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Montblanc (Roman)

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Textdaten
Autor: Rudolph Stratz
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Titel: Montblanc
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21–28, S. 646–655, 677–682, 709–719, 741–750, 773–781, 806–819, 837–847, 870–876
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman
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Montblanc.

Roman von Rudolph Stratz.


1.

Vorwärts – vorwärts! Unter den Hufen gleitet der Boden mit seinem zischelnden Zwergpalmengestrüpp und den weißblumigen Dornenhecken im Fluge dahin, vor den Augen tanzen Turbane und Flintenläufe, flatternde Mäntel und bezopfte Kabylenschädel, um die Ohren brandet in Sturmstößen der Höhenwind Marokkos, wie er von den wildgezackten, wolkenumzogenen Bergklippen des Kleinen Atlas hernieder in die Thäler fährt.

Vorwärts im grauen Abenddämmern auf schaukelndem Sattel, unter sich die unermüdlich galoppierende weiße Berberstute, hinter sich die kleine Karawane mit ihrem Rossegetrampel und Maultiergeschnarch und dem stöhnenden „Aerra – ärra! rrrrschât!“ der treibenden Knechte, und da vorne die weite Welt …

„Aerra! – ärra!“ Hinten klatscht es von Peitschenhieben. Die Galoppsprünge werden länger, schneidender pfeift der Abendhauch um die Ohren. Unter den Hufen fliegt der Boden, am Himmel fliegen die Wolken, rechts und links zieht einsam, gestrüppbewachsen, nebelumsponnen die Bergwüste wie ein Wandelbild dahin.

„Achtung, Herr!“ schrie von hinten mit gellender Stimme der maurische Diener und riß, sich im Sattel zurückwerfend, sein Pferd in die Höhe. Die Berberknechte thaten ebenso. Aufgeregt prustend, mit gespitzten Ohren drehten sich die Gäule in einem Wirbel umeinander und starrten aus ihren großen, feurigen Augen auf die schwarze Masse, die, schwerfällig den Berg niedertrollend, sich der Wildnis der Agavenhecken und des Zwergpalmengebüschs entwand.

Der Stier, der da zum Vorschein kam, war nicht weniger erschrocken. Er hatte friedlich gegen Abend zur Tränke ziehen wollen, jenem Abhang zu, an dessen Rand der Reitpfad sich hinzog, und sah sich nun unvermutet einem ganzen Schwarm von Feinden gegenüber. Fliehen war die Sache des stämmigen Gesellen nicht. War er, der nirgends Händel suchte, nun einmal in das Abenteuer geraten, so mußte es auch ausgefochten werden. So stand der Bulle denn kampflustig da. Aus dem tiefgesenkten Haupte glühten, mißtrauisch hin und her rollend, die Augen, der linke Vorderhuf scharrte den Boden und ein langes Zorngebrüll stieg aus seiner Brust.

Die Berber und der Maure waren zur Seite geritten. Sie riefen und winkten ihrem Herrn zu. Man müsse umkehren! Ein paar hundert Schritte zurück, dann über den Fluß und auf der andern Seite weiter. Hier gehe es nicht! Wenn einer der sonst friedlichen Stiere einmal erschrocken sei, lasse er niemand vorbei!

„Unsinn!“ sagte der Fremde auf arabisch kurz und ohne sich nach seinem Diener umzudrehen. „Ich gehe nicht zurück! Ich muß nach Tetuan!“

Jussuf, der Maure, machte eine Gebärde der Ratlosigkeit zu den halbnackt auf ihren Pferden und Maultieren kauernden Berberknechten. Seit fünf Tagen – seit sie von Fez aufgebrochen – begleitete er den Herrn und hatte schon lange bemerkt, daß das keiner der üblichen englischen Gentlemen war, die, die Stummelpfeife im Mund, ein wenig in Marokko kreuz und quer zu reiten lieben. Nein, das war kein Brite, sondern ein ‚Pruß‘, ein Deutscher. Und er kam nicht, wie alle Welt, von Tanger her, mit dem Dampfboot aus Gibraltar, sondern aus dem Süden, weit, weit aus entlegenen Ländern jenseit des großen Sandes, hinter dem in Wäldern das schwarze Volk wohnt, das keine Pferde reitet und nichts von Allah weiß. Dieser Gentleman war etwas Besonderes. Es war nicht möglich, ihn, wie andere Reisende, zu beeinflussen. Wenn er sich im Sattel aufrichtete und über die Ohren seines Pferdes hinweg in die Ferne schaute, als ob er da allerhand unsichtbare Wunder entdecken wollte – dann war gegen sein gleichgültiges und kurzes „Vorwärts!“ ebensoviel auszurichten als mit Koransprüchen gegen den Stier, der zornmütig des Angriffs harrend am Wege stand.

Der Stier war dumm. Der Fremde aber hatte das Fieber, und das war beinahe noch schlimmer! Sonst wäre er wohl der unvernünftigen Kreatur ausgewichen. Jetzt aber siedete das Blut in seinen Adern und zudem hatte er – Jussuf wußte es wohl – um sich im Sattel zu halten und um jeden Preis heute noch nach Tetuan zu kommen, seine halbe Flasche voll Feuerwasser – Allah schütze jeden Rechtgläubigen vor diesem Teufelstrank! – im Laufe des Tages ausgetrunken.

Jussuf zuckte die Achseln. Schon die Marokkaner, mit denen der Preuße von Süden her, aus Marrakesch, gezogen war, hatten ihm berichtet, daß jener dort schwer krank angekommen und vorher, in dem großen Sande, fast dem Fieber erlegen sei. Denn dort drüben – jenseit der Sahara, wo die Wälder sind und das schwarze Volk wohnt, dort stieg ja aus dem Sumpfe das Fieber und warf die weißen Männer nieder, die da Elfenbein suchten, und die braunen Moslem, die Sklaven jagten, und die seltsamen Menschen nicht minder, die keines von beiden thaten, sondern ohne Ziel und Zweck, mit allerhand Zauberinstrumenten versehen, durch die Wildnis reisten und nicht müde wurden, zu fragen, wo dieser Fluß hinfließe und wie hoch jener Berg sei und was der unnützen Dinge mehr waren.

Jussuf machte noch einen Versuch. „Wir müssen umkehren, Herr!“ sagte er in schmeichelndem Tone auf arabisch und um seine Lippen spielte ein unterwürfiges Lächeln.

Der Fremde sah ihn an und lächelte ebenfalls unter dem dunklen, langen Schnurrbart. Aber in seinen Augen war etwas, wovor Jussuf Angst bekam: etwas Stählernes, Unzähmbares, wogegen es gar keinen Widerspruch gab.

„Umkehren?“ frug, ebenfalls auf arabisch, der Forschungsreisende verwundert und brannte sich, die Zügel mit der Linken lüftend, eine Cigarette an. „Du weißt doch, Jussuf: ich muß auf dem nächsten Weg nach Tetuan!“

„Aber wie sollen wir an dem Stier vorbei?“

„So!“

Der Fremde gab seiner Berberstute die Sporen und drängte sie, im Schritt, um den Bullen nicht zu erschrecken, nach vorn. Hinter sich hörte er die Rufe seiner Begleiter.

„Gehe zurück, Herr!“ schrie der Maure. „Gehe zurück! Du wirst umkommen!“

„Da müßte ich schon lange beim Teufel sein!“ sagte der Reisende trocken und klemmte die Cigarette zwischen die Zähne. „Sieh doch, das Vieh ist ja viel zu verblüfft, um etwas zu unternehmen!“

In der That – der Stier stand unschlüssig da. Dicht vor dem Fuß des Vorbeireitenden pendelte sein mächtiges, horngekröntes Haupt brüllend hin und her, der Fuß scharrte und in den Augen leuchtete immer tückischer der böse Glanz.

Und plötzlich schien es, als werfe eine Gewalt von außen diese ganze schwere Masse mit einem Ruck nach vorn. In der Eingebung des Augenblicks hatte sich der Bulle zum Angriff entschlossen. Viel rascher als die ungeschlachte Gestalt ahnen ließ, schoß er, mit dem Kopfe fast den Boden streifend, auf den Feind los und hob, von unten her ausholend, Roß und Reiter mit aller Kraft seiner zottigen Wamme auf die Hörner.

Roß und Reiter überschlugen sich in dem furchtbaren und unvermuteten Anprall. Der Fremde hatte eben noch, als der Zusammenstoß erfolgte, sein Bein über den Sattel zurückgeschwungen, bereit, sich an der andern Seite niederfallen zu lassen. Aber es war zu spät. Das Pferd, das einen Augenblick vollständig frei auf dem Nacken des Stieres schwebte, glitt gleichzeitig von den Hörnern herab, überschlug sich und begrub seinen lang hinstürzenden Herrn unter seiner Last.

Nur eine Sekunde lag es über seiner Brust, dann sprang es, wie von einer Feder geschnellt, mit allen vier Beinen in die Höhe und blieb mit gespitzten Ohren, und am ganzen Leibe zitternd, sonst aber reglos stehen. Aus einer klaffenden Wunde im rechten Schulterblatt strömte das Blut und mit ihm das Leben. Als das edle Geschöpf zum zweitenmal umfiel, war es tot.

Der Stier hatte sich das mißtrauisch angesehen. Hörner, Stirne und Wamme dampften ihm in der kühlen Abendluft und bei seinem stoßweisen Gebrüll rauchte der heiße Atem vor den [647] Nüstern. Nun war der Feind tot – das vierbeinige, weiße Wesen da, das sich ihm sicherlich in böser Absicht genähert hatte! Um den Menschen, der darauf gesessen und nun reglos zwischen den Steinen lag, kümmerte sich der Bulle nicht. Für ihn war das Abenteuer erledigt. Wie von einer plötzlichen Angst ergriffen, setzte er sich in Trab, den Hang abwärts. Das Gebüsch krachte unter seinem schweren Trott, in den fleischigen Agavenstauden tauchte noch einmal der schwarze, hornüberwölbte Schädel empor, ein langgezogenes Abschiedsgebrüll, dann wurde es still.

*               *
*

Alles still bis auf das Wehen des Bergwindes und das leise Rauschen des Gestrüpps. Auf den klassisch schönen, düstergeschnittenen Gesichtern der Mauren und Berber lag sprachloser Schrecken und ihre großen sanften Augen spähten angstvoll nach der Stelle, wo der Fremde lag. War der jetzt tot, so ging der ganze Lohn für den Ritt von Fez bis zur Küste mit Ausnahme des Vorschusses verloren.

Aber da bewegte sich der Verunglückte schon. Jussuf kniete neben ihm nieder und stützte ihn.

„Hast du Schmerzen, Herr?“

Es schien, als ob der andere nicht antworten könne. Er biß die Zähne zusammen und lag still.

„Verflucht!“ sagte er dann plötzlich, sich aufrichtend. „Ich hatte eben solch ein Stechen in der Herzgegend. Der Gaul ist mir gerade darauf gefallen. Ein Stechen, das mir ganz den Atem benommen hat. Ich konnt’ gar nicht sprechen!“

Jussuf knöpfte ihn auf und entblößte die linke Brustseite. Aber da war nichts zu sehen.

„Um so besser!“ Der Forscher hatte seine gewöhnliche Stimme wiedergewonnen und begann, der Reihe nach jedes Glied zu befühlen und zu bewegen. „Gebrochen ist nichts! Bloß dies verwünschte Stechen. Sieh’ nach, Jussuf, ob du nirgends Blut findest!“

„Nein, Herr! du bist nicht verwundet. Kannst du aufstehen?“

„Ja, soll ich hier übernachten?“ Er hob sich, auf Jussufs Arm gestützt, elastisch empor. Einen Augenblick verfärbte sich, als er stand, sein Gesicht und er preßte die Hand an die Herzgegend. Aber das ging rasch vorüber.

„Wieviel kostet so ein Pferd?“ frug er.

„Zweihundert maurische Dollars, Herr!“

„Hundert zahle ich! Nicht mehr!“

„Zweihundert, Herr!“

„Hundert! das ist ganz genug! So ein Stier ist doch ein blitzdummes Vieh. Was hat er nun davon?“

Die Berber waren abgestiegen, um dem toten Gaul Sattel und Zaumzeug abzunehmen. Der Maure berührte den Arm seines Gebieters.

„Vorwärts, Herr!“

„Zu Fuß? Wohin denn?“

„Wir sind dicht bei der Karawanserai El-Fondak.“ Der Diener deutete auf ein graues, niedriges Mauerviereck, das düster wie ein Bergkastell auf einem Vorsprung des wüsten, rings von kahlen Gebirgen umrahmten, von grauen Abendwolken überflogenen Höhenkessels lag. „Dort müssen wir jetzt die Nacht bleiben!“

„Die Nacht? Ich will nach Tetuanl“

Der Maure schaute seinen Herrn an. Er bekam immermehr Angst vor dieser unheimlichen Zähigkeit des Wollens, die jetzt auch in dem durch das Abenteuer blaß gewordenen Gesicht des Weltwanderers deutlich hervortrat. Der sah matt und erschöpft aus, wenn nicht ein abenteuerliches Lächeln zuweilen erhellend über sein Antlitz hinglitt, aber doch wie ein Mann, der unter keinen Umständen umkehrt.

„Wie willst du denn ohne Pferd nach Tetuan kommen, Herr?“ frug der Diener halblaut, in dem gedämpften Ton, in dem man zu einem Kranken spricht.

„Sehr einfach! Einer der Berber ist ja gut beritten! Er giebt mir seinen Gaul und bleibt in dem Schweinestall da zurück.“ Dabei wies er auf die Karawanserai hinauf, an der eben eine Kamelkarawane langsam den geschlängelten Weg zur Höhe des Bergpasses vorbeizog.

„Es wird aber zu spät, Herr!“

„Die Karawane dort geht doch auch nach Tetuanl“

„Sie muß aber die Nacht draußen bleiben. Es sind noch vier Stunden mindestens. Der Weg ist sehr schlecht. Im Dunklen finden wir ihn nicht und …“

„Still!“ sagte der Reisende gelassen und watete, auf seinen Stock gestützt, durch den Schlamm zu der Karawanserai empor.


2.

Muley Hassan, der weißbärtige Marokkaner, der dort oben an der Spitze seiner Karawane ritt, schüttelte unwillig das braune, vom weißen Turban gekrönte Haupt, indem er auf drei am Wege sitzende Damen herniederblickte. Die barbeinig neben seinem Pferde trabenden Frauen ließen neugierig über dem, Mund und Nase verhüllenden, Schleier die schwarzen Augen funkeln, und über die Affenfratzen der mit langen Stecken die Saumtiere und Esel antreibenden Negersklaven lief ein verstörtes Grinsen.

Drei Europäerinnen mit unverschleiertem Angesicht, dessen Züge jeder Mann nach Belieben betrachten konnte – jawohl, in Tanger drüben am Meer war man solche Schamlosigkeit gewohnt! Da ritten die Damen der Gesandtschaften frank und frei, von den Kawassen begleitet, bei lichtem Tage über den Markt oder ließen sich gar nach Sonnenuntergang von maurischen Trägern in einer Sänfte aus dem Hause schleppen, um – es klang unglaublich, aber, bei Allah! viele Rechtgläubige hatten es gesehen! – um in einer fremden Wohnung mit fremden Männern die Nacht durch zu plaudern, zu speisen und zu tanzen! Aber Tanger war weit! Eine kleine Tagereise von dem einsamen El–Fondak entfernt, unter dessen Mauern die Damen ihr Zelt aufgeschlagen hatten.

Was hatten Europäerinnen hier zu schaffen? Noch dazu ohne männlichen Schutz, nur in Begleitung eines braunen Hotelkuriers aus Tanger und zweier alten, höchst zweifelhaft ausschauenden Regierungssoldaten?

Muley Hassan warf – seitlings, um seiner Würde nichts zu vergeben – im Vorbeireiten einen Blick auf die dicht am Wege sitzende Lady und sah mit Schrecken, daß die ihn unverwandt anstarrte – eine Frau einen fremden Mann! Bei Allah, es gab viel Sünden auf der Welt! Dann senkte sie ihren hübschen Blondkopf über eine Art Mappe, die sie mit der Linken auf den Knieen festhielt, schrieb oder kritzelte irgend etwas darin und richtete wieder forschend ihren ruhigen Blick auf die malerische, ganz in weiß gehüllte Gestalt des greisen Wüstenpatriarchen, die sich mit dem gebauschten Turban und der lang darüber ragenden Flinte wie ein schneeiger Schattenriß von dem bleigrauen, regendrohenden Himmel abhob.

Das verdroß den Alten. Er rückte sich im Sattel zurecht, schob die in gelben Pantoffeln steckenden Füße tief in die schuhähnlichen Steigbügel und setzte mit einem Stich des an die bloße Ferse angeschnallten Sporns sein Roß in Galopp. Die Karawane folgte. Eilfertig wanderten mit schaukelndem Halse die Kamele, wie ein Schwarm grauer Mäuse huschten und trippelten die Märtyrer des Morgenlands, die schwerbepackten Eselein, hinter den lehmfarbenen Ungetümen her, die Maultiere spitzten die Ohren und rannten mit, neben ihnen trabten die verschleierten Araberinnen, ihre Kinder auf dem Rücken, die buntgestickten Pantöffelchen in der Hand, hochgeschürzt, mit ihren braunen, sehnigen Beinen durch den Kot, und hinten scheuchten die blauschwarzen keuchenden Negersklaven alle Nachzügler der Karawane vor sich her, dem Höhenpaß entgegen, von dem der Pfad nach dem Thal des Habesch und nach Tetuan führte.

*               *
*

„Schade!“ sagte Klara lachend. „Ich hab’ ihn nur zur Hälfte!“ Dabei wies sie Hilda, dem nußäugigen Nesthäkchen der Gesellschaft, ihr Skizzenbuch. Auf dem Blatte war das ehrwürdige Haupt des Scheichs und der Kopf seines Vollbluthengstes mit sicheren Strichen umrissen, alles andere aber lag noch als eine weiße unberührte Papierfläche da.

„Schade,“ meinte auch die Kleine beklommen und schaute der davonpilgernden Karawane nach. Im Grund ihres Herzens war sie froh, daß sich die Marokkaner so rasch verzogen hatten. Sie fürchtete sich vor den wilden Gestalten im Turban und Burnus, sie fürchtete sich vor dem braunen, weltmännisch lächelnden Hotelkurier, sie fürchtete sich vor ihrem Maultier, das heute beinahe einmal scheu geworden wäre, sie fürchtete sich vor ganz Afrika.

[650] So mit einem Sprung aus Dresden in das Innere Marokkos … ja, wer so viel gesehen und erlebt hatte wie ihre älteste Schwester dort hinten im Zelt, dem mochte das alltäglich vorkommen. Wenn man wie Martha seit zwanzig Jahren Erzieherin in allen Ecken der Welt gewesen war – bei einer deutschen Familie in Shanghai, bei Engländern in Melbourne, bei Deutsch-Amerikanern in San Francisko, wenn man durch so viele Lebenslagen gegangen und dabei halb zum Manne geworden war, da fand man es beinahe selbstverständlich, nachts bei drohendem Regen ein kleines Leinwandzelt als einzigen Schutz auf der Welt zu besitzen.

Und Klara, die zweite Schwester, – du lieber Gott: sie war nun einmal Malerin! Sie hatte ihren Beruf! Dem mußte sie folgen und Geld für all die drei Geschwister verdienen. Wenn es nicht anders ging, eben auch in Marokko! Aber sie, Hilda, kam sich dabei so unendlich nutzlos und so verlassen zugleich vor, mit all den Kenntnissen des eben glücklich bestandenen Lehrerinnenexamens, die ihren Kopf erfüllten, und all den Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft, die ihr doch beschert sein mußte, sowie sie sich nächsten Monat als Gouvernante in Genf auf eigene Füße gestellt hatte.

„Na hör’ mal, Kleine!“ sagte Klara neben ihr lachend und packte, gleichmütig heiter, wie sie immer war, ihr Malgerät zusammen, „was machst du denn wieder für ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?“

Und Martha, die älteste des Kleeblatts, die herzutrat und mit ihrer tiefen Stimme und dem strengen Schulmeistergesicht wirklich mehr den Eindruck eines alten Junggesellen als den eines noch nicht vierzigjährigen weiblichen Wesens machte, Martha meinte ebenfalls: „Es ist wirklich ein Elend. Nun macht man ihr die Freude und nimmt sie mit auf die schöne Reise …“

„Es ist ja auch wunderschön!“ sagte die Kleine fügsam und suchte die wieder einmal aufsteigenden Thränen gewaltsam zu verschlucken. „Nur … wenn jetzt noch Regen kommt …“ Sie wies zu den Bergkämmen empor, wo die immer dichter geballten Wolken sich in strömenden Schleiern herniederzusenken begannen. Ein kalter Wind fuhr vor der heranrauschenden Regenwand zu Thal. Die weißbesternten Hecken und niederen Palmbüschel bogen sich unter seinem Hauch. Die Riedgräser zitterten und ehe man sich’s versah, stürzte das eben aufgerichtete Leinenzelt nach kurzem unschlüssigen Hin- und Herschwanken mit einem matten Krach in sich zusammen. Und zugleich fielen schon die ersten, schweren klatschenden Tropfen. Sie kamen rasch dichter und dichter, sie lösten sich zu einem rastlos niederstäubenden Wasserfall auf, der gefürchtete afrikanische Küstenregen war da.

Während Klara in Eile Pinsel, Tuben und Palette im Wachstuchbeutel unterbrachte, spannte ihre Schwester mit der düsteren Ruhe eines vielgeprüften Weltumseglers ihren Schirm auf. „Frage den Führer, was nun werden soll!“ gebot sie der Kleinen mit ihrer tiefen, männlichen Stimme.

Hilda, der als eben geprüfter Erzieherin der englische Verkehr mit dem Kurier zufiel, übersetzte stockend wie ein Schulkind die Frage. Sie hatte Angst vor dem schönen, sanft lächelnden Mauren, der sie um zwei Kopfeslängen überragte.

„Er sagt, wir müßten in die Karawanserai,“ berichtete sie, „und die Nacht dort zubringen!“

„El-Fondak!“ bestätigte der Kurier und nickte.

„Giebt’s dort Betten?“ forschte Marthas Baßstimme.

„Nein, Betten sind nicht!“

„Sind noch andere Menschen dort?“

„Viele,“ bestätigte der freundliche Mann. „Kameltreiber, Pferdeknechte und anderes Mohrenvolk!“

„Ja, wie soll denn das die Nacht werden?“

„Die Ladies werden auf drei Stühlen sitzen und ein brennendes Licht steht am Boden, bis es Morgen wird. O, El-Fondak ist kein guter Platz für Ladies. El-Fondak ist ein schlechter Platz.“

Hilda klapperten die Zähne. „Da geh’ ich nicht hinein,“ sagte sie flehend. „Das wird eine schreckliche Nacht.“

Der Kurier drängte mit einem Blick nach dem Regenhimmel zur Eile. „Es giebt dicke Tage und schmale Tage. Heute ist ein schmaler Tag. Bald ist’s Nacht. Wir müssen in das Haus hinein!“

Aber selbst Martha, die Vielerfahrene, zögerte. „Rauchen die Kerle da drin?“ frug sie streng.

Ja, die Leute rauchten alle. Sie hatten aus Tanger Tabak mitgenommen.

„Sind vielleicht auch Maultiere da, die nachts schreien?“

„Ja, viel Maultiere!“

„Und was giebt es dort zu essen?“

„Zu essen giebt es nichts.“

„Und zu trinken?“

„Wasser! Aus der großen Cisterne!“

„Das sind wirklich traurige Aussichten!“ sagte die Schwarzgekleidete düster. Aber jetzt verlor die blonde Malerin die Geduld. „Kinders!“ sagte sie und lachte hellauf wie ein sorgloser Junge. „Thut mir den einzigen Gefallen und seid nicht so zimperlich! Was sein muß, muß sein! Wir sind nun einmal hier und von dem Gejammer wird’s um kein Haar besser! Was wollt ihr denn überhaupt? Wir sind doch nicht zum Vergnügen in Marokko!“

„Nein!“ bestätigte die Aelteste knapp und die Kleine wiederholte mit einem tiefen Seufzer der Ueberzeugung: „Nein. Zum Vergnügen sind wir nicht in Marokko.“

„Vorwärts denn, in die Karawanserai!“ entschied Martha. „Hilda, nimm das Insektenpulver! Gieb acht, daß es nicht naß wird. Wir brauchen’s. Klara trägt ihren Malkasten, ich das Huhn und die Orangen, der Führer das Zelt. Los!“

Sie stapfte, sich nach Kräften schürzend, durch den unergründlichen Schmutz dem Hofraum zu. Die andern in trübseligem Gänsemarsch hinterher durch Regen und Wind den Flöhen von El-Fondak entgegen. –

Um das Innere des Karawanenhofes lief eine Art offene Holzgalerie, die Schutz vor dem Regen und frische Luft bot. Hier ließ sich der Einzug in das gefürchtete, den Oberstock eines turmartigen Vorbaues bildende Nachtquartier noch am längsten hinausschieben. Es dämmerte bereits. Müde, frierend und schläfrig saßen die drei Schwestern, dicht aneinandergekauert wie die Vögel im Nest, auf ihren Holzschemeln, Hühnerknochen und Apfelsinenschalen auf dem Zeitungspapier im Schoß, und schauten in den Hof hinaus.

Viel war da nicht zu sehen. Kein Mensch und Tier auf der weiten Fläche von Urschlamm, in dem der unablässig niederströmende Regen allmählich die hundertfachen Spuren von Menschensohlen, Roßhufen, Kamelballen und Hundepfoten verwischte. Es wurde unangenehm kalt. Fern über dem grünen Buschwerk der Berghänge brauten Streifen von dampfendem Nachtnebel.

„… Wer jetzt in Dresden wäre …“ sagte plötzlich Hilda sehnsüchtig und verschlafen.

Die andern erwiderten nichts. Freilich … Dresden mit ihrem trauten, traulich eingerichteten Nest, mit Klaras Atelier darüber, mit allem Freundlichen und Gewohnten, während hier … Es war zu trostlos! In Tanger hatte man doch noch ein Hotel gehabt, Europäer, mit denen man sprechen konnte, ein Schiff, das in wenigen Stunden nach Europa fuhr …

„… wenn wir morgen wieder nach Tanger zurückritten?“ Die Kleine sagte das halblaut wie vor sich hin, hielt die Augen halb geschlossen und wartete mit klopfendem Herzen die Wirkung ihrer Worte ab.

Zu ihrem Erstaunen erwiderte Martha gar nichts. Aber zu gleicher Zeit fühlte sie von der anderen Seite her einen derben Klaps auf der Wange und sah das hübsche Gesicht der blonden Schwester ihr halb belustigt, halb ärgerlich zugewendet.

„Au!“ sagte sie weinerlich. „Du bist recht häßlich, Klara!“

„Ach was – au!“ Die junge Malerin stand auf und nahm lachend ihre beiden Hände. „… Sag’ mal, Hilda, .. weißt du nicht, daß wir Waisen sind und kein Geld haben?“

„Ja, Klara.“

„… und daß ich also für uns alle drei Geld verdienen muß?“

„Ja, Klara!“

„Warum machst du mir dann das unnütz schwer mit deinem Gequengel? Ich wäre auch lieber in Dresden. Aber ich red’ nicht davon, denn es hilft ja nichts.“

„Ja, Klara!“ Die Kleine küßte sie und trocknete sich die Thränen. „Ich bin eben so ein Schaf. Ich wollt’, ich wäre wie du!“

„Lieber Gott!“ Die Malerin lachte. „Ich bin kein Wundertier! Ich sag’ mir einfach: das und das muß geschehen! Also will ich es thun und thu’s!“

„Das ist das erste vernünftige Wort, das ich seit längerer [651] Zeit höre!“ sagte hinter ihr eine Männerstimme. „Der erste Gruß der Kultur! Und noch dazu gleich in deutscher Muttersprache! Guten Abend, meine Damen!“

Klara drehte sich um. Es dämmerte schon so stark, daß sie nur noch die Umrisse des Fremden erkennen konnte, einer mittelgroßen Gestalt in fremdartigem, halb arabischem Reitanzug.

„Guten Abend!“ versetzte sie etwas beklommen. „Woher kommen Sie denn auf einmal? Ich hab’ Sie gar nicht in den Hof reiten hören.“

„Meine Leute sind auch draußen geblieben. Ich lasse bloß umsatteln. Ich hatte ein kleines Malheur mit meinem eigenen Pferd. Nun nehme ich das eines Berbers, der mit mir ist.“

„Und dann wollen Sie heute noch weiter?“

„Sowie mein englischer Sattel auf dem Gaul liegt. Nach Tetuan.“

„Da kommen Sie aber spät in der Nacht an!“

„Ich habe einen Regierungsaraber mit! Man muß mir öffnen!“

„Ach so . . ja!“ sagte die Malerin. Sie fand sich allmählich in die seltsame Lage, im Dämmern mit einem ganz unbekannten Mann zu sprechen. „Sie finden übrigens dort Gesellschaft.“

„Das ist’s ja eben!“ Der Fremde trat einen Schritt näher. „Deswegen erlaubte ich mir ja, Sie anzusprechen! Ich brach nämlich vor fünf Tagen von Fez nach Tanger auf ...“

„Aber dies hier ist doch nicht der Weg von Fez nach Tanger ..“

„Nein. Ich wollte in Tanger die Jacht ‚Liberty‘ treffen. Haben Sie sie vielleicht gesehen?“

„Das schöne, schneeweiße Dampfschiff, das dem russischen Petroleumkönig gehört? Ja gewiß, das liegt dort.“

„Nun hörte ich heute morgen von ein paar Arabern, die Herrschaften von der ‚Liberty‘ seien nach Tetuan geritten! Da schlug ich den Haken und jagte von dem Fezweg herüber nach El-Fondak.“

„Ja … das heißt, der Besitzer der ‚Liberty‘, der kleine, glattrasierte Herr, ist nicht mit! Der ist in Tanger geblieben. Aber seine Tochter mit zwei Freunden ist allerdings nach Tetuan unterwegs.“

„Haben Sie sie selbst gesehen?“

„Sie haben uns schon mittags überholt mit ihren guten Pferden. Wenn es nämlich die ist, die Sie meinen. So eine – ich bin Malerin und hab’ sie darum näher angesehen – so eine Art Madonnengesicht mit langen Locken.“

„Na ja,“ die dunkle Gestalt vor ihr lachte, „das ist sie schon. Ich danke bestens für die Auskunft. Darf ich Ihnen mit irgend etwas dienen?“

„Danke, nein. Wir müssen uns schon die Nacht hier so behelfen. Morgen kommen wir auch nach Tetuan, zu Studienzwecken.“

„Ach ja … Sie sagten … die Damen sind Malerinnen?“

„Ich habe es für einen Leipziger Verleger übernommen, die aus dem Englischen übersetzte Reisebeschreibung einer Dame zu illustrieren. Unglücklicherweise mußte die Dame gerade durch Marokko reiten. Also muß ich dasselbe thun. Meine älteste Schwester begleitet mich als Reisemarschall und unser Jüngstes haben wir diesmal auch mitgenommen, damit sie etwas von der Welt sieht.“ Sie wies auf das Nesthäkchen, das, völlig erschöpft, mit offenem Munde schlafend dasaß, den Kopf vornüber gesunken und mit der Rechten krampfhaft die Schachtel mit persischem Insektenpulver umklammernd.

Die beiden sahen sie an und lachten. „Also auf Wiedersehen in Tetuan!“ Der Fremde lüftete den Hut.

„Wenn Sie gegen Mittag da sind, werden wir ja …“ Er stockte plötzlich und fuhr mit der Hand nach der Herzgegend. Es war, als ob er nach Atem ringe.

Klara trat erschrocken auf ihn zu. „Was haben Sie?“

„O nichts!“ sagte er schon wieder mit seiner gewöhnlichen Stimme. „Es vergeht sofort. Eine kleine Quetschung von einem Sturz vorhin. Also nochmals, gute Nacht!“

Seine Gestalt verschwand in der Dämmerung, die schon schwer über dem Hofraum lag. Gleich darauf hörte man draußen in arabischen Worten seine befehlende Stimme und das Klappen der Hufe auf dem Steingeröll.

Die blonde Malerin stützte den Kopf auf die Hand.

„Ich möchte wissen, wer das war!“ sagte sie nachdenklich. „Nichts Gewöhnliches gewiß. Er spricht arabisch und kommt aus dem Innern. Vielleicht ist es ein berühmter Forscher …“

„… und wenn du ihn dir morgen bei Licht besiehst, ist es ein Reisender in Matjesheringen und baumwollenen Phantasiestoffen,“ murmelte mit ihrer tiefen Stimme die skeptisch angelegte Aelteste, die lang und düster wie ein schwarzer Schatten neben ihr stand.

Klara lächelte nur und erwiderte nichts. Hoch oben verlor sich das Klappern der Hufe und rastlos rauschte der Regen über Marokko.


3.

Der Regen rauscht, die Wolken fliegen – weiter, immer weiter durch das dämmernde Land. Stunde um Stunde verstreicht im Zwielicht zwischen Tag und Nacht, unter den Hufen fliegt der Boden, Gebüsch und Bäume gleiten rechts und links vorbei – so fließt die Welt dahin, so rollt das Leben in das Meer der über den Berggipfeln aufflutenden Nacht …

Wozu lebst du? Was treibt dich ruhelos vorwärts – zu immer neuem Begehren, neuer Erfüllung, neuen Wünschen, wo nur das eine sicher ist, das Ende, das all unser vielfach verschlungenes Hasten und Mühen auslöscht, wie das Kind ein Rechenexempel mit feuchtem Schwamme von der Schiefertafel wischt? Von Tag zu Tag zerrinnt das Dasein unter deinen Händen, unaufhaltsam, unwiederbringlich. Nutze es, ehe es zu spät ist.

„Aerra . . ärra . . rrrrschât!“ Die Berberknechte treiben die Tiere an. In langen Galoppsprüngen geht es weiter und weiter in das dunkle Land hinaus. Was dahinter liegt, versinkt im Schatten, was vorne ist, ruht in geheimnisvollem Grauen, im Dämmern liegt rechts und links die weite Welt.

Die weite, in abenteuerlichen Querfahrten so oft durchmessene Welt! Bunte Bilder weben im Kopf des einsamen Reiters, der da, fiebergeschüttelt, im schaukelnden Sattel nach vorn gebogen, wie im Traum den Nachtwind um die Ohren brausen fühlt.

„Tetuan, Herr!“ Der maurische Diener war mit zwei Galoppsprüngen an der Seite des Reisenden und wies in die Ferne. Ein schneeig weißer Streifen zog sich dort langgestreckt über einen Bergkamm hin, wie eine Märchenstadt durch das Abendgrauen grüßend.

Aus seinem Träumen erwachend, fuhr der Fremde im Sattel empor und blickte um sich. Längst hatten sie den Höhenpaß und den von ihm niederführenden Bergpfad hinter sich gelassen. Um sie dehnte sich in unbestimmten Umrissen eine weite, von wildzerrissenen Gebirgen umrahmte Ebene, von nichts anderem belebt als den rasch weiterwandernden fernen Schatten der Kamelkarawane. Da und dort, an den Flanken der Berge, ein einsam flackerndes Nachtfeuer, aus den Gestrüpphalden hoch von oben her das Geschrei sich balgender Hirtenjungen, fernes Kuhgebrüll und Eselgejammer, Windesraunen und pfeilschneller Wolkenflug um die Zacken des Atlasgebirges am Himmel.

