Neues von Goethe’s Friederike
[594] Neues von Goethe's Friederike. Im denkwürdigen Pfarrhause des elsässischen Dorfes Sessenheim – nicht „Sesenheim“, wie der Ort nach dem Vorgange Goethe’s irrthümlich genannt wird – waltet seit sechszehn Jahren Herr Philipp Ferdinand Lucius seines Amtes als wackerer Pfarrer der dortigen protestantischen Gemeinde. Die Stellung ist von altersher eine behagliche, und von dem Hauptleiden vieler Dorfgeistlichen, der Vereinsamung und dem Mangel an Verkehr mit der Außenwelt, hat der Mann bis jetzt nur das Gegentheil zu empfinden gehabt. Ist doch sein Ort wie sein Haus immer mehr und mehr ein Wander- und Wallfahrtsziel jenes modernen Heroen- und Verehrungscultus geworden, in welchem das Gemüth unserer ringenden und gährenden Zeit gern Erquickung und Trost sucht für manches rauhe Ungemach und Wirrniß ihrer Wirklichkeit. Aus der Nähe und aus der Ferne, aus allen Gegenden und Ländern Deutschlands und des Auslandes kommen fortwährend zahlreiche Pilger nach Sessenheim, um andächtig auf den Stätten zu weilen, wo vor nunmehr länger als hundert Jahren der erhabenste dichterische Genius unseres Volkes den kurzen Traum seiner ersten wahren Jugendliebe geträumt. Seit Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ so wunderbar innig und zugleich so reuevoll von seiner Liebe zu der Sessenheimer Friederike, von ihren Angehörigen und ihrer Heimath erzählte, ist der sonnige Glanz und Reiz dieses Frühlings- und Sommeridylls nicht wieder aus den Erinnerungen seiner Verehrer geschwunden. Kaum hat er wohl selber geahnt, daß er mit diesem Bekenntniß einen so mächtigen Zauber in die Seelen strahlen und dem obscuren Oertchen einen Ruhm verschaffen würde, als ob dort Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung sich zugetragen hätten.
Der Pfarrer von Sessenheim befindet sich also auf einem sehr stark ausgesetzten Posten und muß den Pflichten eines Nebenamtes genügen, das der unablässige Zuspruch der Fremden in seinem Wohnhause ihm auferlegt. Einem Handwerkstheologen des gewöhnlichen Schlages würde das lästig werden, Herr Lucius ist aber glücklicher Weise ein ideal gerichteter, geist- und gemüthvoller, von Grund aus deutsch gebildeter Mann, der den vielen an ihn gerichteter Fragen von vornherein eine eigene, dem Studium deutscher Wissenschaft und Literatur erwachsene Empfänglichkeit entgegenbrachte. Die Fragen ermüdeten ihn nicht, sondern spornten nur seine Wißbegierde und seine kritische Begabung zu so emsigen Nachforschungen an, daß er schon 1871 seinen ersten gewichtvollen Beitrag zur Klarstellung der Friederiken-Episode in der „Gartenlaube“ veröffentlichen konnte. Gern erinnern wir uns noch der lebhaften Theilnahme, mit welcher diese interessanten Mittheilungen damals aller Orten begrüßt wurden. Seitdem ist aber dem Verfasser allmählich wiederum eine große Anzahl bisher noch unbekannter Nachrichten zugegangen, und es sind dadurch seine früheren Berichte so weit ergänzt, seine bisherigen Ermittelungen und Prüfungen so weit vervollständigt worden, daß er nunmehr an eine ausführliche Verarbeitung des ganzen ihm zu Gebote stehenden Materials denken konnte. Unter dem Titel „Friederike Brion von Sessenheim“ ist die Darstellung soeben (bei Heitz in Straßburg) herausgegeben, und man darf ihr wohl prophezeien, daß sie fortan unter den Erscheinungen der großen Goethe-Literatur einen hervorragenden Ehrenplatz behaupten wird.
Herr Lucius behandelt seinen delicaten Gegenstand mit der nüchternen Sorgfalt und diplomatischen Genauigkeit eines gewissenhaften Historikers, aber sein Forschersinn ist zugleich ein feiner und seelenvoller; er läßt den Blumen, die ihm auf seinem Wege entgegenblühen, alles Süße ihres Duftes und zerrupft sie nicht mit plumper Hand. Durch das nach strengster Wahrheit suchende Buch weht vielmehr ein Hauch sinniger Lieblichkeit, ein Ton milder und erwärmender Anmuth, welcher der Natur des Stoffes durchaus entspricht. Wird Goethe nicht von schwerer Verschuldung freigesprochen, so ist der Autor doch weit entfernt, an den zu den höchsten Aufgaben berufenen Genius die Maßstäbe des trivialen Moralisten und engherzigen Sittenrichters zu legen. In ernsten Worten läßt er über das Maß dieser Verschuldung sich aus, aber mehr noch als in den darauf bezüglichen Stellen liegt das Gericht über die Handlungsweise Goethe's in dem ergreifenden Eindrucke der ganzen Schilderung. In Bezug auf die Stärke, den Adel und Hochsinn des Charakters sehen wir den aufgehenden Stern des Dichterjünglings überstrahlt von der schlichten Herzenstiefe und Entsagungskraft des holdseligen Landmädchens, die ihn bezaubert und der er in Momenten unbedachten Seelenrausches für immer das Herz gebrochen hatte. Sollen wir eine Sühne dieses Verhängnisses in der Unsterblichkeit Friederikens finden, die sie mit dem Opfer ihres ganzen Lebensglückes bezahlte, sollen wir diese Sühne in dem Umstande finden, daß es der Abglanz von dem Wesen des Sessenheimer Pfarrerkindes ist, der immer wieder den dichterischen Frauenbildern Goethe's ihren unvergänglichen Reiz verleiht, während er selber niemals wieder das Glück und den Frieden einer wahren Liebe gefunden hat?
Zu solchen Betrachtungen bleibt uns an dieser Stelle kein Raum; Anregung dazu ist in dem ebenso anspruchslosen wie schönen Werkchen von Lucius hinlänglich gegeben, dem wir die weiteste Verbreitung wünschen, da es nach der literarischen, wie nach der poetischen und sittlichen Seite hin eine wohlthuende Wirkung üben wird. Auch äußerlich hat der Inhalt durch die Sorgfalt der Verlagshandlung ein besonders anziehendes Gewand empfangen, und als interessantes Curiosum sei noch erwähnt, daß das so geschmackvoll ausgestattete Buch in derselben Officin hergestellt worden ist, wo einst bei dem Urgroßvater des Herrn Heitz die Straßburger Doctor-Dissertation Goethe's gedruckt wurde.