Oberappellationsgericht München – Hochwasser durch Mühlenwehr
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Der oberste Gerichtshof des Königreiches hat in Sachen des G. S., Schloßmühlbesitzers in H., wegen unterlassenen Oeffnens der Schützen am E . . . bächlein bei Hochwasser unterm 11. Nov. 1876 zu Recht erkannt:
- I. Durch das Urtheil des k. Bezirksgerichts N. v. 15. Mai 1876 ist das Gesetz in dem Artikel 324 des Strafproceß-Gesetzes vom 10. November 1848 und in den Artikeln 52 und 100 des Gesetzes über die Benützung des Wassers vom 28. Mai 1852 verletzt,
- II. der Eintrag des gegenwärtigen Erkenntnisses in das bezirksgerichtliche Urtheilsbuch wird verordnet.
In den Entscheidungsgründen ist hiezu folgendes angeführt:
Den zu den gegenwärtigen strafgerichtlichen Akten beigezogenen Akten des k. Bezirksamts H., die Stadt- oder Mittelmühle in H. betreffend, kommt zu entnehmen, daß in Folge eines an dieser Mühle von deren Besitzer J. B. S. mit rechtskräftig ertheilter distriktspolizeilicher Erlaubniß vorgenommenen Wasserbaues im Frühjahre 1871 eine Ueberschwemmung der im sogenannten Mühlwehr gelegenen Grundstücke durch Austreten der beiden Arme des P . . . flusses stattgefunden hat und daß deßhalb die Besitzer der fraglichen Grundstücke J. S.und Genossen sich um Abhilfe an das genannte Bezirksamt beschwerend gewendet haben, von welcher Behörde [521] nach örtlicher Besichtigung und nach Einvernahme der sämmtlichen Betheiligten, darunter insbesondere des G. S. als Besitzer der Schloß- oder Unter-Mühle daselbst, am 21. April 1871 der den Erschienenen sofort zu Protokoll eröffnete, von keiner Seite im Berufungswege angefochtene Beschluß erging, wodurch auf Grund der Artikel 52, 92 und 100 des Gesetzes über die Benützung des Wassers vom 28. Mai 1852 polizeilich angeordnet wurde, daß namentlich G. S. bei Vermeidung einer Strafe von fünfzig Gulden an Geld und vierzehn Tagen Arrest bei jeder Ueberschreitung der zuständigen Wasserhöhe die Leer- oder Ablaßschützen, wozu auch jene am E . . . bächlein gehören, bis auf das Maß der zuständigen Wasserhöhe zu öffnen habe, mit dem Beisatze, daß als Ueberschreitung der zuständigen Wasserhöhe gilt, wenn das Wasser über die am Mühlwerke befindlichen Streichwehre und Stauvorrichtungen überhaupt läuft.
Auf die bei dem Stadtmagistrate H. unterm 3. März 1876 erstattete Anzeige, daß G. S., Besitzer der Schloß- oder Untermühle, unterlassen habe, bei eben eingetretenem Hochwasser die Schützen am E . . . bächlein zu öffnen, hat der Staatsanwaltschaftsvertreter am k. Landgerichte H. wegen dieser Zuwiderhandlung gegen die vorbemerkte polizeiliche Anordnung des k. Bezirksamts H. vom 21. April 1871 gegen G. S. bei dem genannten Gerichte Strafeinschreitung beantragt, worauf letzteres durch Urtheil vom 30. März den G. S. der Ueberschreitung der zuständigen Wasserhöhe durch Unterlassung des Ziehens der Schützen am E . . . bächlein schuldig erkannt und hiefür denselben in Anwendung der Art. 52 und 100 des Gesetzes vom 28. Mai 1852 über die Benützung des Wassers in eine Geldstrafe von 85 Mark, eventuell zu 14tägiger Haft, sowie in die Kosten des Verfahrens und des Strafvollzuges verurtheilt hat, wobei im Wesentlichen thatsächlich festgestellt wurde, daß G. S. am 2. und 3. März bei Ueberschreitung der zuständigen Wasserhöhe entgegen dem distriktspolizeilichen Beschlusse vom 21. April 1871 die Schützen am E . . . bächlein nicht aufgezogen hat.
