Oberländer und die „Fliegenden“
Meine ersten Bekanntschaften in der deutschen Litteratur und Kunst – von Vossens „Louise“ abgesehen, mit der uns der Gymnasiallehrer in kleinen Rationen gewissenhaft quälte – waren Reuter und Oberländer.
Fritz Reuter war für die Ferien auf dem Lande. Einer meiner Brüder besaß die ganz vorzügliche schwedische Uebersetzung seines „Ut mine Stromtid“, und das Buch wurde meine Lieblingslektüre während des Faullenzens der Sommermonate. Die Erinnerungen an dasselbe sind noch heute mit dem Duft gemähter Wiesen und den Bildern aus der Erntezeit, dem Angeln in den Fischteichen, wo große Aborren in dem blanken Wasser stille standen, und den Halbträumen unter den schattigen Obstbäumen mit roten, reifen Sommeräpfeln verschmolzen. Jedesmal, wenn ich das Buch wieder vornahm – und ich habe es sehr oft gelesen –, wirkte das Einleitungskapitel immer wieder gleich ergreifend auf mich, wobei vielleicht auch die eine oder andere verwandte eigene Kindheitserinnerung mit tätig war; und dieser Anschlag des Reuter’schen Hauptwerkes ist auch in der Tat stark und echt in seinem künstlerischen Realismus und von der traurigen Stimmung einer Auktion auf dem Lande gesättigt, – wie der ehemalige Besitzer in der regnerischen Abenddämmerung noch einmal in dem öden Hof die Runde macht und Abschied nimmt, wo die Hausfrau gestorben und Alles in ein paar Stunden zersprengt und verschleudert worden. Ich kann noch heute nichts Anderes finden, als daß Reuter eine ganz ausgeprägte und kaum genügend gekennzeichnete Sonderstellung in der deutschen Litteratur einnimmt. Man kann ihn bei Weitem nicht mit dem Merkzeichen des größten norddeutschen Humoristen abfertigen: er ist – um das so arg [44] mißbrauchte Wort wieder zu Ehren zu bringen – der beste Realist unter den deutschen Dichtern, der Realist vor den sog. Realisten, die doch insgesammt nur fremden Mustern mühsam eine Methode abgelernt, wo er aus eigener Gnade etwas Wesentliches schuf. Es lebt ein Land und ein Volk in seinen Dichtungen; und sie werden sich auch künftighin in ihnen wiederfinden. Man soll wegen der köstlichen Bravourfigur des Onkel Bräsig nicht übersehen, daß das Buch eine ganze Galerie Typen aus allen Klassen und Berufen enthält, die sich aus den Schilderungen so rund und warm herauslösen und die sich noch nach Jahren und Jahrzehnten so freistehend und beweglich um uns rühren, als seien es Menschen, die wir während eines Abschnitts unseres Lebens gekannt und die jetzt in der zeitlichen Entfernung einen geschlossenen Kreis bilden: der Hawermann und das Ehepaar Rüssel, die Familie Pomuchelskopp und Fritz Triddelfitz, der alte Moses und sein Sohn David, Louise Hawermann und Frida von Rambow.
Oberländer genoß ich während der Semester am Gymnasium zu Lund. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann ich die „Fliegenden“ zum ersten Male auf meinem Lebenswege traf. Bei „lilla Mutter“ („die kleine Mutter“) war es nicht, – „lilla Mutter“ war eine unbemittelte Wittwe in den mittleren Jahren, die sich und mehrere halberwachsene Töchter mit einem bescheidenen Kaffeausschank redlich und kümmerlich ernährte, wo ich in den ersten Schuljahren in der Stadt mir zuweilen eine Tasse Nachmittagskaffee gönnte, – denn bei „lilla Mutter“ gab es nur schonensische Lokalzeitungen und einen Apfelkuchen unter einer Glasschale. Mit der Zeit avancirte ich dann allmählich zu „stora Mutter“ („die große Mutter“); die alte behäbige, streng aussehende Dame thronte freilich hinter einem Buffet mit den leckersten und verschiedenartigsten Kuchen, und Lektüre gab es dort auch in Hülle und Fülle, – die „Fliegenden“ aber noch nicht. Meine erste Erinnerung an sie ist mit einer neuen und sehr anheimelnden Konditorei verknüpft, die während meiner letzten Gymnasiumjahre von einem Mann mit deutschem Namen in der schonensischen Metropole eingerichtet wurde und wo ich und andere angehende Studenten uns an flottere und komplicirtere Genüsse gewöhnten. Die eine Merkwürdigkeit des Lokals