Schon auf der Wetterscheide des Höhenpasses hatte der Regen aufgehört. Der Mond lugte ab und zu aus den im Sturm treibenden Wolkenfetzen und erhellte das weite Flachland, das Schlängelband des Habesch, der träge durch die Steppe seine Silberfluten dem Mittelmeer zurollte, und die weißgetünchte hohe Brücke darüber, die einzige ganze Brücke in dem verrotteten Land.

„Aerra! Aerra!“ Die Pferde schnauben, im Silberlicht der aufsteigenden Mondsichel blitzen die Gewehrläufe der voraufjagenden Berber, die Hufe klappern funkensprühend über den Boden. – Weiter, immer weiter, im Galopp über Stock und Stein, durch plätschernde Rinnsale, über aufgeweichtes Ackerland, quer durch grünwogende junge Saat dem weißdämmernden Höhenstreifen in der Ferne zu, der allmählich in den Fluten der Nacht versinkt.

Da tauchten die Schatten der Kamelkarawane aus dem Dunkel auf, der weißgekleidete Marokkaner an der Spitze, das Gewimmel eilfertig trabender Esel, der verschleierten Weiber und wollhaarigen Negersklaven rings um die schwerfällig wandelnden, dummstolz die abscheulichen Köpfe wiegenden Trampeltiere.

Vorbei! Vorbei! Ohne Gruß – fast ohne Blick, in gegenseitiger Verachtung! Der Europäer sieht hochmütig auf den halbwilden Nomaden herab, und dem wieder ist der Christ ein halb gefährliches und angstgebietendes, halb unreines und lächerliches Geschöpf. Die Kamelkarawane blieb in der Nacht zurück. [652] Wieder war rings die Einsamkeit der Steppe. Aber da und dort lohten aus ihr die Wachtfeuer der Hirten, blitzten, fast aus den Wolken heraus, die Lichtpunkte hochgelegener Bergdörfer und huschten Schattengestalten lautlos durch die Nacht dahin. Die Nähe der großen Maurenstadt machte sich bemerklich.

In einer halben Stunde war man am Ziel! Bei dem Gedanken daran pochte das Herz des nächtlichen Reiters und eine Art Krampf zog plötzlich einschnürend seine Brust zusammen. Zu dumm … dies Abenteuer mit dem Stier! Nun, bis morgen war das gut! Sein Blick wurde finster, und als trage ihn das erschöpfte Pferd noch nicht rasch genug dem Schicksal entgegen, stieß er ihm ungeduldig die Sporen in die Flanken.

Das Schicksal! Das spielt nicht mit uns, wie die gemeine Weisheit lautet, ach nein: wir selbst sind ja unser Schicksal. Wie wir sind, so bleiben wir ein langes Leben lang, was wir thun, das müssen wir thun! Was wir leiden, das müssen wir leiden!

Was hilft das Klagen, wo der Lebenslauf so fest, so unabänderlich mit seinem Maß von Glück und Unglück einem jeden vorgeschrieben ist? Und ist der Lebenslauf kraus und wild, führt er durch alle Länder und Meere, durch alle Höhen und Tiefen in rastlos suchender Abenteurerlust, was hilft das Klagen? Es ist eben etwas mehr Leiden darin, Not, Mühsal und Entbehrung, und etwas mehr jener Freuden, die trotziges Siegerbewußtsein verleiht – schließlich gleicht sich doch alles wieder aus und wird zur großen Null auf dem Grabstein. Und wenn auf ihm die Worte des Dichters stehen:

„Dies Herze sehnt’ sich oft
ach nirgends hin und überall doch hin!“

so ist ihm nun die Ruhe …

*               *
*

In vollem Glanz schien jetzt der Mond, nur ab und zu von vorüberflutenden Wolkentrümmern verfinstert. Dann herrschte plötzlich tiefes Dunkel und ebenso rasch stieg, wenn die Sichel wieder aus dem Dunst hervorschwamm, von ihrem bläulichen Schein umschleiert und erhellt, das blendendweiße Häusermeer von Tetuan am Abhang des Berges empor. Ein Gewimmel platter Dächer, von schlanken Minarets überragt, die zerfallene Burg hoch darüber und alles von einem finsteren, altersgrauen Mauerring umschlossen – so träumte die orientalische Stadt im Mondschein. In weitem Halbkreis standen die zerrissenen Berge, ganz in der Ferne mit Schnee- und Firnglanz übergossen, und auf der anderen Seite, wo die Ebene sich öffnete, strahlte, ein silberner Streifen, das Mittelmeer herüber.

Sie mußten langsam reiten. Der Boden war mit spitzem Steingeröll bedeckt, und überall sprudelte es zwischen den Felsblöcken, den Aloëstauden und stacheligen Agavenhecken von unsichtbaren Wassern. Kaum merklich kamen die Reiter der reglos schlummernden, totenstillen weißen Stadt näher und bogen endlich in den Mondscheinschatten ihrer Außenmauer ein.

Die wilden Hunde kläfften auf, während der Trupp an dem alten bröckligen Gestein entlang trabte. Die Stadt dahinter war wie ausgestorben. Kein Laut, kein Lebenszeichen klang heraus.

Aber als sie um einen Winkelturm der Umwallung bogen, fuhr ihnen jäh ein starker Windstoß entgegen und auf seinen Schwingen ein Tollhaus von Tönen, ein Geschrei, Gemecker, Gewieher und Geplärr in wildem Durcheinander.

Vor dem fest verrammelten und verschlossenen Stadtthor staute sich allerhand Volk, das erst nach Sonnenuntergang gekommen und nicht mehr eingelassen worden war, Hirten, Händler und Käufer, wie sie der Donnerstag, der allwöchentliche große Markttag, rings vom Lande her nach Tetuan trieb. Sie alle kampierten da zähneklappernd im Freien, eng mit Kindern, Gesinde und Haustieren zusammengeduckt, ein Durcheinander von Negerwollschädeln und kahlen Kabylenköpfen, von flintenüberragten Hammelherden, von buntfarbigen Turbanen zwischen langen Esel- und Maultierohren, breitkrämpigen Frauenhüten, Pferdehäuptern, Ziegenbärten, Körben voll kleiner Kinder an den Flanken kauernder Kamele, die ganze Arche Noah von hellem Mondschein übergossen, in Lärm und Gezänk den Tag erwartend, trotzdem man sich doch schon längst heiser gebrüllt hatte und wußte, daß die innen schnarchenden Thorwächter gegen alles Schreien und Rufen taub blieben. Es fiel keinem von ihnen ein, auch nur den Kopf herauszustrecken. Nur zwei Kanonen gähnten rechts und links von dem Stadtthor mit schwarzen Schlünden in die Nacht hinaus, und dazwischen verschlangen sich über der Wölbung die eingemeißelten Schnörkel eines Koranspruches.

„Da oben zwischen den Kanonen steht’s geschrieben!“ sagte plötzlich jemand aus der grollenden schwarz verschwommenen Masse heraus mit deutschen Worten: „… ,Es ist kein Schutz und Hilfe außer bei Allah!‘ Ich werde nächstens auch Mohammedaner!“

„Ja, wenn’s was hülfe!“ brummte eine andere tiefe Stimme. „Die ganze Menagerie hier glaubt an Allah und muß doch im Freien übernachten wie wir!“

„Und Sie sind allein dran schuld … mit Ihrem Bärentrotz wie gewöhnlich! Erklären: wir brauchen keine Soldaten zur Begleitung! Was uns an Räubern anfällt, das nehme ich allein auf mich! Und nun sitzen wir da und Frau Angela hat allen Grund, daß sie seit einer Stunde kein Wort mit uns spricht!“

Statt aller Antwort tönte von irgendwoher aus dem Dunkel ein silberhelles Kinderlachen. Der heranreitende Fremde fuhr bei dem unerwarteten, fast unheimlichen Klang im Sattel empor und lenkte mit jähem Ruck sein Roß der Stelle zu. Aber im selben Moment feuerte der Araber neben ihm seine Flinte, die er aufrecht vor sich auf den Pferdehals gestellt hatte, zum Himmel los, als einfachstes Mittel, den schlafenden Wächtern drinnen das Nahen eines Regierungssoldaten zu verkünden.

Im Augenblick, wo das altmodische Feuerrohr sich mit scharfem Knall entlud, war alles ringsumher lebendig. Die Eselein, die sorgenbeladen mit gesenkten Ohren dastanden, stießen ein durchdringendes sägendes Jammergeschrei aus, die Pferde stiegen aufgeregt in die Höhe, die Maultiere schlugen rechts und links nach der aufspringenden Menschheit, Hammel und Ziegen flohen mit Angstgemecker, und neben den Körben mit schreienden Kindern richteten sich dunkle Klumpen, die bisher still wie Felsblöcke dagelegen, mit drei seltsamen Rucken auf, wurden zu Kamelen und stierten feierlich und blödsinnig über das vom Mond beschienene Gewühl.

Wenigstens hatte der Schuß gewirkt. Oben auf dem Mauerkranz erschienen die Umrisse von Turbanen und Flinten und ein wildkrächzendes Gespräch flog hin und her. In dem allgemeinen Tumult, dem Meckern, Blöken, Wiehern, Hundegekläff und Yageschrei war es kaum möglich, sich zu verstehen, obwohl die braunen Gesellen oben und unten mit Aufgebot ihrer ganzen Lungenkraft brüllten. Und zum Ueberfluß verschwand jetzt eben der Mond auf Nimmerwiedersehen hinter einer dicken Wolkenwand. Tiefe Dunkelheit trat ein und vermehrte das Chaos.

„So halten Sie doch Ihr Pferd!“ rief die helle Silberstimme aus der Finsternis. „Sie drängen mich ja in die Kamele hinein! Das Vieh schreit gerade über meinem Kopf. Ich habe keine Lust, umgetrampelt zu werden!“

Ein hünenhafter Mensch kam daraufhin, schwer mit seinem Roß kämpfend, als eine Schattengestalt nach vorn. „Ich weiß nicht, was das ist!“ fluchte er. „Es sticht jemand gegen den Gaul und meine Beine. Wart’, du verdammter Kerl!“ Er führte, sich im Sattel biegend, mit der Reitpeitsche einen wütenden Hieb nach unten. Dort blökte es unter dem Klatsche kläglich auf und ein verirrter Hammel, dessen langgedrehte Hörner das Unheil angerichtet, suchte eiligst das Weite.

„Wo seid Ihr denn?“ schrie der Begleiter des Recken aus der Ferne. „Ich schwimme hier zwischen lauter Eseln und Ziegen, und halte mich an einem Kuhhorn fest. Gott weiß, wohin die Reise geht!“

„Hierher, Franklin!“ rief es hell dagegen. „Wo die Kamele sind ...“

„Ja … Da gehören wir weiß Gott hin!“ tönte es von drüben. „Lieber doch eine Klubhütte als solche Abenteuer. Was machen wir denn nun?“

„Wir warten, bis die Bande ruhig ist!“

„Ach, die schreien bis zum jüngsten Tag!“ knurrte der andere. Aber schon schien inmitten des heillosen Lärms die Verständigung gelungen. „Der Pascha schläft,“ meldete irgendwo aus dem Dunkel her die Stimme eines Mauren in greulichem Englisch. „Man geht und holt bei ihm den Schlüssel! Mit dem Schlüssel wird man das Thor aufsperren.“

In Erwartung des großen Ereignisses war eine verhältnismäßige Ruhe eingetreten.

[654] Nun konnte man also auf den Schlüssel warten! In schneidenden Stößen pfiff der Wind um Mauer und Türme; vom Himmel, an dem nur noch vereinzelt Sterne zwischen den Wolkenwänden blinkten, spritzte ein feiner Sprühregen mit eiskalten Nadelstichen hernieder.

„Es ist schauderhaft!“ sagte die helle Stimme wieder. „So etwas kann einem das Reisen verleiden! Lieber Lebensgefahr als Schmutz und Langeweile!“

Ihre Begleiter erwiderten nichts. Sie schienen im Gedränge wieder etwas abseits geraten. Aber neben ihr lüftete die dunkle Gestalt des Fremden den Hut.

„Guten Abend, Frau Angela!“ sagte er gleichmütigen Tons, als hätten sie sich gestern erst im Ballsaal getrennt und sei ihr Zusammentreffen die selbstverständlichste Sache von der Welt.

Die Gestalt im Sattel bog sich vor. „Sind Sie das, Prinz?“ frug sie halblaut und betroffen. „Was haben Sie denn auf einmal für eine sonderbare Stimme?“

„Ich bin kein Prinz … Gott sei gelobt!“

„Ja, Franklin Moore sind Sie doch auch nicht?“

„Ich habe keine Ahnung, wer Franklin Moore ist!“

„Ja … wer sind Sie denn dann?“

„Kennen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr? Wir haben uns doch schon oft genug auf dieser Lehmkugel getroffen, Frau Aventiure? Wissen Sie nicht mehr, wer Sie zum Scherze so getauft hat … hoch oben auf dem Gipfel des Montblanc … bei unserer allerersten Begegnung …?“

„Sind Sie es?“ Es fuhr wie ein Ton des Schreckens aus ihrem Munde.

„Nun … natürlich bin ich es! Wo haben Sie denn nur im Dunkel Ihre Hand? Ich möchte Ihnen doch Guten Tag sagen!“

Aber die Schattengestalt vor ihm drängte verstört ihr Pferd hinweg, in ein Gewühl von Ziegen und Hammeln hinein. „Sie sind doch tot!“ sagte sie halblaut und beklommen. „Sie sind doch längst tot!“

Er folgte ihr und stieß mit spornbewehrtem Fuß die um die Beine des Rosses strudelnden wolligen Pelze zur Seite.

„Halten Sie mich für ein Gespenst?“ frug er lachend. „Woher wissen Sie denn, daß ich tot bin?“

„Alle Welt weiß es doch. Seit einem halben Jahr. Ich habe doch selbst Ihre Nachrufe in den Zeitungen gelesen!“

„Es giebt Leute, die sind nicht umzubringen, dazu gehöre auch ich!“

„Aber woher kommen Sie denn?“

„Von Timbuktu her! Dort hatte ich das Abenteuer mit den Schwarzen, aus dem dann wohl das Gerücht von meinem Tod entstanden ist. Aber meine Freunde, die Araber, haben mich gerettet. Mit denen bin ich nordwärts gezogen durch die Sahara. Bis Marrákesch. Von da nach Fez. Und jetzt bin ich ja schon wieder mitten in der Kultur!“

Er warf einen befriedigten Blick auf die Arche Noah ringsumher, die windumpfiffenen Stadtmauern mit ihren rechts und links von den arabischen Runenschnörkeln in die Nacht hinausglotzenden Kanonenschlünden und den vom Mond in gelblichen Zackenrändern bestrahlten Wolkenflug am Himmel.

„Aber wie kommen Sie denn von Fez nach Tetuan?“ sagte Angela, immer noch unsicher und beklommen im Tone. Es schien, als ob sie mehr Schrecken als Freude bei der unerwarteten Begegnung empfand.

„Das hat man mich heute schon einmal gefragt und es ist doch sehr einfach: Ich reite wieder einmal hinter Ihnen her.“

Oben auf den Zinnen erschienen die Turbane und Flintenläufe wieder. Ein betäubender Lärm erhob sich in der ganzen Menagerie und alles drängte den Thorflügeln zu.

Der Schlüssel war glücklich gekommen. Man hörte sein Knarren und Knacken von innen, während sich von außen die geschlossene Phalanx von Mann und Roß, Hammeln, Negern, Kamelen, Kindern, Eseln, Kabylinnen und wilden Hunden hart an die Pforte preßte, kampfbereit, um sich sofort beim Oeffnen mit Gewalt den Eintritt in die Stadt zu erzwingen.

Allein die Thorwächter innen waren auf ihrer Hut. Kaum klaffte der erste Spalt in der Thüre, so gingen sie ihrerseits unvermutet zum Angriff vor und schlugen mit rücksichtslosen Hieben den Vorstoß der Arche Noah zurück. Unter greulichem Geschrei flutete die Masse seitwärts, die Eselchen jammerten, die wilden Hunde kläfften sich heiser, reglos wie Felsen in hoher See ragten die verschwommenen Klumpen der Kamele aus dem Gewühl, durch das die berittenen Araber sich und ihren Reisenden eine Gasse bis zu dem Stadtthor bahnten.

„Halten Sie Bakschisch bereit!“ mahnten dazwischen die Mauren. „Bakschisch für die Thorwachen. Maurisches Geld! Einen halben Dollar!“

Einen halben Dollar? Die bewaffneten Gestalten am Eingang schüttelten schreiend ihre turbanumhüllten Köpfe. Das war zu wenig Bakschisch! Mehr! Mehr! Jeder Reisende einen halben Mohren-Dollar! Gurgelnd und schreiend mit aufgeregtem Gebärdenspiel drängten sie sich heran und hielten ohne weiteres die Zügel der Pferde fest. Das verdroß den einen der beiden Begleiter Angelas, den hünenhaften, langen Menschen, der wild und kampflustig wie ein alter Raubritter vorgebeugt auf seinem viel zu kleinen Berberrosse hing. „Hören Sie mal, Dragoman,“ sagte er gelassen auf englisch mit seiner rauhen Stimme, „ich habe die verwünschte Gewohnheit, unbekannten Kerlen, die um Mitternacht in Afrika meinem Pferd in die Zügel fallen, mit diesem Totschläger hier über den Kopf zu tippen, ob nun ein Turban drauf sitzt oder nicht. Erzählen Sie das mal dem braunen Gentleman da zu meiner Linken!“

Er ließ den mit Blei ausgegossenen Totschläger durch die Luft pfeifen, und noch ehe der Maure seinem Stammesgenossen die Drohung des Prinzen übersetzt hatte, fielen die Zügel nieder und war der Weg frei.

Der Hüne gähnte. „Was krabbeln Sie denn da noch in Ihrer Tasche, Franklin?“ schrie er.

„Ich will dem Volk noch eine Kleinigkeit geben,“ erwiderte sein Genosse, ein kleiner, schmächtiger Mensch, in englisch gefärbtem Deutsch.

„Unsinn! Nichts kriegen die Kerle! Sie glauben wohl, Sie sind noch in Transvaal und spielen mit Ihren Millionen Federball? Nichts! Höchstens eins über den Schädel, wenn sie noch mal mucken. Vorwärts! Aus dem Weg, ihr Schwefelbande!“

Er strich sich seinen mächtigen Schnurrbart und trieb sein Pferd rücksichtslos mitten durch den Haufen der Thorwächter. Der glattrasierte Kleine sagte nur lächelnd „Well!“ und folgte seinem Beispiel. So ritten die beiden nach Tetuan hinein, die andern hinterher, und knarrend schlossen sich hinter ihnen die Thorflügel. Von der Arche Noah war niemand hereingekommen als ein versprengtes Eselchen, das jetzt allein und ratlos mitten auf der Straße dastand und mit seinem jammernden Ya das Grollen der Menge draußen und das Murren der Wächter drinnen verschlang.

Dann verstummte auch das. Ringsum war wieder tiefes Schweigen. Nur die Hufe klapperten, während die Reisenden langsam durch das Dunkel dahinzogen. Sie hätten glauben können, sich in einer Totenstadt zu befinden. Soweit das Auge auch durch die Schatten spähte und das Ohr sich lauschend mühte – nirgends eine Spur, ein Laut, der darauf hinwies, daß im Umkreis dieser zerbröckelt zu ihrer Rechten sich dehnenden Mauern mehr als zwanzigtausend Menschen schliefen. Niedere fensterlose Häuser, gestrüppüberwucherte Trümmerflächen dazwischen, schachtähnlich enge, stockdunkle Gassen, ein unergründlicher Schlamm am Boden – so ging es weiter und weiter durch die unheimliche weißgetünchte Stadt, in der selbst das Gebell der wilden Hunde verstummt zu sein schien. Endlich kamen sie aus dem Gassengewirr heraus. Ein wüster, mit Kot und Pfützen bedeckter Platz breitete sich scheinbar endlos rings im Dunkel um sie aus. Angelas Begleiter hielten da, auf die anderen wartend. Ihr Dragoman schwatzte ihnen etwas von einem „Hotel“ vor.

„Jawohl, ‚Hotel‘!“ brummte der wüste Prinz. „Zwei spanische Herbergen giebt’s in diesem Nest. Den Flohcirkus kann ich mir schon vorstellen!“

„Sind das Ihre neuesten Freunde, Frau Angela?“ frug der Forschungsreisende im Heranreiten.

Sie lachte. „Seit vorigem Jahr! Wir haben uns in Norwegen kennengelernt. Sie fuhren dann als Gäste auf unserer Jacht mit nach Island. Und seitdem werde ich sie nicht los. Es sind zwei unglaubliche Menschen!“

„Wer ist’s denn eigentlich?“

„Der lange Hüne mit dem fuchsroten Schnurrbart, der [655] wie ein zu spät auf die Welt gekommener Raubritter aussieht, ist ein Prinz aus einer Seitenlinie von irgend einem vorsündflutlichen mediatisierten Geschlecht. Der andere, der Kleine, ist der Sohn eines millionenreichen Deutsch-Amerikaners. Er kann sich mit seinem Vater nicht vertragen. Das muß auch ein ganz sonderbarer Heiliger sein. Nun ging er vor einigen Jahren auf eigene Faust nach Johannisburg, hat da eine Unmasse Geld verdient, und seitdem treibt er sich müßig in der Welt herum. Das Komische dabei ist, daß sich die beiden, Franklin und der Prinz, eigentlich nicht ausstehen können. Ich muß immer lachen, wenn ich den Großen und den Kleinen so freundschaftlich nebeneinander sehe.“

„Vorwärts, Frau Angela!“ schrie der Prinz herüber. „Gleich um die Ecke ist das Grand Hotel Balmoral–Palace mit Lift, Wintergarten und elektrischer Beleuchtung. Die Table d’hote hat schon begonnen!“

Sie lachte. „Kommen Sie mit!“ sagte sie zu ihrem Begleiter. „Ich muß Sie doch mit meinen Freunden bekannt machen!“

Er schüttelte den Kopf. „Heute, bitte, nicht, ich habe Fieber und ganz dumme Stiche im Herzen. Ich hab’ ja erreicht, was ich wollte, und Sie getroffen. Nun will ich mich schlafen legen! Ihre Expedition füllt die eine Herberge jedenfalls reichlich. Also gehe ich in die andere!“ Er rief seinen Diener und wechselte mit ihm ein paar arabische Worte. „In der Fonda d’España ist, wie ich eben höre, noch ein Bett frei!“

„Nun, dann auf morgen!“ sagte sie mit ihrer hellen Stimme und reichte ihm von Pferd zu Pferd kameradschaftlich die Hand.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 22, S. 677–682
[677]
4.

Durchdringender Knoblauchsgeruch mit kaltem Cigarettenqualm vermischt, zwei von den drei vorhandenen Betten des nie gelüfteten Zimmers von einem blonden europäischen Kaufmann und einem schnarchenden Spanier besetzt, dessen pechschwarzes Haupt- und Barthaar undeutlich aus gelblichbrauner Wäsche sich abhob, kahle Dielen, schmutzige Wände mit einem Muttergottesbild als einzigem Schmuck, lose in den Angeln klappernde Fenster und chaotische Unordnung von nassen Kleidern, kotüberzogenen Schuhen, Leder- und Wollproben überall – sehr einladend war die Unterkunft nicht, welche die „Fonda d’España“ dem spät abends gekommenen Fremden zu bieten vermochte.

Der stand nachdenklich vor dem Bett, einem gichtbrüchigen Holzgestell.

Der Wirt, ein indolenter Spanier, sah das Zaudern des Gastes vor dem zweifelhaften Lager und entschloß sich, mit der krankhaften Vorliebe der „Inglès“, der Fremden, für reine Wäsche vertraut, ein übriges zu thun. Er ging und kam mit einem sauberen, kleinen spitzenbesetzten Kopfkissen wieder, das er mit einer gewissen Feierlichkeit auf dem Bette niederlegte. Nun war nach seiner Ansicht den äußersten Ansprüchen an Komfort Genüge gethan. Verlangte der Fremde noch mehr, so war ihm nicht zu helfen!

Aber der Fremde hatte genug. Er schickte den Wirt fort, warf sich, in seinen Mantel gewickelt, mit allen Kleidern auf das Bett und blies das Licht aus.

Der Regen rauschte, eintönig klapperte das zerfallene Fenster in den Angeln, der Spanier und der blonde Kaufmann sägten und schnarchten im Schlaf um die Wette, und über den müden Gast, der mit offenen Augen wach in das Dunkle hineinsah, kam trotz des eklen Lagers allmählich die Ruhe. Er war zu erschöpft.

Leichte Fieberschauer durchrieselten ihn und webten um seinen unstet [678] arbeitenden Kopf ihre Dämmerschleier, bis das Bewußtsein darin versank und einige Stunden traumlosen Schlafes ihn umfingen.

*               *
*

„Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“ Durch das Dämmern des Regenmorgens klang klagend feierlich der Ruf der Muezzin, und von fernen Minarehs tönte es wie ein Echo im Frühlicht wieder: „Beten ist besser denn Schlaf!“ – „Eine Stunde bis zum Tode!“ und wieder, mit der dröhnenden Wucht tiefer, kräftiger Männerstimmen: „Allah ist Allah! Mohammed ist sein Prophet!“

Der Baß der Gebetrufer weckt die Gläubigen. Daß der ungläubige Christ die fünfte Stunde nicht verschläft, dafür sorgen die Flöhe von Tetuan. Ist die erste bleierne Ermattung vorüber, so findet er vor dem Andrang der Quälgeister keine Ruhe mehr und giebt, das Lager räumend, den hoffnungslosen Kleinkrieg verloren.

Unten, in dem viereckigen Mittelraum der Fonda herrschte schon Leben, als der Afrikaner ärgerlich, in seinen Mantel gewickelt, die Treppe herabstieg. Die Wirtin, eine dicke Spanierin, und ihre leidlich hübschen Töchter gingen in saloppen Morgenjacken, die Haare flüchtig aufgesteckt, hin und her, ein paar barfüßige Mägde räumten auf und schürten das offene Herdfeuer, dessen prasselnde Reisigglut ihren Flackerschein über einige halbschlafend davor kauernde, in abenteuerliche Fetzen gewickelte braune Gesellen warf. Ein kleiner verschmitzter Berberjunge, der die Kapuze seines regentriefenden Mäntelchens hoch über den Kopf gezogen hatte und von hinten wie ein verirrter Gnom aussah, stand, sich die Pfötchen am Feuer wärmend, fröstelnd neben ihnen. Auf der anderen Seite winkte aus einem Nebenraum ein ganz einladend gedeckter Tisch.

Wenn es dem Sennor gefällig sei, möge er dort Platz nehmen und sich nur noch eine Viertelstunde gedulden, dann sei der Kaffee fertig!

Allein der Sennor zog es vor, dem zweifelhaften Dunst der spanischen Häuslichkeit zu entfliehen. Er stieß die Thür auf und trat auf die Gasse hinaus.

Eine Seitengasse, von Kot und Wasserlachen strotzend, vielfach von Hausbögen überwölbt, so daß sie halb einem schmalen Schacht, halb einem Tunnel glich. Auch auf ihr regte sich unter dem Ruf der Muezzin schon der neue Tag. Verschleierte Berberfrauen gingen, lautlos mit ihren bräunlichen Beinen den Schlamm durchmessend, vorbei; von halbwüchsigen Burschen getrieben, liefen bepackte Saumtiere und Esel geduldig ihren Weg; aus irgend einem Spalt in einem gegenüberliegenden Hause schob sich, schwarz, unförmlich dick und scheußlich wie eine Kröte, eine alte Negersklavin, hob prüfend den wolligen Grauschädel zum Himmel empor und kroch kopfschüttelnd wieder in ihre Höhle zurück.

Dann wieder trappten Roßhufe um die Ecke. Ein vornehmer Marokkaner ritt, fest in seinen weißen Burnus gewickelt, daher. Sein beinahe schwarzes, auf Blutmischung mit der Negerrasse deutendes, von krausem Vollbart umrahmtes Gesicht hatte einen finstern, grausamen Ausdruck. Er würdigte den Fremden, den die Weiber und Leute aus dem Volk mit unverhohlener Neugier angestarrt, keines Blickes und zog langsam weiter in den Regen hinaus.

Regen, trostloser Landregen über einer morgenländischen Stadt, die, wie nichts anderes auf der Welt, blauen Himmel und Sonnenglut verlangt, um ihre bestrickend bunte Eigenart zu zeigen. Jetzt war das alles wie weggespült von den rastlos niederströmenden Fluten. Die streng nach außen abgeschlossenen, kaum mit ein paar vergitterten Fenstern versehenen Häuser, der breiige Morast zwischen ihnen, die triefende Himmelswölbung darüber – wie traurig war das alles, wie öde! Ein Gähnreiz lag über allen Dingen. Man konnte am Leben verzweifeln.

Und doch fühlte sich der Forschungsreisende heute viel besser als am Tag zuvor. Das Fieber war gewichen. Auch die Schmerzen von dem Sturze hatten aufgehört und in der herbstlichen Kühle des Morgens empfand er einen lange in dem Wüstenbrand entbehrten Hunger. Er frühstückte nun mit allem Ernst, von den hübschen, schlampigen Töchtern des Hauses bedient. Aber kaum war er mit den mächtigen, dickschaligen Orangen am Ende der Mahlzeit angelangt, so trieb es ihn wieder hinaus in die frische Luft. Für ihn, der nun so viele hundert Nächte im Zelt unter freiem Himmel, in Negerhütten oder den Häusern der Araber zugebracht, war diese schmutzige und übelriechende Karikatur eines europäischen Hotels ein Greuel.

Wieder stand er draußen auf der Gasse, deren Ueberwölbung ihn vor dem Regen schützte, und schaute in die graue Welt hinaus, Stunde um Stunde, die Cigarette zwischen den Zähnen. Afrika hatte ihn Geduld gelehrt.

Immer stärker brandete jetzt um ihn her das Leben der erwachenden Stadt. Aber es war immer dasselbe Bild, die Einförmigkeit des Orients, der keine Sonderart kennt. Immer die gleichen braunen Gestalten in weißem Mantel, gelben Schlappschuhen und hohen Kapuzen, die gleichen verschleierten Frauen mit den neugierig herumrollenden Augen, die Lastesel, die Ziegen- und Schafherden, die kaum bekleideten Negersklaven, halb Affen, halb grinsende Menschen, die in Lederschläuchen das Trinkwasser schleppten, dazwischen einmal ein Mekkapilger in weißem Turban, ein Schwarm Juden in langem schwarzen Kaftan, schwarzem Käppchen und roter Leibbinde – als wären es immer ein und dieselben Menschen, so kamen die Gestalten, verschwanden und kehrten wieder im Rieseln des Regens.

Aber jetzt tauchten zwei neue Erscheinungen auf, die, wenn auch in Tetuan nicht ungewohnt, doch allgemeines Aufsehen erregten: zwei Europäer! Nicht von der nach Tausenden zählenden spanischen Judengemeinde, deren vorgeschrittenste Glieder auch schon europäische Tracht trugen, ohne doch voll gerechnet zu werden – nein, zwei richtige „Jnglès“, im Reitanzug, den Spazierstock in der Hand, die Stummelpfeife zwischen den Lippen.

An dem seltsamen Unterschied ihrer Körperlänge erkannte der Forschungsreisende schon von weitem die beiden Gentlemen von gestern abend, die Freunde Angelas. Der knochige Hüne rechts mit dem langen, fuchsroten Schnurrbart war der Prinz, von dem sie gesprochen, sein Begleiter, eine kleine, sehniggedrungene Figur, auf der ein glattrasierter, ausdrucksvoller Napoleonskopf saß, der Goldmensch aus Transvaal! Sie standen beide zu Mitte der Dreißig.

„Well, Sir!“ der Yankee trat, lässig den Hut lüftend, heran. „Ich bin erfreut, einem so prominenten Mann die Hand zu schütteln. Mein Name ist Franklin Moore.“

„Ysselstein!“ sagte sein langer Begleiter düster und lakonisch, und dem Afrikaner fiel bei dem Klang des Namens ein, daß dieser gefürstete Nachkomme eines alten Raubrittergeschlechts auch einen Ruf in der Wissenschaft genoß. Allerdings in seiner Weise. Prinz Eitelwulf von Ysselstein war ein Mann, dessen Stumpfsinn alle stubenforschenden Gelehrten zur Verzweiflung brachte! Er führte die schwierigsten Hochgebirgstouren in Europa, in Südamerika und Neuseeland aus, ohne auch nur daran zu denken, daß man durch Höhenmessungen und physikalische Beobachtungen das Herz seiner Mitmenschen erfreuen konnte! Ihm genügte es, daß er oben gewesen war. Alles andere war ja Unsinn! Und ebenso brachte er von seinen tollkühnen Ritten durch Centralasien, seinen Jagdausflügen an der Goldküste und in der Kalahariwüste nicht eine Notiz, nicht eine Thatsache von geographischem Wert aus den vielfach noch unerforschten Ländern mit. Ein Verzeichnis der geschossenen Elefanten und Büffel war das Einzige, was man ihm bestenfalls entlockte. Um sonstige Kleinigkeiten hatte er sich nicht gekümmert und wußte keine Auskunft zu geben. Schließlich hatte man daran verzweifelt, den Kraftmenschen zu den Pflichten des 19. Jahrhunderts zu bekehren, und ließ ihn seine abenteuerlichen Wege wandern, die ihn, wie einst seine Vorfahren über mondbeschienene Heiden und Waldgestrüpp, ziel- und zwecklos über Wasserstraßen und Karawanenpfade von einem Weltteil zum anderen führten.

„Wie befinden Sie sich, Herr?“ fuhr indessen der Kleine heiter lächelnd fort: „Leidlich? Freut mich zu hören! Wir beide sind schon seit Morgengrauen auf! Unter uns gesagt … es ist etwas Eigentümliches um dies … dies Nachtleben in Tetuan. Ich schätze die Zahl der Flöhe hier bedeutend höher als an irgend einem anderen Platz der Welt, den ich kenne!“

[679] „Das Land ist schwach bevölkert,“ bestätigte der düstere Prinz. „Aber die Einwohner sind es desto mehr! Ein Glück, daß wir wenigstens noch für Angela ein sauberes Quartier bekamen.“

„Und wie geht es Frau Angela sonst?“ frug der Afrikaner. „Kann man sie schon sehen?“

Der Kleine schüttelte den Kopf. „Sie ist noch unsichtbar. Zu ermüdet von dem gestrigen Ritt. Hat sich gleich, wie wir in die Herberge kamen, in ihrem Zimmer ihr Feldbett aufschlagen lassen und erklärt, sie käme heute nicht vor Zwölf zum Vorschein.“

„Dann werde ich um zwölf Uhr meinen Besuch machen und mich inzwischen durch ein paar Zeilen anmelden!“

„Thun Sie das, Herr!“ Der Yankee lächelte höflich, während sein reckenhafter Begleiter schweigsam und düster in die Ferne sah. „Auf Wiedersehen! Wir müssen jetzt zum spanischen Konsul!“

„Ich hätte Lust, diesen Konsul, den dicken Lümmel, mit seiner eigenen Schlafrockschnur zu erdrosseln!“ brummte der Prinz.

„Aber nachher giebt er uns, fürchte ich, keine Pässe nach Ceuta. Kommen Sie, Franklin!“

Er grüßte und das ungleiche Paar wanderte die Straße weiter. Der Afrikaner schaute ihnen eine Weile nach, dann kehrte er in sein Zimmer zurück, holte sein Taschenbuch heraus und schrieb mit Bleistift einen Brief.

 „Liebe Freundin!
Das erste, was mir entgegenklang, als ich aus der Wildnis kommend gestern wieder am Nordrand der Kultur auftauchte – das war Ihr Name.