Dem aus Anlaß der Berufung des Beschuldigten hiegegen vom k. Bezirksgerichte N. am 15. Mai geschöpften und verkündeten freisprechenden Urtheile ist die Erwägung unterbreitet, daß dem distriktspolizeilichen Beschlusse vom 21. April 1871 die gesetzliche Giltigkeit mangelt, da solcher die Eigenschaft eines speziellen Erlasses an sich trägt, während das Gesetz nur allgemeine nach Maßgabe des Artikel 11 des P.St.G.B. vom 26. Dez. 1871 bekannt zu machende Erlasse der Distriktspolizeibehörde zuläßt, [522] unter welchen Umständen eine Prüfung des Thatbestandes nicht mehr erübriget. Anstatt einer weiteren Ausführung dieser Rechtsanschauung wurde lediglich auf Dr.v. Pözl’s Erläuterungen zum Gesetze über die Benützung des Wassers vom 28. Mai 1852 in Dollmann’s Gesetzgebung des Königreichs Bayern etc. Th. I Bd. 2 Seite 275 Ziffer 3 Bezug genommen.
Zur richtigen Beurtheilung der aufgeworfenen Frage erscheint es nothwendig, auf die Entstehungsgeschichte, sowie auf den Inhalt der Kammerverhandlungen über den Sinn und die Tragweite der hier einschlägigen Bestimmungen des Wasserbenützungs-Gesetzes vom 28. Mai 1852 in den Artikeln 52 und 100 näher einzugehen, sodann zu untersuchen, ob nicht etwa im Angesichte der neueren Gesetzgebung eine Aenderung hieran getroffen wurde.
Der zitirte Artikel 52 bestimmt im Absatze 1, daß die Verwaltungsbehörden den Gebrauch der Privatflüsse (um einen solchen Privatfluß handelt es sich gegenwärtig) zu überwachen haben, ferner daß sie im allgemeinen Interesse, namentlich aus gesundheitspolizeilichen Rücksichten, zur Verhütung von Ueberschwemmungen oder Versumpfungen, zur Offenhaltung des Verkehrs u. s. w. polizeiliche Anordnungen erlassen können.
In dem Artikel 100 Absatz 1 heißt es, daß die Staatsregierung, beziehungsweise die Verwaltungsstellen und Behörden befugt sind, in den Verordnungen und Vorschriften, welche sie in Gemäßheit des gegenwärtigen Gesetzes erlassen, Polizeistrafen gegen den Zuwiderhandelnden festzusetzen, und im Absatze 2 ist insbesondere verordnet, daß diese Strafen bei den Verordnungen und Vorschriften, welche in Gemäßheit des Artikels 52 erlassen werden, fünfzig Gulden Geldstrafe und vierzehn Tage Arrest nicht übersteigen dürfen.
Den jetzigen Artikel 52 des Gesetzes bildete in dem von der Staatsregierung im Jahre 1851 vorgelegten Entwurfe der Artikel 51.
(Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten im Jahre 1851, Beil. Bd I Seite 134 Spalte 1).
In den Motiven zu Artikel 46–51 ist betont, daß es aus Rücksichten der allgemeinen Wohlfahrt, darunter zur Fürsorge gegen die der Gesundheit schädlichen Einflüsse in erster Linie auch bei Privatgewässern einer energischen Einwirkung von Seite der Verwaltungsbehörden in dieser Beziehung bedürfe, da durch fehlerhaften Gebrauch derselben Ueberschwemmungen und Versumpfungen herbeigeführt [523] werden können, welche einer ganzen Gegend große Gefahren und Nachtheile bringen, daß den desfalls erforderlichen Anordnungen jedes Privatrecht weichen müsse, daß der Artikel 51 deshalb namentlich dieser Richtungen der obrigkeitlichen Fürsorge erwähne, ohne darum andere Rücksichten des öffentlichen Interesses auszuschließen, daß den Behörden in Betreff der Vorkehrungen, welche zur Abwendung einer drohenden oder bereits eingetretenen Wassernoth erforderlich werden, hier wie bei den öffentlichen Flüssen freie Hand gelassen und ihren Anordnungen augenblickliche Befolgung gesichert werden müsse.
(Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten a. a. O. Seite 149 Spalte 2).
Im Artikel 51 Absatz 1 des Entwurfes hatte gestanden: „besondere“ Anordnungen, wofür der Ausschuß der Kammer der Abgeordneten substituirte „polizeiliche“.
