Oberst Hußlar
In einem Thale, das sich breit gegen eine weite Ebene öffnet, während der Hintergrund mit schönen waldigen Höhen prangt, liegt ein Landstädtchen, das wir der Bequemlichkeit wegen Fürstenhall nennen wollen, weil es uns aus Gründen versagt ist, es mit dem wahren Namen zu bezeichnen.
Fürstenhall hat unendliche Vorzüge vor andern Provinzialstädten. Die Umgebungen sind anmuthig, die Luft frisch und rein, die Häuser in der Stadt allerliebst und die Menschen, welche darin wohnen, vortrefflich. Ein kleiner Landsee, welcher von der Ebene herein bis zu den ersten Häusern der sogenannten Vorstadt, sich zieht, erhöht nicht allein die Reize der Gegend, sondern mischt die Anmuth mit dem Nutzen, indem er die Veranlassung zu Kaltwasserheilanstalten, Badehäusern und Badebassins gab.
Alle die Vorzüge dieses kleinen Fleckchens Erde machen es erklärlich, daß sich eine Menge Reisende, namentlich kränkliche junge und alte Damen, Hypochondristen und Podagraleidende, fanden, die dort für die Sommermonate ihren Aufenthalt nahmen, und das stereotype Einerlei einer unausbleiblichen Kleinstädterei in ein buntes, bewegliches Leben voll Abwechselung verkehrten. Fremde flogen aus und ein. Die Häuser, alle elegant erhalten und hübsch möblirt, wurden monatsweise vermiethet, in einigen Gasthöfen errichtete man eine table d’hôte, und die hübschen Bergwaldungen hatten bald das Ansehen eleganter Parkanlagen erhalten. Der Wohlstand der Einwohner stieg und die Speculation, das nachgeborne Kind jedes unerwartet glücklichen Erfolges, erwachte.
In Fürstenhall wohnte seit mehr als zehn Jahren die Medicinalräthin Schlesing. Sie war Wittwe seit dieser Zeit, und hatte zur Vermehrung ihrer sonst schon ganz guten Existenzmittel ein großes Haus daselbst gekauft, und theilweise zu chambres garnies eingerichtet. Die Dame verstand es, ihren Einrichtungen ein nobles Ansehen zu geben. Sie hielt sich einen Portier, der, für freie Wohnung auf dem Hofe, die Geschäfte eines Eincassirers und Verpflegers der fremden Hausbewohner übernommen hatte. Sie selbst thronte in der Bel–Etage wie eine Königin, und ließ sich nur in einzelnen Fällen herab, mit ihren Miethern Freundschaft zu schließen. Dabei war sie aber keineswegs hochmüthig und eingebildet. Ihr Betragen entsprang mehr aus Gründen der Klugheit und durch Einwirkung einer bis zur weitesten Ausdehnung gelangten Bequemlichkeitsliebe. Stolz und Hochmuth wären auch am unrechten Orte gewesen, da sie besser als jeder Andere wußte, was es mit ihrem klangreichen Titel für eine Bewandtniß habe. Ihr verstorbener Mann war Wundarzt erster Classe gewesen, hatte sich durch einige gut geheilte Arme und Beine einen Namen zu machen gewußt, war endlich so glücklich geworden, den Thronerben eines kleinen Fürstenhauses von einer Nackengeschwulst zu befreien, und war von diesem auf seine specielle Bitte zum Medicinalrathe ernannt, weil er den Doctortitel nicht hatte erlangen können. Bald darauf starb er, und hinterließ seine kinderlose Gattin als stattliche Medicinalräthin mit einem hinreichenden Einkommen, das sie auf eine sehr bequeme Weise noch bedeutend zu vergrößern wußte.
Der Monat Mai war immer der Zeitpunkt, wo die schwachen, lahmen, müden und gelangweilten Fremden von nah und fern herzuströmten, um Fürstenhall als Abhülfe aller innern und äußern Gebrechen zu versuchen.
Unsere Medicinalräthin hatte ihre Zimmer sämmtlich schon vermiethet und sogar in ihren eigenen Apartements für diesmal eine junge, blasse, aber bildschöne Frau mit einem eben so hübschen, doch kerngesunden und blühenden Mädchen von drei Jahren aufgenommen. Die junge Dame wurde einfach Frau Hußlar genannt, sah jedoch einer vornehmen Dame gar nicht unähnlich. Das kleine Mädchen rief man Pauline.
Drei Wochen wohnten diese Zwei schon bei der Medicinalräthin, welche von ihnen „Tantchen“ genannt wurde, als eines Tages der Postbote einen Brief abgab, den die alte Dame mit großem Erstaunen betrachtete.
„Von meinem Schwager, dem Oberst!“ rief sie überrascht. Ein Schrecken schien die junge Frau zu durchfliegen, sie ließ ihre Stickerei in den Schooß sinken, und sah ihre Verwandte sprachlos an, bis diese zu Ende gelesen hatte.
„Das ist ein sonderbarer Zufall,“ sprach die alte Dame, nachdenklich über den Brief weg zu Frau Hußlar aufschauend. „Hören Sie, liebe Nichte, was er schreibt:
- „Hochweise Frau Schwester.
- „Es sind fünf Jahre, seit wir uns nicht gesehen haben. Wir sind Beide in der Zeit nicht jünger geworden. Der Aerger über meine Jungens hat mich erst desperat, dann krank gemacht. Meine Milz, meine Leber, meine Nieren und meine Lungen haben von all’ der Galle gelitten – ja, ja! und der Medicus, nicht so einer, wie Ihr seliger Mann, der Beine und Arme abschneidet, der meint, Fürstenhall könne meine alte Maschine etwas einölen helfen. Mir ist’s egal, wo ich lebe. Hier wie da bin ich ein alter verlassener Vater, der das Unglück hat, zwei Taugenichtse zu Söhnen zu haben. Sie wissen’s doch, weise Christine,
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- daß Ihr einer Schwestersohn „Steine klopft in Amerika“, und der Andere „Locomotivführer“ geworden ist. Es sind schmucke Geschichten, weise Frau Schwester, aber man thut gut, gar nicht daran zu denken. Damit ich’s Ihnen nicht mündlich zu sagen brauche, will ich es schriftlich thun – ein paar Dutzend Federn werde ich wohl dabei zerstampfen vor Aerger – schadet nicht. Eberhard, mein und Ihrer Schwester, Gott hab’ sie selig, Aeltester, schreibt mir eines Tages, daß er nicht länger Krieger in Friedenszeiten bleiben möchte, und bittet mich, ihm zu erlauben, seinen Lieutenant an den Nagel hängen zu dürfen.
- „Ich antwortete „quod non!“ Was half mein Vaterwort? Nichts! Er quittirte den Dienst, und ging bei einem Schlosser Harteberg in die Lehre. Klingt das nicht wie ein Märchen – ? Ist so etwas schon in der Welt vorgekommen?“
Die Medicinalräthin unterbrach sich im Vorlesen, und hielt mit einem guten Lächeln ihre Hand der jungen Frau hin, die sie lächelnd und erröthend annahm.
- „Ein Vierteljahr darauf schreibt der Taugenichts abermals, und bittet mich um meinen Segen zu einer Verbindung mit Therese, des Schlossers Töchterlein. Ich antwortete kurz und grob: „Thu’, was Du nicht lassen kannst – in’s Haus bringst Du mir Schlossers Töchterlein nicht. Ich habe einst einen Sohn gehabt, der Eberhard hieß und Lieutenant war. Basta.“ Er schreibt und Thereschen schreibt, der alte Schlosser schreibt und die alte Schlosserin schreibt. Schreibt nur, sagte ich und antwortete nicht. Da kommt der Junge angefahren. Ich schließe die Thür zu – er muß unverrichteter Sache zurück, und denken Sie einmal, der Junge stellt sich vor meine verschlossene Thür und ruft: „Vater, laß mich nicht ungehört abreisen, öffne die Thüre, höre meine Entschuldigungen, höre, daß mein Glück davon abhängt – daß ich Therese liebe, wie nichts auf der Welt.“ – Na, weise Frau Schwester, Sie kennen doch solche schönen, hochtrabenden Romanwörter. Ich ließ ihn reden, und öffnete nicht eher, bis er mit dem Schwure: „meine Schwelle nicht eher wieder zu betreten, bis ich mein Unrecht eingesehen hätte,“ fortgegangen war. Er wird sein Schlossertöchterlein wohl geheirathet haben, wenigstens machte mir der hochnäsige Herr Schlosser, der komischer Weise eine adelige Frau geheirathet hatte, und sich deshalb gewiß am liebsten als Schlosser Harteberg, geborner von Kozinsky, unterzeichnen würde, eine schuldige Anzeige, und holte sich meine specielle Erlaubniß „wegen kirchlicher Erfordernisse“ ein.
„Das war vor vier Jahren, hochweise Frau Schwester. Was geschieht im vorigen Jahre? Mein Lothar, der Jurist, schreibt mir, er würde, so ich nichts dagegen hätte, einen Auftrag übernehmen, der ihn nach Amerika führte. Haben Sie je so etwas gehört, daß preußische Juristen Aufträge übernähmen, welche sie nach Amerika führen? Ich antwortete: „Daraus wird nichts, mein Junge!“ Erst kommt keine Antwort auf meinen Brief, dann erhalte ich eine, gestempelt „Hamburg.“ Mosje Lothar ist schon in See, als ich die saubere Epistel, worin er auch Redensarten von „Lebensglück“ beibringt, in Händen halte.
- „Nun wissen Sie meine Vaterfreuden, Frau Schwester, und nun bitt’ ich mir aus, daß Sie mich nach nichts fragen. Am achtundzwanzigsten Mai rücke ich ein in Fürstenhall. Miethen Sie mir ein Zimmer, ein Schlafcabinet und ein Bedientenkämmerchen. Alt und elend bin ich, aber sonst noch immer bereit, mich selbst, die ganze Welt und Sie tapfer zu verspotten. Basta.“
„Was sagen Sie zu diesem Zufalle, liebe Nichte?“ fragte die Medicinalräthin in ihrer beliebten Breite, als sie den Brief zusammenfaltete. „Das ist ja fabelhaft – Sie kommen von Norden herunter, um Ihre leidenden Nerven hier zu stärken, und der Oberst kommt von Süden herauf, um wahrscheinlich eine Wassercur zu gebrauchen. – Und ich unglückselige Person bin nun zwischen Euch. – Ja, da möchte ich Ihnen doch rathen, sobald wie möglich abzureisen, liebe Therese.“
Die junge Dame hob schnell ihr feines, bleiches Gesicht zu ihr auf.
„Warum, Tantchen? Meinen Sie, daß des Schlossers Töchterlein sich vor dem Vater ihres Mannes fürchtet?“ fragte sie mit so liebenswürdigem Lächeln, daß man sahe, sie sprach ohne Empfindlichkeit.