Das schien mir ein gutes Vorzeichen. Ich habe daraufhin meinen Reiseweg geändert und habe gethan, was ich schon so oft seit dreizehn Jahren gethan habe: ich bin hinter Ihnen hergeritten!

Sie wissen, es giebt kaum einen Winkel der Welt, wo wir uns nicht schon getroffen haben, in Sheppards Hotel in Kairo, im Yellowstone-Park drüben überm Wasser, auf den ,Inseln‘ in St. Petersburg, auf den Boulevards von Paris – ach, überall!

Und überall habe ich Sie dasselbe gefragt: Wann Sie endlich meine Frau werden wollen?

Und überall haben Sie nur gelacht. Dasselbe silberhelle Lachen, das ich gestern in der Nacht seit lange wieder zum erstenmal gehört hab’! Eine blonde Malerin, die ich gestern traf, die meinte, Sie hätten ein rechtes Madonnengesicht. Aber ich kenne Sie besser: Echt ist das Gesicht nur, wenn ein spitzbübisches Lächeln darauf liegt, wie es ja auch Ihr verehrter Herr Vater, der Petroleumkönig, besitzt.

Wann werden Sie endlich meine Frau? Als Sie mich vor zwei Jahren abwiesen, hab’ ich die Achseln gezuckt, den Weg in die Wüste eingeschlagen und mir gesagt: Das war das letzte Mal! Nun vergiß sie wirklich!

Ich habe Sie nicht vergessen, und als ich müde von meinen Abenteuern zurückkam, da traf ich sofort wieder Sie, Frau Aventiure!

So hab’ ich Sie damals getauft, in jener Stunde auf dem Montblanc, als wir uns zum erstenmal sahen. Da standen Sie plötzlich hinter mir wie ein Geist in Ihren weißen Schneeschleiern, mit Ihrem Gatten und Ihren Führern.

Oben auf dem Montblanc stellt man sich nicht vor. Da waren wir bald wie alte Freunde. Wir saßen beisammen im Schnee und frühstückten und lachten und deuteten mit der Hand unter uns: da unter Ihrer Stiefelspitze die kleine Spielzeugschachtel ist die Schweiz – und da drüben, dies zerknitterte Ding unter den weißen Lämmerherden von Wolken Südfrankreich, und da hinten, wo eben unten im Thal das kleine Gewitter niedergeht, Italien.

In der Stunde wurde mir frei und leicht. Ich hatte die Empfindung: du hast den Menschen gefunden, der zu dir gehört! Fleisch von deinem Fleisch und Geist von deinem Geist!

Ich bin zu wild und rauh für das Philisterglück. Ich habe es mir nie als so ein zärtliches, blondes Etwas am Kaffeetisch mir gegenüber denken können und ein anderes krabbelndes Etwas unten am Boden und ringsherum die gute Stube.

Das mag andere freuen. Ich brauche einen Kameraden oben auf den Höhen. Und als ich wenige Wochen darauf las, Ihr Gatte sei gestorben – da schien mir auch das wie eine Fügung des Schicksals für mich.

Ein Jahr darauf bat ich Sie, meine Frau zu werden. Sie haben gelacht und mich auf später vertröstet. Seitdem sind zwölf Jahre verstrichen. Ich bin über vierzig und habe mein Leben wahrlich doppelt gelebt. An meinen Schläfen färbt sich das Haar schon grau, und als gestern am Thor von Tetuan einen Augenblick das Streichholz aufleuchtete, da war es mir sogar, als läge auch über Ihren dunklen Haaren schon ein leichter silberner Schein.

Das ist natürlich Täuschung. Aber der Herbst ist nah. Wir werden alt und grau, Frau Aventiure, und müssen die Zeit nutzen, ehe alles traurig und öde wird.

Oder vielmehr: in mir ist’s schon so! Was hab’ ich von diesem ganzen wildbewegten Leben? Nur eine Leere, ein Unbefriedigtsein, ein fortwährendes Warten und Suchen nach dem, was das Leben eigentlich bringen soll.

Sie soll mir das Leben bringen. Ich weiß es ganz genau und werde nicht eher froh. Wir beide gehören zusammen.

Erhören Sie mich diesmal. Ich hatte so eine gläubige Hoffnung, als ich Ihnen gestern durch die Nacht und Wüste im Galopp nachritt: diesmal muß es werden!

Um Zwölf bin ich bei Ihnen.

Möge meine Hoffnung mich nicht täuschen!“

*               *
*

Er versiegelte den Brief und gab ihn dem Berberjungen zur Besorgung nach der nahegelegenen anderen Herberge. Nach kurzem kam der Bengel wieder, lächelte verschmitzt unter seiner Kapuze und meldete, daß der Auftrag ausgerichtet sei.

Der Afrikaner entlohnte ihn mit einem maurischen Silberstück und streckte sich wieder auf dem Lager aus. Er wußte nicht, was ihm fehlte, aber er fühlte sich schwerkrank seit dem Sturze von gestern. Die Beklemmungen im Herzen wollten nicht weichen und wurden stärker und stärker, je mehr der Zeiger seines Chronometers auf Mittag wies.

Die Erregung vor dem entscheidenden Zusammentreffen – weiter war es nichts! Er stand auf und ging im Zimmer hin und her, unermüdlich, eine Stunde um die andere, bis es endlich Zeit war. Der Berberjunge zeigte ihm den Weg. Sie schritten die schmutzige Straße hinab und bogen auf den großen Marktplatz ein. Ganze Hammelherden blökten hier, im Regen zu graugelben Klumpen zusammengedrängt; zu Dutzenden lagen, in der Farbe kaum vom Erdboden zu unterscheiden, die Kamele in dem Schlamme, und endlos wirrte und wogte wie in einem Ameisenhaufen das Gewimmel der braunen Gestalten in braunen Mänteln und hohen Kapuzen schreiend durcheinander. Machten sie auch willig dem Europäer Platz, so kostete es doch Mühe, sich durch all diese unablässig über die engen Gassen hingespülten farblosen Menschen- und Tierwogen den Pfad bis zu der Herberge zu bahnen, die wie die Fonda d’España etwas abseits von dem großen Verkehr zwischen Winkelmauern lag. Am Eingang der Fonda lehnte der Wirt, ein zwerghaft schmächtiger Spanier. Er verstand nur seine Muttersprache und einige berberische und englische Worte. Allen Fragen nach Frau Angela Rey und ihren Begleitern wies er ein lächelndes Kopfschütteln entgegen und deutete mit der Hand die Straße abwärts.

Er mußte schwachsinnig sein, daß er so gar nicht begriff, um was es sich handelte! Aber der kleine braune Bengel wußte Rat. Er sprang davon und kam nach kurzem mit einem europäisch gekleideten jungen Juden zurück, der, den Strohhut lüftend, sich auf französisch bereit erklärte, aus Gefälligkeit den Dolmetscher spielen zu wollen.

„Dann bitte, mein Herr,“ sagte der Afrikaner gleichfalls auf französisch, „fragen Sie diesen Menschen da, warum er mich nicht bei Frau Angela Rey anmelden will! Sie erwartet mich! Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“

Der Jude wandte sich in erregtem spanischen Wortwechsel zu dem Inhaber der Fonda, dann wieder zu dem Fremden: [680] „Der Wirt sagt, die Lady habe freilich einen Brief erhalten. Aber eine Stunde darauf sei sie abgereist!“

„Abgereist?“

„Jawohl. Sowie die Pässe vom spanischen Konsul da waren. Mit den beiden Gentlemen und aller Dienerschaft. In der Richtung nach Ceuta. Unterwegs wollen sie eine Nacht am Meer in Zelten lagern.“

„Und was hat sie mir hinterlassen?“

Erneuter Wortwechsel zwischen dem Wirt und dem Hebräer.

Dann zuckte der die Achseln. „Mein Herr, der Wirt sagt, die Lady hat nichts hinterlassen!“

„Gar nichts?“

„Nein. Gar nichts!“

Eine Weile stand der Fremde stumm da. Dann reichte er dem jüdischen Vermittler nach Landesbrauch die Hand. „Ich danke Ihnen,“ sagte er kurz und ging langsam, wie ein Schwerkranker, wieder seiner Herberge zu.


5.

Gegen Abend hatte sich das Wetter geklärt. Vom Mittelmeer herüber wehte eine Brise durch das rauhe Land und scheuchte die Wolkenfluten in ihre Schlupfwinkel in der zerrissenen Wildnis des Atlas zurück. Bald brach die Sonne durch, mit stechenden Abendstrahlen, in deren Glut alles von Feuchtigkeit dampfte, und die weiten Heidestrecken, die mit Agavenhecken umsäumten Gärten, die grünen Saatfelder am Habesch-Fluß sich in eine weiße Rauchdecke hüllten.

Weiter nach dem Meer zu, jenseit des Kap Negro, verlor sich diese Ueppigkeit des Pflanzenwuchses. Als da die Sonne am nächsten Morgen in langen feuerroten Streifen sich aus den blauen Wellen des Ostens hob, übergoß ihr Licht eine jener eigentümlichen Sumpflandschaften, wie sie der Kampf zwischen Ebbe und Flut an flachen Küstenstreifen erzeugt, ein Gewirr von Sanddünen, brackigen, reglosen Morästen, Seewasserpfützen und schlammerfülltem Buschwald, das niedere Höhenzüge nach dem Land zu, muschelbedecktes buntes Kieselgeröll auf der Seeseite abschlossen.

Hart an der Flutgrenze des Mittelmeeres, neben einigen phantastisch aufgerichteten Felszacken stand ein Zelt. Maultiere und Pferde wälzten sich träge daneben am Boden und zwischen ihren angepflöckten Pflegebefohlenen lagen reglos, die Sättel als Kopfkissen unterm Haupt, in verschossene braune Mäntel gewickelt, die Gestalten der Treiber.

Nur zwei Männer waren an diesem frühen Morgen schon wach, dessen bläßlichblaue Wölbung sich klar und kühl über Länder und Meere spannte, und gingen schweigsam, die Cigarre im Mund, die Hände in den Hosentaschen, auf dem knirschenden Kies mit leisem Sporenklirren auf und nieder.

„Hören Sie mal, Franklin!“ sagte der Hüne nach einer Weile und blieb stehen. „Ich muß Sie mal was fragen.“

Well. Fragen Sie!“

„Ich meine … wann gedenken Sie denn eigentlich so ungefähr nach Johannisburg zurückzukehren?“

„Nach Johannisburg? Gar nicht!“

„Na oder nach Amerika. Oder sonstwohin? Irgendwo muß der Mensch doch hin!“

„Das weiß ich nicht. Es gefällt mir hier ganz gut!“

„Wo denn?“

„In Ihrer Gesellschaft, Durchlaucht!“ sagte der kleine Yankee und lächelte liebenswürdig. „Ich wüßte keine bessere.“

Der Prinz drehte ärgerlich seinen roten buschigen Schnurrbart und begann wieder mit seinen langen Beinen den Sand der Dünen zu messen. „Sie sind mir ja auch verdammt sympathisch!“ murmelte er, mit der Reitpeitsche die Disteln am Boden köpfend. „… Aber … schließlich … na kurz gesagt … Einer von uns kann sie ja doch nur heiraten!“

Sein Begleiter lächelte tiefsinnig. „Ich werde Sie zur Hochzeit einladen, Prinz! Seien Sie unbesorgt!“

„Oder ich Sie!“

„Oder keiner von uns den andern!“ ergänzte der Kleine.

„Das kann niemand wissen!“

„Nein. Ich wollte auch nur wissen, ob Sie nicht die Sache aufgeben?“

„Ich denke nicht daran!“

„Ich auch nicht!“

„All right!“ Und einträchtig kehrten die beiden zum Lager zurück. Der Lange schraubte gähnend ein Fernrohr aus und musterte den Strand. „Dort ganz in der Ferne reitet sie,“ brummte er. „Ich sehe so einen weißen Punkt und so ein Gewimmel drum herum. Das ist sie.“

Er reichte das Glas dem Yankee, der bestätigend nickte. „Das ist Angela,“ sagte er und sah auf die Uhr. „Und die zwei Stunden, die sie uns nach ihrem Abmarsch zu warten befohlen hat, sind um. Wir können aufbrechen! Hallo, ihr Kerle!“ Er klatschte in die Hände. „Auf! An die Pferde!“

In dem Getümmel der sich erhebenden Berber und ihrer Tiere blickte der Prinz sauertöpfisch drein. „Sagen Sie um Gottes willen, Franklin,“ frug er endlich, „ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf: was ist denn heute eigentlich in Angela gefahren, daß sie allein mit ihren Leuten vor Tag und Tau vorausreitet und wir ihr erst in zwei Stunden Abstand folgen dürfen?“

Der Kleine suchte lächelnd den weißen Punkt an der Küste. „Sehr einfach,“ meinte er. „Es ist jemand in Tetuan, den sie nicht sehen will! Sie wissen, wer dieser Jemand ist!“

„Ja.“

„Gleich nach seinem Brief ist sie fort. Wir natürlich mit. Es wäre aber möglich, daß dieser Jemand hinter unserer Karawane herreitet. Dann trifft er bloß uns. Und was er sucht, ist verflogen wie der Wind. Das blinkt nur noch ganz ferne dort übern Strand. Wenn er es nicht weiß, kann er es auch mit dem Fernrohr nicht erkennen!“

„Aber was sagen Sie ihm, wenn er nach Angela frägt?“

„Was sie mir aufgetragen hat: Sie sei schon gestern abend an der Mündung des Tetuanflusses an Bord der dort kreuzenden Jacht ,Liberty‘ gegangen. In den Ocean kann er nicht hineingaloppieren. Also kehrt er um!“

„Ach so!“ Der Prinz stieg tiefsinnig in den Sattel und trieb das Pferd an. „Aber er kommt überhaupt nicht. Er sah sehr schlecht aus. Ich glaube, er wird krank!“

„Ich glaube es auch!“ meinte der Yankee gleichmütig und die beiden trabten los.

*               *
*

„Aeh!“ sagte der Riese nach einer Weile ärgerlich. „Wie die Gäule im Sand versinken! Wir kommen nicht von der Stelle! Ich habe dies Herumstrolchen in Afrika satt. Ich sehne mich nach meinen Bergen!“

„In ein paar Wochen sind wir in Chamounix,“ tröstete ihn Franklin. „Sie haben doch unsere Wette mit den Herren vom Londoner Alpine-Klub nicht vergessen?“

„Aiguille du diable und Gipfel des Montblanc an zwei Tagen hintereinander zu machen? Das werde ich vergessen!“

„Und glauben Sie, daß wir’s zwingen werden?“

„Natürlich! Auf den Montblanc wollte ich mich noch verpflichten, Angela führerlos mitzunehmen! Das wäre eigentlich eine Idee! Das giebt dem Ganzen noch so einen …. wie nennt man das …. so einen ästhetischen Anstrich!“

„Schlagen Sie es ihr doch vor! Die kommt gleich mit!“

„Das werde ich auch!“ sagte der Prinz vergnügt und deutete nach vorn: „Jetzt werden wir naß, Franklin! Naß bis zum Sattel! Jetzt geht’s in die Sümpfe!“

Das Meer hing an dieser Stelle weithin mit den in das Innere des Landes sich erstreckenden Morästen auch bei der Ebbe zusammen. Es gab keinen Weg als quer durch den Wasserspiegel, dessen Ausdehnung die rings darin verstreuten Gebüschgruppen kaum erraten ließen.

Zuerst lenkte der Araber, den sie gestern in Tetuan als Führer angenommen, sein Roß hinab in die Flut, die dem geduldig vorwärtsschreitenden Tier bald bis an den halben Leib reichte. Wie ein großer bunter Wasservogel schwamm sein Reiter in seinem weißen Burnus und dem roten Turban auf der blauen Flut und gab durch ein Schwenken der hoch über den Kopf gehaltenen Flinte das Zeichen, ihm zu folgen.

Das Wasser, das krystallklar über den feinen Sandgrund hin dem Meere zurann, umspülte unangenehm kalt die Steigbügel [682] und stieg rasch bis zum Knie der Reiter empor. Die fröstelten anfangs etwas unbehaglich. Aber bald gewöhnte man sich an die feuchte Straße, auf der man, vor sich nur den Pferdehals, rechts und links und überall weithin unter sich nur das strömende Wasser, beim Niederblicken fast schwindlig wurde.

Dann tauchten die triefenden Pferdeleiber wieder an das Sonnenlicht empor. Durch gurgelnden gras- und buschbewachsenen Schlamm ging es nun, das Haff, das hier zu tief wurde, zur Rechten lassend, landeinwärts in die Wirrnis von Sumpf und Sand. Wieder stiegen die Rosse plätschernd von dem Ufer hernieder, aber diesmal war es lauwarmer Morast, der sie umgab, eine trübe, reglose Flut, über deren Schilf und schmutzig schillerndem Spiegel zu Tausenden die Stechmücken summten.

Im Kampf mit diesen kleinen Blutsaugern schlug man sich langsam vorwärts, durch Buschwerk und Dünen von dem freien Hauch des Meeres geschieden, unter sich das faulig dünstende Schlammwasser, durch das die Steigbügel und die Beine darin plätschernd schleiften. Eine Rinderherde belebte allein die ausgestorbene Gegend. Mitten aus dem Sumpf hoben sich die gehörnten Schädel stumpfsinnig empor.

Am anderen Ende der Tümpel konnte man endlich auf leidlichem Geröllpfad galoppieren. Blitzschnell flog die Landschaft vorbei, rechts die tiefe Bläue des Meeres, links das stumpfe Braun der Klippen. Die Gegend belebte sich allmählich. Düster blickende bezopfte Rifkabylen schlichen, die Flinte in der Hand, den bepackten Esel vor sich, lautlos an den Hängen dahin; vom Markte kommende Berberhirten, beritten und von frei laufenden Maultieren umgeben, halbnackte braune Fischer am Strande wurden immer häufiger, und in der Ferne stieg, eine malerisch über die Klippen hingegossene Masse von alten Mauern, flachen Dächern und vereinzelt nickenden Palmen, die Feste Ceuta empor.

Sie rückte rasch näher, denn der Weg verbesserte sich zusehends. Da war schon der erste spanische Soldat, als Vorposten der Kultur, dann ein Holzschuppen mit Bänken, auf denen ein ganzer Haufen von Rothosen sich träge sonnte, rings von den Höhen ragten die Wachttürme, die Bollwerke Spaniens im Marokkanerkrieg und jetzt noch ein Schutzgürtel gegen den unabhängigen und selbst dem Kaiser von Marokko nicht unterworfenen Stamm der Adorrakabylen, der in den Schluchten des hochaufgetürmten Dschib-El-Musagebirges als Nachkomme der alten Rifpiraten haust.

Aber die wilden braunen Kerle am Wege begannen sich zu verlieren. Statt ihrer knieten da und dort spanische Soldatenweiber an den Rinnsalen und klopften auf Steinen ihre Wäsche, weiße Kinder stimmten, neben den Pferden mit erhobenen Händen laufend, ihr „cinque Centimos, Señor!“, die unerträgliche spanische Bettlerweise, an, und der holperige Saumpfad verwandelte sich plötzlich in eine breite, baumbepflanzte Chaussee, die in vielen Windungen hinab zu den Festungswerken führte.

Dort wurden von der Wache die Pässe abgenommen. Scheinbar endlos ging es dahin über Zugbrücken und durch Tunnels, in denen die Hufe der Rosse widerhallten, längs der Wallgräben und über weite, mit Pyramiden von rostigen Kanonenkugeln geschmückte Kasernenhöfe bis in die eigentliche Stadt.

Die europäischen Straßen und Läden, die europäisch gekleidete Menschheit, der Trommelwirbel des Militärs, der Anblick der massenhaften, an der Festung bauenden Strafgefangenen mit ihrem Völkergemisch von Weißhäuten, Chinesen und vielen Negern erschreckte die aus dem Innern kommenden Pferde. Zitternd und scheuend tanzten sie über das Pflaster, bald auf die Spiegelscheiben einer Kramhandlung zu, bald gegen einen Laternenpfahl und andere unbekannte Dinge, bis endlich das Gasthaus am Hafen erreicht war.

Einige Dampfer, ein paar spanische Torpedoboote, ein englisches Kohlenschiff und das Kurierfahrzeug der Regierung schaukelten auf der offenen, stark bewegten Reede. Stundenweit rauschten weiter hinaus die Wellen. Dahinter aber stieg im Mittagsglanz ein unwahrscheinlicher, düster ragender Bergkoloß gebieterisch am Horizont empor. In violetten, verschwommenen Tönen von dem tiefblauen Himmel abgegrenzt, stand der Felsen von Gibraltar wie die Verkörperung der Macht an dieser Grenzscheide zweier Welten, an der Pforte zweier Meere da. Die beiden Männer sahen ihn sich an, gähnten und traten in die Fonda.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 23, S. 709–719
[709]
6.

Während über Tetuan die Regenwolken sich schon mählich lichteten, strömte es noch unablässig, in feuchten Nebeln aus allen Klüften und Rissen des Atlas heranwallend, über den einsamen Bergkessel nieder, an dessen Rand das düstere Mauerviereck der Karawanserai El-Fondak thronte. Bis zum Mittag hatten die drei Schwestern gewartet, ob es nicht besser würde. Aber als auch dann noch die Welt grau in grau, naß und frostig dalag, mußte man sich entscheiden: entweder sofortiger Aufbruch nach Tetuan oder noch eine Nacht in El-Fondak.

Eine Nacht in El-Fondak! Die drei Damen sahen, sich stumm an. Ihre Mienen sagten genug. Diese zehn Stunden zwischen Abendgrauen und Morgendämmern, dies trostlose Nicken auf harten Holzschemeln bei flackerndem Stearinlicht, diese Nachbarschaft all der zweifelhaften braunen Viehtreiber und sonstigen Eingeborenen im Raum nebenan, dies Wasserrauschen und Sturmstöhnen draußen blieb ihnen in unverlöschlicher, schauernder Erinnerung. Nein, lieber in den Regen hinaus! Schlimmer konnte es schon nicht kommen.

Aber es kam doch noch schlimmer. Als man vor dem Abmarsch frühstückte, erschien der braune Hotelkurier mit einem leeren Napf und der lakonischen Meldung: „Die Soldaten wünschen Wein!“ Die beiden Turbanreiter hatten sich entschlossen, das Gebot des Propheten sträflich zu mißachten und auch ihren Anteil an den europäischen Genüssen zu fordern, und der Maure, der trotz seiner weit höheren Civilisation keinen Tropfen Wein in den Mund nahm, trug den beiden Kerlen den berauschenden Trank in dem Napf herüber.

Die Folgen blieben nicht aus. Als man nun endlich aufbrach, waren die beiden gestern so gleichgültigen und schweigsamen Soldaten wie umgewandelt. Sie überhäuften verbindlich lächelnd die Damen mit Aufmerksamkeiten, zwangen ihnen Muscheln und Blumen, die sie am Wege fanden, als Geschenk auf und fingen mit allen daherkommenden Eingeborenen Händel an. Das gurgelnde Geschrei und Gezänke erhob sich, solange man sich in Seh- und Hörweite befand, immer wieder von neuem. Dazwischen galoppierte das trunkene Paar im Wettlauf weite Strecken davon, kam, was die Pferde nur rennen konnten, von irgend einem Seitenhang wieder zurück und ließ in überströmendem Thatendrang die Ladung der langen Entenflinten krachend zum Himmel aufgehen.

Natürlich scheuten dabei die Maultiere alle Augenblicke und schlugen nach hinten aus, wenn die Soldaten sie unvermutet mit ihrem heiseren „Aerra!“ und einem Gertenhieb zum Traben bringen wollten. Den drei Damen, die angstvoll im Sattel saßen, war das Weinen näher als das Lachen. Anfangs hatte die düstere Gouvernante, die an den Verkehr mit wilden [710] Völkern gewöhnt war, versucht, den Kerlen in fließendem Sächsisch eine Strafpredigt zu halten. Da dies aber den Uebermut der beiden grauhaarigen Burschen nur vermehrte, verstummte sie und ritt finster, lang und schwarz wie eine Rachegöttin, der Karawane voraus, hinter ihr Klara, die auch etwas blaß geworden war, und Hilda.

Die Kleine hatte Todesangst. Sie erwartete jeden Augenblick ermordet zu werden und schloß die Augen, um wenigstens den Greuel nicht sehen zu müssen. Das Maultier fand ja von selbst seinen Weg. Und wenn man sich so im Dunkel schwebend hingetragen fühlte, konnte man sich einbilden, man sei gar nicht in Afrika, sondern an einem Sonntagnachmittag in der Sächsischen Schweiz, auf der Bastei, oder sonst in einer gesitteten Gegend unter freundlichen Menschen und blauem Himmel ….

Das Maultier machte einen Seitensprung in eine Agavenhecke, daß sie das Gleichgewicht verlor und sich an der Mähne festklammerte, während ihr Fuß blindlings in der Luft nach dem frei schlotternden Bügel suchte.

„Bleiben Sie oben, Fräulein! Die Agaven sind stachlig!“ hörte sie hinter sich eine derbe Stimme auf deutsch und ein lautes Lachen.

Sie wandte sich, nachdem sie glücklich wieder Halt gewonnen, im Sattel um und sah sich einem großen Mann mit blondem Vollbart, goldnem Kneifer und zahlreichen Schmissen auf der linken Wange gegenüber. In einen verschossenen Sportanzug aus dickem blaßgrünen Plüsch gekleidet, einen mächtigen Schlapphut auf dem buschigen Kopf, zwei Revolver im Gürtel und nach maurischer Art in schuhähnlichen Bügeln auf einem scharlachroten Bocksattel thronend, paßte er, als sei er aus der Erde gewachsen, in die abenteuerliche Umgebung.

„So allein, meine Damen?“ sagte er verbindlich grüßend und trabte, seinen Zug, ein paar Berberknechte mit hochbepackten Saumtieren, hinter sich lassend, zu den drei Sächsinnen heran. „Keine Soldaten? Verzeihen Sie – aber das ist leichtsinnig!“

„Soldaten haben wir schon!“ Hilda wies melancholisch nach ein paar buntflatternden Punkten, die in der Ferne zwischen Zwergpalmengestrüpp dahinjagten, während ein Rauchwölkchen sich über ihnen kräuselte. „Dort drüben …. die schrecklichen Menschen, das sind sie!“

„Sie sind betrunken!“ ergänzte die Gouvernante in ihrem Männerbaß.

„So, so! Nette Brüder!“ lachte der Fremdling unbekümmert. „Na .., dann nehm’ ich Sie unter meinen Schutz. Ich bin hier wie zu Hause. Mir macht die braunhäutige Schwefelbande nichts vor!“

„Gott sei Dank!“ sprach die Kleine aus tiefstem Herzen. Auch die blonde Malerin lächelte, von ihrer verstohlenen Beklommenheit erlöst. „Sie gehen auch nach Tetuan?“

„Eigentlich komme ich von dort!“ Der Fremdling gab, sein langes Bein lüftend, dem nächsten Maultier einen wohlgezielten Fußtritt, daß es mit gespitzten Ohren weiterzutrotten anfing und sich alles wieder in Bewegung setzte. „Ich war die Nacht in der Fonda d’España, in einem Zimmer mit einem schnarchenden Spanier und einem erkrankten deutschen Herrn. Greulich! Na, nun ist der Spanier weg, ich hab’ mich umquartiert und bin jetzt meinen Leuten entgegengeritten.“

Hilda sah die schwerbepackten Tiere. „Sind Sie ein Forschungsreisender?“ frug sie und sah ihn staunend aus ihren braunen Augen an.

Der Fremde lachte herzlich. „Nee, mein Fräulein!“ sagte er. „Dumm sind wir! Aber so dumm nicht. Da steckt kein Geld drin!“

„Ja, was machen Sie denn hier?“

„Geschäfte. Mein Name ist Albrecht Steffen, in Firma Holthoff und Söhne in Hamburg.“

Ein Geschäftsreisender in Afrika! Hilda begriff das nicht recht. „Kann man hier denn Sachen kaufen?“ forschte sie. „Ich meine wirkliche Waren. Nicht bloß alte Waffen und derlei?“

„Haben Sie noch nie von Maroquinleder gehört?“ Der Reisende deutete auf die hinter ihm trappenden Saumtiere. „In den Körben da steckt’s. Das beste Leder der Welt. Maroquin kommt doch von Marokko. Außerdem exportiere ich auf eigene Faust Blutegel und spekuliere in dem spanischen Pesetakurs. Die Kabylen hier halten sich nämlich keinen Kurszettel. Wenn die Peseta niedrig steht, geben Sie mir ihre Waren zum selben Preis wie sonst!“

„Also hauen Sie die armen Leute übers Ohr!“

„Natürlich!“ erwiderte der bärtige Handlungsreisende unbefangen. „Dazu sind die Kerle doch da. Im übrigen kann ich beim besten Willen keine Existenzberechtigung an der ganzen Gesellschaft entdecken. Für mich giebt’s nur zwei Worte, die heißen cash und money! Ja – Geld und nochmals Geld! Zu seinem Privatvergnügen reitet doch weiß Gott hier außer ein paar Engländern niemand im Land herum!“

„O doch!“ sagte die Kleine erschöpft und melancholisch. „Sehen Sie nur mich an! Ich mache eine Vergnügungsreise, um mich vom Examen zu erholen!“

Ihr Begleiter lachte. „So sehen Sie auch gerade aus! Uebrigens, ich weiß schon, wer sie sind und woher Sie kommen. Gestern sind Sie von Tanger abgeritten, um in Tetuan ‚die maurischen Dinge abzuschreiben‘, wie sich Muley Hassan, mein arabischer Vertrauensmann, ausdrückt.“

„Also das haben Sie alles schon erfahren?“

„O, Sie glauben gar nicht, wie der Europäer hier im Lande beobachtet wird! Anscheinend laufen die Eingeborenen finster und ohne ihn anzuschauen, vorbei. Aber in Wirklichkeit entgeht ihnen keine Bewegung. Aha, da kommt ja diese Höllenbrüt zurück!“

Er schrie den herantrabenden Soldaten ein paar Worte in einer rauhen Sprache entgegen. Die beiden Alten antworteten nicht. Offenbar machte sich bei ihnen die Katerstimmung mehr und mehr geltend. Schweigend, den Turban nachdenklich auf die Brust gesenkt, nahmen sie ihren Platz an der Spitze des Zuges wieder ein.

Hilda sah ihren Beschützer dankbar an. „Ich bin so froh, daß Sie da sind! Ich habe Tag und Nacht Angst hier in Marokko. Aber so gräßlich wie vorhin noch nie. Ich glaubte bestimmt, wir würden ermordet werden!“

„Ach wo! das kommt selten vor. Einmal haben sie hier vor einiger Zeit einen deutschen Reisenden umgebracht und in Tanger einen deutschen Bankier. Damals wurden die Mörder unter großem Zulauf auf dem kleinen Socco in Tanger enthauptet und ein verwünschter spanischer Renegat in Cadix guillotiniert. Es lagen deutsche Kriegsschiffe im Hafen, es mußte viel Geld als Entschädigung gezahlt werden, kurz die marokkanische Regierung hatte mehr Aerger als ihr lieb war, und seitdem ist allgemeine Schonzeit für die Fremden proklamiert!“

„Ich würde mich doch fürchten, hier im Land herumzureiten. Und immer allein. Das muß doch traurig sein!“

„Business! Geschäfte! Ich hab’ eine alte Mutter zu Hause und zwei Schwestern! Da heißt’s Geld schaffen. Sonst geht die Karre nicht weiter!“

„Aber Sie waren doch ursprünglich nicht Kaufmann? … Ich meine … wegen der Schmisse ...“

„Allerdings! Sie sehen meinem zerfetzten Gesicht mit Recht an, daß ich studiert habe. Oder vielmehr nicht studiert, sondern getrunken, gepaukt und Schulden gemacht, wie das auf deutschen Hochschulen Brauch. Bis mein Vater eines Tages starb. Er war ein kleiner Beamter gewesen, und wie er tot war, war nichts mehr da als die winzige Witwenpension!“

„Ach, und da gaben Sie das Studium auf?“

„Na, ich mußte doch wohl und sagte mir: Aus einem deutschen Korpsstudenten kann bekanntlich alles werden. Also auf nach Amerika! Bei der Gelegenheit blieb ich auf der Strecke Genua-New York in Gibraltar hängen und fand, daß da Geld zu holen war, wie überall, wo Old-England sich häuslich eingerichtet hat, und daß der deutsche Handel in Marokko sich wie in der ganzen Welt mächtig zu heben anfängt. Seitdem bin ich hier, und es geht ja auch vorwärts, wenn auch langsam genug.“

„Ja,“ Hilda nickte teilnehmend, „Sie verdienen sich wirklich ihr Geld schwer genug … fern von aller Kultur … in solch einem wilden Land!“

[711] Albrecht Steffen strich sich nachdenklich seinen blonden Vollbart. „Es gleicht sich eben alles aus in der Welt!“ sagte er. „Früher hab’ ich mein Geld verthan und in dulci jubilo gelebt. So ist’s nicht mehr als recht und billig, daß ich jetzt Blutegel exportieren muß und die maurischen Juden beim Pesetawechseln einseifen, nebenbei bemerkt, ein höllisches Stück Arbeit. Einmal wird’s ja auch wohl wieder anders werden. Von Leder und Blutegeln wird man auf die Dauer nicht fett. Es muß ein großer Schlag kommen!“

„Das wünschte ich Ihnen wirklich!“ sagte die Kleine herzlich. Sie sahen sich an und eilten dann, den während ihres Gespräches schon weit vorausgerittenen Haupttrupp wieder zu erreichen.

*               *
*

Das Wetter hellte sich allmählich auf. Als sie, noch vor Sonnenuntergang, ihre Pferde im Schritt durch das Stadtthor von Tetuan lenkten, schimmerten schon blaue Lücken am Himmel und das letzte Abendgold verklärte das Gewühl von Mensch und Tier in der weißgetünchten Stadt, über deren flachen Dächern geisterhaft der letzte Ruf der Muezzin hinzitterte.

Es war hier nicht so bunt wie in Tanger. Der Völkermischmasch des Hafens, der Gegensatz zwischen Morgenland und Europäertum fehlte und damit auch die Fremdenindustrie samt ihren lächerlichen Auswüchsen. Hier war der Islam noch Alleinherr, gemischt nur mit alttestamentarischer, orientalisch gekleideter Judenwelt, deren jüngste Sprossen nur vereinzelt, als seltene weithin sichtbare Erscheinungen in Rock und langen Hosen gingen. War doch sogar der französische Konsul, den Steffen im Vorbeireiten grüßte, ein richtiger freundlicher alter Türke mit hohem Turban, großer Brille und einem Regenschirm, der wenig zu seinem malerisch wallenden Gewande paßte.

„Darin ist Marokko merkwürdig!“ sagte der Reisende zu Hilda. „Der Islam schließt sich hier trotz seines Fanatismus nicht so streng gegen uns Christen ab wie sonst. Vielleicht weil die Leute hier selbständig sind und vom Sultan in Konstantinopel nichts wissen wollen. Ich bin hier oft sogar im Inneren maurischer Häuser gewesen, was in vielen anderen Städten Nordafrikas ganz unmöglich sein soll. Kennen Sie die Alhambra?“

„Jawohl!“ Die Schwestern waren auf der Herreise dort gewesen, und Klara hatte Studien zu einem Bild gemacht, das man im nächsten Jahr mit Vorteil zu verkaufen hoffte.

