Morgenklagen
[164]
Morgenklagen.
O du loses, leidigliebes Mädchen,
Sag mir an, womit hab’ ich’s verschuldet,
Daß du mich auf diese Folter spannest,
Daß du dein gegeben Wort gebrochen?
Mir die Hände, lispeltest so lieblich:
Ja, ich komme, komme gegen Morgen
Ganz gewiß, mein Freund, auf deine Stube.
Angelehnet ließ ich meine Thüre,
Und mich recht gefreut, daß sie nicht knarrten.
Welche Nacht des Wartens ist vergangen!
Wacht’ ich doch und zählte jedes Viertel:
Schlief ich ein auf wenig Augenblicke,
Weckte mich von meinem leisen Schlummer.
[165] Ja, da segnet’ ich die Finsternisse,
Die so ruhig alles überdeckten,
Freute mich der allgemeinen Stille,
Ob sich nicht ein Laut bewegen möchte.
„Hätte sie Gedanken wie ich denke,
Hätte sie Gefühl wie ich empfinde,
Würde sie den Morgen nicht erwarten,
Hüpft’ ein Kätzchen oben über’n Boden,
Knisterte das Mäuschen in der Ecke,
Regte sich, ich weiß nicht was, im Hause,
Immer hofft’ ich deinen Schritt zu hören,
Und so lag ich lang’ und immer länger,
Und es fing der Tag schon an zu grauen,
Und es rauschte hier und rauschte dorten.
[166] „Ist es ihre Thüre? Wär’s die meine!“
Schaute nach der halb erhellten Thüre,
Ob sie nicht sich wohl bewegen möchte.
Angelehnet blieben beyde Flügel
Auf den leisen Angeln ruhig hangen.
Hört’ ich schon des Nachbars Thüre gehen,
Der das Taglohn zu gewinnen eilet,
Hört’ ich bald darauf die Wagen rasseln,
War das Thor der Stadt nun auch eröffnet,
Des bewegten Marktes durch einander.
Ward nun in dem Haus ein Gehn und Kommen,
Auf und ab die Stiegen, hin und wieder
Knarrten Thüren, klapperten die Tritte;
Mich noch nicht von meiner Hoffnung scheiden.
[167] Endlich, als die ganz verhaßte Sonne
Meine Fenster traf und meine Wände,
Sprang ich auf, und eilte nach dem Garten,
Mit der kühlen Morgenluft zu mischen;
Dir vielleicht im Garten zu begegnen:
Und nun bist du weder in der Laube,
Noch im hohen Lindengang zu finden.