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Ohne Arme!

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Textdaten
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Autor: Johann Christian Lobe
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Titel: Ohne Arme!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 437–438
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[437]
Ohne Arme!
Von J. C. Lobe.

Es hat Personen gegeben, die mit den Fußzehen zu schreiben, zu sticken, ja zu malen vermochten. Der Gedanke jedoch, daß ein Mensch ohne Arme ein Violinvirtuose sein könne, ist wohl noch niemals in eines Sterblichen Kopf gekommen. Indeß haben wir vor Kurzem ein solches halbes Wunder in Leipzig gesehen.

Hermann Unthan.
Nach einer im Besitz der Gartenlaube befindlichen Originalphotographie.

Hermann Unterthan, der Sohn eines armen Dorfschullehrers zu Sommerfeld bei Elbing, führt mit seinen Füßen aus, was bis zu ihm nur mit den Händen zu vollbringen möglich schien. Auf einer Art Fußschemel, den Unthan selbst erfunden und vorgezeichnet, liegt die Violine. Vor denselben, auf einen gewöhnlichen Stuhl, setzt sich der junge Virtuos. Nun dreht er die Wirbel mit den Zehen des rechten Fußes und stimmt die Violine auf’s Reinste. Alsdann faßt er den Bogen zierlich und leicht mit der ersten und zweiten Zehe des linken Fußes und greift die Saiten durch Aufdrücken der Zehen des rechten Fußes.

Was er auf diese Weise ausführt, Piècen von Singélée, Meyerbeer, Berriot u. a. m., wenn es auch die rapiden Virtuosenkünste nicht erreicht, grenzt doch immer noch an das Wunderbare. Er trägt nicht allein langsame, gesangvolle Stellen, sondern auch ziemlich schnelle Passagen von den tiefsten bis in die höchsten Tonregionen, über alle vier Saiten gleitend, sauber und rein vor; er producirt Triller mit zwei Zehen so schnell und nett, wie der beste Virtuose mit zwei Fingern; er spielt ganze Reihen von Doppelgriffen in Terzen und Decimen. Was aber fast noch mehr sagen will, er trägt mit geläutertem Geschmack und vieler Empfindung vor, indem er alle Nüancen des Ausdrucks vom Pianissimo bis zu mittleren Stärkegraden in seiner Gewalt hat. Fügen wir hinzu, daß er das durchaus zu vermeiden weiß, was uns bei gar manchen sehr hochgerühmten Virtuosen auf Streichinstrumenten nicht selten peinigt und ihre ganze Spielfertigkeit werthlos macht – das ohrzerreißende Bogenkratzen – und bemerken wir endlich, daß der junge Mann, eben in das zwanzigste Jahr getreten, erst seit drei Jahren seine Kunst treibt, so wird man wohl zugeben, ein Phänomen der seltsamsten Art vor sich zu haben.

Aber – „Ach der Arme! Ohne Arme!“ so hörten wir eine junge Dame bei der Ankündigung des Concertes ausrufen; „das [438] muß ja ein erbarmungsvoller und ganz unästhetischer Anblick sein. Nein, das könnte ich nicht mit ansehen, da würde mir das Herz vor Mitleid zerspringen!“

Fürchten Sie nichts dergleichen, meine Schöne; Sie mögen zittern, wenn ein Mensch auf dünnem Seile zu schwindelnder Thurmeshöhe hinauf balancirt; Sie mögen schaudern, wenn der Thierwärter den Käfig seiner wilden Bestien betritt, sie mit der Peitsche schlägt, reizt und dann seinen Kopf in ihren Rachen steckt; Sie mögen bei dem Anblick der lebensgefährlichen Sprünge, Klettereien etc. der Kunstreiter, Seiltänzer, Seilschwenker etc. ein ängstliches Gefühl nicht los werden können, – bei dem Anblick unseres jungen Virtuosen, mit dem blühenden, heiteren Antlitz, dem intelligenten Blick, werden Sie weder einen ängstlichen, noch mitleidigen, noch unästhetischen Eindruck empfangen. Im Gegentheil haben wir nur angenehme Empfindungen und erhebende Gedanken bei seinen Productionen. Wir werden unwillkürlich auf die Betrachtung geführt, welche wunderbare Kräfte und Fähigkeiten in dem Menschen liegen, wovon er selbst keine Ahnung hat, bis ihn die Nothwendigkeit darauf führt, danach zu suchen, sie zu wecken und auszubilden. Wir müssen den für alle Lebensnöthen so trostvollen Gedanken fassen, wie ein empfindlicher Nachtheil durch Muth, Kraft und Beharrlichkeit in einen Vortheil, ein anscheinend sehr trauriges Geschick in ein heiteres umgewandelt werden können. Hermann Unthan ist kein bemitleidenswerther, er ist ein vollkommen zufriedener Mensch. Er ist glücklich durch den Gedanken, sich selbst geholfen, die scheinbare Hülflosigkeit, mit welcher er auf die Welt gekommen, vollständig überwunden zu haben. Den Mangel der Arme empfindet er nicht, denn er hat sie nie besessen. Seine Beine sind seine Arme, seine Füße sind seine Hände, seine Zehen sind seine Finger, und damit vollbringt er Alles, was andere Menschenkinder mit ihren Armen, Händern und Fingern thun. Er kleidet sich selbst an und aus, er wäscht und kämmt sich, er speist und trinkt etc. Seht ihn, wenn er in Gesellschaft seine Cigarre anbrennt, in den Mund bringt, dann seine Tasse Kaffee behaglich dazu schlürft, und ihr müßt recht aufpassen, wenn ihr bemerken sollt, daß er das Alles nicht mit den Armen, sondern mit den Beinen thut. Ja, er kann sogar unvorsichtig damit gebahren. In seinem dreizehnten Jahre ergriff er eine Flinte, die er für ungeladen hielt, um damit zu spielen, und schoß sich durch die linke Schulter. Der junge Mann ist lebens- und reiselustig und will womöglich die ganze Welt durchziehen, in Begleitung zweier sicherer und gewandter Führer, wovon der eine, immer vorauseilend, die Geschäfte, Wohnung, Concerte etc. besorgt. Möge ihn ein günstiges Geschick begleiten und ihm vor Allem volle Concertsäle verschaffen! Er verdient es, nebenher gesagt, auch durch sein liebevolles, kindliches Gemüth, indem er den Ueberschuß der Einnahmen regelmäßig seinen armen Eltern nach Hause sendet.