war der alte Lysander, Professor in „römischer Beredsamkeit und Poesie“, der hier zweimal wöchentlich sein Lieblingsblatt, die Stockholmer Skandalzeitung „Das Vaterland“ genoß; die Nachfrage nach demselben war groß, und mancher Gast verbarg es gern während anderer Lektüre unter seinem Gesäß; der alte und sehr kurzsichtige Herr mit dem Satyrgesicht hatte deswegen die Gewohnheit, das akademische „Lunds Wochenblatt“, zwischen dessen Spalten und den Hosen eines gewissen Docenten C. der witzige Cyniker eine nicht wiederzugebende Parallele gezogen, in die Hand zu nehmen und dann von Zimmer zu Zimmer und von Tisch zu Tisch zu wandern, bis er den Hehler antraf, den er mit vielen und höflichen Worten ersuchte, sich darauf statt auf das „Vaterland“ zu setzen. Die zweite Merkwürdigkeit [45] waren aber die „Fliegenden“; und die „Fliegenden“ waren recht und schlecht Oberländers „gubbar“, denn vom Texte verstand ich damals so gut wie garnichts, weder den Worten noch dem Sinne nach. Und das ist ja eben die Eigentümlichkeit der „Fliegenden“ gewesen und geblieben, daß man auf so mancherlei Weise seine Freude an ihnen haben kann, je nach Alter, Geschmack und anderen Umständen, – der Eine seine künstlerisch-psychologische, der Zweite seine tagespolitische, der Dritte seine geschichtlich-philosophische, der Vierte sogar seine ganz kindische Freude.
Wie so viele gute und beste Dinge sind auch die „Fliegenden“ aus unscheinbaren Anfängen hervorgewachsen. Ihr Begründer, Caspar Braun, war am 13. August 1807 in Aschaffenburg von guter Familie geboren und kam 1827 nach München, – „ein kleiner, untersetzter, rundlicher Gesell“, wie es im Nekrolog der „Allgemeinen Zeitung“ über ihn heißt (wie mir gesagt worden, von Professor Hyazinth-Holland). Direktor der Kunstakademie, wo er Schüler wurde, war damals Cornelius; der Geschmack des angehenden Künstlers ging indessen in eine ganz andere Richtung. Er schwärmte für Salvator Rosa, malte Gauner und Falschspieler à la Caravaggio[1] und holte sich ritterlich-romantische Stoffe unter der zeitgemäßen Beeinflussung de la Motte-Fouqués und Walter Scotts. Er versuchte sich zuerst in allen Zweigen der Technik: Freskenmalerei, Steinzeichnen, Radiren, Aetzdruck; auf dem Gebiete der Oelmalerei behandelte er geschichtliche Stoffe wie in seinem „Pappenheims Heldentod“ und in seinem „Gustav Adolphs Leiche auf dem Felde zu Lützen“, aber auch einfache, humoristische Themata.
Um das Jahr 1837 wurde sein Interesse auf jenen Kunstzweig gelenkt, womit künftighin sein Name und sein Lebenswerk, die „Fliegenden“, verknüpft sind: den Holzschnitt. Die Veranlassung gab zunächst eine Ausgabe von Lafontaines Fabeln mit Holzschnitten von Grandville ab. „Noch vor 25 Jahren,“ schrieb 1868 Erwin Förster in einer eingehenden und interessanten Studie über Caspar Braun im „Daheim“, „gab es keine einheimische Holzschnittkunst von wirklich künstlerischer Qualität; die Kunst des Holzschnitts war in Deutschland, ihrem Geburtslande, wo vor mehr als 300 Jahren Albrecht Dürers Hand mit schwerfälligen Werkzeugen sich abmühte, seinem Volke die ersten Holzschnitte in einfach-schmuckloser Form zu bieten – fast verloren gegangen.“ Auch Braun, der übrigens selbst durch ganz ähnliche Ausführungen seine vollkommene Einsicht in die kulturelle Bedeutung der ihm vorschwebenden Aufgabe erwies, fing ganz bescheiden mit dem Taschenmesser als einzigem Werkzeug an. Mit Unterstützung eines Münchener Kunstfreundes ging er dann, von seinem Freunde Rehle begleitet, 1838 zur weiteren Ausbildung nach Paris. In den Ateliers seiner deutschen Landsleute sehr kühl empfangen, begab er sich direkt zu Grandville selbst, der ihn mit großer Zuvorkommenheit noch am selben Tage [46] zu Brévière führte, dessen Schüler er jetzt wurde. Meister und Lehrling wurden bald Freunde; und Brévière schickte sogar später seinen eigenen Sohn zu Braun nach München in die Lehre. Braun war Ende 1839 dorthin zurückgekehrt, wo er zunächst eine xylographische Anstalt gründete.