„Nun, sehen Sie,“ fuhr Hildas Begleiter fort und wies auf die burgartig nach außen abgeschlossenen, fast fensterlosen Gebäudereihen zu beiden Seiten der Straße. „Hier in den Häusern dieser reichen Mauren lebt die Alhambra wieder auf. Im kleinen natürlich, flüchtig ausgeführt, aber eben doch wieder diese Säulenhallen mit ihrer Filigranarbeit an den Wänden und den verschnörkelten Decken und die Gärten mit den Wasserbecken, den Springbrunnen und Orangenbäumen. Und statt der Engländer und Führer und Bettler in der Alhambra hier wirkliche Moslims in weißen Kleidern und Negersklavinnen an den Thüren … kurz, eben Stimmung! Mir wird ganz sonderbar darin zu Mut!“

Die Malerin hatte zugehört und wandte den hübschen Kopf zurück. „Kann man nicht ein solches Haus einmal sehen?“

„Es wird schwer gehen! Für eine Dame ist’s überhaupt mit Tetuan so so! Die Leute hier sind noch zu wenig an unverschleierte Europäerinnen gewöhnt. Sie ärgern sich darüber. Und wie Sie in diesem Gewühl auf der Straße sitzen sollen und Skizzen machen, das weiß ich wahrhaftig nicht. Im günstigsten Fall haben Sie sofort ein paar hundert Menschen, Esel, Hammel und wilde Hunde als Zuschauer dicht um sich her.“

„Ja, es wird Mühe kosten!“ seufzte die blonde Malerin und streifte mit dem Blick eine offene Moschee, in deren Vorraum zwischen den massenhaft herumstehenden gelbledernen Pantoffelpaaren ein einäugiger uralter Araber kauerte. „Sehen Sie nur, wie wütend mich dieser Mensch anschaut! Ich fürchte, wir müssen mit leerem Skizzenbuch nach Tanger zurück!“

Sie war nachdenklich geworden und schwieg, bis man die Fonda d’ España erreicht hatte. Dort stand die dicke Wirtin am Eingang und rief schon von weitem erregt dem Kaufmann ein paar spanische Worte entgeHen.

Auch auf dessen Gesicht malte sich Bestürzung. „Das ist eine schöne Geschichte!“ wandte er sich zu den Damen. „Der deutsche Herr, von dem ich Ihnen sprach … Sie erinnern sich … mit dem ich die Nacht im selben Zimmer schlief …“

„Nun ja … was ist mit ihm?“

„Er scheint plötzlich schwer krank geworden zu sein! Es ist niemand bei ihm. Und, was das Sonderbarste ist, es heißt, daß er Sie erwartet!“

Aufs neue begann die Spanierin ihren Wortschwall.

„Er hat der Wirtin gesagt,“ verdolmetschte Steffen, „es würden drei Damen ankommen, die er gestern in El-Fondak getroffen. Drei Deutsche, darunter eine, die blond und eine Malerin sei. Die wolle er bitten, ihm etwas nach Deutschland oder wenigstens bis Gibraltar mitzunehmen!“

„Warum hat er denn nicht Sie darum gebeten!“ forschte die düstere Gouvernante.

„Er wußte ja nicht, daß ich zurückkommen wollte. Aber wenn Sie wünschen, kann ich natürlich …“

„Nein, lassen Sie nur!“ meinte Klara schnell. „Sagen Sie, bitte, der Wirtin, daß sie mir das Zimmer zeigt!“

Die Kleine hielt sie am Arm zurück. „Aber, Klara! Das schickt sich doch nicht!“ flüsterte sie aufgeregt. „Zu einem Herrn …“

„Zu einem Kranken. Uebrigens kann ja Martha mitkommen.“

Sie stieg mit der Aeltesten hinter der vorausleuchtenden Wirtin die Treppe empor.

Hilda blieb unten zurück. „Um Gottes willen, gehen Sie nicht auch fort!“ bat sie verstört den Reisenden. „Sonst passiert mir heilig irgend ein Unglück in dieser schrecklichen Stadt!“

„Wo werd’ ich denn fortgehen!“ sagte ihr Freund und lächelte, während sie unter seinem Blick die Augen niederschlug.


7.

In einer leeren Whiskyflasche flackerte ein Kerzenstumpf und warf sein helles Licht auf die gegenüberliegende schmutzige Wand mit dem Oeldruck der Madonna. Der übrige Teil des Zimmers lag im Dämmerschein, namentlich das Bett in der Ecke, auf dem der Fremde von gestern gestiefelt und gespornt, in seinen Plaid gewickelt und eine Cigarette zwischen den Zähnen, ruhte.

„Guten Abend!“ klang seine Stimme aus der Gegend, wo das Feuerpünktchen glühte. „Ich danke Ihnen sehr, daß Sie gekommen sind.“

Klara trat näher. „Sind Sie denn wirklich krank?“ forschte sie besorgt.

„Ich bin zusammengeklappt. Und da ich nicht weiß, wie es ausgeht, möchte ich Sie um eine Gefälligkeit bitten.“

Die blonde Malerin rückte einen Stuhl heran. „Also ich soll Ihnen etwas nach Deutschland mitnehmen?“

„Ja. Selber kann ich nicht hin. Sowie ich mich aufrichte, geht mir der Atem aus, und es sind da so Stiche … na, einerlei … ich bin in der Lage, wo man einen vernünftigen Menschen braucht. Also wollen Sie es thun?“

„Gern!“ Sie stand auf, holte das Licht in der Flasche heran und setzte sich erwartungsvoll wieder vor ihn hin.

Er hatte die Augen geschlossen, wie um zu überlegen. Im Kerzenschein sah sie jetzt zum erstenmal sein Gesicht. Gestern Hatte sie die Gestalt nur im Dämmern geschaut, und doch war ihr ein ganz bestimmter Eindruck, eine Erinnerung geblieben. Jetzt plötzlich wußte sie es: Defregger! Das waren die deutschen Alpen, wie sie sich auf harten, kühnen Gesichtern widerspiegeln. Etwas Adlerartiges in Blick und Schnitt des Antlitzes, Kraft, Trotz und unsteter Freiheitsdrang, Vollmenschen der Lebenszähigkeit und Körperkraft, bis an die Grenzen der Wildheit. In diesen Köpfen verliert sich der germanisch blonde Typus. Etwas Welsches kündet sich in dem dunklen Schnurrbart, dem gelblichen Ton der Wangen, der sehnigen Magerkeit des Körpers an, mag auch die Sprache deutsch sein und echt deutsch die kecke Lust an Abenteuern und Gefahren.

„Es ist ja nur eine Kleinigkeit, um die ich Sie bitten möchte,“ sagte er plötzlich. „Verzeihen Sie, daß ich Sie als eine beinahe ganz Fremde damit belästige. Aber sonst kenne ich überhaupt niemand in Tetuan?“

[714] Sie sah ihn erstaunt an. „Sie suchten doch Ihre Freunde hier, wie Sie gestern sagten?“

„Freunde? Was ist das? Wie sieht so ein Ding aus?“

„Mein Gott!“ Sie lachte etwas ungeduldig. „Sie wissen wohl besser als ich, wie Frau Angela Rey aussieht!“

„Ach so! Ja, die ist fort! Weithin über alle Berge!“

„Und hat Sie allein hier zurückgelassen?“

„Sie weiß ja nicht, daß ich krank bin.“ Er starrte vor sich hin. „Uebrigens wäre das auch kein Grund für sie. Sie läßt sich nicht halten, durch nichts. Sie kommt und geht wie sie will.“

„Nun, und womit kann ich Ihnen in Deutschland behilflich sein?“

„Ach so!“ Er wandte den Kopf ihr zu. „Nur dies Päckchen hier. Ich wage nicht, es der französischen Postagentur anzuvertrauen. Es enthält den Auszug aller meiner Beobachtungen und Forschungen in den letzten Jahren.“

Sie wog es andächtig in der Hand und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Ach so …“ sagte er. „Sie wissen ja gar nicht, wer ich bin! Also um mich vorzustellen …“

„O doch!“ Sie ließ ihn nicht ausreden und schaute ihm ins Gesicht. „Jetzt, wo ich Sie im Licht sehe. erkenne ich Sie wohl! Nach einem Lenbachschen Bilde. Im Münchener Glaspalast! Ich weiß, wer Sie sind!“

„Um so besser! Und Sie kehren, wenn ich fragen darf, in nächster Zeit nach Deutschland zurück?“

„Sehr bald! Dies ist unsere letzte Etappe. Und hier wird es, fürchte ich, mit dem Malen nicht viel werden!“

„Schön! Das Paket ist für die Geographische Gesellschaft in Berlin bestimmt. Ich selbst werde kaum mehr in der Lage sein, es zu übergeben, sondern muß Sie darum bitten …“

Sie stand auf und sah ihn mit Angst und Erstaunen an.

„Ja, ja!“ Er lachte vor sich hin. „Einmal nimmt alles ein Ende. Ich habe viel ungestraft durchgemacht. Aber gestern hatte ich ein schlimmes Abenteuer – es ist mir was aufs Herz gefallen, und heute ein noch schlimmeres, ganz ähnliches. Das hat mir den Rest gegeben. Ich glaube nicht mehr, daß ich aus diesem Neste hier herauskomme!“

Sie schwieg immer noch, aber ein ungläubiges Lächeln spielte immer stärker um ihren Mund.

„Und wenn Sie dann lesen, mein Fräulein,“ fuhr er gelassen fort, „daß ein weitbekannter Forschungsreisender, Bergkletterer, Gelehrter etc. in der Fonda d’España zu Tetuan durch ein seliges Ende Europa, dem Deutschen Reich und seinem engeren Heimatlande Bayern entrissen worden ist, dann …“

Sie beugte sich nieder und nahm sein Handgelenk zwischen die Finger. „Ich weiß wirklich nicht, was Sie da reden!“ sagte sie nach einer Weile ganz ruhig. „Sie haben ja nicht einmal Fieber.“

„Fieber soll ich auch noch haben? Es ist genug, daß ich dalieg’ und mich nicht rühren kann. Wissen Sie, was das heißt, wenn ein Mann wie ich auf einmal zusammenklappt?“

„Das heißt gar nichts! Gerade bei einem Manne wie Sie!“ Eine Röte des Unmuts übergoß ihr hübsches Gesicht, und sie sprach ganz laut und energisch: „Wenn man das hinter sich hat, was Sie durchgemacht haben, ist es denn da ein Wunder, wenn plötzlich die Konstitution nachgiebt? Aber das geht doch auch wieder vorüber!“

Er sah sie lächelnd an.

„Das ist so echt weiblich. Es soll immer wieder alles gut werden!“

„Das muß es auch! Man muß nur ordentlich hoffen und den Kopf oben behalten. Glauben Sie denn, Sie sind der einzige, dem das passiert? Es haben andere auch schon dagelegen und Stiche im Herzen gehabt – bildlich gesprochen – und gemeint, sie müßten sterben, und sind doch wieder gesund geworden und fröhlich. So wird’s Ihnen auch gehen!“

„Woher wissen Sie denn das so genau?“

„Nun, das kommt doch wirklich überall auf der Welt vor!“ sagte sie ruhig. „Dazu braucht man wahrhaftig nicht erst nach Afrika zu gehen. Die Hauptsache ist nur, daß man nicht bloß daliegt und klagt.“

„Aber ich bin nun einmal krank!“

„Krank sind Sie freilich. Aber wer so kräftig und rüstig ist wie Sie, der wird auch wieder gesund. Er muß nur ordentlich wollen! Sie haben doch gewiß Energie genug dazu!“

„Ich hab’ gar keine Energie mehr! Es ist alles fort, die Nerven … die Spannkraft … alles …“

„Das bilden Sie sich ein!“ Sie wurde beinahe zornig. „Natürlich … wenn man den ganzen Tag in diesem greulichen Zimmer daliegt, zur Decke starrt und Cigaretten raucht, dann muß man ja in eine aschgraue Stimmung kommen. Darum müssen Sie vor allem von hier weg. So bald wie möglich.“

„Ich kann doch nicht!“

„Sie müssen können! Sie haben gewiß schon Schwereres in Ihrem Leben durchgemacht! Wenn Sie sich da mitten in Afrika plötzlich in Ihre Decke gewickelt und steif und still auf den Boden gelegt hätten, da hätten die Wilden Sie längst gefressen. Es ist wirklich schrecklich! Nun haben Sie alles hinter sich, sind am Ziele, wenige Stunden von Europa, und da liegen Sie und reden vom Sterben! Ein Mann wie Sie! Wenn ich nicht genau wüßte, daß Sie’s sind, ich würd’ es nicht glauben!“

„Also eine regelrechte Gardinenpredigt!“ sagte der Afrikaner melancholisch und richtete sich doch dabei halb auf dem Ellbogen auf. „Nicht einmal ein alter kranker Junggeselle in der Wildnis ist davor sicher!“

Sie errötete. „Ich habe natürlich kein Recht, Ihnen irgendwelche Vorwürfe zu machen!“ sprach sie stockend und wandte sich ab. „Es ist nur … man kann sich wirklich ärgern! Sie haben vorhin gemeint, was ich sagte, sei so echt weiblich. Nun sehen Sie – echt weiblich ist es auch, daß man die Männer gerne kräftig und energisch, so recht voll Mut und Schneid sieht. Und gar einen Mann wie Sie! Gestern, wie Sie so im Galopp in die Nacht hineinritten, da haben Sie mir imponiert. Aber heute … es thut mir geradezu weh, Sie so schwach und mutlos zu sehen, das können andere auch. Dazu braucht man nicht Ihren Namen zu tragen!“

„Also eigentlich ist die Sache höllisch einfach!“ versetzte der Afrikaner trocken. „Ich soll Ihnen zuliebe in aller Eile wieder gesund werden!“

Sie lachte hellauf. „Freilich sollen Sie das! Und meinetwegen mir zuliebe, wenn es dann rascher geht, obgleich wir beide uns ja gar nicht kennen.“

„Wir kennen uns genau seit vierundzwanzig Stunden, das ist eine sehr lange Zeit.“

„Wie man’s auffaßt. Jedenfalls nehme ich mir, da niemand anders da ist, das Recht, Ihnen ins Gewissen zu reden! Ich weiß, das hilft! Ich kann mich ja natürlich neben Ihnen nicht nennen, aber ich habe auch schon schwere Stunden gehabt im Leben und war ganz mutlos und verzweifelt. Da hab’ ich mich gefragt: Wozu bist du auf der Welt? und geantwortet: Zum Arbeiten! und mich an meine Staffelei gesetzt und Bilder gemalt, wovon ich und meine Schwestern leben. Und so sollten Sie sich fragen, wozu Sie da sind! Da würden Sie finden, daß Sie das Schicksal zu großen Dingen geschaffen hat und nicht, um Trübsal zu blasen. Das steht Ihnen gar nicht zu Gesicht!“

Sie hatte sich in Erregung gesprochen. Eine feine Röte bedeckte ihre Wangen.

„Und nun leben Sie wohl!“ sagte sie, sich sammelnd. „Und das Päckchen da will ich also in Gottes Namen mitnehmen.“

„Bleiben Sie doch noch!“ bat der Afrikaner lächelnd, „die Gardinenpredigt war noch viel zu kurz. Es muß noch ganz anders kommen. Ich bin ein zu hartgesottener Sünder!“

Sie mußte lachen. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich mir hab’ erlauben können, Ihnen das alles zu sagen! Es kam so über mich. Die Umgebung ist schuld. Unter all diesen braunen Menschen kommen wir Europäer uns wie alte Bekannte vor, beinahe wie Verwandte, die aufeinander angewiesen sind. Also … seien Sie nicht böse!“

Sie reichte ihm die Hand. Er hielt sie fest. „Böse?“ frug er. „Ich danke Ihnen! Wenn ich nun doch nicht sterbe, sind Sie daran schuld.“

„Die Schuld will ich gerne tragen. Wenn es nur geholfen hat!“

[715] „Das muß es wohl! Sie sind zu sehr im Vorteil gegen mich. Sie waren gestern die erste europäische Dame, die ich seit zwei Jahren gesprochen hab’ – bedenken Sie, wie da jedes Wort einer Gardinenpredigt wirkt – Sie sind jung, gesund, frisch, heiter, mit sich und der Welt zufrieden – schlendern mit Ihrer Skizzenmappe im afrikanischen Regen herum, als ob sich das von selbst verstände – kurz, ein ganzer Kerl – verzeihen Sie das Wort, aber ich muß mich erst wieder an den Verkehr mit Damen gewöhnen – hingegen ich … Ja, was bin ich denn noch? …“

„Ich sage Ihnen kein Kompliment!“ Sie drückte ihm noch einmal die Hand zum Abschied. „Das thäte Ihnen jetzt nicht gut. Sagen Sie sich lieber in Ihrem verschwiegenen Innern einige Offenherzigkeiten, je deutlicher desto besser, dann wachen Sie morgen als ein ganz anderer Mensch auf! Nun Adieu! Ich hör’ unten unser hungeriges Nesthäkchen rufen, daß das Essen fertig ist. Wir schicken Ihnen was herauf. Nehmen Sie etwas zu sich, lassen Sie Ihren Cognac ungetrunken, Ihre Cigaretten ungeraucht … und machen Sie sich keine trüben Gedanken mehr. Wollen Sie mir das versprechen?“

Er lächelte seltsam.

„Was Sie wünschen. Es ist zu komisch: ein Mensch, der um einen sorgt, das bin ich gar nicht gewohnt!“

„Ja, irgend jemand muß Sie doch pflegen!“

„Mich hat kein Mensch gepflegt … seit Jahren. Draußen in Europa hab’ ich für tot gegolten und da unten, in der schwarzen Welt, da hätten Sie mich am liebsten tot gesehen, da war ich ganz allein. Von Ihnen kommt mir seit langer, langer Zeit die erste wirkliche Teilnahme, aus dem Herzen heraus. Nicht bloß aus Höflichkeit oder weil man dafür zahlt. Das thut so wohl. Geben Sie mir noch einmal die Hand!“

„Meinethalb! Aber nun zum dritten- und letztenmal!“

„Zum letztenmal hoffentlich nicht!“ sagte er lachend.

Auch sie lachte. Sie nickten sich zu und schieden.


8.

Mit seinem blonden Vollbart, dem narbengezierten Antlitz, das dem alten Korpsstudenten hier in Afrika das Aussehen eines furchtbaren Kriegers gab, und dem funkelnden Kneifer die Menge der um ihn gescharten Mauren und Juden weit überragend, stand Albrecht Steffen auf dem Marktplatz da und handelte. Mit der Kaltblütigkeit des vielerfahrenen Geschäftsmannes, den der ehrwürdige arabische Kaufmann so wenig übers Ohr haut wie Israel in all seinen Schattierungen, vom alttestamentarischen Patriarchen in Käppchen und Kaftan bis zu dem bleichen spanischen Elegant in dem abgelegten Civil irgend eines britischen Lieutenants aus Gibraltar.

Das eigentliche Geschäft war beendet. Es galt jetzt nur noch, die Kaufsumme zu zählen und das dazwischen verteilte falsche Geld auszuscheiden. Zu diesem Zweck hatte sich die ganze Gesellschaft um einen aus dem Schlamm des Bodens aufragenden und von der Morgensonne bereits getrockneten Feldstein gruppiert. Auf diesen ließ der Handlungsreisende mit geübter Hand eines der großen silbernen Fünfpesetastücke nach dem anderen aufspringen, um dann je nach dem Klang des Metalls die Münzen, die ein Berberjunge aus dem Kot auffischte und blank rieb, seinem leinenen Geldbeutel einzuverleiben oder ohne ein weiteres Wort dem Käufer wieder zuzustellen.

„Die Welt wird ehrlich, meine Damen!“ lachte er und lüftete, zu der herankommenden kleinen Maultierkarawane gewendet, den Schlapphut. „Kaum ein Fünftel falsches Geld! Es ist geradezu unheimlich!“

Hilda reichte ihm vom Sattel herab die Hand. „Was werfen Sie denn um Gottes willen das Geld in den Schmutz, Herr Steffen?“

„Ich sondere die Spreu vom Weizen!“ Er wies auf das zurückgeschobene Silberhäufchen, in das sich ein weißbärtiger, düster schöner Araber mit einem jungen jüdischen Stutzer schweigend teilte. „Das ist alles falsches Geld. Dessen Anfertigung ist, wie Sie wissen, außer dem Stierkampf und dem Bürgerkrieg die einzige Arbeit, die das spanische Volk als seiner würdig betrachtet. Und man muß es ihm lassen: darin ist es unermüdlich. Ich war übrigens auch nicht faul. Ich habe heute schon Leder gekauft, Pesetas gewechselt, einen vorteilhaften Abschluß in Blutegeln gemacht und eine Hausse in Honig hervorgerufen – ich komme mir vor wie Rothschild auf der Londoner Börse!“

„Und was haben Sie jetzt vor?“

„Nichts!“

„Dann begleiten Sie uns doch!“ bat die Kleine. „Wir haben solche Angst, Tetuan ist eine schreckliche Stadt. Zu Fuß können wir uns auf der Straße schon gar nicht sehen lassen, nur auf diesen abscheulichen Maultieren. Dabei kann Klara natürlich nirgends zeichnen. Jetzt haben wir uns den Schlüssel zur Festung holen lassen. Da kommt niemand anders hinein, und wir sind vielleicht eine Weile ungestört!“

„Hoffen wir’s! Ich glaub’ es nicht! Der Schlüssel ist doch nur dazu da, um von den Fremden Bakschisch zu erlangen. Das Volk klettert, wo es will, über die Mauern. Wie war denn die Nacht?“

„Fragen Sie nicht!“ sagte die Kleine melancholisch. „Ich mache ja eine Erholungsreise. An die Erholung werd’ ich denken!“

Sie klommen, die Stadt im Rücken lassend, zu der Kasbah, dem hochragenden maurischen Kastell Tetuans, empor. Die Gassen hörten auf. Schuttplätze, grasbewachsene Hänge umgaben den Weg bis in das Innere des zerfallenen Werks. Eine wüste Trümmerwelt, wie überall in dem verrotteten Lande, in dem selbst die Erinnerung an die einstige maurische Herrlichkeit von Granada, an Cordovas Kunstblüte, an den Glanz der Wissenschaft am Hofe der Omaijaden völlig geschwunden, in der Roheit eines unwissenden, fanatischen Hirtenvolkes versunken zu sein scheint.

Verfall ringsumher in den bröckligen Mauern, den verrosteten Kanonen auf fauligen Lafetten, den aus den Angeln hängenden Thoren. Nur eins war von der Zeit unversehrt geblieben: der Blick von dem Wartturm herab auf das weiße, im Frühlicht leuchtende Häusermeer von Tetuan, die ringsum saftgrün prangende Ebene, von fahler, zerrissener Bergwildnis umrahmt, und in der Ferne der silberblaue Schimmer des Mittelmeers.

Hier ließ sich Klara nieder und begann ihr Malgerät zu ordnen. Die Gouvernante setzte sich steif abseits und Hilda ging mit dem jungen Kaufmann plaudernd zwischen den behaglich im Grase sich wälzenden Maultieren auf und ab.

Es war Steffen, als sei zwischen den Schwestern etwas vorgefallen. Und in der That konnte ihm die Kleine ihr überströmendes Herz nicht lange verschließen.

„Denken Sie nur,“ sagte sie bekümmert und beklommen und blieb stehen. „Wir haben uns heute morgen gezankt … wir drei! Das passiert sonst nie! Wir haben uns ja so gerne. Aber wir sind schon alle so nervös und weinerlich, von dem abscheulichen Land … zwei Nächte haben wir jetzt kein Auge zugemacht, sondern auf den Stühlen gesessen und Licht gebrannt – Sie können sich schon denken, weshalb – und den Tag über immer im Regen auf dem bösen Maultier und die Treiber mit ihrem ,Aerra! Aerra!‘ hinterher, und nichts zu essen und zu trinken. Wir haben nur noch eine Flasche. Auf der steht ‚Old scotch Whisky‘ und innen schwimmen ein paar Pfropfen, eine Menge Fliegen und ein bißchen Rotwein, schwarz wie Tinte … nein … ich halt’ es nicht aus; ich hab’ es Klara gesagt: Ich will nach Tanger zurück! Meine älteste Schwester auch!“

„Eine solche Weltumseglerin! Das nimmt mich wunder!“

„Ja, das hat seine Gründe.“

Die Kleine lächelte verstohlen.

„Sehen Sie nur, wie grimmig sie dasitzt! Sie möchte um ihr Leben gern in Tanger sein, wenn die Cooksche Reisegesellschaft dort ankommt. Wir haben sie vor vier Wochen in San Sebastian getroffen. Unterdes sind die Cooksleute überall in Spanien gewesen.“

„Und nun kommen sie von Cadix nach Tanger?“

„Ja, und von da nach Gibraltar. Und da ist jemand darunter … ein verwitweter Major außer Diensten. Lachen Sie, bitte, nicht! Wenn Sie meine Schwester ansehen, werden Sie merken, daß das noch ganz gut ginge! Der Major ist auch nicht mehr der Jüngste. Und daß er gerade schön ist, kann man nicht [716] behaupten. Er hat das alles mehr innerlich und ist ein sehr guter Mensch. Trotz seinem Fluchen und Krakehlen.“

„So, so!“ sagte der Kaufmann nachdenklich und blickte auf die schwarz und reglos dasitzende Gouvernante. „So spinnt sich derlei über Länder und Meere!“

„Ja, wenn man ein bißchen was dazu thut!“ beharrte die Kleine eifrig. „Sehen muß man sich doch vor allem, und dann ist es noch zweifelhaft, ob etwas daraus wird. Aber Klara will ja nicht. Sie will nicht fort von hier.“

„ . . Ja, wenn sie doch hier malen muß!“

„Sie kann ja nicht. Sehen Sie, Sie haben recht gehabt. Da kommen diese schrecklichen braunen Kerle und Kinder und alles schon über die Mauern geklettert und stellen sich um sie herum. Und wenn der Soldat sie wegtreibt, giebt es erst recht ein Geschrei und Gezänke, daß man jeden Augenblick glaubt, es bleibt einer tot. Vorhin haben sie schon um die Ecke herum mit Steinen nach uns geworfen. Nein, hier ist nichts zu holen!“

„Aber warum bleibt Ihre Schwester denn hier?“

„Ich weiß es schon!“ meinte Hilda.

„Aber ich werd’ mich hüten, es zu sagen! Und was sie will, das geschieht! Denn sie verdient ja doch alles Geld. Ich verdanke es doch auch nur Klara, daß ich hab’ mein Lehrerinnenexamen machen können.“

„Und jetzt wollen Sie eine Stellung annehmen?“

„Ich hab’ schon eine. In Genf. Die Familie eines Seidenfabrikanten, wo die Kinder Deutsch lernen sollen. Am 20. Juni muß ich dort sein. Meine Schwestern laden mich auf der Rückreise dort ab. Das sind jetzt die letzten Tage meiner goldenen Freiheit. Aber einen rechten Genuß habe ich eigentlich nicht davon!“

„In Genf.“ Der Handlungsreisende strich nachdenklich den langen blonden Vollbart. „Schade. So weit weg.“

„Ja, ich habe auch Angst vor dem fremden Land und den fremden Menschen!“ seufzte die Kleine. „Aber was hilft’s? Wir sind Waisen. Geld haben wir keins; also müssen wir auf eigenen Füßen stehen. Das hat mir Klara so oft gepredigt und vor allem durch ihr Beispiel bewiesen, daß ich mich damit vertraut gemacht hab’ . . . . . Sehen Sie… da kommt sie herunter, all ihre Sachen unter dem Arm. Es geht nicht mit dem Malen!“

Auf dem Gesicht der jungen Künstlerin lag ein unverhohlener Aerger, während sie die zerfallenen Steinstufen mehr herabsprang als ging, ein Haufe neugierig gaffendes und gurgelndes braunes Volk im Trabe hinterher.

„Wir wollen in die Fonda zurück!“ sagte sie heftig. „Man kommt sich hier ganz dumm vor. Am Ende thun uns die Leute noch was! Auf die Soldaten ist doch kein Verlaß!“

Die Gouvernante stand auf. „Am besten wär’ es,“ sprach sie knapp und düster, „wir ließen die Maultiere gesattelt und ritten gleich nach Tanger weiter. Jetzt ist das Wetter schön. Morgen abend können wir dort sein!“

„Ach ja, nach Tanger! Bitte, bitte!“ wiederholte die Kleine und hob flehend die Hände.

Ihre hübsche Schwester stand unschlüssig da und blickte zu Boden. „Ja sollen wir denn etwa den Kranken allein lassen?“ frug sie, ohne die beiden andern anzuschauen, in ungewohnt heftigem Ton. „Das wäre doch wirklich unverantwortlich!“

„Ach. Er ist gar nicht mehr so krank. Heute morgen war ihm doch schon viel besser!“

„Er wollte ja aufstehen!“ setzte die Gouvernante in ihrem Baß dazu. „Fieber hat er ja auch keines. Da ist doch keine Gefahr. Aber freilich …. du mußt es ja besser wissen. Du pflegst ihn ja. Das geht allem andern vor.“

„Ich habe nur eine Menschenpflicht erfüllt!“ sagte Klara heftig und schaute auf. „Also wenn es ihm wirklich besser geht und er außer Gefahr ist – aber auch nur dann – wollen wir gleich aufbrechen!“

„Hurra!“ rief Hilda und wollte die Malerin in ihrer überströmenden Freude umarmen. Aber zugleich fast hielt sie erschrocken inne. Sie hatte den traurigen Blick aufgefangen, mit dem der verschlagene Korpsstudent sie musterte.

„Nun müssen wir uns Adieu sagen, Herr Steffen!“ sprach sie und wandte, während sie ihm die Hand reichte, halb den Kopf zur Seite. „So geht’s auf der Welt. Kaum kennt man sich, so muß man auseinander.“

„Ich hoffe, wir sehen uns doch noch in nächster Zeit einmal!“ Der Handlungsreisende hatte seinen Zwicker abgenommen und polierte ihn umständlich mit seinem Taschentuch. „In Gibraltar.“

„Ach, kommen Sie hinüber?“

„Es wird dieser Tage hier ein Schiff erwartet, das hinüber fährt. Der ‚Piélago‘. Solch eine Gelegenheit muß man ausnutzen!“

„Natürlich!“ sagte Hilda eifrig. „Sie haben doch gewiß dringende Geschäfte drüben!“

„Und wie! … das Leder … und dann vor allem meine Blutegel … und überhaupt …“

„Und der Pesetakurs!“

„Richtig. An den Pesetakurs habe ich gar nicht gedacht. Also Sie sehen: es ist viel zu thun! Ich muß hin!“

Die Kleine nickte ernsthaft. „Das glaub’ ich! Uebrigens, damit Sie das in Ihren Geschäften nicht vergessen: wir wohnen im ‚Hotel Bristol‘.“

„Das trifft sich gut. Ich steige nicht weit davon im ‚Grand-Hotel‘ ab.“

„Und da werden Sie uns besuchen?“

„Ich hoffe bestimmt, daß meine Zeit es mir ermöglicht,“ sprach der abenteuernde Kaufmann und drückte zum Abschied ihre Hand.

*               *
*

Vor der Fonda d’España stand, als sich die Damen näherten, der Afrikaner, von Cigarettendunst umweht und auf einen Stock gestützt. Bei seinem Anblick hellten sich Marthas und Hildas Mienen auf. Gottlob – der Fremde hatte sich wirklich erhoben und brauchte keine Hilfe mehr! Der Weg nach Tanger war frei.

Auch auf dem hübschen Gesicht der Malerin erschien ein Lächeln, das freilich einen beinahe schmerzlichen Zug hatte. „Sehen Sie wohl!“ rief sie mit ihrer hellen Stimme, „es kommt, wie ich Ihnen gestern gesagt hab’! Ein bißchen angegriffen schauen Sie ja noch aus …“

„Es ist mir auch noch recht flau zu Mute!“ sagte der Forschungsreisende. „Aber die Nerven sind wenigstens wieder da. Nach dem kalten Sturzbad Ihrer Gardinenpredigt gestern. Die hat gewirkt!“

„Das wußt’ ich ja!“ Klara hob sich an der Hand des Hotelkuriers aus dem Sattel. „Sonst hätte ich es mir wahrhaftig nicht herausgenommen.“

„Zeit und Umstände waren aber auch wirklich günstig!“ sagte er, wie um sich zu verteidigen. „Sie können eigentlich stolz sein. Es ist lange her, daß irgend ein Mensch auf mich Einfluß gehabt hat! Da draußen in der Wildnis verlernt man’s, nach fremdem Rat zu fragen. Da ist das Ich das Einzige, was man hat!“

Er sah nachdenklich in die Weite. In herben, kühnen Linien zeichnete sich sein herrisches Profil in der durchsonnten Luft ab.

Von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, nestelte sie an ihrem Malgerät. „Bleiben Sie nur kurze Zeit so stehen!“ sprach sie rasch. „Bitte! Mir zuliebe!“

„Was soll es denn, mein Fräulein?“

Sie lachte etwas befangen und klappte ihr Skizzenbuch auf. „Mit meiner Malerei hier ist es nichts geworden! Nun müssen Sie mich entschädigen. Sie stehen gerade so charakteristisch da. Wie beim Photographen!“

„Soll ich auch ein freundliches Gesicht machen?“ frug er, ohne sich zu regen.

„Um Gottes willen … nein! Das würde alles verderben. Gerade so wie Sie sind. Und die Umgebung … die niedrige Mauer … die Palme darüber. Das stimmt alles. Im Augenblick bin ich fertig. – Wissen Sie, woran Ihr Kopf mich erinnert?“ fuhr sie fort, mit ihren prüfenden Blicken zwischen ihm und ihrer Skizze wechselnd. „An die Leute, die man bei Partenkirchen sieht. Um die Zugspitze herum und in der Gegend!“

[718] „Da bin ich auch zu Hause.“

„Eben diese Bergführer und Wildschützen und was es alles für Menschen sind – die haben einen verwandten Zug mit Ihnen – namentlich in den Augen. Dieser weite, suchende, unstete Blick. Nur natürlich ist bei Ihnen alles vergeistigt. Der Gelehrte schaut hindurch.“

„Ja, leider!“ sagte er, ohne seine halb von ihr abgewandte Stellung zu ändern. „Mein Leben hat der Wissenschaft gehört. So heißt es wenigstens, und halb mit Recht. Denn es giebt wenige Winkel der Erde, wo ich nicht Schädel gemessen und Trigonometrie getrieben und meinen Hypsothermometer ausgepackt hab’. Aber glauben Sie mir: schließlich ist die Wissenschaft doch nur ein Mantel für mich und viele meinesgleichen. Wir werfen ihn um, weil wir uns schämen, uns und der Welt einzugestehen, daß wir eigentlich nur aus reiner, unbezwinglicher Abenteurerlust, aus Freude an einem ganz ungebundenen Dasein uns unser Leben um die Ohren schlagen. Da liegt die Verwandtschaft mit Gemsenjägern, Wildschützen und derlei. Die haben es meist auch nicht nötig. Es ist nur die Lust am Wagnis, an der Gefahr, was sie hinaustreibt. Mich auch. Wie ich Ihnen schon gesagt hab’, ich bin eigentlich ein halber Wilder. Und wann darf ich mich denn nun endlich rühren?“

„Jetzt!“ sagte sie und reichte ihm das Blatt.

„Da sind Sie!“

„Aber geschmeichelt!“

Er schüttelte den Kopf.

„Daran merkt man die weibliche Hand.“

„Sie sehen ja auch nicht immer so schlecht aus wie jetzt, sondern hoffentlich besser, wenn wir uns einmal im Leben wieder treffen. Denn für jetzt,“ sie wies auf die Mauren, die das Gepäck der drei Schwestern aus der Herberge zu den bereitstehenden Maultieren trugen, „… für jetzt trennen sich unsere Wege. Wir gehen nach Tanger zurück!“

„O wirklich?“ sagte er in gleichmütigem Ton. „Und bald?“

„Jetzt gleich! Sie brauchen mich ja nicht mehr und der Aufenthalt hier . . .“

„Ich glaube gar, Sie wollen sich noch entschuldigen!“ Er sah sie erstaunt an. „An mir ist es, Ihnen zu danken. Für alles. Sobald ich kann, reite ich auch nach Tanger. Aber ich fürchte, das dauert noch einige Tage und ich finde Sie nicht mehr dort!“

Sie erwiderte nichts.

