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Oberlandesgericht München – Chemische Fabrik

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Oberlandesgericht München
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Titel: Auszug aus einem Urtheile des k. Oberlandesgerichts München vom 8. Oktober 1886
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aus: Amtsblatt des K. Staatsministeriums des Innern, Königreich Bayern, Band 1886, Nr. 35, Seite 304–306
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Kurzbeschreibung: Betreiben einer chemischen Fabrik ohne die dazu erforderliche Genehmigung
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[304]

Auszug aus einem Urtheile des k. Oberlandesgerichts München vom 8. Oktober 1886.

Die längst bestehende Natroncellulosefabrik in A. ist Eigenthum einer Aktiengesellschaft, welche Ende 1884 die Errichtung einer Sulfitcellulosefabrik, anstoßend an die frühere Fabrik, beschloß, und die Ausführung dieses Unternehmens ihren beiden bevollmächtigten Vertretern, den Angeklagten Ph. v. D. und L. ST. übertrug. In Folge dieses Auftrags ließen die beiden Angeklagten, welche die gesammte kaufmännische und technische Leitung der Sulfitstofffabrik üben und die bei Aemtern und Behörden erforderlichen Schritte bethätigen, Pläne anfertigen, reichten solche am 5. Januar 1885 bei der Baupolizeibehörde mit der Bitte um Genehmigung ein und ließen die am 20. Januar 1885 vom Stadtmagistrate A. genehmigten Bauten der Sulfitstofffabrik ausführen. Während der Bauausführung kamen die Angeklagten aus Ersparnißrücksichten auf das Vorhaben, die zur Sulfitstofffabrikation benöthigte schwefelige Säure durch Verbrennen von Schwefel selbst zu bereiten. Zu diesem Behufe wurde im Oktober 1885 ein Gebäude auf dem Areal der Sulfitstofffabrik errichtet, welches „Lichthof“, „chemische Abtheilung“, „chemische Fabrik“ genannt wurde, und wurden darin zwei Schwefelverbrennöfen erbaut. In diesen Verbrennöfen, welche in seither fortdauernden Gebrauch genommen wurden, wird reiner Schwefel verbrannt unter Zuleitung von Sauerstoff mittelst eines Gebläses, und auf solche Weise mittelst einer chemischen Aktion die schwefelige Säure erzeugt. Der Betrieb geschieht mit Hilfe der in der Sulfitstofffabrik bestehenden Dampf- und Wasserkräfte und es sind bei dieser speziellen Produktionsthätigkeit, welche unter der Leitung eines promovirten und absolvirten Chemikers steht, mehr als drei Personen beschäftigt. Eine behördliche [305] Genehmigung zur Errichtung dieser Anlage wurde nicht erholt. Auf Grund dieser Thatsachen hat das Schöffengericht die beiden Angeklagten je eines Vergehens nach §. 147 Ziff. 2 mit §. 16 der Reichs-Gewerbeordnung schuldig erkannt und je in eine Geldstrafe von 100 Mark verurtheilt, von der Strafkammer des k. Landgerichts A. dagegen wurden dieselben von den Anklagen wegen jenes Vergehens freigesprochen. Auf erhobene Revision hat das k. Oberlandesgericht München mit Urtheil vom 8. Oktober 1886 das Urtheil der Strafkammer aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das genannte Gericht zurückverwiesen. Aus den Gründen ist Folgendes hervorzuheben:

„Vom Berufungsgerichte ist die schöffengerichtliche Schlußfeststellung, daß die in Rede stehende Anlage als eine gewerbliche Anlage und nach der Art und dem Umfange ihres Betriebs als eine Fabrik und das in ihr durch eine chemische Aktion erzeugte Produkt – schweflige Saure – als ein chemisches Präparat sich darstelle, nicht beanstandet worden. Die Strafkammer findet vielmehr den Mangel der Voraussetzungen für den gesetzlichen Begriff einer chemischen Fabrik darin gelegen, daß im vorliegenden Falle die schweflige Säure nicht als Hauptzweck der Unternehmung, um dieselbe zu veräußern und in den Verkehr zu bringen, sondern mir als ein Nebenbetrieb der Sulfitcellulosefabrik, zur Gewinnung eines für die Bereitung der Sulfitcellulose, deren Herstellung hinwiederum bis zum 15. Februar 1886 an keinerlei Genehmigung gebunden gewesen sei, erforderlichen Stoffs erzeugt werde. Hierauf kommt es aber nicht an. Das Gesetz beabsichtigt, wie schon aus dem Wortlaute des ersten Absatzes des §. 16 der Gewerbeordnung hervorgeht, durch das Erforderniß der behördlichen Genehmigung einen Schutz gegen Nachtheile, Gefahren und Belästigungen eintreten zu lassen, welche den Besitzern und Bewohnern benachbarter Grundstücke oder dem Publikum überhaupt aus der Errichtung bestimmter Anlagen entstehen könnten. Ist somit die gesetzliche Bestimmung des Erfordernisses der besonderen Genehmigung im öffentlichen Interesse erlassen, so kann für die Entscheidung darüber, ob eine zu errichtende Anlage dieser Genehmigung bedürfe, die Frage nicht von Einfluß sein, zu welchem gewerblichen Zwecke die Anlage errichtet wird, ob als selbständige Anlage zur Gewinnung des zu veräußernden und in den Verkehr zu bringenden gewerblichen Erzeugnisses oder als Nebenbetrieb zur Herstellung eines bei der Hauptunternehmung zu verarbeitenden Hilfsmittels. Denn die Gefahren, Nachtheile und Belästigungen, welche die Anlage für die Umgebung oder das Publikum mit sich bringt, sind in beiden Fällen die gleichen. Hiernach, und da das Gesetz die chemischen Fabriken aller Art als Anlagen gezeichnet, welche wegen der durch sie herbeigeführten Bedrohung des [306] öffentlichen Wohls ohne besondere Genehmigung nicht errichtet werden dürfen, ist es für die Unterstellung der in Rede stehenden Anlage unter den gesetzlichen Begriff einer chemischen Fabrik ohne Belang, daß die Darstellung der schwefeligen Säure in derselben nicht Hauptzweck der gewerblichen Unternehmung der Sulfitstofffabrik ist. Auch der Umstand ist für die hier zu entscheidende Frage unerheblich, daß erst durch den am 15. Februar 1886 veröffentlichten (Reichs-Ges.-Blatt S. 28, auch S. 68) Bundesrathsbeschluß, durch den die Anlagen, in welchen aus Holz oder ähnlichem Fasermaterial auf chemischem Wege Papierstoff hergestellt wird (Cellulosefabriken), in das Verzeichniß des §. 16 der Gewerbeordnung aufgenommen wurden, die bis dahin zweifelhafte Frage, ob diese Fabriken unter den §. 16 fallen (cf. Denkschrift des Bundesraths; Reichstags-Verhandlungen 1886 Bd. V S. 864) in bejahendem Sinne festgestellt wurde, denn bei den Cellulosefabriken als solchen handelt es sich allenfalls um die Verwendung, nicht aber um die fabrikmäßige Darstellung der schwefeligen Säure. Die Strafkammer hat daher dadurch, daß sie der in Frage stehenden Anlage die Eigenschaft einer chemischen Fabrik aus den bezeichneten Gründen aberkannte, die §§. 16 und 147 Abs. 1 Ziff. 2 der Gewerbeordnung für das deutsche Reich durch Nichtanwendung verletzt.“