Zu dieser Zeit, schreibt der Biograph Brauns im „Daheim“, war ein allgemeiner Stillstand im politischen Leben über ganz Deutschland eingetreten; es herrschte Teilnahmlosigkeit für alle öffentlichen Angelegenheiten; und eine allmächtige Polizei wachte darüber, daß es nicht anders werden würde. In München, der damaligen Sammelstelle der deutschen Künstler, wurde der Drang nach Betätigung naturgemäß auf das künstlerische Gebiet gelenkt; und die zwei Künstlergesellschaften „Zum Stubenvoll“ und die „Liedertafel“ auf der Isarinsel, von welchen Braun ein gern gesehenes Mitglied war, bezeichneten die Mittelpunkte dieser Bestrebungen. Die Illustrationen, womit Braun das Programm der „Liedertafel“-Aufführungen auszustatten pflegte, führten ihn auf den Gedanken, öfters und in zwangloser Weise dergleichen „Fliegende Blätter“ in die Winde zu werfen; besonders ein solcher Holzschnitt, den er nach der Rückkehr von einer Reise nach Leipzig 1844 für die Liedertafel gemacht, erweckte großes Aufsehen und allgemeinen Beifall. Er associirte sich jetzt mit seinem Leipziger Freunde Friedrich Schneider, der sich als Jugendschriftsteller bekannt gemacht und eben in einer Regensburger Buchhandlung angestellt gewesen. Die probeweise herausgegebene Nummer hatte einen riesigen Erfolg; nach acht Tagen folgte eine zweite; und die „Fliegenden“ waren da.
„Die lieben Münchener,“ heißt es im Aufsatz der „Allg. Zeit.“, „verwußten sich kaum, sie lachten wie die Kinder und hatten nur eine Angst: daß wegen Mangels an Stoff der Spaß eines Tages vertrocknet sei. Aber es kam anders. Der Stoff strömte von allen Seiten zu und wuchs der Redaktion beinahe über den Kopf“. Der Censor freilich war weniger erbaut von dem neuen Unternehmen. „Er war am meisten außer sich,“ schreibt Förster; „auch schien’s ihm eine gefährliche Neuerung, vielleicht gar eine Erfindung schlimmer Demagogen“; zuletzt „tröstete er sich aber damit, daß, wenn er’s nicht verstehe, wohl auch die anderen Leute es nicht verständen, und ließ die Nummer passiren“. Die anderen Leute scheinen es aber ganz vortrefflich verstanden zu haben, denn die Popularität der „Fliegenden“ war gewaltig.
Die Unternehmungen Brauns bildeten in der Tat nicht nur den Kern einer selbstständigen süddeutschen Holzschneiderschule und der in die weitesten Schichten hinausgetragenen Kunst, sie sind auch ein Spiegelbild und ein Ferment in allgemein kultureller, politischer und socialer Hinsicht. Der Begründer der „Fliegenden“ hatte während seiner verschiedenen Reisen durch Deutschland Gelegenheit gehabt, die allerorts herrschenden Mißstände [47] kennen zu lernen, die er jetzt mit Witz und Humor rügte, und Studien darüber zu machen, die sich jetzt verwerten ließen. In den ersten Jahrgängen der „Fliegenden“ sind die meisten Zeichnungen sowie auch viel vom Texte von Brauns eigener Hand. Zugleich aber schaarte sich jetzt schon eine große Anzahl mehr oder weniger hervorragender Künstler und Schriftsteller um das lebenskräftige Unternehmen; auch die „ernsthaften“ und „klassischen“ bestalten Träger des zeitgemäßen Kunstgeschmacks verließen momentweise ihre Nibelungenrecken und griechischen Typen und sonstige höhere Ideale, griffen zum Bleistift und betätigten sich wie gewöhnliche gemütliche Menschen. Unter den Mitarbeitern der „Fliegenden“ in dieser Entstehungszeit derselben befinden sich – neben Namen, die mehr zur engeren Lokalgeschichte gehören, – auch solche wie Schwanthaler, Auerbach, Justinus Kerner, Emanuel Geibel, Pocci, Gerstäcker, Moriz von Schwind. Der langjährige Freund Brauns, Muttenthaler, der mit ihm und Rehle die ersten Versuche in der neuzubelebenden Holzschnittkunst mitgemacht, lieferte massenweise Illustrationen; und besonders beliebt waren die Jagdscenen eines früh verstorbenen Malers Veit, die auf Bierkrugdeckel und Scheiben, Pfeifenköpfe und Dosen übergingen.
