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Nur Narr! Nur Dichter!

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Textdaten
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Autor: Friedrich Nietzsche
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Titel: Nur Narr! Nur Dichter!
Untertitel:
aus: Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Band VIII. Dionysos-Dithyramben. S. 409-412
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1906
Verlag: C. G. Naumann
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Internet Archive und Commons
Kurzbeschreibung:
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[409]
Nur Narr! Nur Dichter!

Bei abgehellter Luft,
wenn schon des Thau’s Tröstung
zur Erde niederquillt,
unsichtbar, auch ungehört

5
— denn zartes Schuhwerk trägt

der Tröster Thau gleich allen Trostmilden —
gedenkst du da, gedenkst du, heisses Herz,
wie einst du durstetest,
nach himmlischen Thränen und Thaugeträufel

10
versengt und müde durstetest,

dieweil auf gelben Graspfaden
boshaft abendliche Sonnenblicke
durch schwarze Bäume um dich liefen
blendende Sonnen-Gluthblicke, schadenfrohe.

15
„Der Wahrheit Freier — du? so höhnten sie —

nein! nur ein Dichter!
ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes,
das lügen muss,
das wissentlich, willentlich lügen muss,

20
nach Beute lüstern,

bunt verlarvt,
sich selbst zur Larve,
sich selbst zur Beute,
das — der Wahrheit Freier? …

[410]
25
Nur Narr! nur Dichter!

Nur Buntes redend,
aus Narrenlarven bunt herausredend,
herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken,
auf Lügen-Regenbogen

30
zwischen falschen Himmeln

herumschweifend, herumschleichend —
nur Narr! nur Dichter! …

Das — der Wahrheit Freier? …
Nicht still, starr, glatt, kalt,

35
zum Bilde worden,

zur Gottes-Säule,
nicht aufgestellt vor Tempeln,
eines Gottes Thürwart:
nein! feindselig solchen Tugend-Standbildern,

40
in jeder Wildniss heimischer als in Tempeln,

voll Katzen-Muthwillens
durch jedes Fenster springend
husch! in jeden Zufall,
jedem Urwalde zuschnüffelnd,

45
dass du in Urwäldern

unter buntzottigen Raubthieren
sündlich gesund und schön und bunt liefest,
mit lüsternen Lefzen,
selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig,

50
raubend, schleichend, lügend liefest …


Oder dem Adler gleich, der lange,
lange starr in Abgründe blickt,
in seine Abgründe …
— oh wie sie sich hier hinab,

55
hinunter, hinein,

in immer tiefere Tiefen ringeln! —

[411]

Dann,
plötzlich,
geraden Flugs,

60
gezückten Zugs

auf Lämmer stossen,
jach hinab, heisshungrig,
nach Lämmern lüstern,
gram allen Lamms-Seelen,

65
grimmig gram Allem, was blickt

tugendhaft, schafmässig, krauswollig,
dumm, mit Lammsmilch-Wohlwollen …

Also
adlerhaft, pantherhaft

70
sind des Dichters Sehnsüchte,

sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven,
du Narr! du Dichter! …

Der du den Menschen schautest
so Gott als Schaf —,

75
den Gott zerreissen im Menschen

wie das Schaf im Menschen
und zerreissend lachen

das, das ist deine Seligkeit,
eines Panthers und Adlers Seligkeit,

80
eines Dichters und Narren Seligkeit!“ …


Bei abgehellter Luft,
wenn schon des Monds Sichel
grün zwischen Purpurröthen
und neidisch hinschleicht,

85
— dem Tage feind,

mit jedem Schritte heimlich

[412]

an Rosen-Hängematten
hinsichelnd, bis sie sinken,

90
nachtabwärts blass hinabsinken:


so sank ich selber einstmals
aus meinem Wahrheits-Wahnsinne,
aus meinen Tages-Sehnsüchten,
des Tages müde, krank vom Lichte,

95
— sank abwärts, abendwärts, schattenwärts,

von Einer Wahrheit
verbrannt und durstig
— gedenkst du noch, gedenkst du, heisses Herz,
wie da du durstetest? —

100
dass ich verbannt sei

von aller Wahrheit!
Nur Narr! Nur Dichter!…