„Kind – Sie kennen seine Spottsucht nicht – die kann einen Menschen zermalmen!“
„Nicht doch. Mich wenigstens nicht, mein Tantchen. Des Schlossers Töchterlein ist gestählt – und gestähltes Eisen läßt sich kaum biegen, geschweige zermalmen!“ scherzte sie.
„Freilich wohl, aber es läßt sich brechen, Kind, und ich habe Ihrem Eberhard heilig versprochen, als Mutter über Sie zu wachen. Sie müssen ihm gleich schreiben, was sich ereignet hat, und dann wird er wohl einsehen, daß Sie mit dem Oberst nicht in einem so kleinen Orte zusammenleben können, ohne von ihm zu leiden!“
Die junge Frau hatte während dieser Worte sinnend vor sich hingeblickt. Ein Gedanke schien feuerfangend ihr ganzes Innere zu durchglühen.
„Tantchen,“ begann sie plötzlich, ihr blaues Auge begeistert aufschlagend, „Tantchen, ich bleibe und melde meinem Manne nichts. Mir scheint Gottes Finger in diesem seltsamen Begegnen zu walten; wer weiß, ob es mir nicht gelingt, dieser unseligen Familienzwistigkeit, wovon mir ein gutes Theil zur Last fällt, ein Ende zu machen.“
„Therese, was fällt Ihnen ein?“ rief die alte Dame entsetzt. „Was wollen Sie thun? Sie kennen den Mann nicht, gegen den sie kämpfen wollen. Um’s Himmelswillen, stützen Sie auf diesen Zufall nicht einen Glauben an die Vorsehung – mein Schwager, der Oberst Hußlar, hält nichts von „Gottes Finger“.“
„Ich werde trotzdem bei meinem Vorsatze bleiben,“ meinte die junge Dame mit großer Entschiedenheit. „Pläne entwerfe ich nicht. Hat der Zufall einmal den Ariadnefaden in die Hand genommen, so wird er mich auch richtig zu den Entschlüssen führen, die noth thun. Wo werden Sie den Oberst logiren?“
„Ich – ihn logiren?“ wiederholte die alte Dame mit steigendem Entsetzen. „Was denken Sie? Hier im Hause etwa? Nimmermehr! So weit als möglich fern von meinem Hause. Unten am See sind noch zwei schöne Quartiere – da kann er wohnen. Wenn er wirklich „elend“ ist, wie er schreibt, so wird er mich wenigstens nicht alle Tage incommodiren, da es beinahe eine halbe Stunde entfernt liegt.“
Die junge Frau war theilweise einverstanden mit dieser Anordnung, obwohl ein heißes Mitleiden ihre Brust durchschlich, als sie daran dachte, daß er vielleicht weiblicher Pflege bedürftig war, und dadurch fremden Händen anheim fiel.
Die unerwartete Ankunft des Obersten regte die Medicinalräthin doch mehr auf, als sie eingestehen mochte, und Frau Therese bemerkte mit leisem Lächeln, daß sie nicht so gleichgültig gegen den vornehmen Schwager gesinnt war, wie sie sich den Anschein zu geben sich bemüht hatte. Trotz des weiten Weges machte sie sich selbst auf, um das Quartier unten am See zu besichtigen, und Therese sah, daß ihr die Frau des Portiers mit einem vollgepackten Tragkorbe voll Bequemlichkeiten und seiner Wäsche folgte.
Die junge Frau blieb allein mit ihren Gedanken und sie benutzte diese Zeit, um die ganze Vergangenheit nochmals an ihrem Geiste vorüberziehen zu lassen. Bis dahin hatte sie, zwar nicht gleichgültig, aber doch sehr ruhig alle Ereignisse ertragen, welche zwischen ihrem Gatten und ihrem Schwiegervater eine Kluft aufgerissen. Sie fand von ihrem Gesichtspunkte aus eine unverzeihliche Herrschsucht in des Obersten Widerspruch gegen den Wechsel der Carrière, welche sein Sohn Eberhard für nöthig und dienlich hielt. Den übrigen Streitigkeiten war sie fern geblieben. Erst als sie in Fürstenhall, wohin Eberhard sie mit Zustimmung des Arztes gebracht hatte, durch die Medicinalräthin zu offenherzigen und detaillirten Erzählungen veranlaßt worden war, fiel das Zerwürfniß der Familie schwerer auf ihre Seele und nach der Vorlesung des Briefes jetzt, da fühlte sie ein so echtes, weibliches Erbarmen mit dem verlassenen alten Manne, daß sie ihn knieend um Vergebung hätte anflehen mögen.
In ihrer Brust regte sich das Bewußtsein von der Macht ihrer Liebenswürdigkeit. Sollte es wirklich einem Manne möglich sein, sich bei persönlicher Bekanntschaft noch gegen sie zu verhärten? Sie glaubte es nicht, und sie ging den bevorstehenden kleinen Kampfscenen muthig entgegen. Sie hatte bis dahin nie erfahren, was schweres Leid sei, und als einzige Tochter sehr wohlhabender Eltern, verhätschelt von der Liebe eines sehr liebevollen Bruders, und vergöttert von der Zärtlichkeit eines leidenschaftlichen Gatten, die Lasten des Lebens sehr gering anschlagen lernen.
Ihr Vater war wirklich Schlosser gewesen, hatte sich jedoch im Strudel des Zeitgeistes, auf den Flügeln der Erfindungen emportragen lassen und stand jetzt als Besitzer einer bedeutenden Maschinenfabrik da. Sein Sohn gab dieser Unternehmung die richtige Ausdehnung und der ehemalige Lieutenant Hußlar, von der Liebe [455] zu Therese getrieben, stand demselben durch seine bedeutenden mathematischen Kenntnisse hülfreich zur Seite. Zusammen genommen bildeten diese Leute eine durchweg so glückliche Famille. daß sie die herrschsüchtige Eigenwilligkeit des Obersten ganz zu übersehen vermochten. Das war denn auch bis jetzt geschehen und nur in gelegentlichen Aeußerungen Eberhard’s brach ein verhaltener Schmerz hervor, daß ihm des Vaters Liebe zu seinem Glücke fehle.
Therese dachte in diesem Momente daran. Ihr Entschluß reifte an diesen Erinnerungen und sie meinte, sich ein Verdienst zu erwerben, sowohl um ihren Gatten, als um den eigensinnigen Oberst, aus dessen Briefe ein eigenthümlicher Anhauch stiller Klage wehte. Sie war harmlos und einfach genug, um den darin enthaltenen Spöttereien über ihre Eltern keine größere Bedeutung beizulegen, als sie wirklich verdienten, und ihr unparteiisches Urtheil fand sogar die Kritik über ihren Vater, der allerdings auf seine adllg geborne Frau etwas stolz war, sehr belustigend. Von Minute zu Minute mehr geneigt, den alten Oberst mit allen selnen Launen zu ertragen, ja, ihn zu lieben, erwartete sie mit Sehnsucht den Augenblick seiner Ankunt und bereitete sich mit einiger Selbstüberschätzung vor, durch ihre bloße Erscheinung die Scrupel mit einem Schlage zu tödten, die eine trennende Kluft zwischen ihnen gezogen hatten.
Es verging glücklicher Weise ein Tag, eine Nacht und abermals ein Tag, bevor Oberst Hußlar nach seinem Ausdrucke „einrückte“, und Frau Therese hatte Muße, ihre Exaltationen verfliegen zu lassen.
Die Medicinalräthin mit ihren Anekdoten von dem maßlosen Spotte und der rücksichtslosen Grobheit des Schwagers kühlte den Muth der jungen Frau auch bedeutend ab, so daß sie eher mit Bangen, als mit Freude, seiner Bekanntschaft entgegenlebte. Bisweilen freilich hob sich ihre Courage wieder und sie fußte mit eifrigem Beharren auf den „Finger Gottes“, der dieses Zusammentreffen bezeichnete. Die Medicinalräthin schüttelte aber dazu ihr weises Haupt sehr bedenklich und warnte sie vor Uebereilungen.
Der Abend neigte sich. Die Damen hätten gern einen Spaziergaug auf die Berge unternommen, wenn nicht die stündlich erwartete Ankunft des Obersten sie verhindert hätte. Unmuthig schaueten Beide in das lichte Blau des Himmels, von den Goldstrahlen der sinkenden Sonne durchleuchtet, als ein Wagen die Straße herabkam und richtig in der Nähe des Medicinalrath Schlesing’schen Hauses langsamer fuhr.
„Er ist’s!“ rief die alte Dame pathetisch. „Kind, verlassen Sie das Zimmer und horchen sie erst im Nebenzimmer auf seine Entretien – ich wette, Ihre sanguinischen Hoffnungen verfliegen. Sehen Sie, der Wagen hält. Himmel, wie alt und grämlich ist der Mann geworden – gelb und mager das hübsche, alte Gesicht. Der arme Mann!“
„Der arme Mann,“ wiederholte Therese leise und gefühlvoll, als der Oberst jetzt Anstalten traf, mit Hülfe seines Bedienten den Wagen zu verlassen. Es schien ein schwieriges Werk zu sein, denn es währte lange, ehe er sich aus dem Innern des Wagens herausbewegte. Es hatte ganz den Anschein, als sei er von Gicht und Nervenleiden am Körper gelähmt.
Frau Therese zitterte vor Theilnahme. Sie hätte hinabspringen und ihm helfen mögen. Aber das war nicht nöthig. Plötzlich stützte sich eine weiße, feine Männerhand auf die kräftigen Schultern des steif dastehenden Bedienten und flink, wie ein junger Mann, kletterte der Oberst die unbequemen Tritte des Wagens hinab. Bei einer Wendung, die derselbe gegen den Kutscher machte, entfielen ihm die Handschuhe und ein Cigarrenetui, ohne daß es Jemand bemerkte.
Therese sah es. Allein ehe sie zu dem Entschlusse kam, ob sie es von oben herab bemerklich machen sollte, schlüpfte ihr Töchterchen Pauline, das unten im Hause einige Spielgefährtinnen gefunden hatte, aus der Thür, hob die Gegenstände auf und überreichte sie mit der kindlichen, uneinstudirten Grazie ihres Wesens dem alten Herrn. Dieser nahm sie und blickte verwundert auf das kleine Mädchen, das mit seinem engelschönen, freundlichen Kinderkopfe voll blonder Locken wie ein Seraph der Versöhnung zu ihm aufschauete. Ein Lächeln eigener Art verklärte augenblicklich des Obersten Gesicht. Er neigte sich, legte seine Hand auf diesen kleinen Lockenkopf und fragte mit weichem Wohlwollen:
„Wie heißt Du denn, mein kleines Fräulein?“
Der Medicinalräthin, welche eben die Treppe herniederstieg, um den ehrenwerthen Schwager gebührend zu empfangen, stockte der Athem in der Brust vor Furcht, das Kind werde, wie es bisweilen that, seinen Vor- und Zunamen nennen. Sie athmete frei auf, als es antwortetet:
„Pauline heiße ich! Bist Du auch krank, wie meine Mama?“
Ueberrascht blickte der Oberst die Kleine an bei dieser Kundgebung von Theilnahme, während die alte Dame unwillkürlich an Theresens „Gottes Finger“ dachte und mit Rührung beobachtete, wie sich Pauline an die Hand des alten Herrn schmiegte und diese in einem Anfalle liebenswürdiger Schmeichelei mit Küssen bedeckte.