Im Sturm- und Flutjahr 1848, gingen auch in den „Fliegenden“ die politischen Wellen hoch; „der politische Nachtwächter“ Dingelstedt hielt als ein Zeichen der Zeit auch dort seinen Einzug. Dann folgten wieder ruhigere Jahre, wo Viktor Scheffel in den „Fliegenden“ seine Lieder schrieb. Unter den übrigen neuen Namen aus der Zeit der Jahrhundertmitte heben sich Hermann Schmid und Ernst Fröhlich hervor. Die Jagdzeichnungen, die ja während des mehr als halbhundertjährigen Bestehens der „Fliegenden“ eine stehende Rubrik und eine Specialität derselben geblieben sind, wurden nach dem Tode Veits von Hohe und Max Haider, dem Leibjäger des Königs Max, übernommen. Caspar Braun war immer noch selbst einer der fleißigsten Mitarbeiter und voller Einfälle und Phantasie, obgleich seinen neuen Figuren, dem Wühlhuber und dem Heulmaier, die sich angesichts der drohenden Reaktion, beziehungsweise wegen der allzu großen Freiheit der alten Welt nach Amerika geflüchtet hatten, nicht mehr der jubelnde Empfang zu Teil wurde, dessen sich seine ersten Schöpfungen, die beiden Reisenden Eisele und Beisele erfreut hatten. Seit der Gründung des rein politisch-satirischen Berliner Witzblattes „Kladderadatsch“ segelten die Münchener „Fliegenden“ in das stillere Fahrwasser der harmloseren Gemütlichkeit über – hieß es. Denn das war wohl doch nur ein Schein; daß die Spitze noch darin saß und nicht weniger gefährlich und fühlbar war, weil sie versteckter war, durfte anzunehmen sein. Davon zeugt auch das Intermezzo politischer Verfolgungen aus der Mitte der 50er Jahre, wovon Erwin Förster zu berichten weiß: Die „Fliegenden“ hatten von einem Mann erzählt, der sich eine Sammlung von unleserlichen Unterschriften angelegt hatte; und da der Herr Polizeidirektor allzu gut wußte, [48] daß die seinige eine besondere Zierde in dieser Sammlung bilden würde, ließ er die „Fliegenden“ konfisciren. Er suchte und fand in den unschuldigsten Erzählungen staatsgefährliche Umtriebe, und die Beschlagnahmen folgten auf einander. Um dem tückischen und rabiaten Herrn zu entgehen, beschlossen Braun und Schneider, mitsammt ihrem ganzen Mitarbeiterstab nach der Türkei, dem Lande der Preßfreiheit, auszuwandern, – das ganze Blatt enthielt von jetzt ab nur noch Türkisches, türkische Bilder, türkische Kostüme, türkische Menschen mit dem altbekannten Staatshämorrhoidarius an der Spitze. Die Wirkung blieb nicht aus: die Razzia gegen die „Fliegenden“ wurde eingestellt, und die Emigranten kehrten nach einigen Wochen nach Deutschland und München zurück.
Gegen das Jahr 1860 traten als neue Kräfte in die „Fliegenden“ u. a. Stieler und Bodenstedt, W. Diez und Wilhelm Busch sowie ein gewisser Oberländer ein, von dem es in dem Förster’schen Aufsatz heißt, daß er „besonders in den Darstellung dummer Jungen und ihrer Tanten köstlich“ sei.
1859 hatte Braun seine Frau, geb. von Effner, mit der er seit 1843 in glücklichster Ehe zusammengelebt, durch den Tod verloren. 1864 schied auch sein Freund und Kompagnon Friedrich Schneider. Seitdem war Braun nicht mehr derselbe Mann wie vorher. Früher mit seinem unermüdlichen Arbeitsfleiß eine heitere und gesellige Natur, wurde er jetzt immer mehr ein Einsiedler in seiner Redaktionsstube; wegen seines 40jährigen Herzleidens hatte er sich auch – bei größter geistiger Rüstigkeit – an vollständige Bewegungslosigkeit gewöhnt. Eine Anfang 1877 gegen den Wunsch der Aerzte von einem Laien unternommene Operation befreite ihn von einem lästigen Schwammgewächs, und er lebte anscheinend wieder auf. Sein siebzigster Geburtstag verlief in aller Stille; er wurde dabei von König Ludwig II. mit einem Handschreiben und dem Verleihen des Michaelsordens erster Klasse ausgezeichnet. Bald darauf stellten sich Atembeschwerden ein; und nach schwerem Leiden starb er am 29. Oktober 1877.
