Oberappellationsgericht München – Preisanschläge der Metzger
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Nach Art. 143 Ziff. 1 des bayer. P.-St.-G.-B. vom 26. Dezember 1871 werden Bäcker, Brod- und Mehlhändler, schenkberechtigte Brauer und Bierwirthe, Metzger und andere zum Feilbieten von Fleisch berechtigte Personen an Geld bis zu 10 Thlrn. gestraft, wenn sie gegen ortspolizeiliche Vorschrift unterlassen, die Preise ihrer Verkaufsgegenstände an oder in ihren Gewerbslokalitäten auf eine für die Käufer sichtbare Weise anzuschlagen.
Der Stadtmagistrat W. hatte eine solche ortspolizeiliche Vorschrift auch für die Metzger erlassen.
Zwei Metzger wurden nun zur Anzeige gebracht, dieser Vorschrift entgegengehandelt zu haben, allein sie wurden in I. und II. Instanz in der Erwägung freigesprochen, daß diese landespolizeiliche Vorschrift auf die Metzger und Fleischverkäufer nicht mehr verwendbar sei, weil über den Anschlag der Lebensmittelpreise in den Verkaufslokalen die §§ 73–75 der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 Verfügung getroffen haben, wornach nur mehr die Bäcker und Verkäufer von Backwaaren, sowie die Gastwirthe, durch die Ortspolizeibehörde zum Anschlage ihrer Preise in den Verkaufslokalen, beziehungsweise Gastzimmern, angehalten werden können.
Auf erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde das zweitinstanzielle Urtheil durch Erkenntniß des obersten Gerichtshofes vom 4. Juni 1875 vernichtet und in diesem ausgeführt.
Wie in den oberstrichterlichen Urtheilen vom 20. September 1873 und 31. Dezember 1874 (Samml. v. Entsch. B. III S. 376 und B. IV S. 615) bereits anerkannt wurde, befaßt sich die Reichsgewerbeordnung zunächst nur mit der Festsetzung der Bedingungen, unter welchen die Staatsangehörigen zum Betriebe der Gewerbe zugelassen werden, und berührt, abgesehen von einzelnen in der Gewerbeordnung besonders erwähnten Fällen polizeiliche im öffentlichen Interesse gelegene Vorschriften, unter welchen die Ausübung eines bestimmten Gewerbes gestattet sein soll, nicht, daher zufolge des ausdrücklichen Vorbehaltes im § 144 der Gew.-O. neben den Bestimmungen dieses Reichsgesetzes auch einschlägige Landespolizeigesetze und auf Grund solcher zuläßige Verordnungen konkurrirend in Anwendung gebracht werden können.
Eine solche Konkurrenz kann aber nach dem Grundsatze der Reichsverfassung, daß Reichsgesetz dem Landesgesetze vorgehe, selbstverständlich nur insoweit Platz greifen, als nicht die Reichsgewerbeordnung in den einzelnen der eigenen polizeilichen Regelung unterzogenen Fällen von Ausübungsbefugnissen die betreffende Materie so erschöpfend behandelt hat, daß damit das öffentliche [394] Interesse für das ganze Reichsgebiet hinreichend gewahrt und eine konkurrirende landespolizeiliche Regelung desselben Gegenstandes überflüssig und ausgeschlossen erscheint und als nicht in den von der Reichsgewerbeordnung gar nicht oder nicht erschöpfend behandelten Fällen die ergänzenden landespolizeilichen Vorschriften im Widerstreite mit irgend welchen positiven Bestimmungen oder maßgebenden Prinzipien der Reichsgewerbeordnung stehen.
