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Noch einmal die Farbenblindheit

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: W. P.
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Titel: Noch einmal die Farbenblindheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 576
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[576] Noch einmal die Farbenblindheit. Der Mangel an Farbensinn kann im praktischen Leben sehr schlimme Folgen haben; es ist daher Pflicht, diesen Krankheitszustand nach allen Seiten hin zu beleuchten. Vielleicht dürfte es der guten Sache von Vortheil sein, wenn ein Farbenblinder selbst einmal sich über das Thema ausspricht. Diese Erwägung veranlaßt mich zu folgenden Zeilen.

Mein Vater war farbenblind, ebenso einer meiner Brüder; meine übrigen Geschwister wie auch alle meine Kinder erkennen die Farben. Was durch seinen Lichtreflex auf die Augen meiner Mitmenschen Eindruck macht, das ist auch für mich da. (Nur einmal war dies nicht der Fall. Ein Chemiker wollte mir die Lichterscheinung eines mit rother Farbe verbrennenden Gegenstandes im Spectrum zeigen. Er sah sie, gab mir auch den Ort an, wo er sie sah, ich aber konnte bei aller Anstrengung nichts wahrnehmen.) Dennoch sehe ich nicht wie andere Leute. Ueber das, was vollkommen weiß oder vollkommen schwarz ist, bin ich mit Jedermann einig, auch helles Gelb verwechsele ich nicht mit anderen Farben. Sonst aber giebt es für mich nur zweierlei Farben: auf der einen Seite steht das, was man feuerroth, grün und braun nennt, auf der andern Seite himmelblau, rosenroth, violett, lila.

Ich sehe z. B. den Lack meines Stubenbodens an und will mir über die Farbe klar werden. Nun, er sieht ja aus wie leicht gebrannter Kaffee, ist also braun. Freilich kommt er mir auch vor wie das Gras der Wiesen, dann wäre er grün. Wenn jedoch die Locke eines Rothkopfes darauf läge, würde ich auch keinen Farbenunterschied finden, also kann der Lack roth sein. Summa: ich weiß es nicht.

Oder man macht mich aufmerksam auf einen schönen Kleiderstoff. Ich finde ihn auch schön, spreche aber nicht von seiner Farbe, denke nur: er sieht ja gerade aus wie der wolkenlose Himmel, ist demnach himmelblau, muß aber bald hören, daß er rosa ist. Man hätte mir auch sagen können, er sei lila oder violett, und ich wäre damit einverstanden gewesen.

Schon als Kind merkte ich diese Unfähigkeit, die Farben zu unterscheiden. Wenn ich Umrisse von Figuren ausgemalt hatte, so erregte die Wahl der Farben regelmäßig die Lachmuskeln der Beurtheiler. Und andere Kinder fanden viel leichter und mehr Erdbeeren als ich, der ich sie nur durch ihre Form von ihren dunkeln Blättern zu unterscheiden vermochte. Alle Anstrengungen, den Fehler zu verbessern, waren vergeblich – ich blieb ein Pythagoräer. Zum Mann herangewachsen, konnte ich dem Tuchhändler nicht sagen, von welcher Farbe der Rock sei, den ich schon ein Jahr getragen hatte und der bei mir immer nur „der neue“ hieß. Wenn man mir in einer fremden Stadt sagt, ich solle „in das Haus mit den rothen Läden“ gehen, so weiß ich eben nicht mehr, als vorher. Zum Glück brauchte ich nie einen Fahneneid zu schwören; zum Bahn- oder Weichenwärter wäre ich ganz gewiß total untauglich.

Einen Nutzen habe ich übrigens aus diesem Mangel doch gezogen. Ich bin dadurch tolerant geworden. Tolerant gegen die Ungläubigen: sie haben eben nicht die Fähigkeit, das, was überliefert ist, schon deshalb als Wahrheit in sich aufzunehmen; tolerant auch den Gläubigen gegenüber: es ist ihnen nicht gegeben, einen Unterschied zwischen selbsterkannter und überkommener Wahrheit zu machen. Jeder sieht die Welt nur mit seinen Augen an, und der Mann, der das alte Kirchenlied: „Mitten wir im Leben sind“ gedichtet hat, zeigt in den ziemlich egoistischen Schlußversen: „ich werde ihn mit meinen Augen sehen und kein Fremder, daß er – nicht meine Augen hatte.

     W.
P.