Zum Inhalt springen

Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität
Untertitel:
aus: Reden und Vorträge von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, S. 152–171.
Herausgeber:
Auflage: 1. Aufl.
Entstehungsdatum: 13. Februar 1900
Erscheinungsdatum: 1901
Verlag: Weidmannsche Buchhandlung
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung: Neujahr 1900, Rede am 13.1.1900 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität, Berlin.
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[152]
Neujahr 1900.

Rede zur Feier des Jahrhundertwechsels, gehalten im Namen der Universität Berlin
am 13. Januar 1900.


Die Sonne tönt nach alter Weise
in Brudersphären Wettgesang,
und ihre vorgeschriebne Reise
vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
wenn keiner sie ergründen mag:
die unbegreiflich hohen Werke
sind herrlich wie am ersten Tag.

Also begrüßen die Erzengel den Anbruch eines neuen Tages der Ewigkeit. Und doch hat die Ewigkeit keine Tage nach Jahre noch Äonen, die sich messen und zählen liessen. Anfangslos und endlos ebbet und flutet ihr uferloses Meer, wandeln die Welten des ewigen Kosmos kreisende Bahnen; anfangslos und endlos tönet die Harmonie der Sphären durch den unendlichen Raum in schweigender Rhythmik das hohe Lied der unergründlichen Weisheit. Aber der Mensch in seiner Endlichkeit leiht dem ewigen Kreise Anfang und Ende; seine Vergänglichkeit binden Raum und Zeit, und so trägt er die zersplitterte Vielheit hinüber in das göttliche Ewigganze. Seinen Augen schwindet und erscheinet die Lebensspenderin Sonne, und so schafft sich der Sterbliche aus seinem Abend und Morgen den ersten Tag. Wann beginnet der [153] Tag? Wenn die Sonne aufgeht, sagt das Kind aus der unmittelbaren Anschauung. Wenn die Sonne gesunken ist, sagte der alte Hebräer und der Hellene, schon aus Überlegung des Verstandes, weil die Nacht des Lichtes Mutter wäre. Um Mittag oder um Mitternacht, sagt die messende Wissenschaft, die fester Punkte bedarf, die sie am Stande des Himmels wahrnehmen kann; aber nur sie kann das: und so ist der Tagesanfang des Menschen ein abstracter Punkt geworden. Wann beginnet das Jahr, der Kreislauf des Keimens, Wachsens, Reifens und Welkens für das vegetative Leben, das Licht und Wärme des wandernden Sonnenballes auf seinem Trabanten hervorruft? Ganz früh schon hat der natürliche Mensch die Tage beobachtet, wo die Sonne am höchsten und am tiefsten stand; es sind ihm heilige Tage gewesen: Johannisfeuer und Julfeuer legen Zeugnis für die Empfindung unserer Vorfahren ab, und die denkwürdigsten Ereignisse sind von der Sage auf diese Tage verlegt. „Zeinen sunewenden der grosze mort geschach“, beginnt das Lied vom Untergange der Nibelunge, und um die Wintersonnenwende hat Odysseus die Freier erschlagen. Aber der Zeitmesser war den natürlichen Menschen einzig der Mond: davon heißt er; und als man zwölf Monde zu einem Jahre zusammenzufassen begann, hat man sowohl von den Sonnenwenden wie von den Tag- und Nachtgleichen gerechnet; es kam eben minder auf ein Jahr als auf zwölf Monde an. Wir haben eben Neujahr gefeiert, und eine Woche vorher Weihnacht; schwerlich ist uns dabei gegenwärtig gewesen, daß beide Feste eigentlich zusammenfallen sollten. Aber als die Christen die Geburt ihres Heilandes um die Wintersonnenwende ansetzten, haben sie das bürgerliche Jahr nicht angetastet; und die griechischen Gelehrten, die für Julius Cäsar das Sonnenjahr mit vierjähriger Tagschaltung einführten, das von der Wissenschaft längst gefordert war, haben auch nicht ganze Arbeit gemacht, sondern mit der Fixierung des Anfangstages auf das bislang herrschende Mondjahr eine seltsame Rücksicht genommen, dessen erster [154] Tag auf den Neumond nach der Sonnenwende fiel, also auf keinen festen Tag des Sonnenjahres: zufällig haben wir dieses Jahr wirklich am 1. Januar Neumond gehabt. Das haben wir vollends nicht beachtet. Was ist uns der Natur entfremdeten Menschen Neumond? Was bedeutet für uns Neujahr? Neujahr ist, wenn es im Kalender steht. Wie der alte Herodot sagt: Die Satzung menschlicher Willkür ist uns zur Natur geworden.