„Und das Päckchen für Berlin haben Sie mit sich?“

„Ja.“

„Nun, dann will ich wieder gehen und mich hinlegen. Also nochmals besten Dank und gute Reise!“


9.

Weit in der Ferne, vom blauen Himmel überwölbt, lag auf dem Rücken der Berge eine weiße Häusermasse, die mit ihren sich terrassenförmig abstufenden Dächern bis zu dem unsichtbaren Meere hinabstieg, Tanger, der Berührungspunkt Marokkos mit abendländischer Kultur.

Davor das breitgewellte Steppenthal des nach Tingis rinnenden Flusses, mageres, sonnenverbranntes Weideland, das Gebrüll grasender Rinder, das leichte Rauschen des Windes in zitterndem Gras, das Wehen der Einsamkeit und Oede.

Und doch lebte und wimmelte es an einer Stelle dieser kahlen Fläche und schob sich als ein Gewirr von Hunderten von braunen Gestalten durcheinander, die in ihren fahlen Gewändern, ihrer Massenhaftigkeit der Erde selbst entsprossen zu sein schienen. Denn nirgends war eines der von kleinen Saatstücken und Baumgruppen umgebenen Berberdörfcr, nirgends eine Hütte oder auch nur ein Zelt oder sonstiges Obdach zu sehen. Das Geplätscher des zur Seite zwischen Weidenbüschen hinrauschenden Baches schien allein die Eingeborenen veranlaßt zu haben, gerade hier, inmitten der Wüste, jeden Donnerstag ihren großen Markt abzuhalten.

Ein seltsames Bild! Unter dem brennenden Himmel die zerlumpten, wildblickenden Nomaden, die lange Steinschloßflinte in der Hand, die Hammel- und Ziegenherden um sich, unverschleierte, in braune Mäntel gewickelte Berberfrauen daneben, mit ihren Körben voll Eier, ihren Hühnern und den Haufen halbnackter Kinder, selten einmal ein bunter Turban in dem Gewoge kahlgeschorener, bezopfter und mit Ohrbüscheln geschmückter Schädel – das Ganze farblos und düster in seinem Durcheinanderraunen und Zischeln, dem Huschen bloßer Füße, dem unvermittelten Getriebe von Mensch und Tier inmitten der weiten Heide.

Die drei Damen ritten beklommen hindurch, von finsterneugierigen Augen verfolgt, und atmeten erst freier auf, als der Wüstenmarkt in ihrem Rücken lag und nur noch der Wind zuweilen einen Hahnenschrei, ein paar zornige Worte oder das Gewieher eines Rosses herübertrug. Es war still zwischen ihnen, seit sie am Tage vorher Tetuan verlassen und diesmal unter ihrem Zelt eine leidliche Sommernacht in El-Fondak zugebracht hatten. Auf jeder lastete etwas in anderer Weise und hieß sie schweigen.

Am Wege stand, mit langem Seile festgepflöckt, ein prachtvoller arabischer Schimmelhengst und starrte mit gespitzten Ohren und feurigen Auges die Europäer an, daß die Soldaten wohlgefällig lächelten und der Hotelkurier sich grinsend zu Klara umwandte, um sie auf das schöne Tier als „eine Mohrenkuriosität“ aufmerksam zu machen.

Aber heute sah die blonde Malerin nicht rechts noch links. Sie ritt dahin, als ob sie all diese Dinge gar nichts mehr angingen, und wenn auch ihr Gesicht ruhig und hübsch war wie immer, so entging doch ihre Blässe und Schweigsamkeit selbst dem Mauren nicht. Kein Wunder freilich nach der anstrengenden Reise, bei schlechtem Wetter und noch schlechteren Quartieren; die britischen Offiziere selbst, die von Gibraltar kamen, nannten diesen Ritt ein „rauhes Werk“. Und nun gar erst für Damen! Da hatte die Lady wohl recht, so sehnsüchtig in die Ferne zu schauen, als hoffe sie da jeden Augenblick die wieder hinter den Hügeln verschwundene weiße Stadt Tanger in nächster Nähe auftauchen zu sehen.

Aber die Lady schaute mit ihren inneren Augen etwas anderes in der Ferne, etwas, das ihr seit gestern fortwährend vor den Sinnen stand, so greifbar, so körperlich, daß sie es da förmlich vor sich zu erblicken glaubte, wie es langsam über die Steppe hinritt, in der trotzigen Gestalt eines europäischen Forschungsreisenden, mit dessen dunklen Schnurrbartenden der Wind spielte, – hinter ihm, braun und schweigsam, mit brennend rotem Fez, sein marokkanischer Diener.

Sie erschrak, so deutlich sah sie das alles auf der von der Sonnenglut überzitterten Heide. Es war wie eine Vision. Sie schloß die Augen, um das Bild los zu werden.

Aber fast zugleich brach Hilda hinter ihr das trübe Schweigen, in dem die Gedanken der Kleinen wehmütig nach Tetuan zurück und voll Wiedersehenshoffnung nach Gibraltar und in krausem Durcheinander vom Blutegelexport zum Pesetakurs wanderten und über das Ganze hin gebieterisch ein blonder Vollbart mit altvernarbten Schmissen darunter wehte.

„Jetzt da hört doch alles auf!“ sagte sie verdutzt. „Ich muß mir wahrhaftig die Augen reiben, ob das wahr ist!“

„Was siehst du denn?“ Die Malerin hielt die Wimpern gesenkt. Ein plötzlicher freudiger Schrecken zog ihr Herz zusammen.

„Na, ihn seh’ ich!“

„Wen denn?“

„Ihn! Deinen Afrikaner! Weiß Gott .. da reitet er. Es ist gar kein Zweifel: er ist’s. Jetzt hat er unsere Stimmen gehört. Er dreht sich um! Siehst du wohl …“

„Aber ein Mensch kann doch nicht an zwei Orten zugleich sein!“ tönte vom Ende des Zuges der Baß der Gouvernante. „Liebe Kinder … das ist unheimlich. Am Ende giebt’s hier Wüstengespenster!“

In Marokko war freilich vieles möglich! Die Damen bekamen etwas Angst. In banger Neugier ließen sie sich von den Maultieren vorwärts tragen, dem Fremden zu, der ihnen jetzt in kurzem Galopp entgegenkam. Der Leib seines Pferdes war glänzend naß von Schweiß.

„Guten Morgen!“ sagte er gleichmütig und lüftete die Kappe. „Darf ich fragen, warum Sie mich so erwartungsvoll anschauen?“

[719] „Ja, sind Sie es denn wirklich?“ Die hübsche Malerin reichte ihm zögernd, aber mit sonnigem Lächeln die Hand. „Wie kommen Sie denn um Gottes willen hierher?“

„Eigentlich sind Sie doch noch in Tetuan!“ fügte die Kleine schüchtern hinzu.

Er lachte. „Ich war in Tetuan und fühlte mich, seit Sie gestern fort waren und auch sonst kein Mensch mehr da, dort höchst überflüssig. Mit meinem Befinden ging es immer besser. Da ließ ich mir heute bei Sonnenaufgang mein Pferd satteln und ritt los, im Galopp; der bringt einen vorwärts. Man braucht weniger als die halbe Zeit wie mit dem Maultier!“

„Aber da müßten Sie doch an uns vorbeigeritten sein!“

„Es führen drei Wege von Tetuan nach Tanger. Ich habe einen andern, näheren eingeschlagen. Aber den Rest legen wir, wenn es Ihnen recht ist, gemeinsam zurück!“

Den Damen war es freilich recht. Sie waren so überrascht durch das plötzliche Wiedersehen, daß sie kaum ein Wort fanden, um das Gespräch in Fluß zu erhalten. Und zudem erforderte eben hier der schlechte Weg volle Aufmerksamkeit und darum Schweigen. Er bestand, wie auch an den meisten anderen Stellen, nicht aus einer Straße im europäischen Sinn, sondern aus einer Anzahl ausgetretener, schmal und tief in den Kiesboden gebetteter Rinnen, die sich in wirren, planlosen Schlangenlinien durcheinander wanden, einigten und teilten. Dichtes Gebüsch und Zwergpalmenunkraut wuchs darüber hin und riß dem Unachtsamen jeden Augenblick den Fuß aus dem Bügel oder ließ das Knie unversehens an einer der sonderbaren, kegelförmig bis zu Mannshöhe aus dem Boden wachsenden Kiespyramiden anprallen.

Jeder suchte sich hier seinen eigenen Pfad, auf dem er sein Tier lenkte. Aber da diese Spuren immer wieder ineinander- und auseinanderliefen, stieß man doch häufig genug auf demselben Weg zusammen. Das erste Mal, als sich Klara und der Forscher begegneten, lachten sie nur und lenkten die Zügel nach rechts und links, aber ihre beiden Wege näherten sich rasch wieder in weitem Bogen und wieder sahen Roß und Maultier einander freundschaftlich in die Augen. Diesmal wurde die Malerin unwillig und bog beinahe querfeldein, einem großen Busch zu. Hier auf dem äußersten Randweg war ein ungestörtes Reiten möglich, in diesem dichten Strauchwerk, das sie bis über das Haupt umfing und plötzlich, inmitten der Hecken, ihr wieder die Wahl zwischen drei oder vier strahlenförmig sich teilenden Einschnitten freistellte. Sie ließ ihr Saumtier gehen wie es wollte. Das geduldige Geschöpf spitzte die Ohren und schritt so rasch aus, daß es gerade am Ende des Busches wieder mit Roß und Reiter, die von der anderen Seite kamen, zusammentraf.

Der Afrikaner lachte. „Sie sehen … wir entgehen uns nicht. Unsere Wege führen uns immer wieder zusammen.“

„Ich kann wirklich nichts dafür. Das Maultier ist schuld!“

„Warum fassen Sie das so prosaisch auf! Das arme Maultier ist doch nur ein blindes Werkzeug!“

„Ein Werkzeug wofür?“

„Für das, was die ganze Welt lenkt. Frivole Menschen wie ich nennen es Zufall, fromme Gemüter Vorsehung. In der Sache ist’s dasselbe: was geschehen soll, das geschieht! Und es ist offenbar im Rate des Schicksals beschlossen, daß wir heute nachmittag zusammen durch dieses Thal pilgern sollen!“

„Sie sind also richtiger Fatalist!“

„Das wird jeder, der sich viel in der Welt herumgetrieben hat. Je mehr er erfährt und erlebt, desto deutlicher sieht er, daß nicht das geschieht, was er will oder meint oder fürchtet, sondern daß eine ganz fremde Gewalt ihn aufhebt und da- und dorthin stellt wie die Schachfigur auf dem Brett. Uns stellt diese Hand heute eben nebeneinander. Da müssen wir uns schon darein finden.“

Die Malerin lächelte. „Wenn mir nichts Schlimmeres passiert,“ sagte sie, „als hier in Afrika ein paar Stunden von Ihnen beschützt zu werden …“

„Zwei Stunden höchstens noch. Dann sind wir in Tanger und Sie der Freiheit zurückgegeben. Bis dahin müssen Sie mir schon erlauben, daß ich vor Ihnen reite. Dann geht es besser!“

„Ja, zeigen Sie mir nur den Weg!“

Ein glückliches Lächeln verklärte, sowie er den Rücken wandte, ihr Gesicht.

„Ich folge Ihnen gern.“

Viel sprechen konnte man auf diese Weise nicht mehr, und wieder ritten sie stumm und gedankenvoll dahin durch die glühende Steppe, deren würziger herber Hauch sie im Wehen des Windes umfing und emporstieg zu dem sonnenwarmen, unergründlich blauen Weltraum über ihnen. Ringsum die lachende Reife des ersten Sommers, Stille und Größe um die beiden, die, da das Maultier mit dem rascheren Hufschlag des Pferdes gleichen Schritt hielt, bald weit vor den anderen voraus waren.

Hilda blickte ihnen sehnsüchtig, beinahe neidisch nach. Ihre Schwestern hatten es wahrhaftig besser als sie! Die eine hatte da vorne schon einen Freund und Begleiter gefunden, die andere, die älteste, ritt mit einem seltsamen, düsteren und siegesgewissen Lächeln den Dingen entgegen, die sich in Tanger bei der Ankunft der Cookschen Reisegesellschaft entwickeln sollten – aber sie? Sie war einsam und verlassen und ihre ganze Hoffnung ruhte jetzt auf Gibraltar.

Ein kräftigerer, kälterer Wind fegte über das Land, die Hügel verloren ihre bisherige Gestalt und verwandelten sich mehr und mehr zu kahlen, nur von spärlichen Grasbüscheln durchsetzten und von Kaninchen belebten Sanddünen, ganze Haufen wilder Hunde von jeder Farbe, Größe und Rasse saßen schläfrig sich sonnend vor ihren Erdlöchern oder schleppten, an den Hängen hinstreichend, allerhand genießbare und ungenießbare Stoffe, die angeschwemmte Beute des Meeres, mit sich fort, und da hob sich plötzlich, ein tief azurblauer Streifen, der Atlantische Ocean über den zitternden Riedgräsern der nächsten Düne empor. Bald breitete er sich unermeßlich zur Linken aus und geradeaus, jenseit der schmalen, in weißen Wogenkämmen an der andalusischen Küste brandenden Wasserstraße, grüßte, ein Nebelgebilde, das Kap Trafalgar hinüber zu der kaum sichtbar dämmernden anderen Stätte englischer Größe, dem trotzigen Felsen von Gibraltar.

Blau rings umher. Das tiefe satte Blau des Himmels und der Wellen. Und, scharf, beinahe blendend sich von ihm abhebend, die weiße, hoch am Berge aufgetürmte Stadt. Auf dem weichen Strand, am Rande des Meeres ritten sie auf Tanger zu. Ringsum war volles Leben. Vorbeigaloppierende Europäer auf mutigen Rossen, im Sonnenschein faulenzende Spanier, in Ziegenschläuchen das Trinkwasser schleppende Negersklaven, welche mehr mächtigen schwarzen Halbaffen als etwas anderem ähnelten, berberische Bauern mit ihren Weibern auf der Rückkehr aus der Stadt, die ledigen Esel vor sich hertreibend, und, näher zu den Quaimauern hin, die üblichen Hafenbummler aller Nationen, Viehhändler, Agenten, maurische Kaufleute, bebrillte, würdevolle Turbanträger als Steuerbeamte, jüdische Geldwechsler und Briefmarkenhändler, Angestellte der drei europäischen Posten, die ganze bunte menschliche Mustersammlung einer orientalischen Seestadt.

Auf der starkbewegten Reede, aus der jetzt bei Ebbe sich die Trümmer der von den Engländern bei ihrem Abzug im 17. Jahrhundert zerstörten steinernen Mole erhoben, schwankte ein Dampfer auf und ab. Ein Schwarm nußschalengroß erscheinender Boote umgab ihn wie die Kücklein die Henne oder fuhr zwischen dem Schiff und dem Landungsplatz hin und her.

Die Gouvernante warf einen befriedigten Blick auf dies Schauspiel.

„Cook und Sohn sind da!“ verkündete sie. „Sie sind schon an Land!“

^Und das freut Sie auch noch?“ Der Forscher, der mit Klara am Eingang der steil aufsteigenden Straße auf die anderen gewartet hatte, sah sie erstaunt an. „Cook und Sohn sind ja ein wahres Unglück für andere Reisende! Der reine Heuschreckenschwarm. Wer kann, ergreift die Flucht!“

„Der Geschmack ist verschieden!“ Die schwarzgekleidete Dame lächelte streng. „Ich für meine Person fürchte mich vor Cook und Sohn nicht. Im Gegenteil … ich hoffe sogar, daß wenigstens ein Teil der Gesellschaft in unserem Hotel abgestiegen ist. Das wird mir eine angenehme Gelegenheit geben, mein Englisch wieder einmal zu üben!“

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 24, S. 741–750
[741]
10.

Auf dem schräg abfallenden Außenmarkte von Tanger zwischen dem oberen Stadtthor und dem hochgelegenen Hotel herrschte jetzt im Abenddämmern das ganze Jahrmarktstreiben des Donnerstags. Die Feuerfresser und Zauberkünstler heulten, die dumpfe Pauke der Schlangenbändiger klang dazwischen, in dem elektrischen Licht, das von der deutschen Gesandtschaft her bis hinauf zu den letzten Häusern flammte, tanzten in einem Ring von Zuschauern die weißflatternden Mäntel der Schaukämpfer in tollen Sprüngen auf und nieder, knieten die Kamelkarawenen stumpfsinnig im Schlamm und schoben sich zwischen den zu Hunderten gefesselt dastehenden jungen Stieren die weißen, tiefverschleierten Gestalten der Araberinnen behende zu dem seitlichen Gewimmel des Fisch- und Gemüsemarktes.

Auch in dem burgartig hoch und frei gelegenen Hotel war ungewohnt geräuschvolles Leben. Cook und Sohn hielten ihren Einzug. In ganzen Haufen türmten sich, von den maurischen Lastträgern aus dem Hafen herbeigeschleppt, die Gepäckstücke mit den angehängten Pappnummern, suchend und spähend wandelte Albion in jeder Erscheinungsform zwischen ihnen auf und ab und an drei Orten zugleich, in sieben Sprachen mit aller Welt verhandelnd, waltete der Impresario, ein breitschulteriger, energischer Italiener, seines Amtes.

Nur Deutsch verstand er nicht und entschlüpfte behend den Klagen eines älteren, hageren und straffen Herrn, dessen an sich schon rötliches Gesicht mit dem grauen Schnauzbart nun infolge des Zornes beinahe purpurfarben erschien. Da ihm der Leiter der Herde entgangen war, wandte er seinen vollen Grimm wieder dem ersten Opfer, einem maurischen Träger, zu.

„Du Jauner!“ stöhnte er atemlos. „Kerl … wo haste mein Jepäck? Der Teufel soll dich lotweise frikassieren, wenn du es nicht auf der Stelle beischaffst!“

Der Maure verstand kein Wort. Aber um sich der Situation gewachsen zu zeigen, raffte er seinen ganzen aus vier Worten bestehenden deutschen Sprachschatz zusammen.

„Gutten Tag, mein ’Err!“ verkündete er verbindlich, und ein Lächeln erschien auf seinem schwermütigen Gesicht.

„Ich jlaube, der Kerl macht sich noch über mich lustig. Das ist ein jemeinjefährliches Individuum! Wo mein Jepäck ist, will ich wissen! Hast du’s heraufjeschleppt oder ein anderer von euch Halunken?“

„Gutten Tag, mein ’Err!“ bestätigte der Maure lächelnd.

„Mein Jepäck … “ Der alte Herr schnappte, kirschrot im Gesicht, nach Luft und wies auf die herumstehenden Koffer.

„Oh, Sir want luggage?“ triumphierte der braune Geselle, der jetzt begriffen hatte. „Luggage is coming, Sir!“

„Ich verstehe kein Englisch, du Hundesohn!“ Der zornige Tourist ließ die Augen im Kreise rollen. „Mein Jepäck will ich!“

„Yes, Sir! Luggage is coming just now from the port!“

„Yes, Sir! Yes, Sir! Was soll mir das? Verrückt werde ich noch in diesem Land!“

[742] „Er sagt, daß Ihr Gepäck unterwegs ist, Herr Major!“ tönte die tiefe Stimme einer die Terrasse heraufsteigenden schwarzgekleideten Dame, und zu dem Wirte gewendet fuhr sie in fließendem Französisch fort: „Haben Sie Ihr Versprechen gehalten und Zimmer für mich und meine Schwestern reserviert? Ja! Nun, dann ist’s ja gut! Einen Augenblick, Herr Major!“ sie verfiel wieder in Deutsch. „Ich will nur den Soldaten ihren Bakschisch geben!“ Sie winkte die beiden weißbärtigen Turbanträger heran und reichte jedem ein Fünf-Peseta-Stück. „Verdient habt ihr’s eigentlich nicht!“ erklärte sie dabei stirnrunzelnd in spanischer Sprache, welche die beiden alten Kerle einigermaßen radebrechten, und entließ die Stirn und Brust zum Dank berührende und ein „molto gracias“ kauderwelschende bewaffnete Macht.

Der Major sah sie staunend und bewundernd an. „Wieviel Sprachen verstehen Sie eigentlich?“

„Ach … wenn man so viel in der Welt herumgekommen ist wie ich!“ Die Gouvernante schüttelte ihm zum Willkommen die Hand. „Und wie ist es Ihnen ergangen seit San Sebastian?“

„Fragen Sie nicht!“ Der grauköpfige Herr sank, nachdem er auch Klara und Hilda begrüßt, auf einen Koffer nieder. „Es ist furchtbar! Nie wieder! Solch’ eine Cooksche Rundreise sollte man als Strafverschärfung für Vatermörder einführen! Ich bin froh, wenn ich ohne einen Anfall von Tobsucht nach Deutschland zurückkomme!“

„Ja, warum brechen Sie denn die Reise nicht ab!“

„Ich hab’ ja vorausbezahlt!“ Er starrte vor sich hin und der Zorn rötete wieder sein Gesicht. „Mein schönes Geld … und wofür? Ebensogut könnte man von den Heringen Eintrittsgeld erheben, ehe man sie in die Tonne verpackt und auf die Eisenbahn giebt. So rolle ich seit vier Wochen durch die Länder. Kein Mensch, nein, ein Frachtstück, das beliebig oft ein- und ausgeladen wird, wie es dieser breitschulterige Lümmel da, der italienische Impresario, angiebt. Der reine Rundreisekoffer! Ich wundere mich nicht, wenn sie mir an der Grenze den Leib aufknöpfen und meine Eingeweide durchsuchen. Und dieses Reisen in Spanien … meine lieben, guten Fräulein …. Sie haben das nicht so durchgemacht …“

„Wir waren auch in Granada, Cordova und …“ begann die Gouvernante. Aber der alte Herr war jetzt im Zug.

„Diese Eisenbahnen!“ wiederholte er, und ein wildes, bitteres Lächeln spielte unter seinem eisgrauen Schnauzbart. „Sie sind ja immer nur mit dem Expreßzug gefahren? Nicht wahr? Nun eben! Von dem Expreßzug kann man sagen wie der olle Galilei: ,Und er bewegt sich doch!‘ Langsam, aber sicher! Allerdings eingepfercht … na, Sie wissen ja, was die Spanier alles an Handgepäck mitnehmen … ich habe jeden Augenblick erwartet, daß sie auch noch einen lebenden Kampfstier, einen Palmbaum oder ein Pianino in dem Gepäcknetz verstauen … Aber sonst alles … alles, von der Sprungfedermatratze bis zur Schwiegermutter, vom Säugling bis zur Badewanne, alles muß mit auf die Reise!“

„Schließlich kommt man doch an!“ sagte die Gouvernante.

„Mit dem Schnellzug, ja! Aber steigen Sie mal in den gewöhnlichen Zug. Sie sitzen und warten, Stunde um Stunde. Er geht nicht fort. Allenfalls zuweilen so ein schwaches krampfhaftes Zittern und ein heiserer Pfiff. Es wird Abend. Es wird Morgen und wenn Sie zum Fenster hinaussehen, stehen noch dieselben Bettler und Krüppel und Gassenbengel draußen wie gestern und Sie haben höchstens zwei, drei Schritte Terrain gewonnen und merken: das ist keine Eisenbahn, sondern ein Asyl für Obdachlose, die es sich da mit Kind und Kegel und allem Hausrat in den Coupés für den Sommer bequem machen!“

„Wenn das schon die gewöhnlichen Züge sind,“ sagte die Gouvernante, „dann möchte ich wohl erst die gemischten sehen!“

„Die andalusischen Bummelzüge?“ Der alte Herr schrie auf und zog die Augenbrauen hoch. „Die stehen allerdings nicht still. Sie gehen unaufhaltsam rückwärts, wie es ja gar nicht anders sein kann. Und was ist das erst gegen die Provinz Murcia? Dort sollen ganze Wagen voll Passagiere verkehren, die seit Jahrhunderten zu Mumien eingetrocknet sind. Ich würde mich nicht wundern, wenn dort noch die Mammuts zwischen den Schienen weiden und die Lokomotive von Waldmenschen aus der Tertiärzeit gelenkt wird!“

Er brach erschöpft ab und trocknete sich die Stirne. Seine Freundin lächelte. „Sie sollten öfters drauflos wettern, Herr Major!“ sagte sie. „Sie haben zu viel Galle in sich aufgesammelt!“

„Ich muß ja! Wenn kein Mensch da ist, der mich versteht! Die ganze Karawane besteht ja nur aus Engländern und Amerikanern! Fluche ich, so sagen diese fischblütigen Geschöpfe nur: ,Oh indeed!‘ oder ,Oh yes!‘ und bestellen sich einen neuen Whisky mit Soda. Oder haben Sie je gehört, daß ein Engländer einem Menschen widersprochen hätte? Nie! Sie sind stets derselben Meinung. Prüfen Sie irgend jemand aus dieser Herde hier! Nehmen Sie ihn beiseite und erzählen Sie ihm, die Sonne sei froschgrün und der Himmel krebsrot – was wird er antWorten? ,Oh yes!‘ – Ich schwör’ es Ihnen!“

„Sie sollten lieber allein reisen!“

„Ja, das sagen Sie, Sie Weltumseglerin! Wenn Sie jetzt in China landen, sind Sie gleich zu Hause, fragen den nächsten Mandarinen auf mongolisch nach dem Weg und haben sich nach zwei Stunden in Peking so mollig eingerichtet wie in Ihrem Dresdner Stübchen. Aber ich? Mit meinem lahmen Bein. Und wo ich keine fremde Sprache kann – denn das Französisch, das ich vor vierzig Jahren im Kadettenkorps gelernt hab’, das ist auch schon ein bißchen eingerostet. Und dann überhaupt: früher hat mir der Dienst nie Zeit gelassen, zu reisen, und jetzt, wo ich endlich das Ziel meiner Sehnsucht erreiche, jetzt ist mir das alles so ungewohnt. Ich fühle mich so einsam und verlassen. Es kommt mir alles so spanisch vor in Madrid und Cadix und all den verwünschten Orten …“

„Da bliebe ich eben an Ihrer Stelle zu Hause.“

„Zu Hause!“ sagte der alte Herr traurig, „da ist’s öde und leer. Sie wissen ja, meine gute Frau ist tot. Meine Töchter sind verheiratet, an Lieutenants in Lothringen und Ostpreußen. Da kann ich auch nicht hin. Nein, glauben Sie mir: verwitwet und pensioniert in einem Jahr, das ist ein bißchen hart. Und ich hab’ so ’ne Sehnsucht, die Welt zu sehen – schon seit meinen Fähnrichsjahren. Nur mal ’raus aus dem Kram, eh’ man ganz grau und alt wird – das ist jetzt mein einziger Gedanke. Aber auf die Weise geht’s nicht, mit dieser Hammelherde von Cook und Sohn und dem ewigen Kommando: ’rin in die Kirchen! ’raus aus den Kirchen! ’rin ins Museum und wieder ’raus und in die Eisenbahn! Nein. Ich müßte mit einem guten Freund in der Welt herumbummeln, so hübsch gemütlich und ohne Hast, mit einem gleichgestimmten Menschen, der das Reisen versteht und erfahrener ist als ich!“

„Das wäre freilich das Beste!“ sagte die Gouvernante knapp. „Uebrigens, da kommen Ihre Koffer!“

„Meine Koffer erkennen Sie wieder?“ Der Major erhob sich mühsam. „Das ist eigentlich höchst – höchst schmeichelhaft für mich!“

„Kaum! Die Koffer haben sich mir eingeprägt, weil ich auf der ganzen Welt noch nie so unpraktisches Gepäck gesehen habe!“

„Stimmt!“ seufzte der alte Herr. „Stimmt auffallend. Uebrigens ist die Hälfte schon weg. Verloren und gestohlen. Neu hinzugekommen ist nur eine Unmenge falsches Geld, das man mir gegeben hat. Wer mich nur sah, der griff in die Tasche und wurde seine bleiernen Pesetas los. Aber wenn ich sie jetzt weiter in Verkehr bringen will, dann beißen die Kerle hinein, merken, daß sie von Blei sind, und lachen mich aus! Nein – das ist schon eine trübe Reise!“

„Nun, vielleicht wird die nächste besser!“ sagte die Gouvernante, und ein strenges Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie mit dem alten Herrn die Flurtreppe hinaufstieg. „Komm’ mit, Hilda, nach unseren Zimmern sehen! Du bleib nur unten, Klara, du machst doch nur malerisches Durcheinander statt uns zu helfen!“

*               *
*

Die blonde Malerin hatte den Zuruf der ältesten kaum gehört. In Gedanken verloren saß sie da und schaute auf das Treiben des Außenmarktes zu ihren Füßen hinab. Immer noch klangen da die dumpfen Cymbeln des Schlangenbeschwörers, wie riesige weiße Kampfhähne schnellten und sprangen die Schaufechter durch die Luft und schwer wandelnd zog in langer Reibe eine Kamelkarawane aus Fez heran. Aber allmählich verlor sich [743] doch die Menge nach dem Brauch des Morgenlands, das mit den Hühnern schlafen geht und aufsteht. Unter und neben den flüchtig im Schlamme des Marktes aufgeschlagenen Zelten krochen friedlich Mensch und Tier zusammen, die gefesselten Stiere lagen wiederkäuend in langen Reihen, die Kamele bildeten ein abenteuerliches Klumpen- und Hügelgewirr auf der dunklen Erde. Die Nacht war da. Im Sternenfunkeln strahlte sie von dem reinen Himmel, und von der See her wehte ein kalter, würziger Hauch.

Ohne zu wissen warum, empfand Klara deutlich, daß sie nicht allein war. Sie fühlte, wer hinter ihr stand.

Und da hörte sie auch schon seine Stimme. „So einsam und in Gedanken?“ frug er. „Was ist Ihnen, Fräulein Klara?“

„Traurig bin ich!“ sagte sie und drehte sich nach ihm um.

„Traurig?“ Er nahm neben ihr Platz. „Weshalb? Sie haben doch wirklich keinen Grund dazu? Ja – wenn ich das sagte … Sie lachen … aber mir ist’s Ernst … seit wenigen Tagen … seit dem Abend, als wir uns neulich zum erstenmal in der Karawanserai gesehen haben.“

„Was ist Ihnen denn da passiert? Ein Fall mit dem Pferde! Das läßt sich doch schließlich verschmerzen.“

„Ein Fall aus allen Wolken …“ sagte er neben ihr gleichgültigen Tons. „Aus all den Luftschlössern, die man sich so als einsamer Mann baut – fern in der Wüste, wenn nachts um einen alles still ist und man in seinen Mantel gewickelt daliegt und zum Sternenhimmel aufschaut. Dann denkt man sich: wann endlich fängt das eigentliche Leben an? Wann bekommst du das, was du so lange suchst? Nun und sehen Sie, als ich da neulich von der Karawanserai in das Dunkel hinausritt und vor das Thor von Tetuan kam – da war ich plötzlich ganz ruhig und zufrieden – ganz überzeugt davon, daß ich am nächsten Morgen nur zuzugreifen brauchte, um reich zu werden, und das zu haben, was ich wollte. Aber wie der nächste Morgen kam, war alles weg und verflogen wie ein Traum. Das war ein dummes Erwachen und war der Grund, daß Sie mich in solch einem trostlosen Zustand in Tetuan gefunden haben! Darum erzähle ich es Ihnen. Vielleicht halten Sie mich trotzdem für einen Schwächling … oder gerade deswegen … ich kann es nicht ändern …“

Er brach ab. Auch Klara fand nicht gleich eine Erwiderung. „Ist sie denn ohne allen Abschied von Ihnen fort?“ frug sie endlich.

Er lachte. „Es ist nicht das erste Mal! So war sie eines Morgens mit ihrer Dahabieh verschwunden, als wir zu den Nilkatarakten aufwärts fuhren, und ein andermal aus ihrem Hause in Petersburg, nachmittags, während die Schlitten zur Ausfahrt vor der Thüre hielten. Damals war sie nach Paris gegangen, und ich habe sie dort im ,Grand Hotel‘ wiedergefunden. Aber gewöhnlich verlieren sich ihre Spuren in der weiten Welt. Sie selbst verwischt sie. Es ist, als ob sie Angst hätte, mir zu begegnen oder wenigstens länger mit mir zusammen zu sein.“

„Und dabei kennen Sie sie doch schon so lange?“

„Viele Jahre. Kurz vor dem Tode ihres Mannes haben wir uns zuerst auf dem Montblanc gesehen.“

„Woran starb er denn?“

Er zuckte die Achseln. „Er war ein österreichischer Aristokrat, ein bildschöner, lebensfroher, kräftiger Mensch, und ein ausgezeichneter Bergsteiger dabei! Und trotzdem that er beim Spaziergang einen Fehltritt an einer Stelle, wo, wie man so zu sagen pflegt, die Kühe herübergehen, stürzte ab und ertrank unten in dem Gletscherbach. Wenn es ein anderer gewesen wäre, dem das Schicksal nicht alles – Gesundheit, Reichtum und eine schöne Frau – gegeben, so hätte man argwöhnen müssen, er sei mit Absicht gestrauchelt. Aber so war es eben ein unglücklicher Zufall, wie er manchen anderen, so den großen Alpinisten Zsigmondy, ganz ähnlich getroffen hat. Und nun lassen wir’s! Sagen Sie mir lieber: warum sind Sie traurig?“

„Der alte Major thut mir leid. So sein ganzes Leben lang unter Menschen und in voller Thätigkeit und nun auf einmal verlassen und ohne Ziel und Zweck auf der Welt – das muß schrecklich sein!“

„Was geht aber das Schicksal des Majors Sie an?“

„Weil meines ungefähr ebenso ist ...“ ihre Stimme klang gepreßt, „oder vielmehr so wird … in nächster Zeit …“

„Ihr Schicksal, Fräulein Klara?“

„Nun ja. Sehen Sie denn nicht, wie es zwischen meiner Schwester und dem Major steht? Die beiden treffen sich doch nicht durch Zufall hier und ich gönne es ihr ja von Herzen. Aber wenn es dazu kommt, dann geht sie eben fort, und unser Nesthäkchen, die Kleine, bringen wir schon vorher nach Genf, zu fremden Leuten; mit blutendem Herzen, aber es geht nicht anders: sie muß sich eben auf eigene Füße stellen. Nun und dann bin ich eben ganz allein. Die ganze Zeit haben wir Schwestern so traulich miteinander gelebt und uns dazwischen mal gezankt und für die Kleine gesorgt und einander geholfen, so manche schwere Stunde zu tragen, denn allzuleicht haben wir’s wahrhaftig nicht im Leben gehabt. Und trotzdem waren wir immer zufrieden. Aber wie das jetzt mit mir werden soll, wenn ich in Dresden auf einmal allein in unserer Wohnung stehe, und niemand um mich, und vor mir ein langer, kalter Winterabend – ich glaube, ich setze mich hin und fange einfach an zu weinen, obwohl das sonst gar nicht meine Art ist.“

„Ich bin die Einsamkeit gewohnt,“ sagte die Stimme aus dem Schatten neben ihr, „aber allerdings die Einsamkeit der Wildnis, die ist groß. Unter Menschen mag sie schwerer zu ertragen sein.“

„Ein Mann kann das überhaupt nicht verstehen, der hat so vielfache Beziehungen zum Leben, seinen Beruf und …“

„Und Ihre Kunst? Hebt die Sie nicht über alles andere hinweg?“

„Meine Kunst?“ sie lächelte schmerzlich. „Nun ja, meine Bilder sind ja ganz nett und ich verkaufe sie, wenn ich Glück hab’, zu leidlichen Preisen. Aber das Eigentliche, das Große ist das nicht. Das werde ich nicht erreichen und kann es nicht erreichen. Aus einem sehr einfachen Grunde: ich muß illustrieren und malen, um nicht Hunger zu leiden – und so, wie es der Geschmack des Publikums verlangt. Und der ist in Kunstsachen – ach, reden wir nicht drüber! Der Abend ist so schön.“

„Das hätte ich nie geglaubt, daß Sie so verbittert sind.“

Sie stützte den Blondkopf in die Hand und sah in die Ferne hinaus, wo in der Nacht Meer und Himmel in ein einziges Grauen zusammenflossen. „Es thut schon weh, sein bißchen Talent so zu Markte zu tragen,“ sagte sie langsam. „Und das Schlimmste ist: man verliert dabei den Respekt vor sich selbst … vor dem eigenen Können, mein’ ich, indem man es erniedrigt. Aber anderseits muß ich doch froh sein, daß ich das bißchen Talent habe. Damals, als das große Unglück über uns kam, da war ich noch fast ein Backfisch mit meinen sechzehn Jahren und bildete mich halb aus Spielerei zur Malerin aus. Das ist mir nun zu gute gekommen – mir und meinen Schwestern, in den elf langen Jahren, die seitdem verflossen sind. Hilda hat es eigentlich noch am besten getroffen. Sie war damals noch ein Kind und hat den Wandel vom Reichtum zur Armut durchgemacht, ohne etwas davon zu empfinden.“

„Also das war das große Unglück, das Sie traf?“

„Mein Vater machte Bankerott!“ sagte sie ruhig. „Und er starb in derselben Nacht. Mehr brauch’ ich Ihnen wohl nicht zu erzählen. Er war schon Witwer, seit Jahren. Da standen wir nun, meine Schwestern und ich.“

„Da haben Sie wirklich viel durchgemacht!“

Sie schaute mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. „Ach … wenn’s bloß das wäre!“ sagte sie halblaut.