„Gott gebe seinen Segen!“ rief sie selbstvergessen aus und weckte damit den Obersten aus einer Gemüthswallung, die ihm selbst fremd erschien. Er bezog aber diesen Ausruf auf seinen Plan „hier Gesundheit zu suchen“ und erwiderte, kräftig ihre Hände ergreifend und schüttelnd:
„Ja, Frau Schwester, Gott gebe seinen Segen!“
Sie gingen miteinander hinauf, nachdem der Kutscher beordert war, mit dem Bedienten in das gemiethete Quartier am See zu fahren und dort die Koffer abzupacken.
Frau Therese hatte sich richtig in’s Nebenzimmer geflüchtet, ihr Herzklopfen, vor der Ankunft des Obersten so zuversichtlich, war ganz bedeutend ausgeartet, nun er da war und sie ihm entgegen treten wollte.
Lachend trat der alte Herr ein.
„Tausend Wetter, Frau Schwester, Sie wohnen aber fürstlich schön hier – welche brillante Einrichtung – alles strotzt von Gold und Silber – ja, da werde ich mich wohl verrechnet haben, als ich mein Barbierbecken zu Hause ließ, weil ich dachte, hier von denen Ihres seligen Mannes noch eins zu finden!“
„Thut mir herzlich leid, Herr Schwager,“ entgegnete mit höflicher Kaltblütigkeit die alte Dame, „aber Sie sollten doch wissen, daß meines seligen Schwiegervaters Barbierbecken von meinem seligen Manne nie benutzt wurden und deshalb Anno 1816, als Sie ihres Vaters Liqueurladen verkauften, mit verauctionirt worden sind.“
„Gut zurückgeschlagen, weise Dame,“ lachte der Oberst. „Ich bemerke zu meiner Freude, daß Sie unsere Kriegführung noch nicht verlernt haben.“
Er ließ sich seinen Paletot vom Hausmädchen abziehen, gab ihr die Mütze und Handschuhe und dachte bei dieser Gelegenheit wieder an das kleine hübsche Paulinchen.
„Apropos, Frau Schwester,“ sprach er, sich bequem im Sopha zurechtsetzend, „was war denn das für eine kleine Dame, die mir meine Handschuhe und mein Etui vorhin überreichte?“
Die Medicinalräthin wurde beinahe blaß vor Schrecken bei dieser Frage. Sie suchte sich auf eine Antwort zu besinnen.
„Eine Dame? Ach, Sie meinen das Kind? Das ist das Töchterchen einer Fremden, die eben so, wie Sie, Heilung von allerlei Uebeln suchen will. Das Kindb ist Aller Liebling und nennt Jeden Onkelchen und Tantchen. Sie heißt Pauline.“
„Weiß ich schon. Ist ein Schmeichelkätzchen?“
„Das eben nicht. Im Gegentheil, sie kann eher kühl und altklug genannt werden. Freilich gegen Sie zeigte sie sich sonderbar zärtlich – Sie müssen ihr gefallen haben.“
Der Oberst strich sich vielsagend über sein graubärtiges Gesicht und erwiderte spöttisch:
„Weiß nicht, ob meine Larve viel Anziehendes für kleine Fräuleins haben kann. Sie sehen noch recht frisch und appetitlich aus, Frau Schwester – das macht, Sie haben nicht die Ehre, ungerathene Söhne zu besitzen.“
Die alte Dame richtete sich kampflustig in die Höhe.
„Hören Sie, Herr Schwager, da Sie von vornherein anfangen, so nehme ich mir die Freiheit, Ihnen zu sagen, daß Sie sehr Unrecht thun, Ihre wackern Söhne zu verachten. Sie haben Ihre Gewalt hinreichend geübt, so lange Eberhard und Lothar Knaben und Jünglinge waren, ich dächte, jetzt beim Beginne der dreißiger Jahre hätten Beide ein Recht, zu thun und zu lassen, was sie für gut fänden. Eberhard ist nur auf Ihren Befehl und ganz gegen seinen Willen Officier geworden.“
„Richtig, Frau Schwester,“ fiel der Oberst ein, „Ich habe auch nichts dagegen, ihn als Locomotivführer zu wissen, nur sehen mag ich den rußigen Kerl nicht.“
[456] „Sonderbare Grillen, sich gegen eigene Ueberzeugungen aufzulehnen! Sie wissen recht gut, daß er nicht Locomotivführer ist, eben so wenig, wie Lothar „Steine klopft in Amerika“.
„Ist Lothar auch gegen seinen Willen Jurist geworden? Bin ich Schuld, daß er jetzt landesflüchtig ist? Ja, so geht es; wenn die Söhne aus der Art schlagen, so ist der Vater schuld. Warum wohl der liebe Gott den Jungens Väter gibt!“
„Mit Ihnen ist nicht gut streiten," entgegnete die alte Dame aufstehend, um nur nicht seinen Spott zu schärferen Ausfällen zu leiten, die der lauschenden jungen Frau wehe thun konnten. „Hat Ihnen Lothar gar nichts Näheres über den Grund seiner Reise gemeldet?“
„O ja. Er hat mir Märchen erzählt von einem Könige, der ihm seine Tochter geben will, wenn er drei Kunststücke ausführt: erstens ein paar tausend Meilen über’s Meer schwimmt – zweitens einen verlorenen Bruder aufsucht – drittens die Hinterlassenschaft dieses verlorenen „Joseph’s“ als treuer Sclave überliefert. Ich denke aber, er wird schon beim ersten Probestückchen sein Leben eingesetzt und verloren haben, denn es mangeln mir alle Nachrichten von ihm.“
„Sie wissen nicht, ob er in Amerika angelangt ist?“ forschte die alte Dame theilnehmend.
„Direct ist mir keine Gewißheit zugekommen, aber der König, der ihn gesendet in jene überseeische Welt, hat sich herabgelassen, mir in einem huldvollen Briefe anzuzeigen, daß mein Sohn Lothar glücklich in Amerika sei – mein Scharfsinn reicht nicht aus, um zu begreifen, warum Lothar das nicht selbst an seinen Vater berichten solle, wenn er wirklich noch lebe.“
„Es ist der Präsident von Sundwihl, den Sie zum König metamorphosiren?“ fragte die Dame, welche sich beeilte, die gnädige Stimmung des Obersten auszubeuten.
„Ja wohl. „Von“ Sundwihl, seitdem er der Schwiegersohn des mächtigen Chef-Präsidenten von Rathenow wurde. Will er Lothar zum Schwiegersohn machen, so bleibt nichts übrig, als diesem den Adel zu verschaffen. Natürlich der Herr von Hußlar ist mein Sohn nicht mehr. Lieber soll er „Steine klopfen“.“
„Wunderlicher Mann! Wenn nun Se. Majestät Ihnen den Adel zur Belohnung Ihrer Verdienste angeboten hätte?“
„Dann hätte ich geantwortet: Majestät, das „von“ hat nicht geholfen, als ich, kaum sechzehn Jahre alt, wie blind und toll hervorsprengte auf General York’s Ruf: heran, ihr brandenburgischen Husaren – eingehauen! und aus Leibeskräften schrie: es lebe unser König! Ich war eines preußischen Bürgers Sohn und will es bleiben! Ja, weise Frau Schwester, nicht alle Menschen lieben es, Medicinalrath zu heißen, ohne Doctor zu sein!“
Jetzt kam der alte Herr auf sein altes Capitel und wer ihn so genau kannte, wie die Medicinalräthin, der wußte, was das heißen sollte.
Sie schloß ihre Forschungslust ruhig mit den Worten ab:
„Sie sind ein Mann, der sich mit eigensinnigen Verblendungen selbst quält und der seinen Verstand nur dazu verwendet, sich selbst und Andere zu kränken.“
Darauf bereitete sie ihm seinen Thee und vermied es beharrlich, irgend eine Frage an ihn zu richten, die Bezug auf seine Söhne hatte. Ob dem Obersten das lieb war? Schwerlich. Er hatte das Herz so sehr auf seiner Zunge gehabt, daß sie sehr wohl erkannte, wie erleichternd ihm ein Gespräch über diesen Gegenstand sein würde.
Während des Theetrinkens kam Pauline in’s Zimmer gesprungen und fragte eilig nach ihrer Mama. Auf den Bescheid der Medicinalräthin, daß sie gleich kommen werde, setzte sich das kleine Ding ganz gravitätisch auf ein niedriges Polstersesselchen und bat um eine Tasse Thee. Die Art, wie sie das that, die Anmuth und Lieblichkeit, womit sie sich trotz ihrer großen Jugend benahm, entzückte den Obersten. So lange die Kleine Thee trank und ihr Butterbrödchen dazu aß, verwendete er kein Auge von ihr. Sie bemerkte es und nickte schelmisch mit dem Köpfchen. Es lag ein unbeschreiblicher Reiz in diesem vertraulichen Nicken. Warm, wie die Liebe, floß es dem alten Krieger bis in’s Herz hinein und er rief ihr ein liebkosendes Wort zu. Fröhlich klatschte die Kleine in die Händchen und lachte auf eine herzinnige Weise.
„Du bist auch ein allerliebster Mann,“ wiederholte sie kindlich muthwillig. „Du bist ein guter Mann. Wenn ich fertig bin, will ich Dir auch Küßchen geben! Warte nur so lange.“
Die Kleine stopfte schäkernd den Rest ihres Butterbrodes in den Mund und sprang dann leichtfüßig auf den Obersten zu, der sie zu sich emporhob und ihr in das seelenvoll heitere Auge blickte. Sie näherte ihr Mäulchen tapfer seinem bartumwachsenen Munde und drückte ihm einen herzhaften Kuß auf die Lippen. Eben so schnell, wie dies geschehen war, entschlüpfte sie wieder seinen Händen, und eilte flüchtig aus dem Zimmer.
