Oberlandesgericht München – Bleihaltige Lebensmittelverpackung 2
[431]
Die Angeklagten in N. betreiben daselbst gemeinschaftlich ein en gros Geschäft mit Glas und Porzellainwaaren, in welchem sich ein sogenanntes Musterlager befindet, worin die einzelnen Artikel je in größerer Stückzahl zur Einsicht und eventuell auch zum sofortigen Kaufe bereit liegen.
Am 12. Oktober 1889 wurde in diesem Geschäfte durch die Polizeibehörde ein Bierglas mit Zinndeckel und Porzellaineinlage in letzterem erholt, bezüglich dessen die fachtechnische Untersuchung ergab, daß das Zinnbeschläge aus einer in 100 Gewichtstheilen mehr als 10 Gewichtstheile Blei enthaltenden Metalllegirung hergestellt war, da der Bleigehalt, wie durch dreifache Versuche festgestellt wurde, mindestens 24,55% betrug, also die gesetzliche Grenze von 10% um ein Erhebliches überstieg.
Die Angeklagten beziehen ihre Bierglasdeckel in größerer Stückzahl bis zu 50, nehmen die fertige Waare sofort in ihr Lager auf, wo sie nach Bedarf sofort abgenommen werden konnte, und gerade der von der Polizei erholte Bierglasdeckel war ein aus einer größeren, bereits verkauften und einheitlich bestellten Partie übrig gebliebenes Stück, so daß es keinem Zweifel unterliegt, daß der fragliche Deckel – abgesehen von der höchst wahrscheinlich gleichartigen Beschaffenheit der übrigen Deckel – bis zum Augenblicke des Ankaufes durch die Polizei im Magazine der Angeklagten feilgehalten war.
Auf Grund dieser Feststellungen hat die Strafkammer des k. Landgerichtes N. das Urtheil des Schöffengerichtes beim k. Amtsgerichte N. vom 6. März 1890, durch welches jeder der beiden Angeklagten einer Uebertretung aus § 4 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 25. Juni 1887, den Verkehr mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen betreffend, [432] für schuldig erachtet zu einer Geldstrafe von 5 Mark eventuell 1 Tag Haft und in die Kosten verfällt worden war, auf Berufung der Angeklagten mit Urtheil vom 30. Mai l. Js., diese unter Aufhebung des schöffengerichtlichen Urtheiles kostenlos freigesprochen, dagegen den erstrichtlichen Ausspruch, daß der durch die Polizei beschlagnahmte und in deren Verwahrung befindliche Bierglasdeckel eingezogen werde, aufrecht erhalten.
Die Revision des Staatsanwaltes, welcher Aufhebung des Urtheiles der Strafkammer und Zurückverweisung der Sache an den vorigen Richter beantragt, bezeichnet § 1 Ziff. 1 und § 4 Ziff. 2 des Reichsgesetzes vom 25. Juni 1887 und § 59 des R.-Str.-Ges.-B. als verletzt.
Die Revision muß auch für begründet erachtet werden.
Das Gesetz vom 14. Mai 1879 betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genußmitteln und Gebrauchsgegenständen bedroht in den §§ 12, 13 und 14 unter Anderm Denjenigen mit Strafe, welcher vorsätzlich oder fahrlässig Bekleidungsgegenstände, u. s. w. Trink- oder Kochgeschirre derart herstellt, daß der bestimmungsgemäße oder vorauszusehende Gebrauch dieser Gegenstände die menschliche Gesundheit zu beschädigen oder zu zerstören geeignet ist, deßgleichen den, der solche Gegenstände verkauft, feilhält oder sonst in Verkehr bringt.
Zur Ergänzung dieser Gesetzesbestimmungen ist, wie die bezüglichen Reichstagsverhandlungen entnehmen lassen, (Reichstagsverhandlungen 1887 Bd. III S. 298 Bd. I S. 170 Bd. III S. 633 Bd. I S. 480 Bd. II S. 604. - Entscheid. des Reichs-Gerichts Bd. XX S. 337) im Gesetze vom 25. Juni 1887 betreffend den Verkehr mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen, in § 1 bestimmt:
Eß-, Trink- und Kochgeschirre, sowie Flüssigkeitsmaaße dürfen nicht
- 1. ganz oder theilweise aus Blei oder einer in 100 Gewichtstheilen mehr als 10 Gewichtstheile Blei enthaltenden Metalllegirung hergestellt sein etc. etc.