„Also noch mehr?“

„Genug!“ Sie stand auf und lachte. „Sie sitzen da wie ein Beichtvater im Dunkeln und wollen mir alle Geheimnisse herauslocken!“

„Ich habe Ihnen ja vorhin auch gebeichtet … und auch im Dunkeln.“

„Ja, das ist wahr. Aber von mir wird jetzt nicht mehr gesprochen!“

„Von mir auch nicht. Also von was?“

„Man braucht ja nicht immer zu reden!“ sagte sie. „Man kann ja auch einfach dasitzen. Die Seeluft thut so wohl!“

Sie hatte sich wieder ihren Stuhl herangezogen. Es war still zwischen den beiden. Ueber ihnen glitzerte durch das im Nachtwind rauschende Laub der südliche Himmel und wie ein Hauch aus weiter Ferne umfächelte das Wehen des Oceans ihre Wangen.

[746] „Wer das jetzt malen könnte!“ sagte sie nach einer Weile, scheinbar mehr zu sich als zu ihrem Freunde. „Der weiße Schimmer der Stadt da unten … die violette Nacht überm Meer und überall, im Vordergrund die schwarzen Umrisse der Bäume und über dem Ganzen der große, kalte, weite Sternenhimmel .....“

„Malen Sie es doch!“

„Ich kann’s nicht. Es wird nichts Rechtes draus. Nacht und Sonnenschein haben wir nicht auf der Palette. Das muß von innen kommen. Vom Kopfe durch die Hand!“

„Und in dem armen Blondkopf steckt’s nicht drin?“

Sie lachte. „Da steckt überhaupt viel weniger darin, als Sie glauben!“

„Nun … wenn Sie das so vergnügt sagen,“ er rückte ihr etwas näher, „dann ist es eher ein Beweis für das Gegenteil!“

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, so daß er die blassen, hübschen Züge deutlich im Dämmerschein erkennen konnte. „Was hilft es denn schließlich, traurig zu sein?“ sagte sie. „Ich kann mir das große Talent nicht herbeizaubern! Und wenn ich’s hätte, wer weiß, ob ich dann glücklicher wäre! Ich meine, es steckt in jedem Menschen, wie er auch ist, die Möglichkeit, glücklich zu sein. Das Schlimme ist nur: oft findet man den Weg nicht; man sieht vielleicht das Nächste nicht. Und dann hat man so dumme Stimmungen wie ich heute abend. Seien Sie nicht böse, daß ich Sie damit belästigt hab’. Und nun will ich gehen und Toilette machen. Es ist Zeit zum Diner! Zu Ihrem ersten europäischen Diner seit zwei Jahren. Das ist ein feierlicher Augenblick für Sie!“


11.

„Oft liegt das Glück dicht vor einem und man sieht es bloß nicht!“ Klaras Worte klangen im Ohre des Afrikaforschers nach, während er auf dem festen Sand an der Flutgrenze des Oceans dahinschritt, weit vor sich die Weiße, hochgetürmte Häusermasse von Tanger, hinter sich die langgestreckte öde Küste, die nur einige nachtschwarz lustwandelnde Franziskanermönche, ein paar wilde Hunde und ein galoppierender Araber auf prächtigem Maultierschimmel belebten.

Er fühlte sich körperlich frei und leicht, beinahe gesund. Die plötzliche Anregung durch diesen letzten Vorposten der Civilisation gab seinen Nerven neue Spannkraft. Er hatte am Abend vorher zum erstenmal eine europäische Mahlzeit genossen, eine Flasche guten Bordeaux getrunken und sich im Rauchzimmer von den eleganten diplomatischen Attachés der verschiedenen Großmächte, die als Pensionäre im Hotel wohnten, die Weltbegebenheiten erzählen lassen. Natürlich waren die Herren dabei über deren Auffassung in Streit geraten, es hatte einen amüsanten Wortwechsel in englischer und französischer Sprache gegeben, und schließlich trennte man sich, sehr angeregt und befriedigt von dem Zusammentreffen mit dem berühmten Reisenden, den die Ladies anfangs, als er sich in seiner Wüstentracht, als der einzigen, die er besaß, zur Tafel setzte, mit einem erschrockenen „shocking“ begrüßt hatten.

Auch der heutige Vormittag war sehr genußreich. Ein Bad, ein kräftiges Frühstück, ein Ritt am Strand entlang zu den Ruinen der uralten Phönikerstadt Tingis, deren aus mächtigen Quadern geformtes Hafenthor jetzt weit von dem zurückgewichenen Ocean entfernt zwischen Sumpf, Busch und Brakwasser die Jahrhunderte durchträumt, und nun dieser erfrischende Rückweg zu Fuß, die steife Seebrise um die Ohren, den blauen Himmel über sich, klagender Möwenschrei und fernes Segelblinken, all die unermeßliche Freiheit, die das Weltmeer atmet!

Und trotzdem war bei aller neu erwachenden Spannkraft des Körpers sein Geist gedrückt und mißmutig. Er empfand eine reuevolle Stimmung, einen Aerger über sich selbst und sein Mißgeschick.

Sein Ungeschick vielmehr, durch das er in Tetuan die vielleicht nie wiederkehrende Gunst des Zufalls verscherzt hatte! Wieder sah und hörte er um sich das nächtliche Getümmel der Arche Noah vor dem kanonengeschmückten Thor und dazwischen Angelas helle Stimme. Warum hatte er sich an jenem Abend in thörichter Zuversicht von ihr getrennt und die Fonda d’España aufgesucht, um am andern Morgen ihr Nest leer zu finden?

Er wußte ja, daß sie vor ihm floh, obwohl oder vielleicht gerade weil er ihr nicht gleichgültig war. Es war ja nicht das erste Mal und war, wenn auch unerklärlich, so doch nicht das Schlimmste und ganz Hoffnungslose, daß sie bei aller Sympathie für ihn doch etwas wie Angst vor seiner Nähe zu fühlen schien. Darum hätte er ihr folgen sollen! Die Spur war leicht zu finden. Sie wies nach Ceuta. Dort konnte er sie einholen und sich trotzig eine Antwort erzwingen, statt daß er in der elenden Fonda, Cigaretten rauchend, auf dem Bette lag und sich vor Mißmut und Enttäuschung in eine Krankheit hineinärgerte.

Hinter ihr her hätte er jagen müssen! Statt dessen lenkte er sein Pferd gen Westen und ritt bescheiden und bedächtig mit den drei Sachsenmädchen über Land. Jetzt zuckte er die Achseln darüber. Was gingen sie ihn an? Wie kam er in solch zahme Gesellschaft?

Er empfand plötzlich Lust, unverzüglich nach Tetuan zurückzureiten! Warum, das wußte er selbst nicht. Er hatte nur ein dumpfes Gefühl, als müßte sich dort noch irgend eine Spur, ein Zeichen von Angela finden, das ihn auf den Weg nach Ceuta führte. Aber vor Ceuta lag die weiße Jacht „Liberty“ und trug ihre leichte Last hinaus auf das dämmernde Meer. Wohin – das erfuhr wohl der britische Kapitän des Oceanrenners selbst erst auf hoher See, wenn er vom Schiffsherrn, dem kleinen Petroleumkönig, die trockene Weisung empfing, ihn und seine Gefährten nach Afrika, nach Amerika oder Asien zu steuern.

Gott weiß, wo sie jetzt schon schwammen. Vielleicht segelten sie der Bucht von Monte Carlo zu, um gelangweilt einen Regentag an der Spielbank totzuschlagen. Oder sie warfen am Goldenen Horn Anker und fuhren mit der unterirdischen Zahnradbahn in das buntscheckige Gassengewühl von Pera hinauf. Vielleicht waren sie auf dem Weg nach Jaffa, um Jerusalem zu besichtigen, vielleicht unterwegs nach Neapel, um im Schatten der Rauchwolke vor Anker zu gehen, die als ein schwarzer Riesentrichter über dem Aschenkegel des Vesuv steht.

Wo sie auch waren – er fand sie so leicht nicht wieder und seine Briefe blieben, wie der letzte, ohne Antwort. Es war ja alles umsonst. Mehr und mehr war in ihm die Ueberzeugung aufgestiegen, daß sie ihm immer von neuem entgehen, daß er das Ziel seines Lebens so wenig erreichen werde, wie man den Regenbogen mit Händen greifen kann, der scheinbar nahe und dennoch unerreichbar sich vor den Augen spannt.

Aber freilich … wer immer in die Ferne schaut, sieht nichts zu seinen Füßen. Das Glück! … Dieses Glück des Philisteriums, der Ehe, über das er so oft gelacht! Noch spielte er mit dem Gedanken und merkte doch, wie der immer stärker wurde und in immer neuen lockenden Verkleidungen sich bei ihm einschlich.

Gewiß war es hier schön und angenehm in Tanger. Aber er mußte trotzdem mit dem heutigen Dampfer, mit dem auch die drei Damen fuhren, nach Gibraltar! Schon seiner Kleider wegen. Es war ja ein Skandal. Und neue Anzüge, neue Wäsche ließen sich erst dort beschaffen. Dort konnte er auch hoffen, durch die anglo-ägyptische Bank telegraphisch Geld aus seinem Münchener Guthaben zu ziehen. Dort war er ungestört, während hier natürlich nun schon die Kunde seiner Ankunft alle Gesandtschaften und Hotels erfüllt hatte und er einer Menge Menschen, lästigen Besuchen und Höflichkeitspflichten nicht mehr entgehen konnte. Nein, da war es schon besser, so rasch wie möglich nach Gibraltar zu fahren, das dort am anderen Ende der blauen Wasserstraße als ein kaum sichtbarer zuckerhutförmiger Dunstzacken vor dem Himmel stand.

Er blieb stehen und lachte laut auf. So viel Worte und Pläne, um nur die eine Thatsache vor sich selbst zu verhehlen, daß er an der Gesellschaft der blonden Malerin mehr als Vergnügen und Zufriedenheit fand! Es schien, als sei ihm ihre freundliche Heiterkeit, ihr helles Lachen schon unentbehrlich geworden seit jenem Regenabend, wo sie sich im Dämmern der Karawanserai El-Fondak zum erstenmal gesehen. Er sträubte sich dagegen und fühlte sich eigentlich doch ganz wohl dabei. In dem Gefühl, jeden Augenblick den Fuß aus der Schlinge ziehen zu können und mit der Gefahr nur zu spielen.

[747] Er konnte es ja beweisen und in Tanger bleiben! Der Trotz erwachte in ihm, während er gleichwohl schneller und immer schneller der Stadt zuschritt. Denn fast unbewußt hatten seine Augen ihn belehrt, daß der auf der Reede schaukelnde, von der Nußschalenflottille umwimmelte Dampfer schon zur Abfahrt bereit war, und ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er sich in seiner Zeitberechnung um zwei Stunden geirrt hatte.

Es war schon fast zu spät, den Dampfer zu erreichen, und jedenfalls unmöglich, mitzufahren. Denn sein Gepäck befand sich ja oben im Hotel und seine Rechnung war noch nicht bezahlt. Das Einzige, was er thun konnte, war, rasch an Bord zu gehen und den Damen Adieu zu sagen, und das war ja auch das Beste!

Aber so leicht ließ sich das Schiff nicht erreichen. Erst ein Wortwechsel mit den an der Landungsbrücke gescharten, in greulichem Mohrenenglisch um den Fahrpreis feilschenden Bootsleuten, dann eine Schaukelfahrt quer über die Reede und endlich ein hoffnungsloses Durcheinander der um den Leib des Dampfers auf den Wellen tanzenden und mit ihnen unter dem betäubenden Zankgeschrei der Insassen abwechselnd hoch in die Höhe steigenden und wieder in den Wogenthälern versinkenden Kahnflottille! Das Passagierboot selbst rollte dabei an dem sich straffenden Anker schwer von einer Seite zur andern und tauchte bald sein Fallreep tief in die klatschende Flut, bald wieder hob es die Schiffstreppe unerreichbar hoch über das Gewühl der Nußschalen empor. Es war eigentlich ein Wunder, wie die Cooksche Karawane hatte ungefährdet das Oberdeck erreichen können.

Aber mit Hilfe kräftiger Matrosenfäuste, die die Touristen wie Warenballen von Hand zu Hand hinaufbeförderten, war es doch geglückt und alle Schutzbefohlenen von Cook und Sohn in unbeschreiblicher Verfassung auf dem ersten Platz vereinigt. Die Seekrankheit wütete bereits in dem ganzen Schwarm der Vergnügungsreisenden. Denn ein plötzlicher Defekt an der Maschine verhinderte auf Stunden hinaus die Abfahrt, während das festliegende Schiff stärker schaukelte und stampfte, als wenn es in voller Fahrt gewesen wäre. Alte Damen und bleichsüchtige Backfische, hagere Reverends und weinende Kinder füllten, in Plaids und Mäntel bis zu unkenntlichen, stöhnenden Klumpen eingewickelt, das ganze Deck. Sie saßen, hoffnungslos lächelnd, auf dem Boden und lagen schweigsam auf den Seitenbänken ausgestreckt, ihr Röcheln drang aus den unteren, in unbeschreiblichem Zustand befindlichen Kabinen, ja manche hatten sich schutzsuchend bis in den Vorderraum verirrt, wo eine Anzahl Mauren unbeweglich, mit gekreuzten Beinen auf den Planken kauernd und halbzugekniffenen Auges ihre Geschäfte in Gibraltar überlegend, dem Spiel der Wellen trotzte.

Auch der Afrikaner war – das wußte er aus vielen früheren Reisen gegen die Seekrankheit beinahe völlig gefeit. Aber unbehaglich war ihm der Aufenthalt auf dem Vergnügungsschiff doch und er strebte, in der Runde nach den bekannten Gesichtern blickend, ihn möglichst abzukürzen.

„Jräßlich!“ stöhnte es neben ihm. „Jräßlich! Nicht zu sagen!“ Da saß der Major, ganz geknickt und vornübergesunken, daß die grauen Schnurrbartenden trostlos herabhingen. Neben ihm, ihn tröstend und stützend, die düstere Gestalt der Gouvernante, die schwarzgekleidet, aufrecht und mit harten Zügen wie die Göttin der Seekrankheit unter ihren Opfern thronte. In dem schweigsamen Bündel von Decken daneben ließ sich die Kleine vermuten, die, gefaßt auf diese neue Wendung ihrer Erholungsreise, gottergeben dalag.

Die blonde Malerin saß etwas abseits. Auch ihr hübsches Gesicht war bleich. Aber sie lächelte dem Freunde tapfer zu. „Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen!“ rief sie. „Ich fürchtete schon, Sie würden die Abfahrt versäumen!“

Er sah sie erstaunt an. Sie schien gar keine Ahnung zu haben, daß er gar nicht an die Abfahrt dachte.

„Aber Ihr Gepäck ist schon da!“ fuhr sie eifrig fort. „Man hat es vom Hotel aus besorgt. Und da ist auch der Hotelkurier mit der Rechnung!“

„Wie kommt denn der Mann dazu?“

Sie blickte betroffen auf. „Ich weiß nicht. Ich hab’ mich nicht hineingemischt. Die Leute im Hotel sagten, Sie würden auch reisen!“

In der That, da lagen, sich scharf von den üblichen Gepäckstücken ringsum abhebend, seine bunt bestickte und mit Lederschnüren verzierte Reittasche aus Maroquin, wie man sie im Innern Marokkos trägt, und daneben die Maultierlast mit seinen Habseligkeiten, zwei von dem scharlachroten Tuch der Eingeborenen umhüllte Walzen.

„Wer zum Teufel hat Ihnen denn gesagt, daß ich reise?“ frug er den Kurier halblaut, so daß es Klara nicht hören konnte.

Der bräunliche Elegant lächelte. Die Ladies hätten gesagt, sie wollten zum Steamer. Und da der Herr doch zu den Ladies gehöre und sie nicht allein würde fahren lassen ....

Genug! Er winkte ihm, zu schweigen, und bezahlte. Eigentlich hatte der Mann ja ganz recht: wenn jemand mit drei Damen ankommt, so reist er gemeinhin auch mit ihnen weiter. Jetzt wieder mit Sack und Pack den Dampfer verlassen, das ging nicht an. Es hätte der Malerin, die blaß und ahnungslos dasaß, zu weh gethan. Er lachte ärgerlich und trat wieder zu ihr. „Ein netter Aufenthalt!“ sagte er. „Der Menschheit ganzer Jammer packt einen an. Der Katzenjammer natürlich. Das ist nun der Herr der Schöpfung – diese Pakete da in allen Winkeln!“

Sie sah zu ihm auf. „Werden Sie denn nicht seekrank?“ frug sie mit schwacher Stimme.

„Nein. Und Sie?“

„Ach, ich bin’s schon! Mir ist schrecklich zu Mute!“

„Dann legen Sie sich beizeiten hin,“ befahl er und machte ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, ein Lager zurecht. „Besser wird’s doch nicht, ehe Sie nicht wieder festen Boden unter den Füßen haben. Also wozu sich unnütz quälen?“

Sie gehorchte mit einem geduldigen Lächeln ihrer blassen Lippen und ließ sich fügsam von ihm zudecken. Dann schloß sie ermattet die Augen. Er war nun ganz sich selbst überlassen.

Er schaute umher. Das Bild wurde immer trostloser. Der Major war jetzt ganz abgefallen, um ihn herum lagen die anderen Opfer der See, und dazwischen saß düster die schwarze Rachegöttin. Aber auch ihre Zeit schien zu kommen, nach dem gelblichen Ton zu schließen, der allmählich ihr Antlitz überzog.

Und nirgends ein Eckchen, ein Winkel, um dem Greuel zu entfliehen! Wenn er nun doch das Schiff verließ? Aber da, weit am Ufer, tanzte schon sein Boot auf den Wellen und überhaupt … Nein. Nun war er gefangen!

Gefangen in diesem dichtgefüllten, schwimmenden Philisterkäfig. Er wickelte sich zornig in seinen Mantel und trat ganz nach vorne, an die Ankerwinde des Dampfers.

Zu thöricht! Das kam davon, daß er sich in das Spiel eingelassen. Nun hielt es ihn fest mit der Tücke des Zufalls und fester noch da innen. Er fühlte es wohl, daß er, in Tanger zurückgeblieben, mehr Reue empfunden hätte als jetzt Aerger über die unselige Fahrt. Oder vielmehr über das Stillliegen auf der Reede. Denn eine Stunde verstrich und eine zweite, ohne daß sich der Anker hob. Von unten, aus dem Maschinenraum, tönten Hammerschläge und zorniges Stimmengewirr.

Er ging wieder zurück, um nach Klara zu sehen, und berührte leicht ihre schlaff herabhängende Hand. Sie öffnete die Augen. „Gott sei Dank!“ hauchte sie. „Sind wir in Gibraltar?“

„Nein. Wir liegen immer noch vor Tanger!“

Da drehte sie sich mit einem ganz verzweifelten Ruck herum, und er sah nur noch ihr blondes Haar durch die Lücken des Mantels schimmern. Mißmutig kehrte er auf seinen Platz neben der Winde zurück, die jetzt, von zwei Matrosen gedreht, die triefende Kette aufnahm und den Anker schlammüberzogen an das Tageslicht beförderte. Die Maschine begann zu arbeiten und trieb das Schiff in die schwere Dünung hinaus, die auch bei ruhigem Wetter stets hier in dem Zusammenfluß des Atlantischen Oceans und des Mittelmeers zwischen den Säulen des Herkules zu stehen pflegt, zwischen dem leuchtturmgekrönten Kap Spartel in Afrika und der Punta Marroqui gegenüber, der Südspitze Europas, wo als ein Haufe weißer Pünktchen Tarifa, einst das letzte Maurenbollwerk in Europa, herüberschimmert.

Wenige Reisende sahen die Pracht dieser blauen Wasserstraße zwischen der niederen Küste Andalusiens und den hochgezackten, dräuenden Felsen des Rif. Die andern lagen klagend da, mochte die Sonne noch so golden Land und Meer verklären und die [748] Delphine noch so lustig im weißen Kielwasser schnalzen. Es war wie ein schwimmendes Lazarett. Es erzeugte geradezu Ekel und Aerger. Man kam sich wie ein Gefangener vor.

Du bist ja auch auf dem besten Weg, ein Gefangener zu werden, ging es dem einsamen Mann durch den Kopf, der vorn an den nassen Anker gestützt in den Tanz der Wellen hinaussah. Ein Gefangener aus freiem Willen. Oder vielmehr: dein Wille, der starke und freie, ist durch Krankheit und Ermattung gebrochen. Du sehnst dich nach Ruhe! Das beweist schon, daß andere Mächte in dir mehr zu sagen haben als du selbst, Mächte von außen, die dich schmeichelnd bei der Hand fassen und hinabführen ins Philisterland, in diese schwächliche, gleichgültige Menschheit hier ringsherum, mit der du nichts gemein hast!

Nein, wahrlich nichts! Sein Trotz wurde immer stärker. Wer spielte eigentlich hier mit ihm, lockte ihn auf dies Jammerschiff und weiter in die bekannte kleinste Hütte, die Raum für ein liebendes Paar bietet? War er der Mann, so mit sich schalten und walten zu lassen, er, der der allmächtigen Natur selbst seinen Willen aufgezwungen, ihre unnahbarsten Berghöhen erklommen, ihre fernsten, im Schleier des Urwaldes verborgenen Geheimnisse enthüllt hatte? Er wußte, sowie er sein „Ich will nicht!“ sagte – da war er wieder frei, und immer deutlicher lag das Wort auf seinen Lippen.

Es gab ein Dichterwort:

„Der weite Himmel ist des Adlers Bahn,
Die weite Welt des Edlen Vaterland.“

Jawohl, die weite Welt! Da grüßte sie ihn wieder, hier, wo Europa und Afrika sich einen, im Brausen der Brandung, im Lachen des Sturms, im Trotze sonnengebadet zum blauen Himmel aufsteigender Steinkolosse. Dort hinten wuchs es gewaltig aus der blauen See. Dreifach gezackt schaute der Felsen von Gibraltar gebieterisch über die Länder und Meere, die Stadt schmiegte sich, in grüne Gärten gebettet, an seinen Fuß und davor flimmerte es von dem Gewirr der Rahen und Masten, dampfte es aus Dutzenden von Schloten und ankerten weithin die Schiffe aller Völker im Hafen von Gibraltar.

Als der verspätete Dampfer das andalusische Ufer mit seinen öden Weidesteppen und zerfallenen Wachttürmen erreicht hatte und in die mächtige Bucht einfuhr, dämmerte es schon stark. Die am Eingang ankernden britischen Panzer, die mehr wie unwahrscheinlich große, mit allerhand Buckeln und Auswüchsen gezierte Bügeleisen als wie wirkliche Schiffe auf dem Wasser lagen, waren noch deutlich zu erkennen. Aber der Mastenwald des Handelshafens dahinter verschwamm schon in dem Dunkel, das wie der Schatten des darüber ragenden Bergkegels vom Himmel niedersank, und drüben überm Meer ließ nur noch ein unbestimmter Schein, die Hafenlichter von Ceuta, die Nähe Afrikas erraten.

Er blickte zurück. Dort lag der schwarze Erdteil, der ihn wiederum zwei lange Jahre festgehalten hatte. Noch einmal war er seiner tödlichen Umarmung entgangen. Würde er ihn wiedersehen? Die Kraft finden, wieder hinauszupilgern in das Reich der Abenteuer und Gefahren, in das Leben voll seltsamer Buntheit, in das es den Jüngling unwiderstehlich zog, das der gereifte Mann mitten in allem Glück und aller Ruhe nicht mehr entbehren konnte?

Die Sehnsucht ward stark in ihm. Er schaute finstern Gesichts nach rückwärts, in die Nacht hinaus, die Afrika verhüllte.

Und es war, als teilte sich das Dämmern über dem Meer. Etwas Weißes war darin sichtbar, ein schlankes, schneeig leuchtendes Ding, das, rasch aus der Richtung von Ceuta näher und näher kommend, mehr wie ein großer Märchenvogel über die Wellen hinzugleiten als sie zu durchschneiden schien. Jetzt tauchte es voll aus dem Schatten auf, mit seinen zurückgelegten Masten, dem überschlanken, schmalen Schiffsrumpf, dem lautlosen Flug ein Bild eleganter Kühnheit, wie geschaffen, nach freier Laune die Meere zu durchkreuzen und Anker zu werfen, wo die Gunst des Augenblicks lächelt.

Jacht „Liberty!“ – Er kannte sie wohl! Und er wußte ja auch, daß der Petersburger Petroleumkönig mit ihr seine Tochter und deren Freunde von Ceuta hatte abholen wollen. Wäre er deren Einladung gefolgt, dann fuhr er selbst jetzt auf dem kecken Renner durch die Fluten, statt an Bord dieses schmutzigen, rollenden Krankenhauses mit seiner rings im Dunkel ächzenden Menschheit.

Jählings erfaßte ihn jetzt, während die Jacht weiß, rasch und schweigsam wie ein Geisterschiff im aufgehenden Mond an ihnen vorbeiglitt, ein Gefühl der Reue. Er hätte gewünscht, an Bord zu sein. Und mit Angela zusammen. Noch einmal bot ihm das Schicksal die jüngst in Tetuan scheinbar unwiederbringlich versäumte Gelegenheit. Eine bessere als je! Hier auf dem Schiff konnte ihm Angela nicht entfliehen. Wohin sie floh, er fuhr mit. Er erzwang sich von ihr die Aussprache und vielleicht den Sieg.

Warum sollte er eigentlich nicht an Bord gehen? Willkommen war er dem Petroleumkönig gewiß. Er sah, wie der weiße Schatten in der Ferne, zwischen den farbigen Laternen anderer Dampfer still lag, und hörte das kurze Rasseln des Ankers. An Land ging die Gesellschaft heute gewiß nicht mehr, die ja auf der Jacht weit mehr Bequemlichkeit fand als in den dürftigen Hotels von Gibraltar. Er traf sie sicher beim Diner vereinigt, weitgereiste, die Welt überblickende Menschen in tadellosem Frack und weißer Binde, Angelas Madonnengesicht und silberhelles Lachen dazwischen. Und hier …

Er schaute umher. Es kam jetzt, wo das Schiff in ruhigerem Hafenwasser fuhr, allmählich Leben in die Gesellschaft. Wie wenn Tote aus ihrem Schlafe erwachen, lugten bleiche Gesichter aus den zurückgeschlagenen Hüllen und richteten sich steifgewordene Gestalten langsam auf. „Jräßlich! Jräßlich!“ tönte die Klage des Majors und dahinter das beruhigende Baßgemurmel seiner Freundin. „Jetzt sind wir da!“ hörte er ihre Stimme. „Wir liegen schon still. Steh’ auf, Hilda! Was hast du denn schon wieder, daß du so jammervoll dreinschaust? Und du, Klara … es ist Zeit!“

Ringsum ein Frösteln, ein klägliches Lächeln, schlechte Witze, ein herdenartiges Gedräng am Fallreep, wo die Ruderboote harrten, die auf der wohl viertelstündigen Fahrt bis zur Alten Mole den noch enger als bisher zusammengepferchten Touristen unfehlbar eine neue Auflage der Seekrankheit bescheren mußten – nein, der Gedanke an dies Zukunftsbild entschied seinen Entschluß. Er winkte den an Bord klimmenden Agenten des Hotels heran, übergab ihm sein Gepäck und brachte mit seiner Hilfe, ehe die große Masse der Seekranken mobil wurde, die Damen und den Major in dem ersten, vom Schiff abstoßenden Kahn unter. Noch ganz betäubt ließen sie alles mit sich geschehen. Erst als der plumpe Kasten schon frei im Ruderschlag schwankte, hörte er Klaras Stimme.

„Sind Sie denn nicht mit?“ rief sie herauf.

„Nein, ich komme nach! Ich habe noch etwas zu thun!“

„Auf dem Schiff? Haben Sie etwas vergessen? Hier haben wir ja Ihre Sachen!“

Er wollte nicht heucheln. „Ich mache rasch einen Besuch auf der Jacht ,Liberty‘,“ rief er hinunter. „Auf Wiedersehen nachher!“

Es kam keine Antwort und der Kahn verschwand im Dunkel.


12.

Im Dämmerschein des gedämpft aus ihren Luken strahlenden elektrischen Silberlichts lag die „Liberty“ wie ein großer, weißer Schatten über der nachtblauen See. Die Wogen, unter deren Rauschen der heransteuernde Nachen ungestüm schwankte, spielten nur mit dem geschmeidigen Leib des Oceanrenners, daß er sich wohlig und träumerisch in ihnen wiegte und hoch oben die bunten Signallaternen der Masten in sanftem Schaukelschwung vor dem Sternengeglitzer auf und nieder glitten.

Die Thüre der Bordwand war geöffnet, das Fallreep herabgelassen, als erwarte man den späten Gast. Aber kein Mensch war zu sehen. Nur von dem Vorderteil des Schiffes klang das Raunen tiefer Männerstimmen – wachthaltende Matrosen, die da irgendwo, ihr Priemchen kauend, zwischen Taurollen und Fässern saßen.

Der Fremde brauchte ja auch keinen Empfang durch das Schiffspersonal. Er war ja nur zu gut zu Hause in diesem schwimmenden, kostbar eingerichteten Gebäude, das seine Bewohner fügsam unter der Drehung des Steuerrades von einer Küste zur andern trug. So entlohnte er den Bootsführer, klomm [749] das Fallreep hinauf und ging über das hell vom Licht beschienene, völlig leere Deck auf die große Salonkajüte zu.

Während er, mit der Hand über die schwere Eichenschnitzerei des Geländers hingleitend und mit dem Fuß tief in dem Smyrnateppich versinkend, die Treppe hinabstieg, horchte er auf. Aber kein Laut war vernehmbar, nichts regte sich hinter der getäfelten, mit einem bronzenen Löwenkopf geschmückten Thüre, die zum Speiseraum führte. Und doch mußten sie jetzt dort alle versammelt sein. Fiel doch auch durch die mit schweren Portieren verhängten Fenster ein schmaler Lichtstreifen heraus in die Nacht.

Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Das Schiff kam ihm wie verzaubert vor in seiner Helle, seiner Pracht und seinem Schweigen. Um die Beklemmung los zu werden, pochte er an und trat auf das von innen tönende, gleichgültige „Come in!“ in das Gemach, Angelas Bild vor Augen, die ihm ja im nächsten Augenblick mit ihrem gewohnten hellen Lachen die Hände entgegenstrecken mußte.

Er blieb betroffen stehen. Das reich ausgestattete Speisezimmer war fast menschenleer. Nur eine Gestalt saß einsam und melancholisch in Frack und weißer Binde an der silberbeladenen, mit Blumen verzierten Tafel, eine Gestalt, die dem ersten Blick in ihrer Schmächtigkeit und Bartlosigkeit fast knabenhaft erschien. Aber die Züge des heiter lächelnden Gesichtes mit der hellblonden Perücke darüber waren gefurcht und die Augen glänzten kalt und alt darüber hin.

Niemand hätte sagen können, ob Nikolai Augustus Rey, der Petroleumkönig, 35 oder 55 Jahre zählte. Sein Aeußeres war ein Rätsel, wie denen, die ihn näher kannten und in ihm nicht nur den verdammenswerten Spekulanten sahen, der ganze Mensch. Wie er jetzt den Kopf langsam von den Papier- und Zeitungsstößen hob, die während der einsamen Mahlzeit seinen Teller umrahmten, war sein Gesicht das eines sorgenvollen, ergrauten Kaufmanns. Aber kaum erkannte er seinen Gast, so glitt ein spitzbübisches, jungenhaft übermütiges Lächeln über seine Züge, und er sprang mit jugendlicher Behendigkeit vom Stuhle auf.

„Da ist er ja!“ rief er mit seiner schmeichelnd hellen Stimme. „Unser Afrikaner! Ich weiß schon: Sie sind kein Gespenst! Sie leben wirklich! Angela hat es mir geschrieben: ,Wenn er nach Gibraltar kommt und nach mir fragt, so erschrick nicht, sondern pflege ihn ordentlich‘. Also setzen Sie sich, Freund! Ein Glas Port? Schön! ... Noch eins! ... Kein Widerspruch! Meine Tochter hat befohlen, Sie zu Kräften zu bringen.“

„Ja, wo ist sie denn?“ Der Fremde setzte sein Glas ab und schaute suchend umher.