„Das ist ein liebes, liebes Kind, Frau Schwester!“ rief der alte Herr ganz entzückt. „in meinem Leben habe ich solch’ ein reizendes Kind nicht gesehen!“
„Das macht, weil Sie überhaupt keine Kinder gesehen haben,“ erwiderte die alte Dame mit trockenem Tone, während ihr Herz jauchzte und ihre Gedanken an Theresens „Gottes Finger“ hängen blieben Er fängt sich selbst in selbstgewebten Netzen, jubelte es in ihr und sie sah schon ihr gebenedeites Haus als den Sammelplatz der versöhnten Familie.
Wohl habe ich Kinder genug in meinem Leben gesehen,“ polterteder Oberst jovial heraus; „ich bin immer ein ganz besonderer Freund und Verehrer aller jungen Fräulein gewesen und ich habe nichts so schmerzlich bedauert, als daß ich nicht statt der Jungens zwei Mädchen gehabt habe.“
„Ach, die armen Mädchen!“ neckte die Medicinalräthin mit komischer Gebehrde. „Unter Ihrer Tyrannei wären sie längst Todes verblichen.“
„Meinen Sie, Dame Weisheit?“ fragte der Oberst gut gelaunt. „Ich möchte den Strom ihrer Ueberzeugungen durch die Bemerkung hemmen, daß ich meinen Mädchen so viel Liebe einzuflößen gewußt haben würde, um sie allen Auswüchsen des Zeitalters aus freiem Antriebe abhold zu sehen. Was weiß eine Medicinalräthin von der Macht der Liebe in einem Vaterherzen?“
Bis zu diesem Zeitpunkte war Frau Therese, die eine eifrige Zuhörerin des Gespräches im Nebenzimmer abgegeben hatte, noch immer zweifelhaft geblieben, ob es gerathen sein möchte, mit ihrer persönlichen Erscheinung einen gewissen Angriff auf den alten Herrn zu machen. Seine schwankende Laune, hastig abspringend von Spott zur Güte, hatte ihr Furcht verursacht, jetzt aber schien es ihr gerathen, mit ihren Ansprüchen auf seine gerühmte Vaterliebe hervorzutreten, und sie sammelte vorsichtig ihre Lebensgeister, um würdig vor dem Manne zu erscheinen, der ihr, sie fühlte dies mit einem innigen Behagen, sehr gut gefiel.
Schnell Alles das im Geiste recapitulirend, was sie für eindrucksfähig auf dies sonderbar construirte alte Soldatenherz hielt, faßte sie den Griff der Thür und erschien auf der Schwelle des Zimmers, gerade dem Oberst gegenüber, der noch auf dem Sopha saß.
Die Medicinalräthin begrüßte sie mit einem kleinen Schrei der Ueberraschung, der Oberst jedoch stand ritterlich artig auf und sah sie erwartungsvoll an.
Sie eilte zu ihm hin und ergriff leidenschaftlich bewegt seine Hand.
„Ich mache Anspruch auf diese Macht der Liebe in einem Vaterherzen!“ rief sie. „Sie können meinem Eberhard nicht länger zürnen – Zeit und Entbehrung haben Ihr Herz weicher gestimmt – lernen Sie uns kennen – Sie finden in meiner Familie dieselben Grundsätze, welche Sie ausgesprochen – ich appellire mit Fug und Recht an Ihr Vaterherz, das seine Lebensfreuden vermindert, indem es sich eigensinnig in seinen Vorurtheilen befestigt – nicht wahr, theurer, lieber Vater meines Eberhard’s, nicht wahr, Sie sind besiegt, Sie erkennen, daß „Gottes Finger“ obwaltete, indem er unser wunderbares Zusammentreffen leitete?“
Arme Therese! Sie hatte sich die Folgen der Ueberrumpelung in wunderschönen Farben gemalt und sich dabei total vergriffen. Zuerst hatte der Oberst sie groß und vollständig verwundert angesehen, war aber sehr bald auf die richtige Vermuthung verfallen. Bei ihren fortgesetzten Reden, die einen Angriff auf seine „Vorurtheile“ enthielten, weiche er als einen Theil seines gesinnungstüchtigen Charakters, unter den Gährungsprocessen der Sichtung reif geworden, betrachtete, verdrängte ein gewisser, gar zu leicht erregter Gallstoff das Wohlgefallen, das er unwillkürlich bei der Betrachtung der wunderhübschen jungen Frau empfunden hatte.
[465] Der Oberst benutzte die erste Pause, die Therese ihrer zitternden, fast athemlosen Stimme erlaubte, um mit widerspruchsvollem Tone die letzte Bemerkung zurückzuwerfen:
„Was? Gottes Finger? Unser Zusammentreffen? Gnädige Frau, Sie halten mich wohl für einen Komödienvater, aber Gottlob, da irren Sie sich. In meinen Ansichten kann weder Zeit noch Entbehrung etwas ändern und was die Verminderung meiner Vaterfreuden betrifft, so haben Sie mir jetzt eben wenig Lust gemacht, diese durch Ihre persönliche Einwirkung zu vergrößern. Befehlen Sie noch irgend etwas, meine Gnädige, so stehe ich zu Diensten, sonst aber möchte ich Sie bitten, sich wieder hinter die Coulissen, wohinter Sie das Stichwort Ihrer Rolle abgepaßt haben, zu verziehen, denn wir Beide können nicht in einem Zimmer leben.“
Das Mienenspiel der würdigen Medicinalräthin hatte hinlänglich verrathen, daß sie nichts Anderes erwartet hatte, als diese untröstliche Erwiderung, und Frau Therese, von der Sprödigkeit, woran ihr Sühnungsversuch abprallte, auf’s Aeußerste erschreckt, stand leichenblaß da, bis es ihr gewiß wurde, daß für jetzt und für immer die Brücke abgebrochen war, worauf eine wiederherzustellende Verbindung versucht werden konnte. Sie wagte kein Wort. Sie wußte auch keins. Schmerzlich betroffen, ohnedies leidend, schlug sie mit unsäglich leidendem Ausdrucke die Augen einen blitzschnellen Moment zu dem harten Manne auf und verschwand im Nebenzimmer.
Eine peinliche Stille folgte ihrem Abgange. Der Oberst ließ sich nicht wieder nieder, sondern machte Anstalt, sich zu entfernen. Die Medicinalräthin, eigentlich etwas erzürnt auf Therese, weil sie dennoch, gegen ihren Rath, einen Auftritt herbeigeführt hatte, stellte ihm ein Hinderniß entgegen. Sie klingelte ihrem Mädchen, befahl ihr, dem Oberst Paletot und Mütze zu reichen, fragte, ob der Bediente des Obersten da sei, der ihn zu seiner Wohnung führen könnte, und gab sich keine Mühe, ihre ungnädige Laune irgendwie zu verbergen.
Die alte Dame wußte ihn zu behandeln. Ihr Benehmen hatte den Erfolg, daß er mit sarkastischer Gutmüthigkeit beim Abschiede sagte:
„Gehaben Sie sich wohl, Frau Schwester. Wenn des Schlossers Töchterlein abgereist ist, komme ich wieder, eher aber nicht. Sie hätten wissen können, Dame Weisheit, daß bei meiner Strategie solche Empfindungs- und Ueberraschungsexplosionen verpuffen ohne den mindesten Nachhall. Nun gehen Sie und trösten Sie Ihren weinenden Schützling, denn ohne Thränen geht’s nicht ab – nicht wahr?“
Er lachte und verabschiedete sich.
Acht volle Tage verflossen, ohne daß es dem Obersten einfiel, sich nach dem Wohlbefinden seiner „Frau Schwester“ zu erkundigen. Er fühlte sich behaglich und wohl in seiner sehr netten Wohnung, welche eine Aussicht auf den See und die ihn begrenzenden Berge hatte, und begann unter der Leitung des Wasserheilanstaltarztes seine vorgeschriebene Cur.
Während der Zeit war Frau Therese abgereist. Ihr Aufenthalt, von Anfang bis Ende Mai festgesetzt, kürzte sich des Rencontre’s wegen um einige Tage, da zwischen ihr und der Medicinalräthin nach demselben eine kleine Verstimmung eingetreten war, die ihrem Beisammenleben den sonstigen Reiz raubte. Die junge Frau, von den Vorwürfen der alten Dame belehrt, war tief betrübt über ihren Fehlgriff, den sie sich aus Unkenntniß und Selbstüberschätzung hatte zu Schulden kommen lassen, und es fehlte ihr fast der Muth, ihrem Gatten, der ihr bis zur Hälfte des Weges entgegengereist war, den mißlungenen Versöhnungsversuch zu beichten. Nur ihr eigenthümliches, auf unbeschränktem Vertrauen beruhendes Verhältniß vermochte sie endlich dazu und da war es ihr ein Trost, daß Eberhard nicht allein ihre Handlungsweise vollkommen billigte, sondern den Tadel der alten Tante mit seinen Tröstungen gänzlich entkräftigte. Der junge Mann war empört über die Härte seines Vaters der lieblichen, sanften Frau gegenüber und in seinem Innern regten sich rachsüchtige Gefühle. Was hatte ihm Therese gethan? Wie konnte er sie aus seiner Nähe verweisen, ohne den Versuch zu machen, sie nur oberflächlich zu prüfen? Er überantwortete mit einer stillen Verwünschung denjenigen einer rächenden Nemesis, der ihm zwar das Leben gegeben, aber es ihm auch vergällt hatte.
Und der Himmel erhörte die Bitte des schwer gekränkten Sohnes.
Der Oberst hatte vorsichtig durch seinen Bedienten Erkundigungen einziehen lassen und kam richtig am Tage nach der Abreise Theresens im Hause der Medicinalräthin an. Sie empfing ihn, als wäre nichts vorgefallen.
Unter den leichten und amüsanten Plaudereien, wie der Oberst [466] sie liebte, wurde abermals der Thee servirt und in ganz natürlicher Gedankenassociation verfiel der alte Herr darauf, sich angelegentlich nach dem „hübschen kleinen Fräulein, welches Pauline hieß,“ zu erkundigen und zu fragen, warum sie nicht mit Thee trinke.
„Die Kleine ist ja abgereist, Herr Schwager,“ entgegnete die Medicinalräthin in der Voraussetzung, er wisse jetzt, wem das Kind angehöre. „Die Mutter würde doch ihr Kind nicht hier lassen, und da die arme Therese von Ihnen eben nicht handgreiflicher aus dem Hause gewiesen werden konnte, so machte sie sich mit ihrer Kleinen natürlich so eilig als möglich davon.“
Dem Obersten ging es wie ein Stich mit tausend Widerhaken durch’s alte, verhärtete Herz, während er mäuschenstill zuhörte und aus den Erklärungen seiner Frau Schwester erkannte, daß die engelhübsche freundliche Kleine „sein Enkelkind, seines Sohnes Tochter“ gewesen sei. Zu seiner Qual war sein Gedächtniß nie treuer gewesen, als in diesem Augenblicke, wo des Kindes reizendes Lächeln, ihre Verheißung, ihn zu belohnen, weil er ein „guter Mann“ sei, ihr süßes Anschmiegen und ihre anmuthige Artigkeit wie ein bitterer Vorwurf vor ihn hintrat.
„Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, daß Pauline meine Enkelin sei?“ fuhr er etwas unsanft auf.
„Was hätte das geholfen?“ warf die alte Dame ganz gelassen ein. „Pauline ist ihrer Mutter Tochter.“
„So, Dame Weisheit? Das Kindchen zeigte aber eine liebenswürdige Hinneigung zu dem alten Großpapa –“
„Die zeigte ihre Mutter auch,“ fiel die „Frau Schwester“ prompt ein, „sonst würde sie wahrhaftig nicht um die Liebe des Schwiegervaters, der sich nie liebenswürdig gegen sie gezeigt hatte, gebettelt haben. Die Sache ist vorbei, lassen wir sie ruhen.“
Zum ersten Male in seinem ganzen Leben war der Oberst mit diesem Beschlusse nicht zufrieden und schwieg dennoch. Das Bild des kleinen Mädchens, auf das er ein Recht hatte, das zu ihm gehörte, das sein Herz mit einem Gefühle voll süßer Frühlingsgedanken erfüllte, wie er sie seit seiner ersten Liebe gehabt zu haben sich nicht erinnerte, das Bild wich und wankte nicht aus seiner Erinnerung. Er sah sie sitzen und Thee trinken – sein Blick suchte die Stelle – da stand der kleine Polsterstuhl, worauf sie es sich so allerliebst bequem gemacht – jetzt hatte die große graue Katze der Medicinalräthin darauf Platz genommen und blinzeltle ihn mißtrauisch an, als er mit unzufriedenen Mienen zu ihr hinsah – er machte eine verscheuchende Gebehrde und schnitt ihr ein grimmiges Gesicht zu. Die Katze rührte sich natürlich nicht.
„Was hat ihnen denn meine Mieze gethan, Herr Schwager?“ fragte die alte Dame. „Lassen Sie doch das alte gute Thier in Ruhe.“
„Ach was – sie soll nicht auf dem Stuhle liegen, wo Pauline gesessen hat,“ brummte der Oberst beschämt.
„Was Sie doch herrschsüchtig sind,“ meinte sie und setzte sich neben ihn.
Er sah immerfort die Katze an – die Katze ihn ebenfalls. Zuletzt wurde ihm die Geschichte Ernst – er stand leise auf und näherte sich dem kleinen Stuhle. Die Katze hob mit naseweisem Zwinkern den Kopf zu ihm auf – patsch, hatte sie einen Schub, daß sie bis in die Mitte der Stube flog.
„Aber Sie sind doch der unerträglichste Tyrann auf Gottes Erdhoden,“ schalt die alte Dame, indem sie sich erhob und die Katze hinausjagte. Ihre Stirn stand dabei voller Donnerwetter. Der Oberst lachte herzlich.
„Nehmen Sie mir es nicht übel, Frau Schwester,“ rief er, „aber es war mir unmöglich, dies abscheuliche Katzengesicht da sitzen zu sehen, wo ich zuletzt mein herziges Paulinchen bewundert hatte. Stellen Sie den Stuhl fort. Ich will ihn nicht wieder sehen, will überhaupt an Nichts erinnert sein, was geschehen ist. Ertragen Sie mich nur die fünf Wochen lang, die ich hier bleibe, nachher nehemen wir Abschied von dieser Welt und sehen uns hoffentlich nicht wieder. Ich bin’s nachgerade satt auf der Erde – mein Abschied vom Dienst kann nicht lange mehr ausbleiben, dann kaufe ich mir eine Eremitage und thue Buße!“
„Ah bah,“ entgegnete die Dame. „Wenn Sie Buße thun wollen, so hätten Sie keine Eremitage nöthig, sondern könnten des Lebens Herrlichkeit im schönsten Familienkreise genießen!“
„Basta!“ schrie der Oberst mit gewaltiger Stimme.
Es wurde von dieser Zeit an bis zum Ende seines Aufenthaltes hier nicht ein Wort wieder gesprochen, weder von Pauline, noch von Therese und Eberhard.
Die Wohnungen am See vereinigten die Annehmlichkeiten eines Landhauses mit den Bequemlichkeiten städtischer Eleganz. Die Kaltwasseranstalt lag mitten in der Gruppe dieser Häuser und wurde nur von den ganz absonderlich leidenden Fremdem bewohnt, während die gewöhnlichen Cur- und Brunnengäste es vorzogen, den größeren Comfort in den Privatwohnungen zu genießen.
Am Tage nach der eben beschriebenen Scene erblickte der Oberst, der seine Leidensgenossen mit theilnehmender Artigkeit zu behandeln pflegte, ein paar Damen langsam unter den Acacien am Strande entlang promeniren, die er bis dahin noch nicht bemerkt hatte. Sie schienen einfach und solid zu sein, obwohl ihr Anstand jene angeborene Sicherheit aufwies, welche Damen aus den mittleren Lebensstellungen sich selten anzueignen wissen. Die ältere Dame war sichtlich leidend, sie trat unsicher auf und hielt den Arm ihrer Begleiterin als nothwendige Stütze umfaßt. Das junge Mädchen, in schlichten, grauen Stoffen, mit großem Kragen und breitrandigem Strohhute hatte ein Etwas an sich, was die Blicke der Menschen ganz unwillkürlich fesselt, obwohl es nicht auf bedeutender äußerer Schönheit beruht. Braunes Haar, braune Augen, blühende Farbe, purpurrothe Lippen und schön geformte Wangen mit einem Grübchen, die den ernsten Mienen einen wunderbaren Reiz mittheilten, das war ungefähr dasjenige, was dem prüfenden Auge sogleich auffiel. Es mußte im Geiste der jungen Dame liegen, daß sich diesen oftmals dagewesenen Reizen die Bedeutung einprägte, welche sie auszeichnete.
Die Damen gingen an dem Platze vorüber, wo der Oberst am Ufer unter den Bäumen stand und in Gedanken versunken die schöne Gegend betrachtete.
Er grüßte sie achtungsvoll, wendete sich aber, da er sie nicht kannte, ohne sie anzureden, wieder nach dem Wasser um.
Kaum hatte er dies gethan, so hörte er, augenscheinlich von der älteren Frau gesprochen, die Worte:
„Das muß er sein, Valeska.“
„Daran habe ich gar nicht gezweifelt, Mama, schon als ich ihn von fern erblickte,“ entgegnete die Tochter mit einem sonoren, wohlklingenden Organe.
Der Oberst hatte das Wechselgespräch ganz deutlich verstanden und sah sich befremdet nach den Damen um. Wer mochte das sein? Er tröstete sich, daß nicht vierundzwanzig Stunden vergehen würden, ohne seine Neugier zu befriedigen. Es sollte früher geschehen.
Rachdem die Fremden eine kleine Tour um den See, gleichsam nur, um sich an dem Anblicke zu erlaben, gemacht hatten, führte das Fräulein ihre Mutter wieder in das Kaltwasser-Curhaus zurück und kam eilig und entschlossenen Schrittes auf den Oberst zu, der sich eben auf eine Bank niedergelassen hatte.
Sie verneigte sich nochmals leicht mit den fragenden Worten: „Herr Oberst Hußlar, wenn ich nicht irre?“
Der Oberst, angenehm überrascht von dem leichten, gewandten Wesen und dem Ausdrucke des hübschen Gesichtes, bejahte mit ausgezeichneter Ritterlichkeit und sah dann erwartungsvoll in die braunen, lebhaften Augen des jungen Mädchens.
„Ich setze mich ihrem Tadel aus, Herr Oberst, indem ich es nicht dem conventionellen Herkommen überlasse, unsere Bekanntschaft zu vermitteln,“ begann sie, schnell sprechend und mit dem Bewußtsein geistiger Sicherheit. „Allein, da wir nicht viel Zeit haben, die Pläne zu verschieben, die nothwendig geworden sind, und da wir nur Ihretwegen Fürstenhall zur Cur meiner armen Mutter gewählt haben, so beeile ich unser Zusammentreffen. Ich bin Valeska Sundwihl und habe die Ehre, von Ihrem Sohne Lothar innig geliebt zu sein.“
Der Oberst, der am liebsten jetzt „rechts schwenkt“ gemacht hätte, entgegnete einige gewöhnliche Gesellschaftsfloskeln mit einer spöttischen Manier, die bedeutend gegen seine Empfangsfeierlichkeit abstach. Fräulein Valeska schien dadurch nicht im Geringsten beirrt zu sein. Sie fuhr eben so schnell fort:
„Sie sollen und müssen mich kennen lernen, mein Herr Oberst, und da dies auf keine andere Art zu bewerkstelligen war, so gab [467] meine Mutter meinen Bitten nach und kam hierher, als Eberhard uns mitgetheilt, daß Sie hier wären.“
Der Oberst, mit sarkastischem Lächeln die Redefertigkeit des Mädchens bewundernd, unterbrach sie und sagte, auf die Bank neben ihnen deutend:
„Setzen wir uns, mein Fräulein, damit es nicht scheine, als gäbe ich in fürstlicher Laune eine Audienz. Das würde Ihnen nicht angenehm sein, meine ich.“
„Gewiß nicht, denn es zeigte eine Ueberhebung von Ihrer Seite, die ich Ihrer Klugheit nicht zutraue.“ warf Valeska kurz hin, ohne den Blitz zu beachten, der aus seinen Augen über sie hinfuhr. „Ich rufe Ihren Gerechtigkeitssinn an, Herr Oberst, und stelle mich Ihnen zu einer Prüfung. Vier Wochen werden für einen Mann von Ihrer Welterfahrung und von Ihrer Menschenkenntniß hinreichen, um zu beurtheilen, ob ich werth bin, Ihres Sohnes Gattin zu werden. Unterbrechen Sie mich nicht, mein Herr. Ich habe noch viel zu sagen und meine Zeit gehört meiner Mutter, so lange sie nicht, wie jetzt, unter den Händen der Badefrauen ist. Ich rufe Ihre Gerechtigkeit auf bei der Feststellung eines Verhältnisses, das mich beglücken würde. Ich verlange Ihre Billigung – nicht Ihre Liebe, sondern Ihre Achtung. Ihre Liebe kann ich entbehren, denn ich habe sie nie besessen, aber Lothar kann sie nicht entbehren und er soll sie nicht entbehren meinetwegen, damit er nicht ein getheiltes Leben mir verdanke, die ihm ein ganz ungetrübtes Glück verschaffen möchte. Prüfen Sie mich mit Gerechtigkeit, nicht unter den Eingebungen eines Eigensinnes, wie viele Väter bei der Wahl ihrer Kinder zeigen. Prüfen Sie mich, ich bin bereit, mich Ihrem Urtheile nachher zu unterwerfen, und wenn es auch in den Augen der Welt ein Anathema für mich werden sollte. Aber rechnen Sie nicht darauf, mein Herr, daß ich Sie mit Empfindungen, mit Liebe und Verehrungszeichen zu meinen Gunsten stimmen werde.“
„Ich glaube, daß Sie mir keine Gelegenheit zu diesem Glauben geben werden,“ fiel der Oberst lächelnd ein.
