Neue Bahnen (Die Gartenlaube 1896)
Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.
In unserm verkehrslustigen Zeitalter häufen sich mit fast erschreckender Geschwindigkeit die Erfindungen für die Personenbeförderung. Wagen, Bahnen, Schiffe, Fahrräder und Fahrstühle erhalten neue Formen oder neue Verwendungszwecke. Viele dieser Erfindungen haben sich die Anerkennung noch nicht erstritten. So suchen die Erfinder denn ihre Neuerungen im kleinen dem Publikum vorzuführen und wählen dazu mit Vorliebe die modernen Ausstellungen in unseren Großstädten. Andere Neuerungen wiederum sind im Grunde genommen weiter nichts als geistreiche Spielereien, dazu bestimmt, die Volksmassen zu belustigen und zu unterhalten. Auch die Erfinder dieser „Neuheiten“ stellen sich auf den Ausstellungen ein und finden dort in der That ein dankbares Publikum und – was ihnen die Hauptsache ist – ihre Rechnung.
Die große Berliner Gewerbeausstellung hatte auf diesem Gebiete manches Originelle aufzuweisen. Es tauchten auf ihr einige neue oder bisher nur wenig bekannte Bahnen auf, die, sei es im Ernst, sei es im Spiel, ein so großes allgemeines Interesse erweckten, daß sie eine nähere Betrachtung wohl verdienen.
Unsere Zeitgenossen streben gern empor und sind eifrige Freunde schöner weiter Aussichten. Auf allen Berggipfeln baut man Aussichtstürme und auch auf den Ausstellungen dürfen dieselben nicht fehlen. Je höher sie sind, je weiter und umfassender sich der Ausblick von ihren Zinnen gestaltet, desto größer ist der Zulauf. Das Treppenklettern ist jedoch nicht jedermanns Liebhaberei und für den müden Ausstellungsbesucher auch zu beschwerlich. Er will mühelos hinaufbefördert werden, und darum müssen die Türme mit Fahrstühlen ausgestattet werden. Einen besonderen Reiz übt aber ein solcher Aussichtsturm aus, wenn der Fahrstuhl von den gewöhnlichen Mustern abweicht und das Verweilen in demselben während der Auffahrt Bequemlichkeit und einen „noch nie dagewesenen“ Genuß bietet. Etwas derartiges ist nun in diesem Jahre auf der Berliner Ausstellung durch die elektrische Turmbahn geschaffen worden. Unsere nebenstehende Abbildung giebt eine Ansicht derselben wieder. Inmitten einer großen Rotunde, die natürlich eine Restauration enthält, steigt ein schlanker Turm bis zu der Höhe von 60 m auf. Um den Turm hängt, wie der Ring um einen Finger, leicht und elegant ein kreisförmiger Fahrstuhl. Das Eigentümliche der neuen Beförderung liegt in der doppelten Bewegung, die der Fahrstuhl ausführt. Während er langsam seiner stolzen Höhe zustrebt, beschreibt er eine aufsteigende Schraubenlinie und dreht sich somit fortdauernd um seine Axe. Der Beobachter, der in dem Fahrstuhl sitzt, ist somit in der Lage, während sein Blick weiter und weiter schweift, stets neue Landschaftsbilder zu bewundern, die sich vor ihm aufschließen. Er empfängt geradezu den Eindruck, als ob er frei im Raume schwebe.
Der schlanke Turm, der in der luftigen Eisenkonstruktion einen äußerst eleganten Eindruck macht, wurzelt in energischer Weise in dem Erdboden. Und wenn der Sturm noch so stark an seinem Fuße rütteln wollte, er würde nichts vermögen; denn der Turm ist an 90 stählernen Ankern und mächtigen Trägern gefesselt, und schon das Gewicht seines Fundamentes, das allein 400000 kg ausmacht, widerstrebt jeder Erschütterung. Außerdem wurden noch 350000 kg Eisen zum Aufbau des Turmes verwendet. In dem Fahrkorb, der von acht mächtigen Stahldrahtseilen gehalten wird, können 60 Personen befördert werden; er hat einen Durchmesser von 12 m und wird durch ein Gegengewicht von 38000 kg, das aus Bleiplatten besteht, im Gleichgewicht erhalten. Zur Bewegung der fast 1500 Centner wiegenden Last dienen Elektromotoren, welche 40 Pferdekräfte entwickeln.