Am Abend zwischen fünf und sieben, sowohl Winters wie Sommers, kann man einen kleinen, untersetzten Herrn von bescheidener Haltung und kindlich offenem Blick sich die Briennerstraße hinab nach dem Hofgarten bei der Residenz begeben sehen. Ist es schlechtes Wetter, so gelangt er nicht weiter als bis zu den Arkaden, wo er ein Dutzend Mal im Damenstrom, der aus den Cafés kommt, auf und niederschwimmt, um dann wieder durch die Briennerstraße zu seinen Penaten im Braun- und Schneiderstock zurückzukehren. Wenn es aber gutes Wetter ist, so verläßt er den Hofgarten und begiebt sich mit langen Schritten und vergrübeltem Aussehen nach der Siegessäule über die am 15. September 1899 von der wilden Isar weggerissene Prinz-Regentenbrücke, die erst in letzter Zeit wieder aufgebaut worden. Er [49] hält sich nie auf, außer wenn in der Rotunde im Hofgarten die Blechmusik spielt, der er andächtig zu lauschen pflegt. Ist es aber sehr schön, so studirt er gern die Blutbuchen im englischen Garten. Man sieht ihn stets allein, außer an Sonntagnachmittagen, wo er mit seiner Gattin, Sohn und Hausgenossin denselben Spaziergang macht. Im Winter in dem blauen Havelock und Schlapphut, im Sommer in kakaofarbigem hohen Strohhut und Jägerrock, gehört sein Aeußeres eher einer vorbeigegangenen Zeit und früheren Mode an, so daß Einem, wenn man das Porträt des seligen Caspar Braun gesehen, der Gedanke kommen kann, dieser sei es, der hier in dem München seiner Tage lustwandelte. Es ist aber der erste und berühmteste Zeichner der „Fliegenden“: Adam Adolf Oberländer.
Seine Porträts geben von ihm kein ähnliches Bild. Da ist eine Photographie aus den letzten Jahren mit der gramgefurchten Stirn und dem bedrückten Familienvaterblick, während Oberländer trotz seiner 58 Jahre noch die roten Wangen und das volle, aufrecht um seinen runden Kopf herumstehende, braune gesunde Haar eines wohlgenährten Dreißigers hat. Da ist das Porträt von Lenbach mit dem tiefen Augurenblick und der zugeknöpften eleganten Haltung eines Modemalers, – und auf Eleganz legt Oberländer vielleicht nur dann Gewicht, wenn er in Kniehosen, Strümpfen und Frack, den Orden am Halse, zu den Einladungen des Prinz-Regenten erscheint. Eine bildliche Darstellung von ihm ist garnicht so leicht, denn seine besondere Freude ist es, die Leute zu vexiren.
Wie sein Vorgänger Braun ist er ein zu Hause sitzender Mensch. Vormittags geht er nie aus, außer wenn er nicht zu Hause ist, wobei er aber meistens den Braun- und Schneiderstock nicht verläßt. Malt er, so bedarf er der Inspiration und ist gänzlich unzugänglich, wo dann Gattin, Dienstmädchen, Kinder etc. seine Tür verteidigen müssen. Und er malt gern: z. B. den verlorenen Sohn unter den Schweinen, den heiligen Petrus zwischen Azaleen, einige Engelbübchen mit geschwungenen Schlüsseln vertreibend, den auf dem Rücken liegenden Löwen, um den vier nackte Babys herumspielen, Stillleben in der Waschküche u. dergl. Jedes Bild stellt er gern ein paar Male her.
Am Nachmittag, während er seinen Kaffee trinkt, kann man auch mit Oberländer Verlagsgeschäfte besprechen. Dann aber legt er sich alsbald auf sein Sopha, das Münchener Spuckbecken neben sich, zum Schlafen, – am Abend liegt er gern ungestört in der Dämmerung in Meditationen.
Ich habe solche Spuckbecken nie anderswo gesehen. Sie sind schön gedrechselt, eine spiralförmige Säule, fast von der Höhe eines Tisches, die eine Schale trägt, auf der ein Deckel ruht. Ich wußte lange nicht, welchem Zwecke dies Gerät diente, vor dem ich gewöhnlich eingeladen wurde, Platz zu nehmen. Eines Tages, als mich Oberländer mehr als gewöhnlich mit seinem Benehmen nach großen Mustern ärgerte, stieß ich das Ding um, und da kam der Inhalt zum Vorschein.