Und wie zählen wir die Jahre? Die Gelehrten Cäsars haben versäumt, eine Ära zu begründen, sonst würden wir ohne Zweifel 1946 schreiben. Erst christliche Gelehrte haben aus geschichtlichem Interesse den höchst achtungswerten Versuch gemacht, Weltären aufzustellen, von denen ein verkümmerter Abkömmling als Ära der Juden in unsern Kalendern verzeichnet wird. Wenn nicht im 5. Jahrhundert der Occident für Ostrom und seine Kultur verloren gegangen wäre, so würden wir ohne Zweifel Neujahr am 1. September haben und jetzt 7408 schreiben. Die Einheit der Kultur mußte zerrissen werden, die Bildung des Occidents herunter kommen, damit durch eine recht unwissenschaftliche Willkür die Ära von Christi Geburt aufgebracht ward, die von der Macht der modernen occidentalischen Kultur getragen auch die ältere und bessere Weltära verdrängt hat, in der griechischen Kirche erst in diesem Jahrhundert, und die nun dauern wird. Denn als in der Renaissance die Verbindung von astronomischem und historischem Wissen die Unzulänglichkeit sowohl des julianischen Jahres wie der Ära des Dionysius Exiguus durchschaute, haben leider Papst Gregor und Joseph Scaliger nicht mit, sondern gegen einander gearbeitet; sonst wäre es noch an der Zeit gewesen, die für chronologische Rechnung passendste julianische Periode Scaligers einzuführen, und wir würden heute 6613 schreiben. Aber auch hier ist dem Kulturmenschen das Erzeugnis der Willkür Natur geworden; der Kalender, ein Stück bedruckten Papieres, offenbart ihm, daß ein Jahrhundert um ist, und weil er in unserem Schriftsystem die Ziffer der Hunderte ändern muß, scheint ihm [155] der Anfang des letzten Jahres bereits das Ende des Jahrhunderts, und mit derselben naiven Projektion des eigenen Gefühles, die das Kind und der Naturmensch übt, sieht er in dem Tage, den er zum Jahrhundertanfang stempelt, etwas Besonderes, Dämonisches.

Aber gerade wer diese naive Selbsttäuschung übersieht, darf zwar nicht unterlassen, auch daran zu mahnen, wie ohnmächtig am Ende Menschenwillkür gegenüber der heiligen Stätigkeit der Natur ist, aber gern wird er in dem, was die Menschen, wie sie nun einmal sind, glauben und empfinden, das Echte und Fromme und Wahre hervorsuchen. Und das Jahrhundert und seine Feier ist keineswegs bloß eine Abstraktion unseres Zahlensystemes. Die hat den Römern sehr ferngelegen, die die Säkularfeiern aufgebracht haben. Ein Anfangspunkt muß freilich gegeben sein; dann aber ist ein Säkulum vergangen, wenn der letzte Mensch stirbt, der die vorige Feier erlebt hat. Das sind rund gerechnet hundert Jahre, oder auch, wie die Griechen und wir sagen, drei Menschenalter. Das aber ist in der That ein abgeschlossener Zeitraum. Vater, Sohn und Enkel kennen einander noch; der Enkel hat noch die Tradition des Großvaters unmittelbar – dann schwindet sie. Ein jeder, der seine Familienüberlieferung überdenkt, wird diesen Begriff des Säkulums als zutreffend und bedeutsam anerkennen. Und dann ist es vollauf berechtigt, auch nach dem Säkulum eines Volkes, weiterhin nach dem der Menschheit zu fragen.

Aber ein Anfangstermin muss da sein. Einmal muß die Empfindung übermächtig gewesen sein, daß in der Gegenwart eine neue Weltperiode begänne. Das war so, als Kaiser Augustus 17 v. Chr. die Säkularfeier abhielt, zu der Q. Horatius Flaccus das schöne Prozessionslied gedichtet hat. Nach einem Jahrhundert voll Blut und Verbrechen, Krieg und Verwüstung war Frieden und Ordnung hergestellt: dankbar und hoffnungsvoll empfanden die Menschen das Bedürfnis einer solchen frommen Feier, und wenn die Sibylle erst durch die Korrekturen ihrer Sprüche [156] gezwungen werden musste, diese Feier verlangt zu haben, so ist sie gezwungen worden, einmal die Wahrheit zu sagen. Außerhalb Roms hat die Dankbarkeit gegen den Kaiser auch den Ausdruck gewählt, dass in ihm der Welt Heiland geboren wäre. Auch als drei Jahrhunderte später der Glaube an den Heiland siegte, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, haben die Besten nicht verkannt, daß die Geburt Christi nicht zufällig mit dem Weltfrieden des Augustus zusammenfiele. Und so werden wir, wenn wir die Geschichte verstehen, den Beginn unserer Zeitrechnung gern gelten lassen: nur dürfen wir nicht auf das Jahr genau rechnen, die Jahre +1 und –1 sind so leer wie kaum zwei andere in hellen Zeiten der Geschichte; aber die Säkularspiele von –17 und die zeitlich unbestimmbaren Daten der Geburt oder auch des Todes Jesu rücken aus der Entfernung gesehen auf denselben Punkt.

In der Nähe ist man auch für kleine Zeitabstände empfindlich, aber daß Ereignisse und nicht die Ziffern des Kalenders Epoche machen und ein Jahrhundert begrenzen, gerade in dem Sinne, in dem der Begriff einen Inhalt hat, das muss jeder sich klar machen können. Und dann weiß er auch, dass das 19. Jahrhundert nicht begonnen hat, als man eine 8 an der zweiten Stelle der Jahreszahl zu schreiben anfing, sondern am 14. Juli 1789, wie es das Gedächtnisfest des französischen Volkes abgrenzt, oder am 19. September 1792, als Wolfgang Goethe auf dem Felde von Valmy sagte, „von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus“. Nur ein Ereignis in der Geschichte des führenden Volkes kann den Markstein liefern, und wenn der Versuch der Revolution, die Zeitrechnung umzustürzen, auch mit vielen anderen Übertreibungen rasch beseitigt worden ist: das sehen wir heute nur deutlicher, dass der Zusammenbruch des alten französischen Staates in der That den Anstoss zu einer Umgestaltung der Gesellschaftsordnung überhaupt gegeben hat, die längst noch nicht abgeschlossen ist, und es lebt heut kein Einziger, der im Ernste auf das verzichten [157] könnte und wollte, was er der französischen Revolution verdankt. Und wenn die napoleonische Zeit vernichtend wie ein Unwetter über Europa gezogen ist, und kein Land so schwer darunter gelitten hat wie das unsere, und wenn uns das Herz höher schwillt bei den Zorn- und Kampfliedern der Befreiungskriege, und wenn dem Preußen keine Zeit seines Volkes teurer ist als die, wo der Glaube an Gottes Gerechtigkeit und des tapferen Mannes Willenskraft und Wagemut den Sieg errang, nicht nur über den gewaltigen Feind, sondern den schwereren über Kleinmut und Selbstsucht im eigenen Lager, dennoch müssen wir längst die Freiheit des Geistes gewonnen haben, mit Goethe, dem Sohne des 18. Jahrhunderts, auch gegenüber den Zerstörern des alten deutschen Reiches und des friedericianischen Preußens zu sprechen: „wie soll ich ein Volk hassen, dem ich so viel von meiner Bildung verdanke“.