Nach § 4 dieses Gesetzes wird bestraft,
- 1. wer Gegenstände der oben bezeichneten Art den daselbst getroffenen Bestimmungen zuwider gewerbsmäßig herstellt,
- 2. wer Gegenstände, welche diesen Bestimmungen zuwider hergestellt, aufbewahrt oder verpackt sind, gewerbsmäßig verkauft oder feilhält, und in § 6 ist die Einziehung solcher Gegenstände gestattet, selbst dann, wenn die Verfolgung oder Verurtheilung einer bestimmten Person nicht ausführbar ist.
Bei dem innigen Zusammenhange dieser beiden Gesetze und der vollen Uebereinstimmung der Motive in den Entwürfen derselben über deren Grund und Zweck ist auch die Beurtheilung beider Gesetze [433] aus demselben Gesichtspunkte insbesondere darüber, was unter Fahrlässigkeit zu verstehen sei, gerechtfertiget. Aus den Motiven zu § 11 und 14 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 geht aber hervor, daß dieses Gesetz unter Fahrlässigkeit nichts anderes, als die allgemeine strafrechtliche Fahrlässigkeit versteht, und daß daher für den Begriff derselben die allgemeinen Grundsätze des Strafrechtes über schuldhafte Unthätigkeit maßgebend sind, insoferne durch diese eine rechtliche, auf spezieller Vorschrift beruhende oder aus den einschlägigen Verhältnissen sich ergebende Verpflichtung verletzt wird. Die Motive bemerken in dieser Beziehung, daß, wer Lebensmittel feilhält oder verkauft, die Pflicht habe, sich über deren Beschaffenheit zu unterrichten, oder unterrichtet zu halten, und, falls er dieses nicht selbst gethan, oder die ihm gebotene Gelegenheit, sich durch Einziehung von Belehrung bei Sachverständigen Auskunft zu verschaffen, unbenutzt gelassen habe, den Vorwurf der Fahrlässigkeit nicht werde von sich ablehnen können, daß Unkenntniß aus Fahrlässigkeit nicht schütze, und eine solche immer da anzunehmen sein werde, wo der Beteiligte die ausdrücklichen Vorschriften einschlagender polizeilicher Verordnungen oder Anordnungen unbeachtet gelassen habe. Beim Mangel solcher Vorschriften handelt demgemäß nach konstanter Rechtsprechung auch derjenige fahrlässig im Sinne dieses Gesetzes, welcher bei dem gewerbsmäßigen Verkaufe von Nahrungs- oder Genußmitteln, welcher schon an sich zu einem höhern Grade der Aufmerksamkeit auf die sanitäre Qualität der Gegenstände des Handelsbetriebes verpflichtet, es unterläßt, die durch besondere Umstände gebotene Sorgfalt anzuwenden, welche ihn von der Gesundheitsgefährlichkeit der betreffenden Genuß- und Nahrungsmittel hätte überzeugen können.
(Samml. Bd. I S, 331 Bd. II S, 46. Entscheidungen des Reichsgerichts Bd. IX S. 412, Reichstagsverhandlungen 1879 Bd. IV S. 180.)
Es fragt sich daher, ob das Berufungsgericht bei Anwendung dieser zweifellos auch für das hier einschlägige Gesetz vom 25. Juni 1887 geltenden Grundsätze von richtigen Erwägungen ausgegangen ist. Diese Frage ist zu verneinen.
Die Strafkammer hat in der Hauptsache auf Grund der Feststellung, daß die Angeklagten vorschriftsmäßige Waare bei den Fabrikanten bestellten, und diese die Lieferung solcher Waare zusicherten, ferners daß die Fabrikanten in N., dem Bereiche der Strafvorschrift, wohnen, und dieser unterworfen, auch dem Besteller civilrechtlich verhaftet sind, ein fahrlässiges Handeln der Angeklagten für ausgeschlossen erklärt.
