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Napoleon III. und der Krieg von 1870

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Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Napoleon III. und der Krieg von 1870
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 515–516
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[515] Napoleon III. und der Krieg von 1870. Die Verantwortung für den blutigen Krieg, welcher den Deutschen wie den Franzosen so große Opfer gekostet, wird stets auf Napoleon III. lasten, in dessen Händen ja die maßgebende Entscheidung über Krieg und Frieden lag. Gleichwohl war schon immer die Meinung verbreitet, daß er wider seinen Willen durch seine Umgebung zum Kriege gedrängt worden ist. In der vor Kurzem erschienenen Schrift: „Journal de dix ans“, giebt Fidus, der sich schon auf dem Titel derselben als einen Imperialisten bezeichnet, über die Vorgänge vor der Kriegserklärung Aufschlüsse, welche jene Meinung vollkommen bestätigen und die er selbst von einem der damaligen Minister, Louvet, erhalten hat; außerdem sind sie ein neuer Beweis für den alten Satz: „Kleine Ursachen, große Wirkungen.“ Fidus erzählt, daß das Ministerkonseil sich in den Tuilerien versammelt hatte, als der Krieg wegen der spanischen Angelegenheit, des Thronanspruchs der Hohenzollern, in Sicht zu sein schien; daß die Sitzung acht Stunden dauerte; denn man wollte sich nicht trennen, ehe der bittere Kelch vorübergegangen war. Alle waren im höchsten Maße niedergeschlagen und zeigten dies in Worten und Mienen; man wußte überdies, daß der Kaiser und die Kaiserin über diesen Krieg, den man Frankreich nach der Ansicht des Herrn Fidus aufdrängte, verschiedener Meinung waren. Der Kaiser glaubte, Preußen wolle den Krieg; er werde, wenn man sich heute nicht dafür erkläre, nur aufgeschoben sein; man müsse sich dazu entschließen; aber er zitterte vor den Folgen. Er war krank, die Krankheit lähmte oft seinen Geist; gern hätte er den Kampf vermieden, doch er wollte ihn nicht für spätere Zeit seinem dann vielleicht noch minderjährigen Sohn als ein verhängnißvolles Vermächtniß hinterlassen. Wenn der Kaiser schwankte, war die Kaiserin desto entschlossener.