Zur Begründung ist im Berichte angeführt:
„Die allgemeinen Anordnungen in Artikel 51 des Entwurfes, durch welche im allgemeinen Interesse schädlicher Gebrauch der Privatflüsse entfernt werden soll, können lediglich polizeilicher Natur sein, die Gesichtspunkte, welche deshalb in dem Artikel selbst hervorgehoben sind, sind lediglich polizeiliche; um nun aber hierüber keinen Zweifel übrig zu lassen, welcher etwa durch den Ausdruck „besondere“ Anordnungen entstehen könnte, wurde dafür das Wort „polizeiliche“ gebraucht.“
(Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten etc., Beil. Bd. III Seite 535 Spalte 2 § 8 Ziffer 6.)
Daß das am Beginn vorkommende Wort „allgemeinen“ anstatt „besonderen“ Anordnungen auf einem bloßen Schreib- oder Druckfehler beruht, geht aus dem Wortlaute des Entwurfes und aus dem Schlußsatze der Berichtsbegründung selbst klar hervor.
Durch diese Substituirung des Ausschusses, welche die Zustimmung der Kammer erhalten,
(Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten etc. im Jahre 1852, Bd. IV Seite 119 Spalte 1 mit Seite 120 Spalte 2 [stenographische Berichte]),
sollte demnach nur der möglich erachteten Annahme ausdrücklich begegnet werden, als ob den Verwaltungsbehörden gesetzlich die Befugniß eingeräumt werden wollte, auch andere Anordnungen, als solche polizeilicher Natur, zu erlassen; diese Substituirung ist jedoch weder ihrem Zwecke, noch ihrem Inhalte nach dazu angethan, zu der Folgerung zu berechtigen, daß hiemit die nach [524] Artikel 51 (nun 52) verstandene Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden auf den Erlaß allgemeiner polizeilicher Anordnungen beschränkt, beziehungsweise daß der Erlaß besonderer polizeilicher an einzelne Personen gerichteter Anordnungen verbunden mit der Festsetzung von Polizeistrafen gegen die Zuwiderhandelnden innerhalb der in Artikel 94 Absatz 1 des Entwurfes (vielmehr nun in Artikel 100 Absatz 2 des Gesetzes) in Ansehung der Höhe der Strafen gezogenen Grenzen ausgeschlossen worden ist.
Der Umstand, daß der allegirte Artikel 94 des Entwurfes in seiner allgemeinen Fassung nicht in das Gesetz übergegangen ist, sondern nach dem von der Kammer der Abgeordneten gebilligten Vorschlage des Ausschusses in eine Reihe von Einzelbestimmungen in den Artikeln 96–101 des Gesetzes zerlegt wurde, vermag als Stützpunkt der gegentheiligen Meinung nicht zu dienen.
Der Entwurf im Einklange mit den Motiven wollte nämlich die Staatsregierung ermächtiget wissen, gegen die Uebertretungen der Bestimmungen des vorgelegten Gesetzes und der in Anwendung desselben getroffenen Anordnungen Strafbestimmungen zu erlassen, lediglich unter Fixirung eines Maximalsatzes der Freiheits- und Geldstrafe.
Der Ausschuß der Kammer der Abgeordneten hielt es nicht für räthlich, der Staatsregierung dieses einseitige Strafgesetzgebungsrecht in dem verlangten Umfange einzuräumen, und schlug daher die von der Kammer acceptirte Aufnahme der Strafsanktionen in Artikel 96 bis 99 in das Gesetz vor, welche die Uebertretungen der Bestimmungen des Gesetzes (Artikel 9. 10. 11. 12. 15. 16. 17. 18. 19. 58. 77. 78.) mit gewissen in Maximo festgestellten Strafen bedrohen, während in Artikel 100 des Gesetzes der Staatsregierung, beziehungsweise den Verwaltungsstellen und Behörden, denen in mehrfachen Beziehungen und an mehreren Orten, darunter in Artikel 52, das Recht eingeräumt ist, im Wege der Verordnung, der Instruktion oder des Reglements Vorschriften zum Vollzuge des Gesetzes zu erlassen, die Befugniß zugestanden ist, Polizeistrafen gegen diejenigen festzusetzen, welche den betreffenden Anordnungen zuwiderhandeln.
(Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten etc. im Jahre 1851. Beil. Bd. I. Seite 137 Spalte 2 und Seite 155 Spalte 1, Veil. Bd. III. Seite 538 Spalte 2 § 14, Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten im Jahre 1852. Bd. IV. Seite 144 Spalte 2 und Seite 145 Spalte 1 und 2.)