Aber das Ende des 19. Jahrhunderts? Endet es heute? Nein, wahrlich nicht. Es wird mancher hier sitzen, der am 16. März 1888 es auch ausgesprochen hat, dass die Glocken, die dem Heimgang des ersten deutschen Kaisers auf jedem Kirchturme seines Reiches läuteten, auch dem Jahrhundert das Grablied tönten. Festen Schrittes, ungebeugt durch die Last doppelten Schmerzes und ungeheurer Verantwortung, wandelte der Enkel hinter des Grossvaters Sarge durch den Wintersturm, mit dem die Natur dem alten Helden das Geleit gab; jeder treue Deutsche empfand in aller Trauer nicht sowohl den Ruhmesglanz als den Schatz von Liebe und Ehrfurcht, den der Vater des Vaterlandes den Seinen als etwas Unsterbliches hinterlassen hatte, und wir gelobten aus vollem Herzen, Treue und Liebe den Erben der kaiserlichen Krone zu bewahren, auch in dem neuen Jahrhundert. Wenig Jahre sind seitdem verstrichen; festen Schrittes, ungebeugt durch die Last der ungeheuren Verantwortung, wandelt unseres kaiserlichen Herrn Majestät durch die Stürme einer neuen Zeit. Jeder treue Deutsche empfindet, dass neue und schwere Forderungen gestellt sind. Wohin uns die Zukunft [158] führe, wer ahnt es? Eines nur wissen wir: die Treue halten wir und werden wir halten. Aber was dieses neue Jahrhundert an Leid und Freud uns beschwert und bescheren wird, heut ist nicht die Stunde dessen zu gedenken. Rückwärts schaut unser Blick, abrechnen wollen wir, wir wollen danken.

Und da ist schon das Größeste gesagt, wenn wir anerkennen, daß der Tod des ersten deutschen Kaisers das Ende des Jahrhunderts bezeichnet, das mit der französischen Revolution begann. Das weist zunächst auf die politische Erhebung Deutschlands; aber wollten wir sie auch nur vornehmlich ins Auge fassen, so würde das unzutreffend sein, schon weil diese Bewegung nur wenige Jahrzehnte füllt. Was immerdar im Gedächtnisse der Menschen den Hauptinhalt des 19. Jahrhunderts bilden wird, das ist freilich die Erhebung Deutschlands zu einer Weltmacht, aber nicht nur politisch, sondern durch all das Unübersehbare, was die deutsche Arbeit, die der Hand und die des Hirnes, geleistet hat, für uns und für die ganze Menschheit. Wir sagen das nicht in dem nationalistischen Dünkel, den jeder Deutsche, der die wirkliche Geschichte seines Volkes leidlich kennt, verabscheut. Wir haben nur die Freude, daß wir den Völkern älterer Kultur die Schuld der Dankbarkeit für jahrhundertelange Belehrung und Erziehung heimgezahlt haben und ihnen endlich ebenbürtig geworden sind. Voller Bewunderung und auch ohne jede Regung des Neides sehen wir, wie das russische Volk sich in derselben Spanne Zeit neben uns machtvoll erhoben hat, herrschend vom finnischen Meere bis an den Stillen Ozean, wie es über den Kaukasus und den Oxus und Iaxartes hinab gezogen ist, arische Kultur tragend über die Steppen Turans, aus denen so oft kulturmordende Horden westwärts gezogen waren, bis es die Spuren des großen Alexander erreichte. Und wohl noch Größeres ist es, daß dieses Volk, dessen Gebildete sich vor hundert Jahren der heimischen Sprache schämten, nun Dichtungen aufzuweisen hat, denen alle Gebildeten lauschen. [159] Ebenso bewundernd sehen wir jenseits des Ozeans nach dem ersten Jahrhundert der Freiheit nicht nur einen Weltteil besiedelt und ein machtvolles Reich gegründet, sondern eine neue Volksindividualität im Werden, und eine eigene Kultur, die sich bereits anschickt, der alten Welt, was sie an Kulturüberlieferungen empfing, mit neuen Schöpfungen zu vergelten.

