kannst Du mir’s erklären?“
„Ja, Onkel Fabian. Du liebtest Deine Frau, und in dieser Liebe lag die Idealisirung ihres Wesens, welches dem nüchternen Verstande nicht Stich gehalten hätte!“
Herr von Sieveringk sah seinen Neffen zerstreut an und wiederholte mechanisch:
„In dieser Liebe lag die Idealisirung ihres Wesens!“
Eine Todtenstille trat nach diesen Worten ein, dann richtete sich der Regierungsrath straff empor, machte einen Gang durch’s Zimmer und stellte sich dicht vor Cécil hin.
„Die Liebe ist gewichen, mon cher Cécil,“ sprach er in veränderten, Tone, „was hier in der Brust noch pocht und mahnt, ist das süße Gift der Gewohnheit. Auch das wird sich verlieren. Sie mußte fort! Ich fühlte mich den Kämpfen nicht gewachsen, die ihr systematisches Räubersystem in Aussicht stellte. Sie mußte fort! Meiner Kinder wegen. Sollte ich ein Hohnlächeln ertragen, wenn meine Tochter in der Blüthe ihrer Schönheit dereinst an der Seite einer solchen Mutter erschien? Daß die Kinder in der Gottesfurcht [163] ein Palladium gegen unerlaubte Wünsche erhielten, das verdanke ich Deiner Helene –“
„Helenen?“ rief Cécil überrascht. Ein flüchtiges Roth zeigte, daß er sich sehr deutlich der Erzählung von den geraubten Brezeln erinnere. Auch Onkel Fabian dachte daran, ließ es jedoch für den Moment nicht merken.
„Sie mußte fort,“ schloß er mit erhobener Stimme, „und sie ist wohl aufgehoben in den Armen ihrer Mutter, welche ihr Kind ungeachtet ihres Fehlens liebt. Wir wollen sie als todt betrachten, Cécil! Ob sie lebt und wie lange sie lebt – ich will nichts davon wissen. Ihr Herz ist ruhiger, als das meine. Sie liebte ihre Kinder mit der Natur eines Vogels, der seine Jungen verläßt, wenn sie flügge sind – lassen wir ihr diese trostvolle Ruhe und suchen wir sie zu vergessen. Sie ist todt für mich, todt für meine Kinder und todt für Jedermann, der es wagt, darnach zu fragen. Und ich will den sehen, der es riskirt, mich, den Fabian von Sieveringk, zum zweiten Male zu fragen, wenn ich die erste Frage zu ignoriren für gut finde.“
„Aber Olga? Du fehlst ihr – wer wird sie vor indiscreten Fragen schützen?“
„Der Volksaberglaube ihres Heimathlandes,“ tröstete ihn der Regierungsrath. „Man betrachtet sie dort mit scheuer Ehrfurcht, denn „die Wassernixe hat neben ihrem Taufsteine gestanden, und ihr den Salamandergeist zum Pathengeschenk eingebunden,“ flüstert sich das Fischervolk in die Ohren.“
Es entstand wieder eine jener unerquicklichen Pausen, wo sich der Geist willenlos in dem Chaos von Gedanken und Gefühlen verliert.
„Genug nun der wüsten Träumerei, mon cher Cécil,“ begann Herr Fabian, sich aufrüttelnd und zu seinem gewöhnlichen Tone übergehend, „genug der traurigen Reminiscenz, laß uns begraben, was todt ist, und Gras auf dem wachsen lassen, was begraben ist. Du bist hinlänglich von dem unterrichtet, was zu wissen Dir noth thut. Jetzt bitte ich Dich um dreierlei: bedaure nichts – frage nichts und halte keine moralischen Reden. Ich huldige nun einmal den Lehren des Epikur, der das Laster haßte, weil es sein Wohlbefinden störte, und der die Tugend liebte um des ruhigen und süßen Wohlbehagens willen. Mein Wohlsein war gefährdet, das mußt Du einräumen, deshalb unterwarf ich mich dem Seelenschmerze und verbannte meine Frau von meiner Seite. Man könnte dies einen Beweis der raffinirtesten und ausgeprägtesten Selbstsucht nennen, ich gebe es zu, allein vernünftig betrachtet, ist es nur die richtigste Lebensphilosophie. Komm, mon neveu – ich bin sehr hungrig!“
Das Essen wurde servirt und so lange der Bediente im Zimmer war, unterhielten sich die beiden Herren von gleichgültigen Reiseerlebnissen. Kaum aber schloß sich die Thür hinter demselben, so rief der Regierungsrath in ganz wiederhergestellter Laune:
„Apropos, mon cher Cécil! Ich bin Dir Jahreszahl und Datum der Geschichte schuldig geblieben, die ich Dir vor Deiner Abreise von Helene Kursen erzählte –“
„Bitte, bemühe Dich nicht,“ fiel Cécil lachend in seine Rede.