„Schön – Sie verstehen mich, wie ich merke! In einer Woche kommt Lothar von Amerika zurück – er wird es Ihnen gemeldet haben –“
„Kann sein,“ entgegnete der Oberst trocken. „Ich habe seine letzten Briefe noch nicht gelesen.“
Valeska heftete ihre sprechenden, braunen Augen fest auf ihn, als wolle sie in seiner Seele lesen, und erwiderte mit ruhiger Würde:
„Dadurch haben Sie sich selbst mehr Schaden gethan, wie jedem Andern. Doch, ich kritisire Ihre Handlungsweise nicht. – Sie wissen, daß Lothar mit mir schon seit zwei Jahren, ohne Erklärung, in einem Bündnisse steht, welches am Ziele ein unaussprechliches Glück verheißt. Wir hatten aber nie große Hoffnung, weil mein Vater auch zu den Vätern gehört, die unter den Eingebungen ihres Eigenwillens handeln. Das Schicksal erbarmte sich unser. Der Bruder meines Vaters, weniger glücklich in seinen Bestrebungen vorwärts zu kommen, als mein Vater, wanderte nach Amerika aus und man hörte lange Zeit nichts wieder von ihm, als daß es ihm gut gehe und er bei Pittsburg wohne. Voriges Jahr erhält mein Vater die Meldung seines Todes mit der Nachricht, daß sein bedeutender Nachlaß nach seinem ausdrücklichen Willen meinem Vater zufallen solle. Die Sache, so leicht sie sich ansah, entwickelte nach und nach Schwierigkeiten, man schrieb uns geradezu, wenn von Europa kein Bevollmächtigter gesendet werde, so würde die ganze Erbschaft, die aus Grundbesitz bestand, in Rauch aufgehen. Väter sind fast immer egoistisch. Der meinige benutzte Lothar’s Liebe zu mir, um ihn für den Vorschlag zu gewinnen, sein Bevollmächtigter zu werden. Das Uebrige wissen Sie besser, als ich. Sie verweigerten Ihre Erlaubniß zu der Reise – Lothar bestand einen harten Kampf –“
„Er ging aber,“ unterbrach sie der Oberst. „Natürlich, den Bitten einer Geliebten muß der Vater weichen –“
„Wenn Sie mich erst kennen, Herr Oberst, so werden Sie sich überzeugen, daß ich lieber eine ewige Trennung von Lothar ertrage, als eine innere Zerrissenheit seines Gemüthes. Lothar kommt zurück, beladen mit Geld. Der Dank meines Vaters besteht in der Erlaubniß zu unserer Heirath, aber ich mache diese von Ihnen abhängig und schwöre Ihnen zu, daß ich Lothar nicht wiedersehen will, wenn Sie mich als Tochter verwerfen. Das Schicksal Eberhard’s soll nicht das seine sein, wir haben uns gewöhnt an dies eine Jahr der Entbehrung und werden die wenigen Jahre eines Menschenlebens viel eher unter dem stützenden Stolze eines unbefleckten Bewußtseins tragen, als unter dem Harme, den Vaterzorn in die schönsten und reinsten Lebensfreuden mischt.“
Sie stand auf, vielleicht, umt den feuchten Glanz ihrer Augen zu verbergen. Der Oberst sah sie aber gar nicht an, sondern schaute nach den Bergen, als müsse er sich dort Rathes erholen. In solcher Situation hatte er sich noch nicht befunden. Mit solcher kalten Ruhe war ihm noch nie jemand entgegen getreten. Durch solche Geistesklarheit waren ihm noch nie die Hände gebunden und Wege vorgeschrieben worden, die er gehen sollte. Er fühlte, daß hier sein Spott ohne Eindruck blieb und auf scharfe Erwiderung rechnen konnte. Darum sah er gleichgültig in die Ferne und ließ die lange Rede unbeantwortet.
Valeska bot ihm die Hand.
„Wollen Sie mir versprechen,“ begann sie wieder und ihre Stimme klang sehr milde, „mich nicht zu vermeiden, wenn ich der Pflege meiner Mutter einige Minuten abmüßigen kann, um Sie aufzusuchen? Wollen Sie mir versprechen, mich Ihrer Prüfung werth zu halten? Wollen Sie darauf eingehen, „ohne Vorurtheile“ das Schicksal Ihres Sohnes zu bestimmen?“
Der Oberst sah sie spöttisch lächelnd an und erwiderte:
„Und wenn ich jetzt gleich, ohne jede Widerrede, Sie für würdig erklärte, Lothar’s Gattin zu heißen?“
„Dann würde ich Lothar dem Schicksale Eberhard’s verfallen sehen, der auch ohne Widerrede „thun sollte, was er nicht lassen könne“.“
„Sie würden ihn aber dennoch heirathen?“
„Niemals ohne Ihre freudige Zustimmung, ohne den Segen eines ganz zufriedenen Vaterherzens!“ rief Valeska mit fester Entschiedenheit.
Der Oberst nahm ihre Hand und versprach ihr, was sie verlangt hatte. Sie sah ihm freudig bewegt in’s kalte Gesicht, und preßte flüchtig seine Rechte mit heißer Innigkeit, dann neigte sie das stolze Haupt, und ging schnell zum Hause hinauf.
Der Oberst schaute ihr verstohlen nach.
„Ob sie Wort hielte?“ fragte er sich, und ein dämonisch-häßliches Lächeln zuckte über seine Lippen. „Ich fühle ein starkes Gelüst in mir, dies kecke, stolze, herausfordernde Fräulein von Sundwihl in den Staub zu treten.“
Am Nachmittage, als die Präsidentin von Sundwihl Mittagsruhe hielt, machte sich Fräulein Valeska bereit, die Tante ihres Geliebten aufzusuchen. Sie hatte Briefe von Therese Hußlar mitgebracht, und schon hinaufgeschickt, um sich diese Bekanntschaft zu erleichtern.
Die Medicinalräthin empfing sie mit warmen Freudenbezeigungen. Sie theilte überhaupt die Grundsätze und Lebensansichten ihres Schwagers nicht, war aber in Bezug auf die Wahl ihrer Neffen eine ganz entschiedene Gegnerin desselben. Frau Therese hatte ihr in ihrem Briefe angedeutet, daß Fräulein Valeska, vor deren Klugheit sie einen ganz besondern Respect zeigte, es übernehmen wolle, den Sinn des Obersten allen Verhältnissen, aber insbesondere dem ihrigen, geneigt zu machen, aber sie war nicht näher auf die Art und Weise eingegangen, die von derselben angewendet werden würde.
Mit Begierde forschte die alte Dame nach den Plänen des Fräuleins.
Diese legte sie ihrer Beurtheilung vor und gestand, daß sie schon heute den Anfang gemacht habe. Nachdenklich hörte die Medicinalräthin zu. Sie schüttelte ihr Haupt mit den bedeutungsvollen Zeichen der Weisheit, die ihr stets den Spott des Obersten zuzogen.
„Sie calculiren falsch, mein Kind,“ erklärte sie betrübt. „So kommen Sie niemals zum Ziele! Ich kenne meinen Schwager! Und wenn er Ihnen tausendmal die Hand zum Pfande gegeben hat – er findet Mittel und Wege, seinen Kopf aufzusetzen.“
Valeska lächelte sieghaft.
„Vertrauen Sie mir,“ sprach sie zuversichtlich. „der Oberst wird und kann seine Hartnäckigkeit nicht bis zu dem Punkte treiben, ein Mädchen unglücklich zu machen, das ihm nie etwas zu Leide gethan hat, und hat er sich erst mir gegenüber für besiegt erklärt, so wird es ein Leichtes sein, die Verhältnisse mit Eberhard’s Familie, [468] die außerdem ein unaussprechlich glückliches Patriarchenleben führt, zu ebnen.“
„Würden Sie denn wirklich Wort halten, und Lothar nicht heirathen?“ examinirte die alte Dame zweifelnd.
Valeska gab ihr in einer sichtlichen Bewegung, mit erhöhter Feierlichkeit in Stimme und Gebehrde die Versicherung ihres ernsten Willens. Die alte Dame wiegte bedenklich ihr Haupt:
„Valeska – Sie stehen an einem Abgrunde – seien Sie nicht zu sicher – es gilt Ihr und Lothars Glück – bedenken Sie, was Sie thun! Weiß Lothar um diesen Entschluß?“
Das Fräulein bejahete diese Frage und fügte hinzu, daß er ihn billige.
„Auf das Risico hin, Ihnen entsagen zu müssen, wenn sein Vater Ihnen abgeneigt bleibt?“ fragte die Medicinalräthin frappirt. „Das ist ein sonderbarer Heroismus oder eine Selbstverblendung, indem er Ihnen einen ungetheilten Einfluß zutraut. Der Oberst hat, trotz seines Hanges zu Ironie und trotz seines gefährlichen Eigenwillens, den Sie ihm ganz in aller Ordnung vorgerückt haben, zwar ein gutes Herz, aber was diesen Punkt betrifft, so hat er darüber seltsame Ansichten.“
Valeska wurde ungeachtet der Bedenklichkeiten der Dame nicht wankend in ihrem hoffnungsvollen Glauben und sie versprach, am nächsten Tage wieder zu kommen, um zu hören, wie sich der Oberst gegen seine „Frau Schwester“ über die ganze Angelegenheit ausgelassen haben möchte.
Wohlgemuth spazierte Fräulein Valeska zurück zum Curhause, wohlgemuth pflegte und erheiterte sie ihre schwer leidende Mutter, wohlgemuth überließ sie sich Abends dem zauberhaften Eindrucke der himmlisch schönen Gegend und träumte von ihrer Zukunft, und wohlgemuth stand sie am andern Morgen früh auf, um einen Spaziergang am See zu unternehmen, bevor ihre Mutter das Bett verließ. Vielleicht wurde sie bei dem letzten Entschlusse von der Hoffnung geleitet, den Obersten zu treffen.
Sie täuschte sich auch nicht. Kaum hatte sie die Allee einmal durchschritten, so sah sie den alten Herrn, stattlich und vornehm, mit echt militairischem Anstande sich entgegen kommen. Schon von fern grüßte er mit einem weit freundlicheren „Guten Morgen“, als sie schon heute erwartet hatte.