Allein gerade wenn wir das Erstehen und Erstarken anderer Völker als einen Gewinn für die Menschheit freudig begrüßen und gern glauben, dass ein Ereignis fremden Ruhmes das zwanzigste Jahrhundert abgrenzen wird, haben wir das Recht, uns in festlicher Stunde einzugestehen, dass das Köstlichste, was die Menschheit im neunzehnten Jahrhundert gewonnen hat, den Stempel deutschen Ursprungs trägt. Da das Jahrhundert beginnt, steht unsere Dichtung im Zenith; für das Ausland hatte sie bisher überhaupt nicht existiert: jetzt bringt Frau von Staël sie der Französisch lesenden, d.h. der gebildeten Welt näher; bald erhebt sich in England Thomas Carlyle als Prophet der ganzen Heroengestalt Goethes, und hinfort hat keiner an der wirklichen Kultur seiner Zeit mehr Teil, der sich nicht an dieser Sonne von Poesie und Weisheit gewärmt hat. Bald tritt die deutsche Musik hinzu als eine völlig neue Offenbarung, und obwohl sie in steigendem Maße das nationale Element betont, ist sie doch die Musik der Menschheit geworden. Durch die altüberlieferte Logik und Metaphysik hat Immanuel Kant einen Strich gemacht, wie Goethe noch ein Sohn des vorigen Jahrhunderts. Erst durch ihn ist Aristoteles überwunden. Und gleich wird in Deutschland von neuem der Versuch gemacht, in der weltumspannenden Weise des Aristoteles, aber auf neuen Grundlagen, das ganze Gebiet der Erfahrung und des Gedankens, das Leben der Natur und der Seele, mit philosophischem Blicke zu überschauen und zu durchschauen, und neben die titanische Kühnheit des neuen Idealismus treten die neubelebten, wirklich erst durch die Philosophie zur Wissenschaftlichkeit erhobenen Disziplinen. Auch diese deutschen [160] Gedanken fliegen befruchtend über die weite Welt, dort zu keimen und neue Früchte zu zeitigen.

Dieses Deutschland stand lange schon groß da, ehe Deutschland eine politische und wirtschaftliche Einheit und Macht ward. Eine solche zu begründen ist der Gedanke nicht vermögend: dazu bedarf es der That. Damit ein Volk in der Gesellschaft etwas bedeute, muss es durch mächtige Thaten sich einen Platz[WS 1] nehmen und muss ihn durch fruchtbringende Macht behaupten. Auch das haben die Deutschen gethan. Wir wollen der großen Männer der That nicht des breiteren gedenken, wir wollen heute so wenig von Sadowa und Sedan reden, wie Perikles von Marathon und Salamis, als er Athens Staat und Athens Kultur pries. Unserer Helden Namen stehen in unserem Herzen geschrieben, und die Welt wird sie nie vergessen. Rufen wir lieber in unser Gedächtnis, wie vieles von vielen geleistet werden mußte, damit die Aufrichtung des deutschen Staates gelingen konnte, und vollends, damit dieser Staat nicht ein bloßes Gebilde militärisch politischer Macht würde und bliebe. Da verdienen wieder die edlen Männer den Ehrenplatz, die das neue Preußen an Stelle des friedericianischen Staates aufgebaut haben, die Aufgaben des Staates, die Pflichten und die Würde seiner Bürger mit so hohem Sinne abwägend, und mit besonnenster Kühnheit die großen Gedanken der Revolution mit dem geschichtlich Gegebenen verbindend, daß der Grund, den sie gelegt haben, nur mit dem preussischen Staate zerstört werden kann. Und als in der Ermattung nach den Freiheitskämpfen die Krönung ihres Gebäudes in ihrem Sinne unterblieb, da hatten sie dem unter dem innerlich überlebten Absolutismus regierenden Beamtentume so viel doch von ihrem Geiste übermacht, daß es das Ziel des Gesamtwohles nicht aus den Augen verlor, und in der Ordnung der Steuern und Zölle lebte der schöpferische Geist weiter und bereitete durch wirtschaftlichen Zusammenschluß die Ausgleichung der Stammesgegensätze vor. Aber auch die erfolgreiche Arbeit [161] darf nicht vergessen werden, die aus den künstlich geschaffenen süddeutschen Staaten lebenskräftige Einheiten zusammengeschweißt hat, die unser Reich am sichersten vor jener centralistischen Verödung bewahren, an der wir andere Völker kranken sehen. Als König Ludwig von Bayern vollends seine Hauptstadt künstlich zu einem Sitze der Künste machte, als das Blut der neuen deutschen Bildung auch durch dieses edle Glied unseres Volkes rascher zu cirkulieren begann, da hat er und haben gleichermaßen seine Nachfolger an unserem Reiche gebaut, und auch ihre Werke schauen wir mit nationalem Stolze an. Gern würden wir an solchem Tage alle trüben und beschämenden Erinnerungen an Hader und Blut, an Beschränktheit und Verblendung verbannen: aber der Blüte edler Jünglinge muß mindestens in der Aula einer Universität gedacht werden, die für den Glauben an das einige und freie Vaterland von schnöder Ungerechtigkeit und Beamtenwillkür gemartert worden sind, gar mancher, bis er innerlich zerbrach, andere, bis sie den Boden der Heimat flohen und im Auslande schon durch ihre Anwesenheit die Achtung vor dem Staate herabsetzen mußten, der solche Söhne nicht ertragen wollte. Und doch waren diese schwärmerischen Jünglinge und nicht ihre Bedrücker die Träger des Geistes von 1813 und 1870. Darum mußte das Regiment, das den Geist seines eigenen Staates, den es nicht verstand, mit Gewalt ersticken wollte, hilflos und ruhmlos zusammenbrechen, vor der Geschichte aber hat es allein die Verantwortung dafür zu tragen, daß unserem gesetzlichen und treuen Volke der gewaltsame Umsturz des Frühlings 1848 nicht erspart blieb. Der revolutionäre Ursprung, die kurze Dauer und das klanglose Ende des ersten deutschen Parlaments, vielleicht noch mehr der Druck des folgenden dumpfen Jahrzehnts und der Glanz des späteren Erfolges, der auf so ganz anderen Wegen erreicht ward, haben die verschwenderische Fülle von edelstem Wollen und von glänzendstem Talente vielfach verkennen lassen, die 1848 wahrlich nicht fehlten. Immer [162] wieder müssen wir beklagen, dass Heinrich von Treitschke uns dieses Jahr nicht mehr hat erzählen können, wie er denn der einzige wäre, der heute würdig von diesem Platze reden könnte: er war durch den Fortgang seines herrlichen Geschichtswerkes immer mehr befähigt worden, jedes Streben zu begreifen und anzuerkennen, das dem großen Ganzen redlich gedient hatte. Hoffen wir, daß ein anderer es verstehen werde, diese Lücke in der Kenntnis und Schätzung unserer eigenen Vergangenheit zu füllen. Das aber kann man vorgreifend sagen, daß das deutsche Volk niemals eine seiner würdigere Vertretung gehabt hat als in der Paulskirche. Und was die Ergebnisse der Revolutionszeit angeht, so stünde es dem Preußen gerade übel an, sie gering zu schätzen. Ist doch unsere Verfassung, die in wenig Tagen das erste halbe Jahrhundert ihres Bestehens erlebt, auch eine ihrer Früchte, und wäre es nicht die nackteste Undankbarkeit, wenn man leugnete, daß sie sich bewährt hat, vielleicht gerade deshalb, weil sie bei ihrem Erscheinen kaum einen befriedigte?