„Es war justement vor zehn Jahren, als sich die Deutschen auf’s Revolutionsspielen einüben wollten.“
Ein zürnender Blick war Cécil’s ganze Antwort. So boshaft angelegt hatte er sich den Spott seines Onkels doch nicht gedacht. Eine Kindergeschichte? Eine Kindernäscherei? Und deshalb hatte er sechs Wochen des reinsten Liebesglückes geopfert?
Wenn Onkel Fabian die geringste Anlage dazu gehabt, hätte, verlegen werden zu können, so wäre er es jetzt geworden, wo sein eigener Neffe mit Fug und Recht durch sein Stillschweigen eine Art Verachtung auszudrücken beliebte.
„Du bist mir viel Dank schuldig,“ sprach er, aber statt jeder Spur von Verlegenheit, mit unverwüstlichem Humor, „denn Du findest Fräulein von Kursen unendlich verschönt durch das fromme Lächeln der Ergebung in einen hohem Willen. Die stille Duldung kleidet das Mädchen vortrefflich, mon cher Cécil! Was hast Du ihr denn heut Abend in aller Eile zugeflüstert? Doch nicht etwa, daß Du sie liebst? Das wäre fatal! Du machtest mich dadurch gerades Weges zum Lügner, denn ich habe der rechtschaffenen Tante Starkloff erzählt, daß Du Dich mit Schön-Bella Hanstein verlobt hättest.“
Cécil lächelte. „Sie wird Dir nimmermehr geglaubt haben.“
„Doch, doch!“ betheuerte Onkel Fabian eifrig. „Sie hat’s geglaubt! Woher sonst der verklärende Schmerz?“
Er betonte die beiden letzten Worte so durchaus komisch, daß Cécil nichts Besseres thun konnte, als laut auf zu lachen.
„Onkel, Du bist unverbesserlich!“ rief er dann. „Aber laß es Dir gesagt sein, von jetzt an bin ich den Einwirkungen Deines Spottes vollständig entwachsen!“
„Das freut mich! Wahrhaftig, bist Du so weit? Nein, das freut mich! Wozu willst Du aber dann noch Kammerrath in Ballberg’schen Diensten werden? Wenn Du keine Furcht mehr vor meinem Spotte hast, kannst Du ja immerhin hier bleiben. Ueberlege Dir das Weitere, mon cher Cécil!“
Es wäre thöricht, zu erzählen, welche Seligkeiten der nächste Morgen mit seinen Erklärungen keimen und gedeihen ließ. Wer jung gewesen ist, kennt die brennenden Worte der Liebe, die so schnell verlodern, und weiß, daß jedes Menschenherz seine Liebe für die stärkste, treueste und edelste hält. Was sich Helene und Cécil anvertrauten, klang ungefähr so und wurde für den Augenblick mit so hingebender Leidenschaft betheuert und geglaubt, daß jeder Zweifel eine Sünde gewesen wäre.
Interessanter würde es sein, das Gesicht und die gelegentlichen Ausrufungen der Justizamtmännin Starkloff belauschen zu können, die diesem ungeahnten Ausgange der Liebestragödie mit Kopfschütteln ihre Billigung zusagte. Um ihre Nichte mit ihren gescheiterten Liebeshoffnungen einigermaßen zu rächen, hatte sie den Pfeil gegen den Regierungsrath von der längst gespannten Sehne schlüpfen lassen und siehe da – die Rache war ganz unnöthig gewesen.