An einem recht einsamen, pittoresk romantischen Flecke, wo die ersten Felsen mit schroffen und eckigen Abhängen weit über das dunkle Wasser hinwegragten, trafen sie zusammen.
„Mein Fräulein, Sie müssen diabolische Kräfte besitzen,“ rief er mit einem Humor, dem man einen gewissen Zwang anhörte, „denn Ihnen ist gelungen, was bis jetzt noch Jeder vergeblich versucht hat. Sie haben mir eine schlaflose Nacht bereitet.“
Das junge Mädchen richtete mitleidig ihre sprechenden, braunen Augen milde zu ihm auf, und sprach einige bedauernde Worte.
„Aber ich weiß, wie ich ferneren schlaflosen Nächten entrinnen kann,“ fuhr er, ihre sanften Beileidsbezeigungen nicht beachtend, fort. „Ihr solider Plan, den Sie zu meinem und zu Ihrem Besten entworfen haben, ist Schuld an meinem Elende gewesen. Sie haben mich damit in einen Belagerungszustand versetzt und Sie hoffen, daß ich eines Tages capituliren soll – mein Fräulein – la vieille garde meurt, mais elle ne se rend pas! sagt der Franzose, und das ist die einzige Gleichheit zwischen mir und diesem Volke, daß wir dieser Devise huldigen. Ich räume Ihnen ein, daß Sie Recht haben, aber ich verlasse in dieser Stunde Fürstenhall und gehe nach Steitenbach, um meine Cur ungestörter fortsetzen zu können. Leben Sie wohl!“
Fräulein Valeska glich einem schönen Steinbilde. Alles Leben schien aus dem blühenden Gesichte gewichen, kraftlos und schlaff hingen ihre Arme herab, und ihr Auge zeigte sich völlig glanzlos.
„Soll das mein Urtheil sein?“ brachte sie mühsam heraus.
„Nehmen Sie es, wie Sie wollen. Heirathen Sie meinen Jungen – ich habe nichts dagegen – leben Sie wohl!“
Valeska regte die Lippen, um diese Abschiedsworte zu wiederholen; es gelang ihr nicht – stumm neigte sie den Kopf, und blieb wie erstarrt stehen.
Der Oberst entfernte sich, mit großer Gefühllosigkeit frohlockend die Hände reibend. Nachdem er eine weite Strecke entfernt war, schauete er um. Valeska stand unverändert auf derselben Stelle, und starrte über das Wasser hinweg.
Er kam bei seinem Hause an, und blickte abermals zurück. Dieselbe Stellung, dieselbe traurige Unbeweglichkeit.
Er betrat sein Zimmer. War es Neugierde, sein Opfer zu betrachten, die ihn zu seinem sehr guten Fernrohre greifen ließ? Er stellte es und suchte die Dame, die sein Sohn liebte, die er jetzt unheilbar verletzt hatte.
Valeska hatte sich nicht bewegt, hatte nicht einmal die Lage ihrer Arme geändert – sie schien vergessen zu haben, daß sie noch lebte, und schien es nicht zu wissen, daß große Thränentropfen ihre Wangen hinabträufelten. So sah sie der Oberst, Dank seinem guten Fernrohre, und das Herz begann ihm mächtig zu klopfen. Unruhig schritt er auf und ab im Zimmer. Seine Augen glüheten vor innerer Bewegung, mehrmals stand er an der Thür – nahm er sein Fernrohr abermals – Valeska schritt ruhig und voll graziösen Anstandes die Allee herauf. Jetzt war sein Herzklopfen fort, und in einer Stunde saß er im Wagen, ohne seine „weise Frau Schwester“ eines Abschiedes gewürdigt zu haben.
Steitenbach lag sechs Stunden von Fürstenhall entfernt im flachen Lande, und die Heilanstalt befand sich in dem ärmlich ausgestatteten Städtchen, unter dürftiger Umgebung eines Krautgartens, nebst Rasenflecken unter alten Obst- und Lindenbäumen. Die ganze Anlage verrieth sich schon von außen als ein Hospital voll lahmgewordener Menschen, das Heilung für alle Fälle verheißt, und der Oberst sah schon vor seinem Eintritte in das mehr als einfache Curhaus ein, daß er sich selbst in’s Exil geschickt habe. Es vermehrte seine gute Laune nicht, als er sich in dem Zimmerchen sah, welches ihm als das beste eingeräumt worden war. Bunt bemalt, ohne Tapete, rothbunte Kattungardinen an den niedrigen Fenstern – es gemahnte ihn an seine Knabenjahre, wo er als Gehülfe seines Vaters in der Gaststube stand, welche von den Honoratioren seiner Vaterstadt als Niederlage benutzt wurde. Er glaubte sich fünfzig Jahre zurückversetzt zu sehen. Aber was half es? Wer trug die Schuld? Niemand als er!
Verdrießlich fügte er sich in’s Unabänderliche, weil ein Rückzug unmöglich war, und nahm seine Cur wieder vor.
Von Stunde zu Stunde drängten sich seinem Geiste Vergleichungen auf, die ihn verdüsterten. Dort in Fürstenhall Alles neu, Alles elegant, Alles behaglich – hier häßliche Gebäude, unfreundliche Wirthe und stöhnende Kranke.
Drei Wochen verflossen ihm unter den Höllenqualen eines Verdammten, der das Paradies aus Eigenwillen verließ, um seinen Wohnsitz so zu wählen, daß er durch jeden Sonnenaufgang an dasselbe erinnert werden mußte.
Es geschah während dieser Zeit gar nichts, was im Stande gewesen wäre, ihn zur Erkenntniß zu bringen. Es kam kein Brief, es kam keine Anregung, die ihn auf die Vergangenheit zurückführte, und doch standen die letzten Ereignisse seines Lebens in immerwährender Mahnung vor seiner Seele.
Die Zeit war da, wo sein Sohn Lothar von seiner überseeischen Reise zurückkommen mußte.
„Packe meine Sachen, Jean,“ befahl er eines Abends, nachdem er lange mit tief gerunzelter Stirn das altmodisch ausstaffirte Stübchen durchmessen und in die untergehende Sonne geschaut hatte, bis er geblendet bis zur Blindheit war. „Packe meine Sachen – besorge einen Wagen zur Station Bimberge.“
Der Bediente sah ihn groß an.
„Nach Bimberge?“ wiederholte er im bescheidenen Tone kluger Zurückhaltung.
Bimberge lag nördlich – sie mußten nach Süden reisen.
„Ja. Wir gehen über Berlin nach –“ Er ließ den Satz unvollendet, und spazierte von Neuem im Zimmerchen umher.
Die Dampfgelegenheit ist ein prächtiges Mittel, gute Gedanken schnell auszuführen, und wer einmal eingepackt in einem Coupé, mit der Weisung der Reiseroute von – – nach – – versehen, sitzt, der ist seinem Schicksale verfallen.
Vielleicht wäre der Oberst noch zehn Mal andern Sinnes geworden, vielleicht noch dicht vor der Station ††† umgekehrt, an deren Bahnhof die weltberühmte Maschinenfabrik von Harteberg und Compagnie angrenzte, aber Gott sei Dank, er kam richtig dort an, kletterte richtig aus seinem Waggon heraus, und sah sich ganz bedächtig das fürstlich schöne Haus an, das ihm ein Reisegefährte als das Wohnhaus des Fabrikbesitzers bezeichnet hatte.
Ohne Zögern stieg er die breiten Fliesenstiegen hinauf, die zu [470] einem balkonartigen Portale führten. Ohne irgend ein Zeichen von Gemüthsbewegung öffnete er die große geschnitzte Flügelthüre, die sogleich in ein weites, salonmäßiges Gemach führte. Er trat ein. Eine weibliche Gestalt stand in einem Bogen der hochgewölbten Fenster, und schauete achtsam auf das Gewühl, das ein ankommender Bahnzug immer verursacht.
„Guten Morgen, Frau Tochter!“ rief der Oberst, und seine Stimme klang ein klein wenig anders, als damals, wo er ihr auseinandersetzte, „daß sie nicht in einem Zimmer zusammen leben könnten.“
Die Dame sah sich um. Einen Moment nur, einen einzigen Moment, dann aber flog sie unter einem Freudenjauchzen ihm entgegen, klammerte ihre Arme um seinen Nacken, und drückte ihre Lippen auf seinen Mund.
Das hatte er nicht verdient! Eine Stimme in seinem Innern flüsterte ihm dies vernehmlich zu, allein seine Lippen hüteten sich, es auszusprechen.
Im Nu riß sich Therese wleder los von ihm und schrie, zur Thür eilend, die Namen ihres Mannes, ihrer kleinen Tochter, ihres Vaters, ihrer Mutter und ihres Bruders. Alle stürzten erschrocken herbei – der Schreck verwandelte sich in Jubel, als sie den alten Herrn, mitten im Salon stehend, erblickten. Eberhard trat zuerst zu ihm. Wie Mann zum Mann standen sie voreinander, die Hände faßten sich, die Augen sahen sich fest an, und die Herzen öffneten sich wieder ohne Worte und Erklärungen.
Jetzt kam Pauline hereingesprungen. Sie riß die Kinderaugen weit auf, und ein Schelmenlächeln flog über das liebe Gesicht.
„Du? Wo kommst Du her –?“ fragte sie, fröhlich, wie damals, die Händchen zusammenklatschend.
„Bin ich denn noch ein allerliebster Mann, Du allerliebstes Aeffchen?“ fragte der Oberst, das Kind mit Entzücken emporhebend, und unverwandt betrachtend. „Hast Du mich wirklich noch nicht vergessen?“
„Nein, wirklich nicht!“ betheuerte die Kleine. „und dafür, daß Du zu mir gekommen bist, sollst Du auch von Pauline ein Küßchen haben.“
Nach und nach legte sich der Sturm. Man wurde ruhiger, und der Oberst fragte, ob sein Sohn Eberhard Nachrichten von Lothar habe. Als er hörte, daß das Schiff, welches er zur Ueberfahrt erwählt habe, laut telegraphischer Depesche in Southampton angelangt sei, da erklärte er, nach Hamburg zu wollen, dem Sohne entgegen. Ein freudiger Blick Theresens auf ihren Gatten verrieth etwas von ihren mitleidigen Hoffnungen für Valeska, aber auszusprechen wagte sie nichts davon, denn ihre bittere Erfahrung hatte sie vorsichtig gemacht.
„Habt Ihr Nachricht von dem Fräulein Sundwihl?“ fragte der Oberst in Folge dieses wohlverstandenen Blickes.
Man bejahete.
„Es liegt ein Brief an Lothar hier, den wir ihm bei seiner Ankunft in Europa sofort übersenden oder übergeben sollen,“ fügte Eberhard hinzu.
„Mal her den Brief! Ich will Postillon d’amour sein,“ scherzte der alte Herr.