Nichts hört man gegen die Männer von 1848 häufiger aussprechen als den Vorwurf des Doktrinarismus. Gewiß ist er nicht unverdient, nur gilt er viel weiter. Es war aus dem großartigen Aufschwung von Poesie, Philosophie und Wissenschaft eine Überschätzung der intellektuellen Bildung erwachsen, so daß man von dem Manne, wenn er für voll gelten wollte, eine ganz bestimmte Summe von Kenntnissen verlangte, und zwar von der Art, die jene klassizistisch und philosophisch gerichtete Zeit vor allem schätzte. Diesen Anschauungen kam der Staat bereitwillig entgegen, so mißtrauisch er jede Initiative der Bürger ansah. So ward ein Ideal von allgemeiner Bildung aufgestellt, deren Vollbesitz, oder wenigstens seine staatliche Bescheinigung, den „gebildeten Menschen“, das deutsche Äquivalent des englischen Gentleman, machen sollte. Und dann stufte man neue Kasten ab, je nachdem jemand drei oder auch nur ein Fünftel dieser Bildung erhalten hatte. Und es wurden im Gegensatz zu früherer Roheit Bildungshochmut [163] und Bildungsheuchelei spezifisch deutsche Laster. Ein Papier mit dem ominösen Namen Maturitätszeugnis ward der neue Adelsbrief, und mancher scheute sich, seinen Nebenmenschen als gleichberechtigt anzuerkennen, weil ihm die Gelegenheit gefehlt hatte, die Verba auf mi und die Kettenbrüche gleichfalls zu vergessen. Demgegenüber kann der Segen nicht hoch genug geschätzt werden, und eine Stätte intellektueller Bildung hat erst recht die Pflicht zu rühmen, daß doch eine Institution bestand, die Erziehung bot, wie sie jedem not thut, durch Gehorsam zur Selbstständigkeit, durch Dienst zur Freiheit: das preußische Heer. Dies Heer blieb denn auch aufrecht stehen, als so vieles im Staate zerbrach, bewahrte seinem Kriegsherrn mit Selbstüberwindung die Treue und zertrat rasch die Brände offener Rebellion. Leider konnten die klugen und feinen Geister in Frankfurt dieses Heer wirklich nicht kennen, und die öffentliche Meinung blieb eingeschworen auf die englische Verachtung des Kriegsdienstes und wähnte, mit Spiel und Sport in Schützen- und Turnvereinen dasselbe zu leisten. So konnte das Widersinnige geschehen, daß die volkstümlichste Maßregel, die die nationale Hochschule wirklich allen preußischen Jünglingen erschließen wollte, auf den Widerstand des Volkes stieß. Und wenn die großen Siege des Heeres dann auch das Urteil König Wilhelms rechtfertigten, den noch die spätesten Enkel als die Verkörperung der Tugenden des preußischen Offiziers verehren werden, so ist die Vorstellung doch nicht ausgerottet, daß wir das Heer für den Krieg unterhielten. Wir wollen gar keinen Krieg, wenn wir auch wissen und loben, daß die Natur der Gewitterstürme nicht entraten kann. Aber wenn sich auch die lange Friedenszeit, deren wir uns erfreuen, noch weithin ausdehnen sollte, unseres Heeres können wir nimmer entraten, damit wir ein Volk von Männern bleiben. Denken wir uns einmal den Typus des modernen deutschen Mannes, wie er Pflugschar, Hammer und Mauerkelle führt, und daneben den Typus seines Urgroßvaters. Jener trug immer noch die Züge, [164] die die volkstümliche Kunst der Reformationszeit als Karsthans so oft gebildet hat; hier sehen wir selbstbewußte, aufrechte Männer, wie sie die Gildenbilder von Rembrandt und Franz Hals in den wetterfesten freien Niederländern zeigen. Und wenn auch die Zunahme des materiellen Wohlstandes das Ihre gethan hat und die politische Befreiung und geistige Anregung dem Auge die Blödigkeit genommen hat: daß der Nacken so gerade, die Brust so frei und der Blick so klar ist, das verdankt der deutsche Mann dem Gefühl der Mannesehre, das ihm die Erziehung des Heeres eingepflanzt hat.