Höchst mißvergnügt über die letzten liberalen Zugeständnisse des Kaiserthums hoffte sie, der Kaiser, heimkehrend an der Spitze eines siegreichen Heeres, werde zu der Gewaltherrschaft von 1852 zurückkehren, sich von seinen liberalen Ministern lossagen, sein altes Ansehen, seine alte Macht wiedergewinnen. In der langen Kabinetssitzung, wo Niemand aus noch ein wußte, erhob sich plötzlich der Herzog von Grammont mit dem Vorschlage, einen Kongreß zusammenzuberufen, welcher über den Standpunkt endgültig entscheiden solle. „Wie diese Entscheidung ausfallen mag, wir werden gedeckt und der Krieg wird vermieden sein. Wenn der Kongreß will, daß der Prinz von Hohenzollern in Spanien regiere, wir haben dabei nichts zu fürchten, man kennt das spanische Volk; die Regierung des Prinzen wird von kurzer Dauer sein, und wir haben uns nichts vorzuwerfen. Der Kongreß ist nicht der Krieg, er ist der Frieden.“ Dieser Vorschlag begeistert die Anwesenden, erleichtert alle Herzen; er wird einstimmig angenommen. „Das ist die Rettung,“ sagt der Kaiser und beauftragt Ollivier, augenblicklich der Kammer diesen Entschluß mitzutheilen; die Sitzung dauere noch fort; er solle in den Salon nebenan gehen, eine kurze Erklärung redigiren, sie dem Konseil vorlesen und sie dann sogleich der Kammer mittheilen. Ollivier geht in den Salon, bleibt dort ziemlich lange Zeit und, mochte er nun übermüdet oder schlecht aufgelegt sein, bringt eine gänzlich verfehlte Erklärung mit sich, von der Niemand befriedigt ist und die ihm selbst ungenügend erscheint. So verschiebt man die Entscheidung auf den nächsten Tag, Ollivier soll in Muße die Erklärung ausarbeiten. Der Kaiser fährt nach Saint-Cloud, von kriegerischen Rufen der Menge begleitet. Dort findet er die Kaiserin und ihre Umgebung in erregter Stimmung; man sprach von dem Artikel der deutschen Zeitungen, demzufolge der König von Preußen Benedetti verabschiedet habe mit [516] den Worten, er habe ihm nichts mehr zu sagen. Die Deputirten und Senatoren, welche die Kaiserin umgeben, sind aufs Höchste erbittert: darauf könne man nur mit einer Kriegserklärung antworten; es wäre schimpflich zu zögern oder zurückzuweichen. Die Kaiserin ist Feuer und Flamme mit ihrem spanischen Stolze, ihrer glühenden Leidenschaftlichkeit; der unglückliche Kaiser, der frohen Muthes von den Tuilerien abgefahren war, erkennt augenblicklich die unvermeidlichen Folgen der neuesten Nachricht: der Kongreß ist jetzt unmöglich. Sein Gemüth verdüstert sich wieder. Dennoch denkt er noch an andere Mittel, den Krieg zu vermeiden; er ruft seine Minister Abends um 11 Uhr nach St. Cloud zu neuer Berathung. Wieder ein Mißgeschick: man hat vergessen, Louvet hinzuberufen, und ein zweiter Minister, der leidend war, machte eine Spazierfahrt im Bois, fand die Einladung zu spät vor und konnte erst gegen Morgen kommen. Und das waren die beiden Minister, die für den Frieden stimmten. Als sie am andern Morgen kamen, gelang es ihnen, noch zwei andere für ihre Ansicht zu gewinnen, doch die Mehrheit stimmte für den Krieg. „Der Kaiser,“ sagt Fidus, „fügte sich dem Beschluß seiner Minister, ohne seinen Willen und seine entgegengesetzte Ansicht in die Wagschale zu werfen; er fügte sich, aber mit schwerem Herzen, den starren Blick auf die düstere Zukunft gerichtet, die vor ihm auftauchte. Von jetzt ab beschloß er, in sein Schicksal ergeben, persönlich sich am Kriege zu betheiligen, trotz seines Leidens. Und wie schwer war dies Leiden! Es war die Krankheit, die ihn seit mehreren Jahren heimsuchte, an der er starb, und als er von St. Cloud abreiste, da sah man’s an seinem traurigen Lebewohl, an seinem Schweigen, an seiner stillen Ergebung, daß er wußte, er werde dies Schloß nicht mehr wiedersehen, er gehe, um nie zurückzukommen.

Nach dieser Darstellung hätten wir Deutschen dem Herzog von Grammont viel abzubitten, der bei uns für den Haupturheber des Krieges gilt und der doch einen Vorschlag machte, welcher vielleicht den Frieden retten konnte. Die Hauptschuld an dem Kriege aber trägt der Minister Ollivier, dem die Aufregung das Koncept verdorben hatte, und der, sonst ein glücklicher Improvisator, in jenem verhängnißvollen Augenblicke nicht die rechten Worte finden konnte, um den Kongreßvorschlag des Kabinets der Kammer annehmbar zu machen. Ein schlecht disponirter Minister, der zur rechten Zeit nicht glücklich zu stilisiren versteht – und darum hunderttausend Todte und Verwundete! Eine versagende Feder – und darum einer der größten Kriege der Neuzeit! Wir müssen freilich Fidus und seinem Gewährsmann die Verantwortung für diese Darstellung überlassen. Daß Kaiser Napoleon aber nichts weniger als kriegslustig war und daß von ihm selbst durchaus nicht die Initiative zur Kriegserklärung ausging, das bestätigen auch andere Mittheilungen. Rudolf von Gottschall.