Nikolai Rey lachte vergnügt. „Der reine Wilde! Er giebt sich gar keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Aber es hilft nichts. Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen. Meine Tochter und ihre Freunde sind fort!“

„Wo sind die Herrschaften denn?“

„Hm!“ Der Petroleumkönig geleitete seinen Gast zu einem Stuhl und schob, auf den elektrischen Knopf drückend, den ganzen Wust von Depeschen und Druckpapier zur Seite. „Hm .. ja ... wo liegt die Jacht eben? ... Doch in Gibraltar? Ich vergesse nämlich in meinen Geschäften oft, an welcher Küste oder in welchem Erdteil ich mich gerade befinde. Also Gibraltar! Und gegenüber liegt dies spanische Nest ... eine Festung ...“

„Ceuta!“

„Richtig! Ceuta! Dort war ich heute abend, um Angela und ihre Sippschaft aus Afrika herüberzuholen. Finde aber nur ein paar Zeilen von ihr vor, sie und die beiden andern seien aufgebrochen, um den höchsten Berg da in der Nähe ... weiß der Henker den Namen ... ja den Dschib-El-Musa ... zu ersteigen! Gefährlich? Was? Natürlich. Dort wohnen doch die Nachkommen der berühmten Rifpiraten, denen unsere [750] seefahrenden Staaten bis in die Mitte des Jahrhunderts Tribut zahlen mußten. Es ist sicher anzunehmen, daß ein Unglück passiert. Aber reden Sie einmal mit meiner Tochter und deren Freunden! Meine Hoffnung ist, daß es morgen in Strömen gießen wird. Aber Sie sehen mich trotzdem wirklich bekümmert,“ er warf einen zerstreuten Blick auf ein vor ihm liegendes Kabeltelegramm, „… diese ewigen tollen Streiche machen mich nervös. Nachher wollen sie wieder führerlos auf den Montblanc, infolge einer Wette. Und ich liege hier einsam und verlassen.“

„Ich hätte ruhig noch zwei Tage in Tanger bleiben können,“, fuhr er fort, während ein schwarzgalonnierter Diener lautlos eintrat und ein zweites Gedeck auflegte. „Dort besuchte mich mein Freund, der alte Sir Roß von der Admiralität …. Sie wissen, der Tigertöter. Flitzte einfach mit einem Torpedoboot Ihrer Majestät in fünfviertel Stunden die ganze Meerenge lang, kam tropfnaß an und war närrischer als je. Ja, den habe ich nun auch im Stich lassen müssen. Nun, wenigstens finde ich jetzt Zeit, meine Geschäfte zu erledigen. Sie wissen doch … oder vielmehr, Sie können es nicht wissen, daß wir wieder einen Weltring anstreben. Das Petroleum soll viel, viel teurer werden auf der ganzen Erde!“

„Ein löblicher Vorsatz, Nikolai Gawrilowitsch!“

„Ja, es ist schlimm!“ Der alte Deutschrusse senkte den Kopf, daß die strohblonde Knabenperücke im Kerzenlicht glänzte. „Diese Ausbeutung des Volkes ist ein Verbrechen. Und leider sind wir stärker als das Gesetz. Es bietet keine Handhabe gegen uns!“

„Und das sagen Sie?“

„Glauben Sie mir, lieber Freund!“ Der Petroleumkönig hob langsam das sorgengefurchte Antlitz. „Wenn ich nicht Nikolai Augustus Rey wäre – einer der großen Leute in Baku und der großen Millionäre in Petersburg – ich würde auf der Stelle ein Sozialist. Gegen Leute wie uns haben diese Gegner des Bestehenden vollkommen recht. Wir sind Blutegel am lebendigen Organismus. Wir sind Feinde der Menschheit. Wir gehörten ausgerottet zu werden!“

Der Gast schwieg.

„Ausgerottet!“ wiederholte Nikolai Rey und schaute gramvoll in dem Prunkraum umher. „Jeder Zoll an dieser Jacht ist unrecht erworbenes Gut. Aber was soll ich machen? Soll ich allein den Weltlauf ändern? Das kann ich nicht. Also muß ich meinen Gang gehen und weiter Trusts bilden. Der prächtige alte Sir William hat mich gestern noch bei seiner zweiten Flasche 1811er Portweins getröstet! Er sagte: ,Der Tiger ist dazu da, um zu reißen, und das Schaf, um gerissen zu werden. Beide können nichts dafür. Also zerreißen auch Sie weiter die kleinen Leute. Dazu hat Sie die Natur nun einmal bestimmt!‘ Das traf den Nagel auf den Kopf. Sie kommen ja auch aus der Wildnis: können Sie mir nicht auch solch einen Kernspruch sagen?“

„Ich glaube, Sie brauchen gar keine Tröstung,“ meinte der Afrikaner gelassen. „Sie fühlen sich ganz wohl in Ihrer Haut.“

„Nein!“ Nikolai Rey schüttelte kummervoll das Haupt. „Es geht mir wirklich nahe, namentlich an so einsamen Abenden wie heute und wenn das Schiff schwankt, was ich nicht leiden kann. Jetzt habe ich mich wieder verleiten lassen, eine große Spekulation in Weizen zu unternehmen. Und natürlich glückt es auch wie immer und ich gewinne eine Menge Geld. Aber nun versetzen Sie sich, bitte, in die Lage eines Menschen, der sich über jede Hungersnot freuen muß! Der sich die Hände reibt, wenn er von Epidemien der Eingeborenen in Indien hört, oder von Wolkenbrüchen in Ungarn oder von Trockenheit und allgemeiner Not in Argentinien. Ich versichere Sie, solch ein Mensch ist übel dran. Besonders, wie gesagt, bei rauher See, wenn man nicht in Ruhe essen kann!“

Er legte seinem Gast einen gebratenen Ortolan auf den Teller und lehnte sich nachdenklich zurück. „Ich hoffe ja, daß es eine allgemeine Mißernte auf der Welt giebt,“ murmelte er. „Ja, ich habe Grund, es als positiv anzunehmen, besonders bei uns in Rußland. Da wird eine Masse Menschen Hungers sterben und ich gewinne. Glauben Sie mir, das thut weh! Nur anderseits sage ich mir eben: wenn du nicht spekulierst, wächst kein Halm Getreide mehr und wird kein Mund mehr satt. Warum sollen also nicht wenigstens einige Bevorzugte auch aus dem Unglück Geld machen, da sie es ja doch nicht zurückhalten und ändern können? Schließlich habe ich die Welt nicht geschaffen und muß jede Verantwortung dafür ablehnen, wie es auf ihr zugeht!“

Er verstummte. Sein Gast sah ihn mit unbehaglicher Neugier an. Wie beim Betreten des Schiffes hatte er jetzt wieder die Empfindung einer verzauberten Welt, in der alles anders war als da draußen, die Gefühle, die Gedanken, die Menschen.

Dieser kleine Mann ihm gegenüber mit dem klugen, faltigen Knabengesicht und den grauen, eiskalten Augen kam ihm, wie er im Schaukeln des Schiffes bald mit seiner Tischkante über ihn stieg, bald wieder von ihm weg nach hinten sank, wie ein seltsames, unbeseeltes Wesen vor, aus dem befremdend eine menschliche Stimme tönte. Die See draußen mußte gröber geworden sein. Alle Dinge im Zimmer schwangen und klirrten in wiegender Bewegung, wie im Raume eines Hexenmeisters das leblose Gerät gespenstisch in den Winkeln spukt und kichert. Jenseit der Holzwände gurgelte es und klatschte in schwerem Wogenprall und immer rascher schwankte das Speisegemach mit dem lächelnden, rittlings auf einem Stuhl sitzenden Hausherrn.

Der war schon wieder in bester Stimmung. „Ich habe zuweilen solche Anwandlungen!“ sagte er und seinem Zuhörer fiel es wieder ein, daß Nikolai Rey bekanntermaßen außerstande war, von etwas anderem als von sich selbst zu sprechen, und daher selten Gelegenheit fand, seinen Redestrom ungehemmt zu ergießen. „Ich habe aber zum Glück auch eine robuste Gesundheit, körperlich und geistig. Es geht mir nicht leicht etwas nahe! Nicht, daß ich es von mir hielte – etwa mit einer großartigen Handbewegung aller menschlichen Not und Sorge abwinkte – im Gegenteil, meine Wohlthätigkeit ist verschwenderisch und das will in Petersburg und Moskau wirklich was heißen! Aber es packt mich nicht! Ich bleibe so angenehm kühl, gewissermaßen in einer wohlwollenden Neutralität dem Kampf ums Dasein gegenüber. Es ist wirklich ganz amüsant, ihn sozusagen von der Loge aus anzusehen wie ich hier von meiner Jacht!

Früher habe ich mich manchmal über meine Empfindungslosigkeit geängstigt. Mir gesagt: das ist doch nicht normal. Aber nun sehe ich, daß meine Tochter gerade so ist! Ganz genau so! Das tröstet mich. Auf irgend eine Weise erlebt man eben immer Freude an seinen Kindern!“

Der Gast erhob sich. Es ward ihm schwül und beklommen. Es drängte ihn hinaus aus dieser schwimmenden Raubritterburg des 19. Jahrhunderts und fort von ihrem unermüdlich und mit spitzbübischem Lächeln plaudernden Schloßherrn, der offenbar sich selbst als das einzig wichtige und zugleich noch ungelöste Problem des Weltalls erschien.

„Grüßen Sie, bitte, Ihre Tochter,“ sagte er, „und haben Sie Dank! Ich gehe jetzt an Land!“

„Schön!“ Trotz seines freudigen Empfanges und seines Mitteilungsdranges fiel es dem Petroleumkönig nicht ein, einen Menschen, der gehen wollte, zurückzuhalten. „Ich werde Angela Ihr enttäuschtes Gesicht schildern. Kommen Sie morgen wieder?“

„Nein. Ich reise.“

„Und wo trifft man Sie denn einmal wieder in irgend einem Winkel der Welt?“

„Ich weiß noch nicht. Vielleicht … habe ich ein paar Tage in Genf zu thun!“

„Da sind wir uns ja ganz nahe! Ich erzählte Ihnen ja von den Montblanc-Plänen. Da ich Gesellschaft liebe, muß ich meine Jacht in Marseille lassen und mit nach Chamounix. Von da nach Genf ist’s ja nur ein Katzensprung.“

„Ich glaube, wir werden uns trotzdem nicht sehen!“

Das bübische Lächeln erschien stärker als je auf dem Gesicht des unheimlichen Hausherrn, der, knabenhaft klein und schmächtig, neben dem straffgewachsenen Afrikaner auf das Verdeck trat. „Das sollen Sie neulich in Tetuan auch erklärt haben,“ sagte er kichernd, „und sind doch schon wieder mein lieber Gast! Sie kommen immer wieder zu uns zurück, zu mir und meiner Tochter. Sie müssen, scheint mir! Auf Wiedersehen am Montblanc. Da will ich schon dafür sorgen, daß Ihnen Angela nicht wieder entrinnt!“

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 25, S. 773–781
[773]
13.

Zum erstenmal in seinem buntbewegten Leben war eine schmerzliche Melancholie über Albrecht Steffen, den marokkanischen Handlungsreisenden, gekommen – und zwar im selben Augenblick, als er ferne über dem Gewühl des Marktplatzes drei Europäerinnen, von ihren Soldaten eskortiert, dahinreiten und ihre Maultiere dem Thor von Tetuan zulenken sah.

Es hatte ihn nicht mehr in dem kleinen maurischen Kaffeehaus gelitten, wo er neben einem negerartig dunklen beturbanten Geschäftsfreund gesessen und sich an dem Lieblingsgetränk der Eingeborenen, dem feurigen Aufguß frischer, grüner Theeblätter, gelabt hatte. Er war aufgestanden und nach einem kurzen Gruß an die rings mit verschränkten Beinen hockenden maurischen Männer ziellos auf den Gassen umhergeirrt, getragen von dem rastlosen Gewühl, das sie bis Sonnenuntergang durchflutet.

Als dann hoch von den Minarehs der letzte dröhnende Mahnruf der Gebetwächter verhallt, war er nach seinem kärglichen Mittagsmahl, an einer Art Strickleiter sich haltend, die steile Hühnertreppe zu einem kahlen schmutzigen Raum emporgeklommen, wo des Abends einige alte Musikanten das Ohr ihrer [774] Stammesgenossen und mehr noch der etwa in Tetuan befindlichen Fremden durch Zimbelschlag, Guitarregeklimper und langgezogenen, näselnden Gesang sich zu ergötzen mühten. Aber plötzlich war ihm die Mohrenmusik unerträglich, die Gesellschaft, zwei junge Engländer, ein Hotelkurier, einige Regierungssoldaten, Treiberjungen und andere Schmarotzer des Fremdentums, widerwärtig, der Cigarettenrauch lästig wie noch nie, und er hatte mitten in dem Wehgesang der alten Barden den Ausgang gewonnen, mit dem festen Vorsatz, sowie nur der Rauch des Dampfers über dem fernen Silberblinken des Meeres sich kräuseln würde, der Barbarenstadt zu entfliehen.

Das war nun geschehen. Seit mittags befand er sich in Gibraltar und bot den an der alten Mole lungernden Bootführern, Kutschern und Matrosen das imposante Bild eines breitschulterigen, blondbärtigen, mit rätselhaften vernarbten Messerschnitten auf der linken Wange verunstalteten Mannes, der reglos auf das Meer blickend an einem Holzpfahl lehnte und alle Lockungen der dienstbaren Geister, ihn oder sein Gepäck an Bord eines Schiffes zu befördern, unbeachtet ließ. Erst als, schon im Abenddämmern, der verspätete Dampfer von Tanger weit draußen Anker warf, wurde der Gentleman lebendig und ging mit großen Schritten auf und ab, ungeduldige Blicke auf die langsam als schwarze Klumpen heranschwimmenden Landungsboote werfend.

Endlich waren sie da. Das Getümmel, das Cook und Sohns Karawane, wo sie ging und stand, umwitterte, begann von neuem, verstärkt durch einen wilden Auftritt des Majors mit dem Impresario. Der alte Herr hatte sich nach schweren Kämpfen entschlossen, die Rundreisegesellschaft zu verlassen und über sein schönes Geld ein Kreuz zu machen. Vorher aber sagte er dem Impresario noch einmal gründlich seine Meinung. Der verstand zwar kein Wort Deutsch, aber er erriet aus Ton und Gebärden, daß es sich um einen feindseligen Akt handelte, und antwortete in sprudelndem Sizilianisch. Beide schrieen gleichzeitig ineinander und erhitzten sich immer mehr, je weniger der zornmütige Ostelbier und der heißblütige Welsche einander begreiflich machen konnten, was sie voneinander wollten.

Der Handlungsreisende hatte inzwischen die drei Damen begrüßt und stand mit Klara und Hilda abseits. An ein Fortkommen war nicht zu denken, ehe es nicht der Gouvernante, die sich als Dolmetscherin ins Mittel gelegt, gelungen war, die Kampfhähne zu trennen. „Hatten Sie eine gute Ueberfahrt, Fräulein Hilda?“ frug er teilnehmend.

„Herrlich!“ In der Kleinen, die fröstelnd, von den Spritzern, des Seewassers bei der Kahnfahrt durchnäßt, neben ihm stand, war jetzt allmählich ein bitterer Trotz erwacht. „Das war die größte Erholung auf der ganzen Erholungsreise. Man hat doch was für sein Geld! Für zehn Pesetas darf man den ganzen Tag auf dem Schiff zubringen und sich schaukeln lassen ... wissen Sie ... immer hin und wieder her und wieder hin. Das ist auf die Dauer zu nett! Schade, daß Sie nicht dabei waren! Aber ich will meine Schwestern fragen: vielleicht machen wir morgen die Fahrt noch einmal!“

„Ach, die arme Kleine!“ sagte der blondbärtige Abenteurer und sah zärtlich auf die Jüngste herab. „Nun haben Sie’s ja überstanden!“

„Wer weiß, was morgen kommt!“ Sie wickelte sich zähneklappernd fester in ihr Mäntelchen. „Ich bin auf alles gefaßt. Wie geht es Jhnen?“

„Danke! Vortrefflich!“

„Und den Blutegeln?“

„Die sind wohl und gesund und lassen grüßen!“

„Und dem Pesetakurs?“

„Der befindet sich so leidlich als es bei diesem Schwerkranken überhaupt möglich ist! Im Ernst gesprochen, Fräulein Hilda: ich habe diesmal gar keine Blutegel und keinen Honig mit und in die Pesetakurse, obwohl sie an jeder Wechselstube in Waterport-Street angeschlagen sind, habe ich leichtsinniger Mensch noch keinen Blick geworfen. Ich habe zwei ganz andere Dinge im Kopf!“

„Zwei gleich?“

„Ja, ein großes Ding und ein kleines!“

„Und was sind die?“

„Das kleine Ding ist ganz nahe bei mir. Es könnte kaum näher sein …, besonders wenn ich im Dunkel seine Hand nehme und so ganz leise ein bißchen drücke. Die große Angelegenheit aber ist fern. Die schwimmt dort draußen auf den Wassern, wo die Jacht ‚Liberty‘ ankert, und ist ein Geheimnis!“

„Auch vor mir?“

„Oder eigentlich kein Geheimnis, sondern ein kecker Griff, von dem ich noch nicht weiß, ob er glückt. Aber versucht wird er. Heute noch. Das Glück flitzt nicht alle Tage an einem vorbei!“

„Und was ist es denn?“ wollte Hilda fragen. Aber da traten die andern dazu. Der Streit war durch die schwarze Dame endlich beigelegt, einmal noch maßen sich die Gegner mit bitterem Lächeln, dann drehte sich der Major um und erwartete, kampflustig seinen Knotenstock schwingend, den üblichen Ansturm der bettelnden Krüppel, Blinden und Tagediebe, die den Fremden in ganz Spanien zum Wahnsinn bringen und nach seiner Versicherung selbst unter seinem Bette nächtigten und ihn bis in die Badewanne verfolgten. Aber die abscheuliche Horde blieb aus. Er hatte vergessen, daß er sich auf englischem Boden befand, wo diese Landplage nicht gedieh, und seine Mienen hellten sich auf.

„Na, dann könnten wir ja ins Hotel jondeln!“ sagte er. „Da steht ja so ein blondbärtiges Individuum von ’nem Portier oder so ’was!“

„Das nun nicht!“ erwiderte der Fremde zu seiner Bestürzung in fließendem Deutsch. „Aber mit dem Kutscher hier“ – er wies auf eine mit Sonnendach überspannte Droschke – „habe ich schon ausgemacht, daß er Sie alle nach dem Hotel bringt. Anderthalb Peseten! Zwanzig Centimos Trinkgeld. Will der Kerl mehr, so lassen Sie ihn ruhig schreien oder holen den nächsten Policeman. Auf Wiedersehen, meine Damen! Schlafen Sie gut, Fräulein Hilda!“ Er grüßte und wandte sich dann zu einem der Schiffer, die mit ihren leeren Passagierbooten an der Quaimauer lagen. „Halloh, Caballero!“ gebot er, mit einem Satz in den Kahn springend. „Fahrt zu, Herr! Nach dem weißen Schiff dort, das vorhin kam. Und nehmt noch einen zweiten Caballero als Ruderknecht mit, damit es rascher geht!“

*               *
*

Die beiden Kerle hatten ihn in der That in verhältnismäßig kurzer Zeit an Bord der „Liberty“ befördert. Dort aber mußte er warten, bis der Gast des Schiffsherrn sich verabschiedet hatte.

Erst als der Afrikareisende in eine von Matrosen der Jacht geruderte Pinasse gestiegen war und der Petroleumkönig ihm grüßend nachwinkte, trat Albrecht Steffen aus dem Schatten des Verdeckes vor, hob den Hut mit einer gewissen Feierlichkeit und sagte laut: „Guten Abend, Herr Rey!“

Der Angeredete musterte ihn höchst mißtrauisch. „Wer sind Sie denn?“

„Geschäftsmann! Albrecht Steffen mit Namen.“

„Wollen Sie etwas von mir?“

„Herr Rey! Ist schon je ein Mensch zu Ihnen gekommen, der nichts von Ihnen gewollt hat?“

„Nein,“ sagte der Millionär trocken. „Da haben Sie recht. Also was wollen Sie? Geld?“

„Herr Rey! Was kann denn ein Mann sonst von Ihnen wollen? Natürlich brauche ich Geld zu einer Unternehmung!“

„Hören Sie mal!“ Der Hausherr schüttelte den Kopf. „Sie sind ein merkwürdig … merkwürdig ungenierter Mensch!“

„Nicht wahr?“ frug der andere erfreut. „Hoffe, daß Ihnen das gefällt. Die Bescheidenheit ist eine herrliche Tugend. Aber man darf nur Sonntag nachmittags davon Gebrauch machen. Deshalb wende ich mich ohne falsche Scheu direkt an Sie.“

„Ja, weswegen gerade an mich? Ich kenne Sie gar nicht!“

„Herr Rey! Mich kennt kein Mensch! Das ist’s ja eben! Ich stecke fest in dieser weltverlorenen Ecke da drüben, wo Afrika aufhört und das salzige Wasser anfängt, und kriege keinen Finanzmann zu Gesicht, auf den ich einen vorteilhaften Eindruck machen könnte. Schreibe ich aber an Leute wie Sie – lieber Gott, da könnte ich viele hundert Jahre warten und es käme keine Antwort. Als mir nun mein Glücksstern Ihre Jacht gerade vor die Nase führte und die so einladend und lockend auf dem Wasser dalag, da kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich und ich sagte mir: ,Jetzt sei kühn oder nie!‘ ...“

„Ich finde es allerdings kühn, unangemeldet spät abends zu mir an Bord zu kommen!“ Der Petersburger starrte den ungebetenen Gast aus seinen kalten grünen Augen an. Aber der Mund lächelte ganz wohlwollend. „Wenn ich Sie nun ersuchte, sich wieder in Ihr Boot zurückzubegeben …“

[775] „Dann haben Sie eine Million weniger!“ sagte der Fremde und that, als ob er gehen wollte. „Aber dann machen Sie mir, bitte, später keine Vorwürfe …“

Eine Million! Das interessierte den Großspekulanten. Es war also kein gewöhnlicher Schnorrer, der da vor ihm stand. „Was wissen Sie denn von einer Million?“ frug er und ein Lächeln spitzbübischer Aufmerksamkeit erhellte jetzt das ganze Knabengesicht.

„Da drüben liegt sie!“ sprach der abenteuernde Kaufmann gleichgültig und wies in die Nacht hinaus.

„Das ist die Richtung von Tanger?“

„Richtig, Herr! Sind Sie da nicht einmal über den Strand längs des Meerbusens außerhalb der Stadt gegangen oder geritten?“

„Jeden Tag.“

„Haben Sie nicht gefunden, daß da Geld drin steckt?“

„Wieso?“

„Eine stundenlange, ebene Strandpromenade aus feinstem Sand, herrlichster Blick auf zwei Weltteile und zwei Meere, denkbar pittoreskeste und interessanteste Umgebung, anerkannt vortreffliche, stärkende Seeluft mit kühlen Brisen im Sommer, starker Wellenschlag auf weithin ganz flachem, bequemem Seeboden ....“

„Man meint, Sie reden von Ostende oder Nizza!“

„Eben!“ sagte Steffen kaltblütig. „In diesem Strand steckt ein Seebad im großen Stil. Ein afrikanisches Modebad für Frühling und Herbst, wenn es anderswo zu kalt ist – passen Sie auf, wie das bei den Engländern und Yankees zieht! Ich weiß, was Sie sagen wollen: es giebt ein paar solche Plätze in Algier. Aber wie dürftig, wie schwer in ein- bis zweitägiger Seefahrt zu erreichen! Hier aber kann die Verbindung gar nicht bequemer sein. Wöchentlich einmal der schon jetzt bestehende Luxusexpreß Paris-Gibraltar und von da eine Spazierfahrt von ein paar Stunden. Und überhaupt die Nähe von Gibraltar: dieser Knotenpunkt des Weltverkehrs, wo alle Schiffe von London und New York, von Genua und Marseille anlegen. Es wird den Leuten beinahe zu leicht gemacht, unser Seebad Tanger zu überfüllen …“

„Unser Seebad ...“ sagte der Millionär mit hochgezogenen Brauen, aber der andere ließ ihn nicht zu Worte kommen: „Sie wissen, wie billig alle Lebensmittel drüben sind. Ganz Gibraltar bezieht ja seinen Bedarf von da. Interessante maurische Kaufläden, gute Pferde, Gelegenheit zur Eberjagd … nun … es existiert ja jetzt schon ein halbes Dutzend Hotels in Tanger, darunter ein bis zwei ersten Ranges. Und das ohne das Seebad.“

„Sollten Sie denn wirklich der Erste sein, der auf diese Idee gekommen ist?“

„Sehr einfach!“ sagte der Kaufmann. „Es ist eine Schwierigkeit da, eine große Schwierigkeit, die jeden anderen zurückschrecken würde: der Widerstand der marokkanischen Behörden. Ich bin seit Jahren kreuz und quer durch das Land geritten – ich kenne viele der Würdenträger und stehe gut mit ihnen. Wenn einer die Erlaubnis durchsetzen kann, bin ich es. Vor der deutschen Nation hat außerdem die Schwefelbande Angst, seit wir ihnen ein paarmal energisch mit Kriegsschiffen übern Hals gekommen sind. Sie als Russe können da wenig machen …“

„ … außer Geld geben!“ Nicolai Rey lachte herzlich. Die Phantasien seines späten Besuchers amüsierten ihn.

Der aber blieb ernst. „Geld, das sich vortrefflich verzinsen wird. Es ist eine große Sache, Herr Rey!“

Sie waren im Eifer des Gespräches auf dem Verdeck auf und nieder geschritten. Jetzt blieb der Petroleumkönig stehen.

„Einleuchtend ist mir das Unternehmen noch nicht,“ sprach er kühl und es zuckte heiter um seine Mundwinkel.

„Ich kann Ihnen Pläne und Berechnungen vorlegen. In wenigen Tagen. Hätte ich geahnt, Sie heute hier zu treffen ...“

„Ich reise morgen abend weiter, nach Marseille. Aber die Geschichte macht mir Spaß. Sie könnten mich einmal besuchen … in Chamounix. Dort bleibe ich.“

Der andere stand betroffen da. Die Fahrt kostete ihn einen großen Teil seiner Ersparnisse. Sein Gönner faßte das Schweigen anders auf. „Chamounix!“ wiederholte er. „Ueber Lyon und Genf. Ganz nahe von hier!“

Ueber Genf! Damit war Albrecht Steffens Entschluß gefaßt.

„Ich werde kommen, Herr Rey!“ sprach er gepreßt. „Freilich … wenn dann aus der Sache nichts wird …“

„Dann findet sich vielleicht etwas anderes!“ Der kleine Mann blinzelte ihn listig prüfend an. „Ich habe überall auf der Erde meine Geschäfte, und wenn jemand mir Spaß macht und gefällt, dann hab’ ich immer für ihn Verwendung.“


14.

Durch die Straßen von Gibraltar zog in Gleichschritt und kriegerischem Klang der Zapfenstreich, junge hagere Rotröcke der britischen Garde, der baumlange Paukenschläger in phantastischem Pantherfell allen voraus, ein Gewühl von Spaniern, Juden, Seeleuten und Mauren wie ein Fastnachtszug hinterher.

Auch sonst war noch reges Leben in der Waterport-Street, durch die der Afrikaner, von der Jacht „Liberty“ kommend, langsam dahinschritt. Die feuerfarben leuchtenden Soldaten mit ihren Spazierstöckchen, die scharenweise herumstehenden Kaufleute und Händler, die in trunkenen Reihen ihres Weges ziehenden Kriegsmatrosen, die Hotelkuriere, die zweifelhaften Kaffeehausgäste, die vielen Offiziere in Civil – sie alle kümmerten sich nicht weiter um den Fremdling in seiner Wüstentracht. Hier, an dem Brennpunkt aller Welten, wo Afrika mit Europa sich eint und von diesem wieder nach Amerika, nach Asien und Australien die Dampferlinien ausstrahlen, hier fällt keine Erscheinung und keine Kleidung auf.

An ihrem Südende wurde die Straße stiller und stiller. Hier war das offizielle England – der Regierungspalast des Gouverneurs und seitlich davon die Kathedrale. Ihr gegenüber das Hotel, in dem der Afrikaner die Damen zu finden hoffte. Aber als er in den Drawingroom des kleinen Hauses trat, fand er nur die Gouvernante vor, die, schweigsam und ernst wie immer, mit dem ihr gegenüber sitzenden, noch etwas bläßlichen Major Domino spielte. Sie nickte ihm zu. Die Kleine habe sich, erschöpft von den heutigen Anstrengungen der Erholungsreise, schon schlafen gelegt, Klara aber sei die paar Schritte zum Strande hinuntergegangen, um noch die schöne Abendluft zu genießen.

Eine Luft, wie sie das rauhe Hochland Nordafrikas nicht kennt! Weit mehr als drüben in Marokko fühlt man sich hier den Tropen nahe. Der schmeichelnde, von überall her im Winde wandernde Blumenduft, das Rauschen hochgefiederter Palmen und zischelnder Zuckerrohrbüsche, die kosend weiche Schwüle der Nacht, in die nur zuweilen ein herber erfrischender Seehauch weht – das alles mischt sich mit dem rastlosen Rauschen der Wellen, dem gleichmäßigen Schaukeln der buntfarbigen Lichtpunkte in dem Mastenwald draußen über der weißrollenden Reede, dem klaren Sternenglitzern zu einem Gefühl tiefer, andächtiger Ruhe. Der wüste Lärm des Morgenlandes, das Schreien der Halbwilden und ihrer Arche Noah ist hier verstummt, der Dunst von Schmutz und Verwahrlosung steigt nicht mehr übel von allen Seiten auf. Hier ist die Stille, die Sauberkeit, das europäische Behagen. Und doppelt willkommen dem, der es durch Jahre nicht genossen und nun erst merkt, wie viel er wieder entbehrt hat in der langen Zeit da draußen – entbehrt an allen Freuden des Daseins, allem geistigen Leben, allem Verkehr mit wirklichen Menschen. Und der sich dann wieder fragt: Warum? Wie viel bringt dir die Abenteurerlust, die dich ruhelos über Länder und Meere hetzt, und wie viel nimmt sie dir von allem, was das Leben lebenswert macht?

An der steinernen Brustwehr, die hinter der Kathedrale sich über dem Meere hinzieht, hatten sie sich getroffen. Sie stand da und schaute in das Meer hinaus, mit seinen unruhigen Hafenlichtern und dem fernen Flimmerglanz des Städtchens Algeciras am anderen Ende der Bucht. Er war neben sie getreten und begrüßte sie stumm. Irgendwo am Ende des Mauerpfades tönten zuweilen schwere Atemzüge. Spanische Strolche oder anderes Gesindel, das da unter den Bäumen nächtigte. Sonst war kein Mensch ringsum zu bemerken. Hoch von oben her, von einer der Gipfelbatterien, kam der scharfe Knall und das donnernde Echo eines Signalschusses. Dann wurde wieder alles still.

„Schade, daß sie immer schießen!“ sagte Klara ruhig, als finge sie eine eben abgebrochene Unterhaltung wieder an. „Man möchte so gerne träumen und sich verlieren – aber die Schüsse wecken einen gleich wieder auf und man merkt, daß man nur in einer schönen Festung ist.“

„In einem Gefängnis! Jetzt sind alle Thore bis Morgengrauen geschlossen. Kein Mensch kann hinaus oder herein, und was sich draußen regt, wird festgenommen.“

[776] „Wie sind Sie denn dann aber hereingekommen?“

„Ich bin gerade noch vor Thorschluß in Old-Mole gelandet. Sonst hätte ich umkehren müssen und die Nacht an Bord der ‚Liberty‘ bleiben.“

„Mich wundert überhaupt, daß Sie das nicht gethan haben,“ sagte die Malerin und schaute wieder in die Weite. „Eingeladen hat man Sie doch gewiß. Und es muß doch eine sehr unangenehme Nachtfahrt gewesen sein – die weite Strecke von dem Schiff bis zur Old-Mole!“ Sie wies nach einem weißen Schattenstrich in der Ferne, der sich undeutlich zwischen dunklen Schiffskörpern von dem satten, schaumgesprenkelten Schwarz des Meeres abhob. Er sah sie erstaunt an. „Woher wissen Sie denn, daß dort die ‚Liberty‘ liegt?“

„Ich hab’ sie doch gesehen. Und vor einer Stunde konnte man sie noch ganz deutlich erkennen!“

„Also so lange stehen Sie schon hier?“

„Seit dem Dinner steh’ ich hier! Was soll ich denn im Hotel machen?“

„Aber viel ist hier doch eigentlich auch nicht los?“

„Ich bin doch wenigstens allein,“ sagte Klara müde. „Es giebt Stunden, wo man das braucht.“

Er rückte dicht zu ihr heran, so daß sie Kopf an Kopf dastanden und in das Plätschern der Wellen an der Quaimauer hinabschauten. „Ich glaube, ich habe Ihnen vorhin weh’ gethan!“ sagte er plötzlich. „Und das thäte mir sehr, sehr leid!“

Sie schaute ihn fragend an.

„Ich meine, weil ich wieder an Bord der verwünschten weißen Jacht gegangen bin! Sehen Sie sich das Ding nur an! Liegt es nicht wie so ein Geisterschiff auf dem Wasser? Wie so ’ne Art Fliegender Holländer oder so was?“

„Sie können doch kommen und gehen, wie Sie wollen. Wenn mir etwas weh thut – nein, ich will sagen, wenn mich etwas wundert, ist es nur, zu sehen, daß selbst ein Mann wie Sie ein Spielball des Augenblicks werden kann. Denn, wenn ich an Ihr Gesicht denke, als Sie mir damals in Tetuan das Päckchen für Berlin gaben und mir erzählten, daß die Tochter des Herrn Rey und ihre Freunde Sie verlassen hatten …“

„Haben Sie das Päckchen bei sich …?“

Sie nickte. „Hier in meiner Tasche! Da ist es!“

Er nahm es ihr aus der Hand und ließ es in seinen Rock gleiten. „Also …, ‚wenn ich an Ihr Gesicht denke‘ … fahren Sie doch fort! Sie wissen, wie gut mir Ihre Strafpredigten thun!“

Aber sie schüttelte den Blondkopf. „Nein. Das war damals. In Tetuan haben Sie’s gebraucht. Weil Sie krank waren, oder vielmehr mit den Nerven herunter. Aber jetzt, wo Sie, gottlob, besser sind …“

„Die Stiche in der Herzgegend hab’ ich leider immer noch. Also lassen Sie sich nicht abhalten!“

„Nein,“ sagte sie kurz und schaute von ihm weg in das Kochen der See hinunter.

„Dann will ich Ihnen etwas sagen!“ Er neigte seinen Mund zu ihrem Ohr. „Ich war heute zum letztenmal auf diesem weißen Geisterschiff da drüben. Wirklich zum letztenmal. Nun bin ich frei.“

Sie sah ihn schweigend an und schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Doch!“ sagte er zornig. „Heute ist die da drüben zum letztenmal vor mir verschwunden, während ich schon ihre Hand zu halten glaubte. Als ich zurückfuhr, kam mir ganz plötzlich die feste Ueberzeugung, daß sie doch auf dem Schiff war! Sie ließ sich ganz einfach vor mir verleugnen und blieb ruhig in ihrer Kabine. Ich weiß es. Und ich lasse nicht mehr mit mir spielen. Seit ich Sie kenne, habe ich meinen Stolz wiedergefunden.“

Sie erwiderte nichts. Um die beiden dunklen Gestalten spielte der warme Blumenwind und unter ihnen flüsterten die Wellen. Vom Hotel her kam, den Strohhut schief im Genick, ein junger Lieutenant der Coldstream-Garde und ging, das Paar erblickend, diskret im Bogen vorbei.

Der Afrikaner schaute ihm nach, bis er im Dunkel verschwand. Dann wandte er sich seiner Gefährtin wieder zu. „Haben Sie nun eigentlich näher über Ihre Zukunft nachgedacht, Fräulein Klara?“ frug er mit einem unsicheren Klang in der Stimme. „Ich meine … was nun eigentlich werden soll …“

„Da ist doch nicht viel nachzudenken. Die Sache zwischen dem Major und meiner Schwester scheint sicher. Wenigstens hat er nach einem schrecklichen Lärm mit dem Impresario sein Cooksches Rundreiseheft fahren lassen und sich entschlossen, uns nach Genf zu begleiten. Dort bringen wir die Kleine unter …“

„Und was thun Sie dann?“

„Ich muß nach Dresden zurück. Dort habe ich mein Atelier. Und die Leute, die meine Sachen kaufen. Dort muß ich schon bleiben. Leider Gottes nun bald ganz allein.“

Sie brach ab. Die ganze Stadt schien jetzt zu schlafen. Jeder Lärm war verstummt. Nur ein Rauschen und Brausen wallte unbestimmt dahin, der Zwiesang zwischen Luft und Meer, und darüber stand still die Sternenpracht.