Das ist die wahre und wirklich befreiende allgemeine Bildung des Volkes. Sie ihm aufgezwungen zu haben, bleibt ein Ruhmestitel des Staates. Daneben müssen wir auch solcher Männer dankbar gedenken, die von den ästhetischen und klassizistischen Idealen wenig wußten oder wenig hielten und die wohlmeinende, aber über jedes Sachverständnis erhabene Bevormundung der gelehrten Beamten selten als eine Förderung empfanden, aber den praktischen Berufen und der praktischen Tüchtigkeit zum Heile des Ganzen die Macht und das Ansehen errungen haben, die ihnen zukommt. Der deutsche Handel hatte von seiner alten Blüte nur an den Mündungen unserer Ströme und einigen Knotenpunkten des Verkehres einiges in das neunzehnte Jahrhundert gerettet. Gewerbfleiß gab es für den Export nur verschwindend wenig und weite Strecken verharrten noch lange in der Abhängigkeit vom Auslande, wie der Barbar, der dem fremden Schiffer seine Rohprodukte gegen die fremde Ware dahingiebt. Die Landwirtschaft hatte höchstens vereinzelt begriffen, daß sie auch ein industrieller und kaufmännischer Betrieb ist. Und nun hat die Energie des deutschen Kaufmanns die deutsche Ware, längst bevor eine deutsche Flagge sie deckte, über alle Meere getragen, und seine Klugheit und Redlichkeit unsern Namen unter allen Breiten zu Ehren gebracht. Jetzt vermag weder die Vermehrung der Bevölkerung noch die des Kapitales den Anforderungen der [165] Industrie zu genügen: und wenn Thaer über die Felder wandern könnte, die er rationeller zu bebauen gelehrt hatte, so würde er staunen, wie viel mehr die Erde dem Fleiße des Landmanns zu spenden gelehrt ist. Welch ungeheure Summe edler Menschenarbeit ist aufgewandt worden, um dieses zu erreichen, aufgewandt in dem Einsetzen der eigenen freien Persönlichkeit oder in dem freiwilligen Zusammenschluß selbständiger Männer. Sie bauten alle zunächst ein jeglicher sein eigen Haus, mochten sie auf dem festen Grunde ererbten Besitzes und ererbter Familienehre stehn, wie die großen Kaufherren unserer freien Städte und die Besitzer der großen Liegenschaften, mochten sie mit frischer Kraft aus dem Volksgrunde aufstrebend sich selbst ihr Leben und ihren Reichtum und Ruhm zimmern, wie die Borsig und Krupp, deren Namen wir schon als Knaben mit Ehrfurcht zu nennen gelernt haben, und Tausende neben ihnen, Helden im friedlichen Kampfe des modernen Lebens. Und gerade weil sie ein jeglicher nach seiner Art und in seinem Kreise haben wirken und schaffen können und wollen, haben sie gearbeitet an dem Wohle der Gesamtheit, des gemeinen Wesens.

Das ist der Reichtum unseres neuen Lebens. Der ständische Stockwerkstaat ist an dem Beginne des neunzehnten Jahrhunderts zusammengebrochen. Der klassizistische Traum eines Staates gleichberechtigter Bürger von gleicher Bildung und gleichen Interessen, eine ungeschichtliche Abstraktion aus den Vorstellungen von den antiken Republiken, ist auch dahin; er hätte sich nur auf dem Unterbau einer modernen Sklavenschaft verwirklichen lassen; und die Utopien des sozialistischen Zukunftsstaates, ausgeartete Ableger dieser Ideen, würden längst keine Gläubigen mehr finden, „wären nicht Kinder und Bettler hoffnungsvolle Thoren“. Dafür zeigt uns das Leben eine Menge Kreise verschiedener Thätigkeit mit entsprechend verschiedenen Bedürfnissen und Ansprüchen materieller und geistiger Art. Sie müssen sich oft berühren, nicht [166] immer friedlich, um so mehr, da sie sich beständig verschieben, und doch ist das Gedeihen eines jeden für das Gesamtwohl unentbehrlich. Für all diese Kreise verlangen wir freie Bewegung, wie sie auch der einzelne Mensch für sich fordert. Gewiß liegt darin eine große Gefahr. Aber wie der kleinste Kreis gleichgestellter Menschen einträchtig nur bestehen kann, wenn seine Glieder einander in ihrer Eigenart achten, und wie sie das um so besser thun werden, je mehr sie einander verstehn, so müssen die verschiedenen Lebenskreise sich als gleichberechtigt anerkennen und sich zu verstehn suchen. Der Staat, die organisierte Gesellschaft, hat schon eine ungeheure Aufgabe, wenn er alle in dem Rahmen des Gemeinwohles und des gemeinen Friedens hält. Aber wir verlangen sehr viel mehr von ihm. Wir leben ja des Glaubens, daß er eine sittliche Institution ist. Er soll nicht nur dem Übel wehren, er soll das Gute wirken. Er soll selbst anregen und Ziele weisen. Er soll den Schwachen nicht nur vor Unbill schützen, er soll ihm emporhelfen. Vielleicht erwarten wir zu viel von ihm, sicher kann er jedem einzelnen nicht die Pflicht der persönlichen Mitarbeit abnehmen. Aber dank Kaiser Wilhelm I. und seinem großen Kanzler nehmen wir die Verpflichtung auf die kaiserliche Botschaft der sozialen Versöhnung mit in die neue Zeit. Sie kann verwirklicht werden, wenn all die neuen Kreise und Stände des Lebens es lernen, einander zu verstehn und die gleichberechtigte Würde des Nächsten auch da zu achten, wo sie sie nicht verstehn, endlich aber den Goetheschen Spruch des Individualismus, der füglich dem Staate gesagt werden kann „was dem einen frommt, das frommet allen“, in der Umkehrung sich gesagt sein lassen „was dem Ganzen frommt, das frommet jedem.“