Eberhard eilte, den Brief zu holen. Der Oberst nahm ihn, besah ihn von allen Seiten, und rasch zerriß er das Couvert. Einigermaßen erschrocken fuhr sein Sohn von seinem Sitze auf, um den Brief vor Entweihung zu schützen.
„Laß nur,“ rief der alte Herr gemüthlich. „Ich nehme alle Verantwortung auf mich.“
Er stellte sich an’s Fenster und las. Es währte lange, ehe er zu Ende kam, viel länger, als er zu den Zeilen gebrauchte, die Valeska im Gefühle einer dumpfen Hoffnungslosigkeit, in der tiefen Bedeutsamkeit einer stolzen Demuth, einzig und allein für den Mann geschrieben hatte, den sie mit der ganzen Kraft eines ungewöhnlichen Mädchenherzens liebte.
Die edle Ergebung, womit sie ihre Demüthigung aus den Händen des Obersten hingenommen hatte, prägte sich klaglos in ihren Worten aus, welche sie „entsagend bis zu günstigeren Zeiten,“ schriftlich an Lothar richtete, „weil sie fest beschlossen hatte, ihn nicht eher wiederzusehen, bis sein Vater aus eigener Entschließung den Bund segnen würde, der das seligste Glück ihres Lebens in sich schließe.“
Es mußte in der unerschütterlichen Selbstbeherrschung Valeska’s etwas liegen, was den Obersten ganz besonders rührte – vielleicht folgerte er von sich auf sie und umgekehrt von ihr auf sich – wer weiß und kennt alles das, was in einem eigensinnigen Gemüthe eine Stätte findet? genug, Frau Therese, die ihn fest und beharrlich beim Lesen von der Seite betrachtete, wollte finden, daß ein fallender Farbenwechsel mehrmals stattgefunden habe, und daß seine Lippen mit dem Bemühen, eine innere Rührung zu bemeistern, fest eingekniffen seien.
Als er endlich fertig mit Studiren war, forderte er ein neues Couvert, Feder, Tinte und Siegellack.
Gehorsam, wenn auch mit durchweg unbehaglichen Gefühlen willfahrte sein Sohn Eberhard diesem Verlangen. Er konnte und mochte auch nicht mit einem einzigen Worte den Frieden und die Freude beeinträchtigen, die nach Jahre langer Entbehrung in seine Brust eingekehrt war. Im Allgemeinen hatte er weit mehr durch seines Vaters fortgesetzt zur Schau getragene zornige Gemüthsstimmung gelitten, als er zu verrathen für gut hielt, und er war um so williger auf Valeska’s Pläne eingegangen, als er es für unerträglich hielt, diesem außergewöhnlichen, begabten und liebenswürdigen Mädchen auf längere Zeit zu widerstehen. Danach muß man die Beklemmung abmessen, die ihn peinigte, wenn er bedachte, daß jetzt mit einem Federstriche, der falsch angewendet, falsch aufgegriffen und falsch verstanden wurde, Verhältnisse gebrochen und Lebenshoffnungen vernichtet werden konnten.
Der Oberst that gar nicht, als ob irgend Jemand in der Welt außer ihm lebte und Interesse an seinen auszuübenden Handlungen nähme. Er tauchte die Feder ein. Er legte Valeska’s Brief vor sich hin, warf noch einen vielsagenden, etwas triumphirenden Blick auf die zierliche Schrift und setzte groß und deutlich die Worte unter ihre Entsagungsepistel:
„Wird nicht acceptirt. Oberst Hußlar.“
Frau Therese, mit ihren scharfen Augen und ihrem ahnenden Herzen, entzifferte von fern her die Lapidarschrift und flog mit Windeseile ihrem Gatten an die Brust, ihm die Worte zuflüsternd.
Der Oberst hatte es gehört. Er schaute sich um und rief, spöttisch lächelnd:
„Die Frau Tochter hat gewiß gedacht, der Löwe hat auch eine Bärennatur – höre, Eberhard, mein Junge, ich rathe Dir, daß Du ihr etwas Unterricht in der Naturgeschichte geben läßt. – So. – Jetzt mein Siegel darauf – nun gebt den Brief sofort auf, damit er eher im Sundwihl’schen Hause anlangt, als wir, das heißt Lothar und ich.“
Nun war Alles, Alles gut. Beschreiben läßt sich ein solcher hergestellter Familienfrieden mit seinen verstohlenen Liebesäußerungen nicht. Am offenkundigsten wurde Pauline, das Kind, vom Obersten damit überschüttet, allein man merkte aus den neckischen Zärtlichkeiten, womit er ihre Anmuth mehrmals als ein Erbtheil von ihrer Frau Mama annoncirte, heraus, welchen Eindruck Therese auf sein altes, störrisches Herz gemacht hatte.
Von dem Wiedersehen zwischen Lothar und dem Obersten können wir nur das sagen, daß der Anblick des alten, stattlichen Papa’s hinreichte, um des jungen Mannes Brust mit den gegründetsten Hoffnungen zu erfüllen. Vater und Sohn waren einig, sofort dem Präsidenten von Sundwihl „in’s Quartier rücken zu müssen.“
„Du gehst zum Vater – ich zur Tochter,“ erklärte der alte mit schelmischem Ernste.
„Wollen wir es nicht umgekehrt machen?“ fragte Lothar lachend. „Ich habe eine unbezwingliche Sehnsucht nach meiner Valeska.“
„Sie nimmt Dich nicht eher an, bis ich mit ihr gesprochen habe,“ entgegnete der Oberst mit Gleichmuth. „Es ist zwischen uns etwas passirt –“
Lothar richtete erschrocken seine Blicke fest auf den Vater.
„Valeska ist stolz,“ flüsterte er beklommen. „Mein Glück wird doch nicht gefährdet sein?“
Der Oberst schnitt ein verdrießliches Gesicht, machte aber keine Anstalt, seines Sohnes Sorgen zu zerstreuen.
„Die Ungewißheit der nächsten vierundzwanzig Stunden sei Deine Strafe dafür, daß Du ohne meinen Willen und ohne Abschied nach Amerika geschwommen bist. Basta!“
Lothar wußte von Alters her, daß jedes Fragen und Forschen von nun an überflüssig war, also schwieg er und zählte heimlich jede Station, die ihn von seiner Geliebten trennte.
Endlich war die letzte Station erreicht und ein Wagen brachte [471] die beiden Herren – den alten beladen mit guten Vorsätzen, den jungen ausgestattet mit Beweisen seiner thätigen Tüchtigkeit, welche eine gefährdete Erbschaft gerettet hatte – vor das Haus, wo Sundwihl wohnte.
Der Präsident, schon benachrichtigt durch Depeschen, empfing Lothar mit Freudenbezeigungen an der Treppe – Fräulein Valeska hielt sich schüchtern hinter der Thür ihres Zimmers verborgen und wartete mit Spannung der Lösung des Räthsels, das ihr durch ihren zurückgesendeten Brief mit der vieldeutigen Unterschrift aufgegeben worden war.
Der Oberst trat hastig zu ihr ein, führte das leise zitternde Mädchen bis zum Fenster, um sie der hellsten Beleuchtung auszusetzen, legte beide Hände auf ihre Schultern und sah sie unverwandt an. Es mußte etwas in dem Ausdrucke seiner Augen liegen, was eindringlich zu ihrem Herzen sprach, denn sie neigte ihr stolzes Haupt und schmiegte es fest an seine Brust. Er umschlang sie lautlos, stark und innig und es verflog eine heilige und stille Minute, ehe er mit bewegter Stimme flüsterte:
„Du trotziger Mädchenkobold, der mir seit drei vollen Wochen den Schlaf meiner Nächte verkürzt, kannst Du denn wirklich ganz und gar meine Liebe entbehren, wie Du damals sagtest?“
„Es war ein vermessenes Wort, mein Vater,“ entgegnete Valeska mit gebrochener Stimme.
Weiter bedurfte es keiner Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Menschen.
Lothar hatte sich sein Glück errungen durch sein opferbereites Wirken jenseit des Meeres und es stand ihm jetzt nichts mehr im Wege, die Geliebte mit dem vollen Bewußtsein seiner fernern Seligkeit in die Arme zu schließen.
Wollte man zu erforschen suchen, welche von den Schwiegertöchtern dem Obersten die liebste sei, so müßte man tiefer hinter den Scherz und hinter den Ernst seines Benehmens zu blicken vermögen, um ein Urtheil geben zu können. Frau Therese ist der Gegenstand seiner fröhlichen Spöttereien, während sein Blick auf Valeska unverkennbar eine warme und ernste Huldigung in sich faßt.
Das aber ist gewiß, daß Pauline, das reizendste aller Enkelkinder, einen Thron in seinem Großvaterherzen erobert hat, den ihr Niemand streitig machen wird, und wenn ihm noch Dutzende von Enkeln gebracht werden sollten.
An seine „Frau Schwester“, die Medicinalräthin Schlesing, schrieb der Oberst eines Tages:
- „Die Furcht, daß Sie mich auf dem Monde suchen könnten, nachdem ich spurlos aus Fürstenhall verschwunden bin, bringt mich zu der Nachricht meines Daseins in „Harteberghouse.“ Lachen Sie nur, Frau Schwester – ich lache auch über einen alten Kerl, der Hußlar heißt und von der Rolle eines Bären zu der Rolle eines – eines – na, Frau Schwester, es wird doch dem Menschen nichts schwerer, als seine Irrthümer einzugestehen, also nur heraus mit der Wahrheit – eines grundglücklichen Vaters, Schwieger- und Großvaters übergegangen ist! Kommen Sie und sehen Sie, damit Sie es glauben, daß der bärbeißige Hußlar, Ihr ehrenwerther Schwager, sich von Thereschen, des Schlossers Töchterlein, hätscheln läßt, daß er mit der muthwilligen Enkelin Pauline Galopp tanzt und daß er der stolzen Präsidententochter Valeska den Hof macht. In vier Wochen heirathet mein Sohn Lothar, und er erwartet, daß die Frau Medicinalräthin Schlesing in Crinoline und Steifseide Zeugin dieser großen Lebenstragödie – merken Sie wohl – Tragödie – sein wird. Schließlich versichere ich Ihnen, daß ich unverändert der alte Oberst Hußlar bin, der aber in „Harteberghouse“ eine Eremitage bezogen hat, wo er, mit Erlaubniß seiner weisen Frau Schwester, Buße thut.“
Es läßt sich erwarten, daß die Medicinalräthin nicht gezögert haben wird, einer Einladung Folge zu leisten, welche ihre liebsten Wünsche erfüllt, und es läßt sich voraussetzen, daß sie nicht ohne Spottreden vom Oberst Hußlar empfangen worden sei, die sie hoffentlich gebührend erwidert hat.