Indem nun bei vorliegender Frage die Reichsgewerbeordnung im § 73 nur die Bäcker und Backwaarenverkäufer und im § 75 die Gastwirthe der Verpflichtung zum Preisanschlage in ihren Verkaufslokalen beziehungsweise Gastzimmern nach ortspolizeilicher Anordnung unterwirft, während das b. P.-St.-G.-B. von 1871 im Art. 143 Z. 1 außer den Bäckern und Brodhändlern auch die Mehlhändler, die schenkberechtigten Brauer und Bierwirthe, die Metzger und andere zum Feilbieten von Fleisch berechtigte Personen gleichfalls unter jene Verpflichtung stellt, die Gastwirthe übrigens gar nicht berührt hat, läßt sich keineswegs behaupten, daß das Landesgesetz mit dem Wortlaute oder der Absicht des Reichsgesetzes in Widerspruch trete.
Der nunmehrige § 73 der R.-G.-O. wurde in der unveränderten Fassung des Entwurfes (§ 74) vom Reichstage ohne irgend eine darauf bezügliche Debatte angenommen, daher der Aufschluß über seine Zweckbestimmung nur aus dem Motiven zum Gesetzesentwurfe geschöpft werden kann, welche sich nur im Allgemeinen über den ganzen Titel V „Taxen“ (aus den nunmehrigen §§ 72 bis 80 bestehend) verbreiten.
- Cf. Stenogr. Ber. über die Verh. des nordd. Reichstages v. 1869 Bd. 3 S. 100 Entwurf, Bd. 3 S. 123 Motive, Bd. 1 S. 479 und Bd. 2 S. 1099 Berathung.
In den Motiven ist ausgesprochen, daß die Ausschließung polizeilicher Taxen (Entw. § 73 Ges. § 72) eine nothwendige Konsequenz der Gewerbefreiheit sei, daß aber die Vorbehalte, welche gegenüber diesem im § 73 aufgestellten Grundsatze die §§ 74–76 machen, als eigentliche Ausnahmen von der Regel nicht betrachtet werden können, da den betreffenden Gewerbtreibenden nicht die Preise ihrer Waaren und Leistungen vorgeschrieben, dieselben vielmehr nur angehalten werden, die Preise, welche sie selbst festsetzen, zur Kenntniß des Publikums zu bringen; daß ferner die Anwendung der in den §§ 74 und 75 (nunmehr §§ 73 und 74) gegenüber den Bäckern und Verkäufern von Backwaaren aufrecht erhaltene Befugniß der Ortspolizeibehörde sich in Theuerungszeiten zur Beschwichtigung bestehenden Mißtrauens geeignet erwiesen habe, – und die im § 76 (nunmehr 75) behandelte Befugniß der Ortspolizeibehörde hinsichtlich der [395] Gastwirthe im Interesse des reisenden Publikums liege, ohne dem redlichen Gewerbsbetriebe Beschränkungen aufzuerlegen.
Die Reichsgesetzgebung erachtete also in Bezug auf die von den Bäckern, Backwaarenverkäufern und Gastwirthen getroffenen Preisfestsetzungen das öffentliche Interesse so wesentlich betheiligt, und zwar gleichmäßiger Weise im ganzen Reichsgebiete, daß sie sich veranlaßt sah, die polizeiliche Maßregel der Ermächtigung der Ortspolizeibehörden, diese Gewerbetreibenden zum Anschlage ihrer Preise zu zwingen, sogleich selbst in ihrer Zuständigkeit über das ganze Reich anzuordnen.
Durch diese Anordnung wird nun keineswegs verhindert, daß auch eine Landesgesetzgebung nebenher eine ähnliche oder die gleiche Maßregel in Bezug auf andere Gewerbtreibende außer den Bäckern, Backwaarenverkäufern und Gastwirthen noch für ihr eigenes Landesgebiet besonders anordnen könne, wenn sie im öffentlichen Interesse dieses Sondergebietes eine solche Anordnung für geboten erachtet, indem ja auch die Landesgesetzgebung das reichsgesetzliche Prinzip der Gewerbe- und Taxfreiheit bei solcher Anordnung nicht verletzt, vielmehr hinsichtlich der polizeilichen Intention den von der reichsgesetzlichen Anordnung eingenommenen Standpunkt lediglich theilt, und indem zweifellos von dem Vorbehalte im § 144 der R.-G.-O. dergleichen parallele Gesetze in Bezug auf die Gewerbsberufspflichten aller Arten mit einziger Ausnahme „des Zwanges der Medizinalpersonen zu ärztlicher Hilfe“ getroffen werden wollten, weil nur die in letzterer Beziehung bestehenden besonderen Bestimmungen aufgehoben wurden.