Scheint schon die Verwirklichung dieser Eintracht des ganzen Volkes fast chiliastisch, wie viel minder wird man für die Völkerfamilie der Erde zu hoffen wagen, daß sie einmal das liebliche Bild von einträchtig bei einander wohnenden Brüdern biete. Immerhin haben sich die [167] Völker daran gewöhnen müssen, daß die Erdoberfläche sehr viel mehr eine Einheit ist, als es vor hundert Jahren Europa war, seit die Wissenschaft in Verbindung mit der Technik der Natur Kräfte abgewonnen hat, die den Raum überwinden. Handels- und Freundschaftsverträge sichern fast überall den friedlichen Verkehr, und den flüchtigen Verbrecher verfolgt die Strafe bis in die fernsten Schlupfwinkel. Für die Post ist die Welt bereits eine Einheit; das internationale Recht bemächtigt sich immer zahlreicherer Materien, und die Staaten binden sich immer häufiger durch allgemeine Verträge zum Schutze der Menschlichkeit, wie durch die, welche das Zeichen des roten Kreuzes tragen. Führerin und Vorkämpferin ist darin die Wissenschaft. Nicht nur daß sie Vereinbarungen veranlaßt, wie die internationale Erdmessung oder die Kooperation mehrerer Kulturvölker zu wissenschaftlichen Zwecken, wie der Erforschung der wenigen noch unbekannten Teile der Erdoberfläche, oder den Zusammenschluß der Körperschaften, welche die wissenschaftlich organisierte Arbeit leiten. Das Wesentliche ist die Erstarkung und Verbreitung der Wissenschaft selbst. Denn wenn eines den Glauben an den Bestand und Fortgang der Gesittung überhaupt rechtfertigen kann, so ist es dies, und nicht nur, weil er in einer Universität erstattet wird, muß dieser Rückblick auf den Erfolg des Jahrhunderts in dem Preise der Wissenschaft gipfeln. Gleich aber muß mit und neben ihr die Technik genannt werden, die eng verschwistert, dennoch sich zu stolzer Selbständigkeit erhoben hat. Die Wissenschaft, die uns ihre Schöpfer, die Hellenen, übermittelt hatten, war im wesentlichen auf die reine Erkenntnis gerichtet, auf Theorie, das will sagen Anschauen. Welch ungeheurer Fortschritt liegt darin, daß nun die Handfertigkeit und Phantasie des Technikers einerseits die Ergebnisse der Wissenschaft in Neuschöpfungen der Praxis verwertet, andererseits durch das empirisch Gelungene der Wissenschaft neue Lösungen oder auch Probleme zuführt. Die begriffliche Distinktion mag schwierig [168] sein, es ist natürlich auch nichts absolut Neues; zumal die Medizin, Wissenschaft und Kunst zugleich, hat ihrem Wesen nach zu allen Zeiten, in denen sie als Wissenschaft bestand, aus dieser Wechselwirkung von Theorie und Praxis ihre beste Kraft geschöpft, hat daher auch von allen Wissenschaftszweigen die reichste Geschichte. Allein daß etwas Neues mächtig geworden ist, das unser ganzes Leben, im kleinen und großen umgestaltet hat, und von dem wir andere, gar nicht absehbare Umgestaltungen erwarten, das braucht nicht erst gesagt zu werden.

Sich in das tägliche Leben und das Milieu des achtzehnten Jahrhunderts zurückzuversetzen, stellt an die geschichtliche Anpassung kaum geringere Forderungen, als wenn es um achtzehnhundert Jahre geschehen sollte. Fast dasselbe kann man sagen, wenn man den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis ins Auge faßt. Am Anfange des Jahrhunderts geht die französische Expedition nach Ägypten, unternimmt Alexander von Humboldt die Reise in das äquatoriale Südamerika; Kalidasas Sakuntala wird in der englischen Übersetzung bekannt; bald kommen die Elgin marbles nach London. Es genügt, an diese wenigen Thatsachen zu erinnern. Das Suchen und Sammeln war das erste, eine endlose Aufgabe. Wie Unübersehbares auch bis heute gewonnen ist, wir sind doch noch mitten in der Arbeit, mag auch ein so gigantisches Unternehmen wie die Verzeichnung der ganzen Tierwelt der Erde bereits angegriffen werden können. Was sollen wir an Einzelnes erinnern, daß dadurch, daß die Urväter aller Menschenkultur, Babylonier und Ägypter, in ihrer Sprache wieder zu uns reden, die Geschichte um Jahrtausende über die Zeiten hinaufgeführt wird, wo die Sagen der Hellenen und Hebräer begannen; daß die ganze Hinterlassenschaft der romanischen und germanischen Völker erst hat wieder entdeckt werden müssen, und so erst eine Kontinuität der Geschichte hergestellt worden ist; daß durch die Erschließung der Sprache Indiens nicht nur eine neue Litteratur bekannt geworden, sondern die Sprachwissenschaft [169] überhaupt erst entstanden ist, und durch sie der Blick in ungemessene Zeiträume eröffnet, von denen keine Überlieferung dauern konnte – oder doch eine, in den Überresten vorgeschichtlichen Lebens in Wohnplätzen und Gräbern. Und indem diese Reste sorgfältig durchforscht werden und dazu herangezogen, was kundige Beobachtung an primitiven Völkern der Gegenwart gewonnen hat, gelingt es, selbst in das Seelenleben der Menschen der Urzeit hineinzublicken und so tiefe Probleme wie die Genesis der Religion aufzuwerfen. Dazu leihen sich was man als Natur- und Geschichtswissenschaft unterscheidet einträchtig die Hand. So zeigt sich an einem Beispiel, das sich zufällig bietet, daß die beliebte Zerspaltung der Wissenschaft unhaltbar ist. Die Verschiedenheit der gerade angepackten Objekte macht für die wissenschaftliche Methode nichts aus. Auf das erste, die Gewinnung des Materiales, muß immer die Analysis folgen. Wir verhören das einzelne Objekt und entlocken ihm mit allen Mitteln, was es uns irgend aussagen kann. Zu diesen Mitteln gehört die experimentelle Untersuchung so gut wie die philologisch-historische Kritik. Dann kommt die Synthesis der an den Einzelobjekten gewonnenen Erkenntnisse. Da wird das Ergebnis sich bald als ein Gesetz darstellen: das kann so gut ein Naturgesetz sein wie das, nach dem ein Dichter seine Verse gebaut hat: bald wird sich die Reihe der geordneten Objekte durch die nachschaffende Phantasie als ein vergangener Werdeprozeß darstellen. Dieselbe Thätigkeit des Geistes liest die Entstehung der Erdrinde in der Lagerung und den Gesteinen ihrer Schichten, und in den sachlichen und sprachlichen Differenzen ihrer Schichten die Entstehung der Ilias. Man hat wohl gesagt, daß die Sprachwissenschaft durch die Entdeckung der Gesetze des Lautwandels eine Naturwissenschaft geworden wäre; man könnte mit gleichem Rechte sagen, daß Darwin die Naturwissenschaft historisiert hätte. Beides ist im Grunde ein leeres Gerede, weil die Wissenschaft eine Einheit ist.