[50] Wenn Oberländer zeichnet, ist seine Tür gewöhnlich unverschlossen, ja er kommt Einem dann freundlich bis in’s Antichambre entgegen, das während drei Monaten im Jahre der Christbaum und zu allen Zeiten eine Büste der Venus von Milo mit einer Schlange um den Hals zu schmücken pflegt.
An dem kleinen, alten, engen Schreibtischchen habe ich da Zeichnung auf Zeichnung in ihren drei Phasen entstehen sehen: erst den ganz blassen Entwurf, auf dem man noch nichts erkennt, dann die vergrößerte, deutlichere Ausführung, die gewöhnlich wesentliche Veränderungen aufweist, und endlich die zur Herstellung fertige Ausführung. Seine Zeichenfedern haben meistens die Eigenschaft, daß sie dem Schreiben, z. B. einer Briefkarte, große Hindernisse entgegensetzen, indem sie stechen, spritzen und Klexe machen.
Dieser kleine, von vielem Gebrauch abgeriebene Schreibtisch stützt sich gegen eine blaugepolsterte spanische Wand als Rückseite einer Hausorgel. Ich weiß nicht, ob Oberländer sich auf derselben in mühevollen Stunden erbaut; er betont es gern, daß er Protestant ist, und die Todesanzeige einer alten Köchin, worin er mitteilte, daß es Gott dem Allmächtigen in seinem unerforschlichem Ratschluß gefallen habe, die treue Dienerin seines Hauses zu sich zu nehmen, deutete sogar eine strenge Richtung an.
In letzter Zeit ist er viel eingezogener geworden und wiederholt oft, er bedürfe der Ruhe und Sammlung. Dann öffnet sich die Tür zu den beiden Stübchen, dem Maleratelier und dem Zeichenzimmer, die eine ganz junggesellenhaft anspruchslose Ausstattung haben, oft lange nicht; auch im Hofgarten sieht man ihn nicht mehr so oft wie früher, und die Spaziergänge nach der Siegessäule scheint er gänzlich eingestellt zu haben. Er genießt dann die schöne Aussicht aus seinen Fenstern im dritten Stock. Von seinen Atelierfenstern sieht er hinein in das Wittelsbacherpalais, das die Prinzen Ludwig und Arnulf bewohnen, und in dem großen Almeida’schen Garten, sowie weit hinunter bis zum Odeonsplatz rechts und den Propyläen mit der russischen Säule links; und von den Familienzimmern aus hat er die uralten Eschen vor dem ehemaligen Achatz und der jetzigen neuen Börse unter sich. Es ist ein Idyll im centralsten München, das er nur auf sechs Wochen im Sommer verläßt, um an den Starnberger See oder in’s Gebirge zu gehen. Er reist nie, und von diesen kleinen Sommerfrischen kommt er immer etwas gealtert zurück, um dann nach und nach in München wieder aufzublühen.
Ich habe mich bei seiner Häuslichkeit etwas länger aufgehalten, weil diese Interieurs auch zu seinen Zeichnungen gehören. Er zeichnet gern mit dem Leben, immer und überall. Ich wohnte einmal einer Zeugenaussage von ihm bei, die eins der guten Stücke aus den „Fliegenden“ war. Es handelte sich dabei um ein Tutzerl, das ein Löwe verschluckt hatte. Dies Motiv hatte er auch mit dem voraussehenden Geist des echten Künstlers [51] schon vorher für die „Fliegenden“ verwertet; es heißt dort: „Der Schnuller als Lebensretter“.
Ueber seine Lebensgeschichte ist Oberländer sehr verschlossen. Nur soviel erzählt er, daß er in Regensburg geboren, aber bereits als einjähriges Kind mit seinen Eltern nach München gekommen sei. Er lacht dann gern, wobei er sich etwas hintenüber wirft und unter seinem braunen Vollbart einen kleinen, zahnlosen Kindermund öffnet. Da ich von Oberländers Lebensdaten nichts aus seinem Mund mitteilen kann, obgleich ich während der letzten Jahre viel mit ihm verkehrt, so will ich dasselbe tun wie er und die freundlichen Leser auf Meyers Konversationslexikon verweisen.
Ich hielt Oberländer lange auch für einen Blumenmaler, da seine Wände mit Blumenstücken, wie Sumpflilien, wilden Rosen, Feldblumensträußen, bedeckt sind. Da erfuhr ich aber, das seien die Arbeiten seiner Gattin, die er ebenso, wie Hans Thoma seine Frau, zu einer geschickten Blumenmalerin ausgebildet. Ich habe jedoch die kleine sanfte Frau Sophie nie mit Pinsel und Palette tätig gesehen.