Nach den bayr. Landtagsverhandlungen zum Art. 198 des P.-St.-G.-B. von 1861 (Art. 143 P.-St.-G.-B. von 1871) wurde in den Bestimmungen der Bäcker, Brod- und Mehlhändler, schenkberechtigten Brauer und Bierwirthe, Metzger und anderer berechtigten Fleischverkäufer ein gewisses Schutzmittel erblickt, um zu verhindern, daß nicht bei außerordentlichen Ereignissen, z. B. bei einem großen Menschenzusammenflusse ein unnatürliches Hinaufschrauben der Preise stattfinde, welches große Unordnungen herbeiführen könnte.
- Cf. Verh. d. K. d. Abg. 1859/61 Beil. Bd. II. S. 88 Entw. Art. 235 Abs. 2, Beil. Bd. II. S. 114 Sp. 2 Z. 2 Abs. 2, Motive hiezu, Beil. Bd. II. S. 250 Sp. 2 Referat des Dr. Edel zu Art. 235 mit Redaktionsänderungsvorschlag, Beil. Bd. III. S. 177 Sp. 1 Berathung und Annahme des Vorschlages im G.-G.-A., Verh. d. K. d. R.-R. 1859/61 Prot. Bd. I. zu Art. 198 S. 530, Wiederholte Berathung und Beschlußfassung im Ges.-G.-A. beider Kammern Beil. Bd. III. S. 507 Sp. 2 zu Art. 198. [396]
Diese Rücksicht auf den Schutz der öffentlichen Ordnung macht sich in Bayern – worüber auf die höchst charakteristische Aeußerung des Staatsministers des Innern in der zuletzt allegirten Kammerverhandlung S. 508 Sp. 2 verwiesen werden kann – namentlich bei dem Ausschanke des Bieres, welches von einem großen Theile der bayerischen Bevölkerung als ein dem Brode gleichgeachtetes Genußmittel begehrt wird, also bei dem Bier-wirthschaftsgewerbe in nicht geringerem Grade geltend als bei der Bäckerei und dem Brodverkaufe, und jedenfalls in viel höherem Grade als bei dem Betriebe der gemäß § 33 R.-G.-O. von der Schenkwirthschaft zu unterscheidenden Gastwirthschaft, so daß, nachdem die Reichsgewerbeordnung im § 75 bei dem Betriebe der Gastwirthschaft den Zwang zum Preisanschlage im öffentlichen Interesse für angezeigt fand, die Anwendbarkeit des gleichen Schutzmittels in Bayern bei dem Betriebe der Bierwirthschaft von dem Zwecke der reichsgesetzlichen Bestimmungen in den §§ 73 und 75 nicht nur gedeckt, sondern geradezu als Konsequenz erheischt wird. – Ebenso ist auch die Ausübung des Metzgergewerbes, d. h. die Art der Fleischfeilbietung im deutschen Reiche eine so verschiedene, – je nachdem sie blos mit Preisunterscheidungen nach der Fleischgattung oder auch nach den Sorten innerhalb der nämlichen Gattung geschieht, – daß sich der Zwang zum Preisanschlage in dem einen Staate als eine zum Schutze des consumirenden Publikums nothwendige, in dem anderen als eine entbehrliche Maßregel darstellen kann, was nicht minder noch auf andere von dem §§ 73 und 75 der R.-G.-O. nicht berührte Gewerbearten je nach Verschiedenheit territorialer Markt- und Consumverhältnisse zutreffen wird.