Dadurch ist aber die oben dargelegte grundsätzliche Auffassung der Bestimmung in Artikel 52 Absatz 1 des Gesetzes nicht berührt, geschweige denn hieran etwas geändert. [525]
Wenn in den vom k. Bezirksgerichte N. als Beleg für seine abweichende rechtliche Aufstellungen angerufenen Dr. von Pözel’s Erläuterungen zum Gesetze über die Benützung des Wassers vom 28. Mai 1852 Seite 275 Ziffer 3 vorkommt, daß den Verwaltungsbehörden erster Instanz theils ausdrücklich, theils stillschweigend das Recht vorbehalten ist, die Ausführung des Gesetzes zu leiten und zu regeln, zu dem Ende generelle Vorschriften – Lokalstatuten – zu erlassen und gegen die Uebertreter derselben Strafen zu drohen, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß den genannten Behörden der Erlaß einer besonderen polizeilichen Anordnung verbunden mit Straffestsetzung gesetzlich nicht zustehen soll, zumal wenn die von demselben Autor in seinem Lehrbuche des bayerischen Verwaltungsrechts erste Auflage § 79 Seite 163 und 164. a, unter Hinweis auf Artikel 52 des Wasserbenützungsgesetzes in der Note 2 gemachten Bemerkungen in Betracht gezogen werden.
Endlich bringt es schon die Natur der Sache mit sich, daß gerade bei obschwebender oder eingetretener Ueberschwemmung nicht für einen ganzen Bezirk allgemeine und gleichmäßig gehaltene polizeiliche Anordnungen für Abwendung beziehungsweise Abhilfe von der betreffenden Verwaltungsbehörde erlassen werden können, sondern daß für solchen Fall die im öffentlichen Interesse gebotenen polizeilichen Anordnungen mit Beachtung der Verschiedenheit der örtlichen Verhältnisse meist an einzelne Personen, vorzüglich an die zur Ziehung der Schützen verpflichteten Mühlenbesitzer gerichtet werden müssen.
Nach Allem dem stellt sich die mehrgedachte, insbesondere gegen G. S. gerichtete polizeiliche Anordnung vom 21. April 1871 durch das k. Bezirksamt H. in zuständiger und rechtsgültiger Weise erlassen dar.
So wenig das Wasserbenützungsgesetz vom 28. Mai 1852 in den hier einschlägigen Spezial-Strafbestimmungen (Artikel 52 und 100) mit dem Erscheinen des bayerischen Polizeistrafgesetzbuches v. 10. November 1861 eine Aenderung erfahren hat, vgl. Artikel 164 des P.St.G.B., ebensowenig wurde es durch das bayerische Polizeistrafgesetzbuch vom 26. Dezember 1871 oder durch ein anderweites neueres Gesetz aufgehoben oder geändert, und sind im Artikel 3 Ziffer 10 Buchstabe d des Einführungs-Vollzugs-Gesetzes vom nemlichen Tage als fortan noch in Kraft bleibend die strafrechtlichen Bestimmungen, welche in dem Gesetze über die Benützung des Wassers v. 28. Mai 1852 in den Artikeln 96 bis 101 enthalten sind, ausdrücklich erklärt. Im Absatze [526] 3 des Artikel 1 des zuletzt erwähnten P.St.G.B. ist überdieß die Zuständigkeit zur Erlassung der zulässigen polizeilichen Anordnungen, Gebote oder Verbote an einzelne Personen oder in bestimmten Fällen, soweit das Gesetz nicht hierüber maßgibt, nach den bestehenden oder künftig zu erlassenden Verordnungen über die Zuständigkeit der Behörden anerkannt.
Hiemit ist zugleich die bezirksgerichtliche Beanstandung der Form der Publikation der beregten polizeilichen Anordnung wegen Unanwendbarkeit des Artikel 11 etc. des P.S.G.B. vom 26. Dezember 1871 hierauf widerlegt.
Demgemäß wurde von dem k. Bezirksgerichte N. dadurch, daß es die polizeiliche Anordnung des k. Bezirksamts H. vom 21. April 1871 als für die betheiligten Mühlbesitzer nicht rechtsverbindlich angenommen und aus diesem Grunde ohne weitere Prüfung des Thatbestandes den Beschuldigten G. S. von der wieder ihn erhobenen Anschuldigung freigesprochen hat, das Gesetz in dem Artikel 324 des St.P.G vom 10. November 1848 durch unrichtige Anwendung und in den Artikeln 52 und 100 des Gesetzes über die Benützung des Wassers vom 28. Mai 1852 durch Nichtanwendung verletzt, weßhalb in oberstrichterlicher Stattgebung der staatsanwaltschaftlichen Beschwerde zur Wahrung des Gesetzes, wie geschehen, zu erkennen war.