So ist der Mann und der Mensch Oberländer. Wenn ich nun hinzufüge, daß man ihn Winters gewöhnlich in einem Damenkragen um die Schultern und mit einem gestrickten Hosenband um das eine Bein antrifft, so glaube ich damit das Bild von „Oberländer intim“ abgeschlossen zu haben. Was den Zeichner angeht, den man nach den mit dem Verlag geschlossenen Verpflichtungen einzig und allein in den „Fliegenden“ genießen kann, so sind wohl meine Leser und ich darin einig, ihn in den letzten Decennien der „Blätter“, wo er oberster maître de plaisir ist, und in seinen jährlich erscheinenden Albums ohne Zwischenhände und Zwischenreden zu betrachten, wobei Jeder seiner eigenen Auslegung nachdenken kann. Die übrigen Hauptmitarbeiter mit den bekannten Namen – Harburger, Schlittgen, Réné Reinecke, Hengeler, u. a. m. – sind ja alle ausgeprägte künstlerische Individualitäten, die es gewiß von Interesse wäre, in der Eigenart jedes Einzelnen näher zu charakterisiren, was doch über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgehen würde.
Wenn ich sagte, den Künstler Oberländer genieße Jeder in seiner Weise aus den „Fliegenden“, so bedarf das doch einer gewissen Einschränkung. Er ist nämlich in den „Fliegenden“ nicht völlig und ganz zu genießen, und er betrübt sich auch selbst darüber von Zeit zu Zeit in seiner stillen Weise. Das Hinderniß ist rein technischer Natur. Das Format der „Fliegenden“ ist zu klein. Oberländer bedarf Ellenbogenraum, um ganz zu wirken, und die blaßroten „Blätter“ können’s ihm nicht gewähren.
Man merkt dies erst ganz, wenn man z. B. jene Ausstellung von Zeichnungen zu den „Fliegenden“ betrachtet, die vor Kurzem im Münchener „Kunstverein“ veranstaltet wurde. Das Format der Zeichnungen wird ja für die Herstellung der „Fliegenden“-Hefte sehr bedeutend verkleinert, weil die Hefte nun einmal nach der ursprünglichen Intention bei der Gründung nicht größer [52] sind, als sie sind, wodurch sie für unseren gegenwärtigen Geschmack auch einen etwas altväterischen Eindruck machen. Beim Betrachten jener Ausstellung sieht man aber mit einer gewissen Ueberraschung, daß es gerade Oberländer ist, der dabei am meisten verliert, Schlittgen und Harburger z. B. mit ihrer sorgfältig ausgeführten Detailzeichnung stehen sich bei der technischen Verkleinerung garnicht schlechter als auf dem großen Originalformat. Oberländer verliert bedeutend und aus einem ganz bestimmten Grunde, der das Wesen seiner Kunst als Zeichner ist. Er ist ganz Psychologe, Tier- und Menschenpsychologe, und seine ganze Psychologie liegt im Umriß. Die Linie ist bei ihm Alles. Er gebraucht sie am liebsten, er vereinfacht sie auf’s Aeußerste, er schaltet alles Beiwerk aus, was man beobachten kann, wenn man ihn bei der Arbeit sieht. Er liebkost sie, er kajolirt, er füllt sie mit dem ganzen Böse-Buben-Humor, der der Grundzug seiner Beobachtung ist. Und in dieser auf’s Notwendigste vereinfachten Linie ist sein Liebling wieder die Nüance, – die ganz kleine, die kaum wahrnehmbare, aber Alles sagende, die ganze Seelenstimmung des kritischen Momentes ausdrückende Nüance. Diese ist selbst auf seinen großen Zeichnungen oft nur eine ganz, ganz kleine Linie, die eine ganz, ganz kleine Bewegung ausdrückt, ein Nichts, das den Beschauer kitzelt, daß er lachen muß, und ihn zugleich, da er selbst auch ein Mensch ist, in eine recht komplicirte und nicht immer gemütliche Stimmung versetzt, – einfach aus beunruhigtem Solidaritätsgefühl.
Diese Nüance, diese kleine Linie verliert sich sehr oft bei der verkleinerten Herstellung. Sie ist gewiß noch da, aber zu mikroskopisch. Nicht jedes Auge ist scharf genug, um sie zu sehen, und auch ein scharfes Auge übersieht sie leicht aus unverschuldeter Unaufmerksamkeit. So kommt es, daß in den „Fliegenden“ gewöhnlich die gröberen und einfacheren Seiten des Oberländer’schen Humors auf den Beschauer wirken und ein vereinfachtes Lachen auslösen, das er eigentlich garnicht beabsichtigt hat hervorzurufen.