Wenn die elektrische Turmbahn die Schaulust in hohem Maße befriedigt, so ist eine andere Erfindung, die Wasserbahn, wohl geeignet, das Entzücken derjenigen hervorzurufen, die ihrem Vergnügen gern etwas Uebermut beizumengen pflegen. Im Vergnügungsparke der Berliner Ausstellung lag das Wirtshaus zur Alm. Von seinen geschnitzten Balkons aus konnte der Besucher erstaunt oder belustigt auf ein merkwürdiges Schauspiel herabschauen, das durch unsere Abbildung auf S. 716 vergegenwärtigt wird. An einer künstlichen „Gebirgswand“ erhebt sich unter bedeutender Steigung eine 36 m lange Bahn bis zur Gipfelhöhe von 12 m. Der Neugierige, der die Wunder der Wasserbahn an seinem eigenen Leibe erfahren möchte, besteigt ein Boot am See und wird mit wenigen Ruderschlägen der auf unserm Bilde am Drahtgitter befindlichen Stelle zugeführt, von der aus ein Fahrstuhl das Boot in die Höhe trägt. Außerdem führt eine Treppe zum obersten Stockwerk der Bahn. Das Boot besitzt vier am Rande ausgekehlte Rollen und bildet gewissermaßen den Uebergang zwischen Land- und Wasserfahrzeugen. Auf der Höhe des Fahrstuhles setzen die Bootsrollen in Schienen ein und dann saust das Fahrzeug mit großer Geschwindigkeit in die Tiefe. Mit gewaltigem Geräusch und wildem Aufschäumen des Wassers stürzt es endlich in den See. So ist hier die Wasserbahn mit der Rutschbahn verbunden.
Viel wichtiger ist die dritte Bahn, die wir unseren Lesern vorführen: die elektrische Stufenbahn, die zuerst auf der Weltausstellung in Chicago und dann auch auf der Berliner Gewerbeausstellung in Betrieb gesetzt wurde. In ihr haben wir keine bloße Spielerei vor uns, sondern vielmehr ein neues [715] Beförderungsmittel, das nach Ansicht vieler Fachmänner berufen sein dürfte, den Verkehr in den Großstädten noch vollkommener zu gestalten.
Die kleine Versuchsanlage in Berlin machte im Aeußeren auf den ersten Blick den Eindruck eines Riesenkarussells. (Vgl. die nebenstehende Abbildung.) Bestieg man den Perron, so hatte man vor sich eine sehr große Zahl von Bänken, die sich in weiter in sich selbst geschlossener Kurve immer nach der gleichen Richtung und mit derselben Geschwindigkeit bewegten. Diese Bänke eilen dahin mit der Schnelligkeit unserer elektrischen Straßenbahnen und halten gar nicht an. Trotzdem können Fahrlustige dieselben mit aller Bequemlichkeit besteigen oder verlassen. Dies ist infolge einer sinnreichen Einrichtung möglich. Betrachten wir die Anlage der Stufenbahn genauer, so sehen wir, daß sie aus zwei Plattformen besteht. Die erste, die nach innen zu gelegen ist, bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde, also ebenso schnell wie ein gut vorwärts schreitender Fußgänger. Die zweite, die den äußeren Ring bildet, liegt einige Centimeter – eine Stufe – über der ersten und eilt ununterbrochen doppelt so schnell, also 10 km in der Stunde dahin. Es ist nun klar, daß es überaus leicht ist, die erste langsam fortschreitende Plattform zu besteigen oder zu verlassen, sobald man sich nur in der Fahrtrichtung hält. Mit derselben Bequemlichkeit können wir ja auch einen nicht zu geschwind dahinfahrenden Trambahnwagen besteigen oder von ihm abspringen. Steht nun der Fahrgast auf der inneren Plattform, so bewegt er sich mit dieser fort, sein Körper hat bereits eine Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde und die äußere, mit Bänken besetzte Plattform läuft für ihn eigentlich nur mit einer Geschwindigkeit von gleichfalls 5 km in der Stunde vorwärts. Sobald also der Fahrgast in der Fahrtrichtung fortschreitet, kann er mit derselben Gemächlichkeit die schneller kreisende Plattform besteigen. In gleicher Weise wird auch das Verlassen der Bahn erleichtert.