Der Landesgesetzgebung in der angemessenen Wahrnehmung und polizeilichen Beschützung des hiebei verschieden interessirten öffentlichen Wohles die Hände binden zu wollen, kann der Reichsgewerbeordnung nicht imputirt werden, deren Aufgabe nur darin bestand, dem Prinzipe der Gewerbsfreiheit und ihren Konsequenzen im ganzen Reiche Entwicklung zu verschaffen, von welchem Prinzipe polizeiliche Anordnungen fraglicher Art, wie die allegirten Motive zur Reichsgewerbeordnung selbst anerkennen, nicht abweichen.
Die Bestimmungen §§ 73 und 75 der R.-G.-O. lassen demnach – wenn nicht das öffentliche Interesse einzelner Bundesstaaten darunter leiden soll – keine andere Interpretation zu, als daß die Ortspolizeibehörden zur Zwangsvorschrift des Preisanschlages gegenüber Bäckern, Backwaarenverkäufern und Gastwirthen schon kraft des Reichsgesetzes befugt sein sollen, sie schließen aber nicht aus, daß den Ortspolizeibehörden eine solche Befugniß auch in Beziehung auf andere Gewerbe durch [397] Landesgesetz eingeräumt werden könne, – als eine landespolizeiliche Maßregel.
Von dieser Anschauung ist auch die bayr. Staatsregierung geleitet, indem unterm 2. Dezember 1873 das k. Staatsministerium des Innern in seinem Amtsblatts S. 599 veröffentlichte Entschließung an sämmtliche Regierungen, Distrikts- und Ortspolizeibehörden, die Handhabung der Viktualienpolizei betr. erließ, worin bei Ziff. 2 den Gemeinden und Ortspolizeibehörden unter anderem auch auf die Erlassung ortspolizeilicher Vorschriften zu §§ 73 und 74 der dtsch. Gew.-O. und Art. 143 Z. 1 P-St.-G.-B. bezüglich der Verpflichtung zum Anschlage der Viktualienpreise in den Gewerbslokalitäten aufmerksam gemacht und hiebei außer den Bäckern und Verkäufern von Backwaaren noch ausdrücklich die Mehlhändler, schenkberechtigten Brauer und Bierwirthe, Metzger und andere zum Feilbieten von Fleisch berechtigte Personen aufgeführt werden.
- Cf. Wirschinger, dtsch. Gew.-O. S. 225 Note 214, S. 229 Note 216, Edel, Kom. z. P.-St.-G.-B. v. 1861 zum Art. 198 S. 466, dann zum P.-St.-G.-B. v. 1871 zum Art. 143 S. 208, Riedel P.-St.-G.-B. 1871, Aufl. II. S. 212.
- (Von den entgegengesetzten Ansichten entbehren jene in den Blättern für administr. Praxis B. XXII. S. 351 jeglicher, jene in den Blättern für Rechtsanw. Bd. 38 S. 436 und in Riedel’s Kom. III. Aufl. S. 239 einer eingehenden Begründung.)
Der Art. 143 Z. 1 des b. P-St.-G.-B. von 1871 (Art. 198 P.-St.-G.-B. v. 1861) erscheint demnach in Ansehung der Bäcker und Brodhändler durch § 73 der R.-G-O. ersetzt, in Ansehung der Mehlhändler, schenkberechtigten Brauer, Bierwirthe, Metzger und anderer berechtigter Fleischverkäufer aber nicht derogirt, die auf Grund des Art. 198 P.-St.-G.-B. v. 1861 erlassene ortspolizeiliche Vorschrift des Stadtmagistrates W. erscheint mit Rücksicht auf Art. 159 Abs. 2 P.-St.-G.-B. v. 1871 nach gültig, und das k. Bezirksgericht A. hat, indem es auf die festgestellten Thatsachen in irriger Auslegung des § 73 R.-G.-O. gedachte ortspolizeiliche Vorschrift mit der Strafbestimmung des Art. 143 Z. 1 P.-St.-G.-B. nicht zur Anwendung brachte, – das Gesetz verletzt, weßhalb das angefochtene Urtheil vernichtet und gemäß Art. 139 Abs. 2 Einf. Ges. v. 10. Nov. 1861 wie geschehen erkannt werden mußte.