Hiegegen kommt aber in Betracht, daß die Handeltreibenden vorschriftsmäßige Waare bestellen müssen, wenn sie nicht absichtlich [434] dem Gesetze zuwiderhandeln oder sich solchem Verdachte aussetzen wollen, die Fabrikanten aber schon nach dem Gesetze, auch ohne ausdrückliche Zusicherung zur Lieferung vorschriftsmäßiger Waaie verpflichtet und bei der hier festgestellten Eigenschaft derselben als Inländer auch nach dem Strafgesetze verantwortlich sind, wenn sie dessen Vorschriften außer Acht lassen, alle diese vom Berufungsgerichte herangezogenen Umstände daher selbstverständlich und zur Begründung der Annahme, die Kaufleute hätten die ihnen vom Gesetze auferlegte den besonderen Umständen entsprechende Sorgfalt geübt, nicht entfernt geeignet sind.
Abgesehen hievon bleibt der Kaufmann nach § 4 des Gesetzes, ohne Rücksicht auf das Verhalten des Fabrikanten, verpflichtet, die Waare nach Empfang selbstständig zu prüfen, oder nach Umständen durch Andere in verlässiger Weise prüfen zu lassen, und je nach dem Ergebnisse der Prüfung dasjenige vorzukehren, was nach Möglichkeit verhindert, daß verbotwidrige Waare in den Verkehr gelange, um so mehr, wenn, wie hier feststeht, der Fabrikant bei der Werthverschiedenheit der in Verwendung kommenden Materialien ein Interesse hat, mehr Blei enthaltende Waare zu liefern.
Es konnten daher auch dadurch die Angeklagten dem Gesetze nicht genügen, wenn sie, wie festgestellt ist, mehrmals, wenn ihnen das Aussehen der Waare zu Zweifeln Anlaß gegeben, solche durch einen Sachverständigen prüfen ließen; weil eben solche Prüfung in dem zur Entscheidung stehenden Falle, nach dieser Feststellung nicht stattgefunden und diese Unterlassung bewirkt hat, daß das beschlagnahmte Bierglas dem Verbote entgegen feilgehalten wurde, auch über die Art und Verlässigkeit der von den Angeklagten zeitweilig angeordneten Prüfung nichts festgestellt ist, sonach nicht beurtheilt werden könnte, ob die Angeklagten einer Gefährdung ihrer Kundschaft den Umständen entsprechend vorzubeugen gesucht haben.
Es bestand zwar, wie die Strafkammer richtig annimmt, für die Angeklagten keine Verpflichtung, die ihnen von den verschiedenen Gewerbsleuten jeweils gelieferten Bierglasdeckel jedesmal gerade durch einen bestimmten Sachverständigen auf ihren Bleigehalt untersuchen zu lassen, allein für die Angeklagten bestand, wie schon erörtert, die Verpflichtung, nach Empfang der gelieferten Waare diese auf die Vorschriftsmäßigkeit entweder, wenn sie selbst sachverständig sind – zu prüfen, oder durch Andere, welche sachverständig sind, prüfen zu lassen, und insbesondere konnte der Umstand, daß sie bei der Bestellung vorschriftsmäßige Waare verlangten und zugesichert erhielten, dieselben dieser ihnen durch das Gesetz auferlegten Gewerbspflicht nicht entheben.
Dem Erörterten zufolge muß endlich auch die Annahme der Strafkammer, daß die fachtechnische Untersuchung nur bei stückweiser [435] Vornahme unbedingte Sicherheit gewährt, und immerhin mit einigen, wenn auch geringen Umständen, das heißt wohl, Unbequemlichkeiten für die Angeklagten verknüpft sei, als mit der Absicht des sanitären Zwecken dienenden Gesetzes und den durch dasselbe den Gewerbetreibenden auferlegten Berufspflichten unvereinbar erachtet werden.
Es ist daher die Strafkammer aus rechtsirrigen Gründen zur Nichtanwendung des § 4 Nr. 2 des Gesetzes vom 25. Juni 1887 gelangt, weßhalb dem Antrage des Staatsanwaltes entsprechend das freisprechende Urtheil derselben sammt den durch den Rechtsirrthum beeinflußten Feststellungen aufzuheben, und die Sache an die vorige Instanz, welche nunmehr auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat, zurückzuverweisen war.