Im Stillen verwunderte sie sich über das unaussprechlich große Glück, das aus den Blicken der beiden jungen Leute leuchtete, weil sie hinter der Ruhe Helenens gar keine so große Liebe vermuthet hatte, allein sie war so gescheidt, von ihren geringen Beurtheilungstalenten nichts zu verrathen.
Daß Cécil sich anderweitig placirt hatte und fest darauf bestand, mit Helene nach Ballberg zu ziehen, machte sie erst verdrießlich, obwohl sie die ihr mitgetheilten Gründe für diesen Entschluß gelten lassen mußte. Sie blieb aber darnach einsam in ihrem comfortabel eingerichteten Elternhause zurück, das sie in Gemeinschaft mit Helene ererbt hatte. Nach und nach ergab sie sich indeß in dies Mißgeschick und als endlich der Regierungsrath zu der improvisirten Verlobung hinzukam, und ihr den Vorschlag machte, „sich gegenseitig in ihrer Einsamkeit zu ergänzen,“ da war sie vollkommen damit zufrieden, und schlug willig in seine dargebotene Rechte.
Onkel Fabian hatte sich ihre Achtung durch die kräftige Entschlossenheit erzwungen, womit er ohne Rücksicht auf sich selbst seiner Ehre und seinen Kindern die Gattin zum Opfer gebracht und sie zartsinnig dem Schutze ihrer Mutter überantwortet hatte. Sie erkannte sehr wohl aus seiner verfallenen Gestalt und aus seiner oftmals wehmüthig ernsten Stimmung, wie viel er dabei gelitten hatte und noch immer litt, und sie ehrte seinen Schmerz nicht allein durch die respektvollste Discretion, sondern auch durch schlagende Beweise einer tiefen herzinnigen Theilnahme.
Sie wurden einig, sogleich nach Helenens Verheirathung mit einander Haus zu halten, wozu der Raum in dem Hause der Amtmännin vollkommen hinreichend war. Aber bevor sie den Contract dieses neuen Lebensplanes vollgültig machte, erklärte sie dem Regierungsrathe ganz offenherzig ihre Betheiligung an der Entlarvung seiner Gattin, um spätern Zerwürfnissen zuvorzukommen. Zu ihrem Erstaunen gewahrte sie, daß sie demselben nichts Neues sagte. Er wußte Alles, was in dieser Angelegenheit von ihrer Seite geschehen war, und er hatte ihr nicht darüber gezürnt, daß sie sein Lebensschiff etwas schonungslos in die brandenden Wellen des Zufalles geleitet und es dem Sturme preisgegeben hatte. Sie blieben gute Freunde, und es erwuchs gewiß dem schwer heimgesuchten Manne aus dieser Freundschaft das Gute, daß die ehrenwerthe Bevölkerung der Stadt mit großer Schonung und Milde Alles beurtheilte, was er zur Rettung seines Lebensfriedens für gut befunden hatte.
Jetzt regieren sie sich Beide mit den Kräften ihrer Eigenthümlichkeiten. Wenn Onkel Fabian gutmüthig spottet, so gibt sie ihm eine Zurechtweisung voll gelinder Grobheit. Dabei überwacht [164] sie mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt die beiden Kinder ihres Hausgenossen, und hat ein scharfes Auge für die Aufsicht der Dienstboten.
Frau Olga ist aus den Reihen der Lebendigen gestrichen, ohne gestorben zu sein. Ihr Name wird nie genannt und ihre Kinder vermissen sie unter der gesteigerten Zärtlichkeit ihres Vaters nicht. Zu seiner unaussprechlichen Freude zeigt sich, trotz der aufmerksamsten Beobachtung, keine Spur der mütterlichen Begabung, weder die der Elsternatur, noch die des Salamanders. Er preist Gott dafür!