Das ist sie, weil ihr Objekt im Grunde eines ist, das [170] einige anfangs- und endlose Leben, das Ewigganze, das nur unserer Endlichkeit zum Vielen wird. Weil sie eine Einheit ist, weckt sie auch in allen Seelen, in die ein Strahl von ihr fällt, denselben gesteigerten Menschensinn, erhebend vom Vielen zum Ganzen. Die Summe dessen, was wir verstehen, bleibt immer verschwindend gegenüber dem, was wir zu verstehn uns vergeblich sehnen. Aber daß die Summe der von der Wissenschaft erleuchteten und erweckten Seelen so groß geworden ist, wie es vor hundert Jahren auch der Kühnste nicht zu ahnen wagte, darauf dürfen wir die Hoffnung gründen, daß die Menschenkultur bestehn und wachsen werde. Denn allen diesen Seelen ist es aufgegangen, daß des Menschen edelste Kraft nicht ihm gehöret, sondern der Menschheit. Jede Wahrheit wird Gemeingut, sobald sie ausgesprochen ist. Was verschlägt es, wer sie zuerst aussprach? Die Quelle verrinnet im Bache, die Bäche im Strome, und aller Ströme Wasser verrinnen im ewigen Meere. So in der Wissenschaft. Wie darf sich da ein einzelner oder ein Volk berühmen, dieser Tropfen, diese Welle stammet von mir? Aber das Gefühl der Bescheidung, das freilich jeden einzelnen übermannet, und auch dem Volke und der Generation und dem Jahrhundert das dünkelhafte „wie wir’s so herrlich weit gebracht“ verwehrt, drückt nicht nieder, sondern erhebt. Denn an dem Anschauen des ewigen Seins, wenn auch das göttliche Licht dem irdischen Auge nur im farbigen Abglanze des Werdens wahrnehmbar ist, hat der Mensch das wahrhaft menschliche Leben. In der Quelle, die ihn tränkte, dem Baume, dessen Früchte ihn nährten, im Sturme, der ihn umbrauste, der Sonne, die ihn wärmte, empfand der Mensch der Urzeit die wirkende übermenschliche Kraft, offenbarte sich ihm die Gottheit. Alles war ihm Wunder, jedes Wunder unmittelbar eines Gottes Werk. Wissenschaft ward, als der göttliche Drang zur Erkenntnis der Wahrheit in den Seelen ionischer Männer fortzuschreiten wagte vom Vielen zum Einen, da sie die Einheit alles Lebens erkannten. Wodurch? Dadurch, daß [171] sie ihre Augen aufhoben zum Himmel und die ewige Stetigkeit im Wandel seiner Welten wahrnahmen. Und was sie schauten und verkündeten, war Kosmos, war Harmonie. Jahrhunderte und Jahrtausende sind vergangen, Jahrhunderte und Jahrtausende werden vergehen. Die Menschheitsgeschlechter haben gerungen und werden ringen, Kosmos und Harmonie in allem großen und kleinen, Natur- und Seelenleben zu finden und zu zeigen. Ergründen werden sie nimmer die ewige Schöne und Weisheit. Und wie erhaben der Mensch der Gegenwart sich dünke, weil er die Kraft des Stromes zwingen kann, daß sie ihm frone als Licht oder Wärme oder Bewegung, desselben Stromes, dem sein Urahn mit furchtsamem Gebete ein Füllen opferte, die Gottheit gnädig zu stimmen: dasselbe Gefühl irdischer Ohnmacht bindet sie beide. Geschwunden ist nur die Furcht, seit dem Auge der Seele der ewige Kosmos aufgegangen ist, ihrem Ohre vernehmlich geworden die heilige Harmonie. Geblieben und gewachsen sind Andacht und Ehrfurcht, und an jedem Erdentage lehrt die Wissenschaft einzustimmen in den Sang der Erzengel vor dem Angesicht des Unsichtbaren:

Dein Anblick gibt den Engeln Stärke,
weil keiner dich ergründen mag,
und alle deine hohen Werke
sind herrlich wie am ersten Tag.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pletz