Ich will ein Beispiel anführen, aus dem das sich erläutern wird. Auf der Ausstellung im „Kunstverein“ war besonders eine Zeichnung Oberländers, die ich noch nicht kannte und in der er sich als Kinderpsychologe – eine Lieblingsaufgabe von ihm – betätigte. Es war das Kind auf dem Topf, ein Beitrag zur menschlichen Erziehung.
Auf einem Nachttöpfchen sitzt ein Kind, um bei Zeiten zu lernen, sich reinlich zu betätigen. Damit es nicht vorzeitig aufstehe, muß es unterhalten werden, was schon eine gewisse grausame menschliche Marotte andeutet. Diese Unterhaltung besorgt der dienstfertige Hund im unvermeidlichen Kreislauf in seinen eigenen Fußtapfen. Das Kind ist im häuslichen Negligé, es hat nur ein gestricktes wollenes Hemdchen an, das unentbehrlichste Kleidungsstück aller Kinder von Dänemark nordwärts, – eine Beobachtung, die Oberländer doch eigentlich nicht in Süddeutschland gemacht haben kann, (aber denken wir nur in Parenthese an seine köstliche Geschichte [53] von dem Zopf in Sylt!) Also am untersten Rand dieses Hemdchens ist ein Faden befestigt und dem Hund in’s Maul gegeben, der an diesem Faden beflissen um das Kind in die Runde läuft. Das Kind ist außerordentlich gut aufgelegt. Es sitzt gut, es wird gut unterhalten, und es saugt gut, allerdings nur an dem leeren Gummihut seiner Milchflasche; aber daß nichts in den Magen geht als Wind, merkt es nicht.
Das zweite Bild zeigt die ganze Eigentümlichkeit Oberländers als Künstler – seine persönliche Note.
Der Hund fängt an, ein Röckchen um den Leib zu bekommen, indem er an dem Faden allmählich das Hemdchen des Kindes auftrennt und um sich wickelt, was ihm schön warm macht. Zugleich fängt das Kind an zu merken, daß es ihm kältlich um’s Bäuchlein wird, – nur ein ganz klein wenig, und erst ganz unbestimmt. Es sitzt noch ganz ebenso wie früher auf dem Topf, es saugt noch ganz ebenso eifrig am Gummihut; aber eine ganz geringfügige Kopfbewegung verrät, daß nicht Alles mehr dasselbe ist. Es wird aufmerksam. Es ist noch sehr schön, aber doch nicht mehr so schön wie früher; es lauscht wie auf eine erste innere Enttäuschung.
Das dritte Bild mit der fortschreitenden Abwickelung und Abkleidung, und das vierte, wo das Kind, ganz nackt, heulend vom Topf aufsteht, während der in ein dickes wollenes Gewebe eingewickelte Hund mitten in seinen nassen Fußtapfen innehält – das ist für die gewöhnlichen Lacher.
Außer für die äußere Umrißlinie hat Oberländer noch eine künstlerische Leidenschaft: für den Charakterzug, diese innere Umrißlinie. Mit liebevoller Versenkung in das Wesen einer Persönlichkeit – wobei er zwischen Hoch und Niedrig keinen Unterschied macht – wittert er diesen centralen Zug heraus, der gewöhnlich die schwache Seite des oder der Betreffenden ist, und formt ihn pietätvoll aus, wobei er mit seinem künstlerischen Drang nach Vereinfachung nicht ruht, bis dieser Zug alle anderen in sich aufgesogen hat und der einzige, die Persönlichkeit selbst, geworden ist. Er gönnt sich dann auch eine sorgfältige Ausführung, und was er liefert, ist das Porträt, das dann gewöhnlich trotz kleiner notwendiger, ganz äußerlicher Veränderungen, auch von Hoch und Niedrig sofort erkannt und angemessen aufgenommen[2] wird. Selbstverständlich verändert sich dabei auch die Technik gänzlich: sie wird füllig, rund, saftig; sie nähert sich der Photographie. Außer dieser Porträtgalerie, in der die Eingeweihten wie in einem Band Zeitgeschichte blättern, begünstigt er noch die Anspielung auf allgemein bekannte, aber nicht kommentirbare Vorgänge. Er versetzt sie aus ihrer Höhenluft in das zugänglichere Gebiet gewöhnlicher menschlicher Vergehungen und Wirkungen; er führt sie mit gleicher Liebe zeichnerisch aus wie die Porträts, und wenn man den Blick eines Durchblätterers der „Fliegenden“ vor solch einer harmlosen Scene scharf und groß werden sieht, dann haben die Auguren sich verstanden.