Sehr originell ist der innere Mechanismus der Stufenbahn. Um ihn zu verstehen, wollen wir zunächst die Bewegung eines gewöhnlichen Wagenrades beobachten. Der Wagen steht still auf der Straße. Wir machen auf ihm mit der Kreide zwei Punkte, den einen auf der Wagenachse, den anderen am äußeren Umfang des Rades, am Radkranze. Nun setzen wir den Wagen in Bewegung, das Rad rollt und wir beobachten die Punkte. Wir bemerken sofort, daß der Punkt am Radkranze doppelt so schnell sich bewegt als der an der Achse; denn während die Achse nur in der Richtung der Straße fortschreitet, legt der Punkt am Radkranze zwar dieselbe Strecke zurück, beschreibt aber zu derselben Zeit noch einen Kreis um die Achse. In der Stufenbahn werden nun die Bewegungen der Achse und des Radkranzes für sich getrennt ausgenutzt.
Das geschieht in folgender Weise. Die Stufenbahn hat zunächst ein Schienengeleise wie die gewöhnlichen Bahnen. Auf diesen Schienen sind nun vierrädrige Wagen aufgestellt, die dicht aneinander gekoppelt sind und durch Elektrizität fortbewegt werden. Die Radkränze sind ausgekehlt, so daß sie die Schienen umfassen. Auf den Achsen dieser Wagen ruhen Gerüste, die nach der Innenseite der Bahn überstehen (vergl. oben die Abbildung „Querschnitt [716] der Plattform“). Dieselben tragen die einzelnen Platten, aus denen sich die innere Plattform zusammensetzt. Diese Gerüste haben, wenn die Wagen fahren, die Geschwindigkeit der Achse und diese beträgt bei unserer Stufenbahn 5 km in der Stunde.
Der Aufbau der äußeren Plattform gestaltet sich im wesentlichen folgendermaßen. Wir haben zunächst für dieselbe ein Geleise, das aus zwei ineinandergeschlossenen, endlosen, aber aus einzelnen Stücken zusammengesetzten Schienen besteht. Diese Schienen liegen oben in den Kehlen der Wagenräder. Setzen wir nun die elektrischen Wagen in Bewegung, so werden auch die Schienen durch die Reibung an den Radkränzen fortbewegt, sie laufen darum auch doppelt so schnell als die Achsen; bei der Stufenbahn also mit einer Geschwindigkeit von 10 km in der Stunde. Auf diesem Schienengeleise sind nun die Platten befestigt, die sich zu der äußeren schneller kreisenden Plattform zusammenfügen. Die von uns abgebildete Stufenbahn setzte sich aus 122 Wagen und 124 Einzelplatten zusammen; ihre Gesamtlänge betrug 500 m.
Würde nun die Stufenbahn, falls sie im großen ausgeführt
werden sollte, sich nutzbringend erweisen? Für verkehrsreiche
Großstädte ist die Frage ohne Zweifel zu bejahen. Auf den Linien unserer Straßenbahnen verkehrt nur in Pausen von mehreren Minuten ein Wagen und hält nur an bestimmten Punkten. Das sind Uebelstände, die für das eilige Publikum mit Zeitverlusten verbunden sind. Die Stufenbahn ist frei von den genannten Uebelständen. Sie rollt unaufhörlich, zu jeder Zeit, an jedem Punkte der Strecke kann sie bestiegen oder verlassen werden.
Fürwahr, ein idealeres Beförderungsmittel läßt sich kaum denken!
Aus Rücksicht auf den Verkehr könnten Ringbahnen nach diesem
System natürlich nur als Hoch- oder Tiefbahnen ausgeführt werden. F. B.