Da hörte sie neben sich seine Stimme. „Eigentlich möchte ich Sie etwas ganz Indiskretes fragen,“ sagte er. „Wie alt sind Sie eigentlich, Fräulein Klara?“

„Siebenundzwanzig! Ich hab’s Ihnen ja schon einmal gesagt.“

„Ja, ich weiß. Eben darum wundert es mich eigentlich.“

„Was denn?“

„... Ich meine … daß Sie noch nicht geheiratet haben.“

Sie wandte sich von ihm ab, dem Meer zu. „Können hätt’ ich schon öfters,“ sagte sie, ohne ihn anzusehen, vor sich hin. „Und es war wohl dumm von mir, daß ich’s nicht gethan hab’!“

„Warum haben Sie’s nicht gethan? Verzeihen Sie die Frage. Aber es … es liegt mir wirklich viel daran.“

„Warum?“ Ein trauriges Lächeln umzog ihren Mund und sie stockte eine Weile. „Schließlich … warum sollen Sie es nicht wissen: es war eben einer da. Der kam nicht … Er ahnt es nicht. Er wird es nie ahnen. Er ist ja nun auch schon verheiratet und glücklich, und ich wünsche ihm nichts Besseres auf der Welt …“

„... und Sie sind dafür unglücklich!“

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Das ist kein Unglück!“ sagte sie ernst. „Nein, wahrlich … das ist etwas Großes, Heiliges. Ich weiß es, denn ich trage es seit vielen Jahren …“

„Und Sie wollen es tragen Ihr Leben lang?“

Sie richtete sich plötzlich auf. „Nein,“ sprach sie beinahe hart. „Man muß auch einmal darüber hinaus! Das Leben verlangt auch sein Recht. Und ich glaube, jetzt habe ich es endlich hinter mir und bin innerlich frei.“

„Fräulein Klara,“ sagte der Afrikaner langsam. „Ich habe die Absicht, mich morgen nach Marseille einzuschiffen. Ich will dann ein paar Tage an der Riviera zubringen, um mich zu erholen und weil ich überhaupt glaube, daß mir ein bißchen Einkehr bei meinem inneren Menschen gut thut. Dazu muß man allein sein. Aber wenn das geschehen ist ..... erlauben Sie mir, Sie dann in Genf aufzusuchen?“

Sie nickte nur und vermied seinen Blick. Aber er sah ihr Lächeln. Er faßte ihre Hand. „Also sagen wir uns heute abend nicht Adieu, sondern Auf Wiedersehen! Und nun kommen Sie ins Hotel zurück! Sie brauchen auch Ruhe nach der unangenehmen Seefahrt.“

Sie gingen langsam die Straße hinauf, zu deren Seite, neben der Kirche, ein kleiner Tropengarten duftete und blühte. Ihre Schritte hallten an den schweigenden Wänden wider. Sie blieben stehen, sahen sich an und setzten dann, ohne ein Wort zu sprechen und mit auf den Boden gesenkten Blicken, ihren Weg fort.

Die Hotelthüre stand offen. Ein gelber Lichtschein fiel heraus in die Nacht. Von innen klang das Gelächter englischer Offiziere, helle Frauenstimmen dazwischen.

„Gehen Sie allein hinein!“ sagte ihr Freund. „Es ist besser, als daß man uns zusammen sieht. Also nochmals: auf Wiedersehen in Genf!“

Er reichte ihr die Hand und fühlte ihren herzhaften Druck, wie den eines treuen Kameraden. „Auf Wiedersehen!“ sagte sie heiter. „Ich erwarte Sie und bin froh, wenn Sie kommen!“


15.

Ein seltsamer Gegensatz: In acht Tagen von Marokko nach Monaco, aus der weiten Wüste in die Fäulnis der Kultur, aus der Gesellschaft bezopfter, wildblickender afrikanischer Barbaren mit langen Entenflinten in der Hand und braunen Fetzen um die dürren Leiber in den Kreis stöckchenschwingender und sonnenschirmbewehrter, artig lächelnder und thöricht plaudernder europäischer Menschheit ……

[778] In Genua gelandet, hatte der Afrikaforscher gerade an der Station Monte Carlo der Mittelmeerbahn seinen nach Marseille führenden Wagen verlassen. Warum, wußte er eigentlich selbst nicht. Es schwebte ihm ein unbestimmter Eindruck der Spielerstadt als eines Ortes vor, wo man ungestört war, weil hier überhaupt niemand auffiel, und mit sich und seinen Gedanken ins reine kommen konnte. Hinter einer dicken alten Dame am Roulettetisch stehend, warf er mechanisch ab und zu ein paar Fünffrankenstücke auf das grüne Tuch, wohin sie eben fielen, und sah teilnahmlos zu, wie die Harke des Croupiers sie einheimste oder verdoppelte. Eigentlich war das Ganze höchst langweilig. Nichts von jenem prickelnden Reiz, mit dem man in den Schilderungen der „Spielhölle“ so freigebig umgeht, von jenem schmeichelnden Hauch des Lasters und der Sünde, der angeblich über diesen magischen Tischen brütet. Die Besucher: jetzt zur Sommerszeit meist schlechtgekleidete, beklommene Touristen, die halb über ihre eigene Kühnheit erschrocken und zugleich stolz darauf zu sein schienen, dazwischen allerhand unzweifelhaftes Pariser und internationales Gaunervolk, dem scharfen Blicke des Weltreisenden in keiner Weise interessant, sondern einfach widerwärtig und Vorsicht gebietend, wie vieles andere Gesinde!, das er in allen Hafenstädten der Erde thätig gesehen. Ja selbst das aus allen Büchern berühmte, näselnde „Faites votre jeu, Messieurs!“ fehlte. Die Croupiers sprachen durchaus wie andere Menschen und benahmen sich nicht auffallender als ein gewandter Verkäufer hinter seinem Ladentisch.

Eben jetzt streckte der Bankhalter seine Harke aus und zog das vor dem Afrikaner liegende Silberhäufchen, das dieser unachtsam schon dreimal hatte stehen lassen, mit einem gleichgültigen Ruck zu sich heran, was die alte Dame sofort zur Einzeichnung einer Reihe geheimnisvoller Punkte auf dem vor ihr liegenden Papptäfelchen veranlaßte. Der hinter ihr aber hatte von der Dummheit genug. Er verließ seinen Platz bei der Sibylle des Roulettetisches und ging gelangweilt durch den Saal.

Dieses halblaute Summen, diese langen Tafeln, an denen die schwarzen Menschenmauern sitzend und stehend in mehrfachen Reihen beinahe übereinander klebten, wie die Fliegen um den Rand der Zuckerschüssel, ja selbst das Geld, um das sich hier alles drehte, die auf dem grünen Billardtuch flimmernden Silberhäufchen, und drüben, in dem vornehmeren Saal des Trente-et-Quarante, die rotgoldenen Scheiben der Hundertfrankenstücke und die knisternden Noten – selbst das erschien ihm alles so unendlich thöricht und kleinlich – spießbürgerhaft, gimpelhaft beschränkt, wenn er an die Wildnis dachte, deren nächtliches Windesklagen und Raunen in zerklüftetem Gestein, deren gewaltiger Sonnenbrand über endlos glühenden Steppen ihn eben noch umfangen.

Und als er draußen vor dem Eingang des Spielsaals sich auf eine Bank niedergelassen hatte, um sich das babylonische Sprachengewirr, das Seidenrauschen, den Cigarettendunst und Parfümhauch des Weltnestes, da fühlte er in sich die alte Sehnsucht nach der Wüste. Dort war die Einsamkeit das Selbstverständliche. Hier wirkte sie drückend auf ihn, wie auf einen Menschen, der allein ein großes Wachsfigurenkabinett durchwandert und all die starren Augen, das stereotype Lächeln auf sich gerichtet sieht. Alle diese Menschen kamen ihm wie Schemen, wie Schatten vor. Er war ihnen fremd geworden, sie berührten ihn beinahe unheimlich, den schweigsamen Gast aus fernen Landen, dessen gebräunten und gefurchten Zügen der Schwarze Erdteil seinen Stempel aufgedrückt hatte.

Aber ging es ihm dort nicht ebenso? Den Blick auf das blaue Mittelmeer gerichtet, von hochgefiederten Palmenfarren überschattet, verfiel er ins Träumen, während vom Pavillon her über die schmeichelnden Weisen der Kapelle klangen und auf ihren Tonwellen sich wiegend ein süßer Blumenduft die Luft durchzitterte. War er dort nicht erst recht ein Fremdling, unter Wilden, die er selbst kaum als Menschen ansah – war er nicht ein Fremdling überall?

Ueberall, wohin ihn sein unruhiger Wandertrieb geführt, und es gab wenig Orte auf der Erde, die er nicht betreten. Er war der Gast des weißen Zaren in Petersburg gewesen und hatte, mit Kannibalenkönigen in Centralafrika Blutsbrüderschaft getrunken. Auf dem thrantriefenden, verwetterten Robbenfänger im Polarmeer war er zu Hause wie in den schwimmenden Riesenhotels zwischen Bremen und New York, am löwenumbrüllten Lagerfeuer wie in den Zopfpalästen kleiner deutscher Residenzen, deren Stillleben sein Besuch unterbrach. Er hatte mit den Fürsten der Wissenschaft zu Berlin, London und Paris die Probleme menschlicher Erkenntnis zu lösen gesucht und mit rauhen Berner Bergführern den neuen Aufstieg zum Gipfel des Cooksberges in Neuseeland beraten, er hatte in dem Orgelbrausen und der farbigen Nacht gotischer Dome, wie in der kahlen Halle der Moscheeen, in Synagogen und Pagoden, auf totenschädelgeschmückten Fetischplätzen und heiligen Bergen weiße und braune, rote, schwarze und gelbe Menschen zu ihrem Gotte beten und ihren Frieden, wie sie ihn wollten, erringen sehen. Nur an ihm selbst war der Friede stets vorbeigegangen. Er stand lockend, weit in der Ferne, wie jenes trügerische Spiegelbild der Dinge, jene Fata Morgana mit ihren verkehrt in der Luft schwimmenden Bäumen und Häusern, ihrem lockend zitternden Wasserspiegel, die er so oft, hoch wie auf einem Turm im schleudernden Sattel des Kamels kauernd, auf seinen Wüstenritten geschaut.

Jener Friede – jenes Gefühl der Ruhe, das er sich seit langer Zeit nicht mehr anders hatte denken können als im Besitze Angelas. Er war sich seit ihrer ersten Begegnung wie ein unvollständiger Mensch vorgekommen. Das Bruchstück, das ihm fehlte – das war sie. Sie gehörte zu ihm – sie war eigentlich ein und dasselbe wie er. Erst wenn sie sich ergänzten, waren sie wirklich da und lebten.

Gerade weil sie so ganz anders war wie andere Frauen. Deren puppenhaftes Gewirtschafte und Gethue, ihre thränenselige Weichheit, ihr spielendes Getändel zwischen Regen und Sonnenschein, mit Lachen und Weinen zu gleicher Zeit, hatten auf den harten Wüstenwanderer immer nur erst belustigend, dann langweilig gewirkt. Sie erschienen ihm, weil er sie nie näher kennenlernte und nicht wußte, wie viel und wie Großes aus einem liebenden Weibe werden kann, eigentlich fast wie Kinder. Ein ernster Mann konnte sie nicht ernsthaft nehmen und machte einen schlechten Tausch, wenn er sein rauhes, männliches Selbst für solch ein zartes Nichts hingab!

Angela war nicht so geartet. Sie bereicherte ihn. Sie war von seinem Stamm – kühl und stark. Und zuweilen war es ihm vorgekommen, als ob sie selbst das ebenso gut wisse wie er – als ob das befreiende Wort schon auf ihren Lippen läge. Aber gerade dann, wenn sie beide sich plötzlich schon im Schweigen verstanden und ein beklommenes Ahnen sie umfing – dann kam der Umschwung. Wie vom Winde verweht war sie auf einmal verschwunden und kein Lebenszeichen verriet dem Suchenden die Richtung ihrer Flucht.

Und wer da auch Stund’ um Stunde und Tag um Tag hinter ihr herzog, dem Trugbild kam er nicht näher! Das, was man ersehnt, läßt sich nicht erjagen und greifen, und wenn man auch die ganze Erde umkreist! Dort findet man es nicht. Was man so ferne wähnt, hat man vielleicht ganz nahe, hat man in sich! Man muß es nur sehen.

Das Glück? Vor acht Tagen noch hatte er drüben in der Wüstenstadt in dem Brief an Angela über das Glück in Schlafrock und Pantoffeln gespottet, mit dem blonden Etwas am Kaffeetisch gegenüber, und einem anderen zappelnden Etwas am Boden und der guten Stube ringsherum. Auch jetzt noch mußte er lächeln, wenn er sich in solcher Lage dachte. Aber es war ein nachdenkliches Lächeln und etwas Hoffnung und Neugier darin.

Es mußte doch schön sein, von allen Fahrten und Stürmen im stillen Hafen auszuruhen, eine Freundin neben sich, die einen versteht und bewundert, ein kleiner, dankbarer Wirkungskreis in Haus und Hof, am Schreibtisch und im Familienraum, nachdem man mit den großen Thaten abgeschlossen, ein friedliches Alter, dem sich in der lärmenden Kindheit neuer Generationen die eigene Jugend wieder erneut, ein stilles Lächeln am Schluß …

Seltsam! Es war ihm bisher nie in den Sinn gekommen, daß er sein Leben bis zum vollgemessenen Ende ausleben könne! Wie seine Berufsgenossen, die anderen großen Reisenden, war auch er jeden Augenblick auf den Tod gefaßt. Es erschien ihm selbstverständlich, daß er einmal unversehens in der Vollkraft seiner Jahre hingerafft würde, sei es unter Fieberschauern und dem Geheul der herumhockenden Träger im afrikanischen Urwald oder im Donner der Lawinen, dem Chaos des Seesturms – vielleicht hinterrücks durch Mörderfaust, vielleicht durch eigene [779] Hand, wenn kein anderer Rat mehr blieb – irgendwie waren schon die meisten hingegangen, die mit ihm kämpften und strebten.

Und nun öffnete es sich vor ihm plötzlich auf seiner unsteten Wanderschaft wie ein entlegenes, liebliches Seitenthal voll Sommerschweigen und Frieden, und eine freundliche, blonde Gestalt winkte ihm lachend: „Tritt bei uns ein! Hier findest du die Ruhe!“

Noch stand er draußen, wo der Sturm über die Heide pfiff. Noch hatte er die Wahl. Und es war ein eigenes Vergnügen, mit dem Gedanken an das Glück im Thale zu spielen, um ihn herumzugehen, ihn zu meiden und zu fliehen beinahe zu gleicher Zeit.

Wenn er ihn noch meiden konnte! Er fühlte mit einer Art Schrecken, wie etwas gebieterisch da drinnen nach Rast und Schonung drängte – ein Gebot der Natur, das stärker war als dies trotzige, ungeduldige Herz und es, wenn es dagegen pochte, mit hartem Griff niederzwang.

Jetzt eben wieder! Er fühlte ein schmerzliches Stechen, der Atem stockte. Nur einen Augenblick – dann war es wieder vorbei, und er schaute, wie aus einem Traum auffahrend, in das Völkergemisch umher, das, wie die Bienen vor dem Stock, um den Eingang zum „Cercle des Etrangers“ summte und schwärmte. Ein alter Franzose, der neben ihm auf der Bank saß, taxierte zu seinem Vergnügen die frohen oder enttäuschten Gesichter der Herauskommenden und wie einzelne Tropfen fielen die Worte „gagné“ – „perdu“ – „perdu“ – „gagné“ voll schläfrigen Interesses von seinen Lippen. Und von drüben her schmeichelte sich immer noch das Lied von den drei kleinen Schulmädchen aus dem „Mikado“ ins Ohr, die Rosen- und Veilchenbeete prangten und blühten in einem Rausch von Duft, das Mittelmeer leuchtete weithin an der von den Lichtpunkten der Villen und Dörfer besternten Küste in einem tiefen, satten Blau wie der wolkenlose Himmel darüber, und sein kühlender Seewind koste mit den Fiedern der Palmen, dem Schwarz der Lorbeerhaine und Cypressen, dem saftigen Hellgrün der englischen Rasenflächen, hinter denen sich palastartig die Hotels um das liebliche Raubnest scharten.

Aber seine Augen sahen die schmeichelnde Pracht ringsum nicht mehr. Sie blickten zurück, in einen regendrohenden, grauen Abend: zerrissene Felszacken rings um das einsame Hochthal und von ihnen herabfahrend heulende Sturmstöße über das zischelnde Zwergpalmengestrüpp, das Dickicht von stachligen Agavenhecken und schlanken Aloestauden am Weg. Und aus dem Dickicht war, wie von einem unsichtbaren Zügel des tückischen Zufalls geleitet, der Stier getreten und stärker gewesen als der Mensch. Der lag am Boden und das Pferd auf ihm. Seit diesem Sturz war die Wandlung in seinem Wesen eingetreten, das Gefühl des Krankseins, das er sonst selbst bei heftigen Fieberschauern dank seiner sich aufbäumenden Lebensenergie nie eigentlich als etwas Ueberwindendes, ihn wehrlos Machendes so wie jetzt empfunden, und mit ihm der Drang nach Ruhe. Wohl hatte die erste Berührung mit der Kultur, Klaras aufmunternde Worte, der Verkehr mit Europäern, die veränderte Lebensweise, die Seeluft anfangs auf ihn erfrischend und anregend gewirkt, so daß er das Abenteuer und seine Folgen ein paar Tage ganz vergaß.

Aber jetzt, wo er wieder allein war, wo der erste Reiz der wiedergewonnenen Civilisation nachließ, jetzt meldeten sie sich wieder an und wurden von Tag zu Tag stärker. Zwar das Fieber hatte er, sowie er in der Apotheke frisches und gutes Chinin erhalten, sofort unterdrückt. Und kehrte es auch einmal wieder, so kannte er es ja seit vielen Jahren als seinen treuesten afrikanischen Begleiter und wußte: der war nicht mehr imstande, ihn zu erschüttern und sein eigentliches Wesen zu ändern.

Das kam von jenem bösen Abenteuer mit dem Stier, dieser plumpen Falle des Schicksals, das ihn aus so vielen wirklichen Gefahren errettet hatte, um ihn am letzten Tag einer zweijährigen Reise diesem hirnlosen Vieh auf die Hörner zu liefern.

Der Zorn übermannte ihn. Er stand auf und ging langsam die Promenade entlang. Es war kein Zweifel: er war krank. Und kranke Menschen fassen Entschlüsse, die sie vielleicht nachher bereuen! Diese Reise nach Genf, die über sein ganzes künftiges Leben entschied, die mußte bei kühlem, klarem Bewußtsein unternommen werden, in der vollen Sicherheit, daß ihn nicht eine vorübergehende trübe Anwandlung infolge von Körperleiden in den Hafen der Ehe und der Ruhe trieb.

Dieses Leiden mußte ja doch nun einmal auch wieder besser werden, und dann erst hatte er die völlig freie Wahl, ob er rechts oder links gehen sollte.

Ob er einen Arzt zu Rate zog? Sonst hielt er nicht viel von ihrer Kunst. Was hätten sie ihm auch im Herzen Afrikas helfen können, wo jeder sein eigener Doktor ist und sich mit Chinin und Selbstvertrauen kuriert? Aber jetzt kam ihm, während er, beinahe ohne es zu wissen, den Weg zum Bahnhof hinunterstieg, doch der Gedanke, auf diese Weise Sicherheit zu erlangen. Wozu sich unnütz quälen und eine Sache hinziehen? In Nizza gab es treffliche Aerzte aller Nationen. Zu dem besten von ihnen wollte er gehen und sich ein paar Tropfen oder so etwas verschreiben lassen. Dann war die Sache wohl bald abgethan und er konnte über den ganzen kläglichen Zwischenfall und über die Beklemmung lachen, die sich ihm jetzt immer wieder um die Brust legte.

Eben, als er in den Bahnhof trat, fuhr einer der zahlreichen Züge nach Nizza ein. Er hatte gerade noch Zeit, das Billet zu nehmen und einzusteigen. Dann trug ihn die Bahn durch die Pracht südlicher Gärten hin längs des blauschimmernden Meeres nach der nahen Fremdenstadt.


16.

Der Arzt, ein alle Sprachen beherrschender Deutscher, war nur durch Zufall aus Kissingen, wo er den Sommer über praktizierte, auf ein paar Tage in Geschäften nach Nizza gekommen und der Besuch eines Patienten war ihm unerwartet. Doch verweigerte er die Konsultation nicht, sondern vollzog gründlicher vielleicht noch als sonst, wenn ihn der Schwarm der Wartenden im Vorzimmer zur Eile drängte, die Untersuchung. Ihr Ergebnis aus dem unbeweglich ruhigen bebrillten Gesicht zu lesen, war unmöglich. „Sie haben unregelmäßig gelebt?“ frug er, während der Patient sich Rock und Weste wieder zuknöpfte.

Der mußte über die Frage lachen. „Wie man in Afrika und sonstwo unter den Wilden lebt!“ sagte er. „Viel Sinn für Pünktlichkeit und Ordnung hat die Gesellschaft nicht.“

„Viel Anstrengungen und Entbehrungen haben Sie auch durchgemacht?“

„Jedenfalls mehr als in Europa üblich ist!“

„… und geistige Getränke genossen?“

„… Wenn ich sie hatte, mit großem Vergnügen.“

„Nun ja.“ Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte sie sorgfältig blank, während er in der dadurch entstandenen Pause nach Worten suchte. „Und dazu kam nun, wie Sie angeben, dieser Sturz als äußerer Anlaß …“

„Ja, die Affaire mit dem Stier. Es ist kaum glaublich, daß das erst acht Tage her ist …“

„Nun sagen Sie, bitte …“ Der Sanitätsrat sprach langsam und bedächtig, als wollte er jede Silbe auf die Goldwage legen. „Was sind, wenn ich danach fragen darf, Ihre Zukunftspläne? Ich meine, Sie sind ja ein stark bewegtes, an Abenteuern reiches Leben gewohnt. Beabsichtigen Sie, dies Leben auch in Zukunft fortzusetzen – ich meine, wieder nach Afrika zu gehen, oder ähnlichen Gegenden – oder haben Sie vielleicht mehr im Sinn, sich künftig der Ruhe und Erholung, wissenschaftlichen Studien und dergleichen zu widmen?“

Der Angeredete schaute ihn erstaunt an. Wie kam der Arzt zu der Frage? Er konnte doch unmöglich wissen, vor welcher Entscheidung sein Patient stand, und trotzdem trafen seine Worte gerade diesen Punkt, um den sich alles für ihn drehte.

„Gehört das eigentlich hierher?“ frug er etwas brüsk.

„Ja. Ich möchte meine weiteren Mitteilungen bis zu Ihrer Antwort verschieben.“

„Nun.“ Der Afrikaner sah gedankenvoll vor sich hin. „Eigentlich . . ehrlich gesagt . . habe ich augenblicklich keinen besonderen Drang zu neuen Erlebnissen. Ich möchte lieber wenigstens eine Zeit lang irgendwo unterschlupfen und mich pflegen lassen.“

Der Arzt lächelte befriedigt. „Sie nehmen mir das Wort aus dem Munde. Eben dasselbe muß ich Ihnen raten, dringend raten. Sie brauchen vollkommene Schonung.“

„Ach, Schonung!“ Der Forscher stand ärgerlich auf. „Wenn ich mich geschont hätte, wäre ich schon lange tot.“

„Und wenn Sie sich jetzt nicht schonen, werden Sie’s sein!“ Die Stimme des Arztes klang plötzlich fester und bestimmter als bisher. „Ich muß es Ihnen sagen, es ist meine Pflicht!“

[780] „Ja, was soll ich denn thun?“

„Ein möglichst ruhiges, eingezogenes Leben führen … auf dem Lande, in frischer, guter Luft … ohne viel Lärm und Zerstreuung … in einem kleinen Kreise sympathischer Menschen … – Darf ich mir die Frage gestatten, ob Sie verheiratet sind?“

„Nein!“

„Nein? Hm … ja, wie ich sagte, in kleinem harmonischen Kreise. Geistige Thätigkeit mit Maß und Ziel. Hingegen, was körperliche Anstrengungen und Excesse aller Art betrifft … die sind unbedingt schädlich und müssen vermieden werden. Ein kleiner Spaziergang täglich, besser noch eine Spazierfahrt … keine Erhitzung, kein Treppensteigen … kein Alkohol und Tabak … abends zeitig zu Bett … leichte Diät … keine Sorgen und Affekte ...“

„Nun hören Sie aber, bitte, mal auf!“ sagte der am Fenster trocken. „Was bleibt denn da noch vom Dasein übrig? Glauben Sie, daß ich solch eine Existenz auch nur vier Wochen lang aushalte?“

„Sie werden wohl müssen!“

„Vier Wochen lang?“

„Nein!“ Der Sanitätsrat hatte sich gleichfalls erhoben und war zu seinem Patienten getreten. „Sie sind doch zu mir gekommen, um die volle Wahrheit über Ihr Befinden zu hören?“

„Freilich!“

„Und da Sie ein Mann sind, werden Sie das, was ich Ihnen jetzt sagen muß, auch tragen können. Es handelt sich nicht um vier Wochen, es handelt sich um Ihr ganzes übriges Leben!“

„Was?“ Der Afrikaner fuhr herum. Ein gewaltsamer, schmerzhafter Schrecken durchzuckte ihn. und er preßte unwillkürlich die Hand an die Brust.

„Ihr ganzes Leben,“ wiederholte der andere ernst. „Sie müssen sich das alles jetzt ganz anders einrichten, und es trifft sich ja noch sehr gut in all dem Unglück, daß Sie ohnedies die Absicht hegen, den Abenteuern Valet zu sagen und sich zur Ruhe zu setzen … vielleicht auch sich einen häuslichen Herd zu gründen, was natürlich eine derartige Existenz außerordentlich erleichtert … Verzeihen Sie, wenn ich mir rein vom ärztlichen Standpunkt aus diese Anregung gestatte …“

Der Afrikaner trat dicht vor ihn. „Was fehlt mir denn eigentlich?“ frug er rauh und gepreßt.

„Wir nennen es Aneurysma. Eine Ruptur, ein leichter Riß in den Blutgefäßen am Herzen, hervorgerufen durch den Sturz mit dem Pferde.“

„Na … aber das … das muß doch auch wieder besser werden!“

„Besser wird es nicht. Die einzige Sorge muß sein, zu verhindern, daß es schlimmer wird. Und das wird verhindert, wenn Sie so leben, wie ich Ihnen sagte. Dann ändert sich Ihr Zustand nicht und bietet zu weiteren Besorgnissen keinen Anlaß.“

„Bloß, daß ich dabei verrückt werde!“

„Ich dachte doch, Sie wollten sich freiwillig zur Ruhe setzen,“ sagte der Arzt etwas erstaunt. „Noch ehe Sie das wußten …“

„Freilich … ja! Das ist’s ja eben. Aber gezwungen …“

„Sie sind dazu gezwungen! Ich beklage es, aber …“

„Aber wenn ich es nun nicht thue?“

Darauf gab der Arzt keine direkte Antwort. „Es wäre doch schade, wenn Sie in so blühendem Alter schon der Wissenschaft und Ihren Freunden entrissen werden sollten!“ sagte er. „Glauben Sie mir, der Mensch gewöhnt sich an vieles! Sie werden es schließlich auch gewohnt sein …“

„… daß ich ein Spitalbruder bin … ein unnützer Tagedieb …?“

Ein melancholisches Lächeln glitt über das Gesicht des Arztes. „Es ist gewiß traurig, einen Teil seines äußeren Menschen gewissermaßen einzubüßen. Aber das beste in uns, der innere Mensch, wird davon nicht berührt. Gerade einem geistig bedeutenden Manne, einem Gelehrten öffnen sich doch Daseinsziele und Bethätigungen, die gar nichts damit gemein haben, daß Sie nicht mehr imstande sind, eine Flasche Champagner auszustechen oder einen hohen Berg zu ersteigen. Und dazu kommen die Bande von Herz und Gemüt, die uns mit anderen Menschen verknüpfen. Man lernt die Menschen erst kennen, wenn man auf sie angewiesen ist, und dann findet man in manchem mehr als man hoffte. Sollte wirklich nicht volle Unabhängigkeit, Freundschaft und vielleicht auch Familienglück einem Manne über ein körperliches Gebrechen hinweghelfen können!“

„Jetzt weiß ich es!“ Der Afrikaner suchte seinen Hut und lächelte finster. „Sie irren sich einfach. Sie täuschen sich. Solch eine Krankheit giebt es gar nicht.“

Der Arzt blieb ruhig. „Wenn ich darauf überhaupt antworte,“ sagte er, „so trage ich Ihrem begreiflicherweise gereizten Zustand Rechnung: Fragen Sie, welchen Arzt Sie wollen, hier oder anderswo, Sie werden den gleichen Bescheid erhalten.“

„Und das ist sicher?“

„Vollkommen sicher!“

„Nun, dann danke ich Ihnen!“ sagte der Afrikaner, reichte ihm die Hand, ließ einen Hundertfrankenschein auf der Ecke des Schreibtisches liegen und ging.

*               *
*

Er war wie betäubt, als er auf die schon dämmernde Straße trat. Ohne rechts und links zu schauen, wanderte er in der Richtung, die er wahllos eingeschlagen, weiter, durch die schwatzenden Gruppen italienischen Volkes, unter den hochgespannten Sonnendächern der Läden hin, zwischen den weit auf die Straßen hinausgerückten Tischchen und Stühlen der Cafés durch, bis die schwüle, staubige Stadtluft plötzlich um ihn verschwand und ein herber Hauch den kalten Schweiß von seiner Stirn trocknete.

Da war das Meer. In weißen Schaumkämmen rollte es endlos heran aus der Nacht, die weithin schon über den Wassern graute, daß Himmel und Wellen in eins verschwammen. Und wenn es auch nur das zahme Mittelmeer war: auch von ihm ging, wie es da in unbeschränkter Weite vor dem Blick sich dehnte, das Gefühl der Größe, der befreienden Unendlichkeit des Raumes aus.

Und mit ihm das Gefühl der eigenen Kleinheit. Eines Ameisenbewußtseins unter dieser weiten Himmelswölbung. Was lag daran, ob einer unter diesen Millionen und Hunderten von Millionen achtlos zertreten am Wege lag? In kurzem starben sie ja alle, neue Millionen und Milliarden folgten und wanderten ins Grab, und gleichmäßig, als sei nichts geschehen, lacht die Sonne und grüßen die Sterne und kreiselt dies Sandkorn, auf dem wir leben und leiden, weiter durch den Weltraum.

War es wirklich so lohnend, dieses Sandkorn, diese enge, auf kurze Frist uns angewiesene Behausung von Lehm und Wasser in allen Winkeln zu erforschen? Die kurze Spanne Zeit, die uns angewiesen, darauf zu verwenden, um festzustellen, daß unter dem Polarkreis und dem Aequator, in dem Morgen- und Abendland die Menschen zu Millionen und Milliarden leben und altern und sterben und neue erstehen, daß überall die grünen Blätter sprießen und das welke Herbstlaub fällt, daß überall der Wind braust und die Wolken ziehen und die Wellen wandern?

Nein, das alles war nur Schein. Bunter, schöner Schein! Der Kern der Dinge lag tiefer. Was unbewußt da innen webt und rätselhaft in einer anderen Brust wiederklingt, das war das Ahnen der wirklichen Welt, die wir nicht begreifen können, weil unsere Augen blind sind und unsere Ohren taub. Das war das Leben. Darin hatte der Arzt eigentlich recht, wenn er von dem inneren Menschen sprach im Gegensatz zu dem zerbrechlichen Gehäuse.

Und er selbst hatte sich ja nach diesem inneren Glück gesehnt! Er stand ja im Begriff, es aufzusuchen! Es war ja wie ein Almosen des Geschicks, daß es ihm wenige Minuten nach dem verhängnisvollen Sturz vom Pferde in jener regenüberströmten marokkanischen Karawanserai den Menschen zugeführt hatte, der nichts anderes begehrte, als sein Leben, und gewiß auch alles Leid des Lebens, mit ihm zu teilen.

Er war langsam die jetzt in der Sommernacht fast menschenleere Promenade des Anglais hinabgeschritten. Jetzt setzte er sich auf eine Bank und schloß die Augen. Ein unbestimmtes Rauschen war um ihn, ein leise wehender Hauch – sonst kein Laut weit in der Runde.

In seinem ganzen Inneren zitterte etwas nach – weniger der Schrecken als ein ungeheures Erstaunen. Auf alles war er vorbereitet gewesen – auf den Tod in jeder denkbaren Form. Aber auf das Siechtum? Nein. Das kam ihm so unerwartet, so unbegreiflich, daß er immer noch wie aus einem Traume aufzuwachen hoffte, und dabei doch wohl wußte, wie nüchtern wirklich das alles war. Und es war ihm nicht einmal Zeit vergönnt, sich von diesem Blitzschlag zu erholen, sich in Ruhe zu sammeln. Die drei Schwestern blieben nur kurze Frist in Genf. Wollte er die Reise dorthin antreten, so mußte es morgen geschehen.

[781] Wollte er? Er lachte bitter auf. Hatte er denn noch eine Wahl? Vorhin noch, in Monte Carlo, glaubte er, sein Geschick in der Hand zu haben und frei am Kreuzweg zu stehen. Jetzt gab es nur noch einen Pfad, und der führte nach Genf, ehe es zu spät war, ehe auch dort das blonde sanfte Glück verschwand und ihn mit leeren Händen allein ließ.

Denn jetzt kam er mit leeren Händen! Als ein Bettler kam er zu ihr, um Zuflucht zu suchen! Er wählte nicht mehr, er bat! Und wenn sie es zehnmal nicht wußte und nicht merkte, in seinem Inneren mußte das weiter nagen und immer weiter. Und lang’ verhehlen ließ sich das auch nicht. Er war von Anfang an der Schwächere. Er gab sich in ihre Hand. Er wurde ein Philister wie andere, schlimmer als andere, die nicht als die Ruine ihres eigenen Selbst herumwandeln und, durch die Gewohnheit abgestumpft, schließlich ganz vergnügt dabei sind. Denn schließlich gewöhnte auch er sich gewiß allmählich an den engen Kreis des Daseins und wurde ein ganz anderer Mensch, der nichts mehr mit dem rauhen Mannestrotz des einstigen Weltumseglers gemein hatte.

Der Trotz gegen das Schicksal bäumte sich wütend in ihm auf, während er gesenkten Hauptes wieder der Stadt zuschritt. Da lief sein Pferd … da lief der Stier … warum mußten diese beiden Körper aufeinander prallen? Wer hatte das angeordnet?

Er blieb plötzlich stehen, warf den Kopf zurück und lachte zornig auf. Wer anders als du selbst, du abenteuernder Thor! Der Stier wandelt jeden Abend diesen Weg zur Tränke. Du kamst ihm in die Quere, blindlings, von deinem eigentlichen Wege nach Tanger abgewichen, irrlichternd auf der Jagd nach einem Schattenbild, jenem Schattenbild mit silberhellem Lachen und mädchenhaftem Madonnengesicht, das deiner spottet, das dich krank und einsam in Tetuan zurückließ, das wie ein Traum verflogen war, als du es wiederum auf dem weißen Geisterschiff auf der Reede von Gibraltar suchtest.

Und wer war der erste Mensch, der dir nach deinem Unfall begegnete, wer pflegte dich in Tetuan und richtete dich mit heiteren Worten auf, wer stand geduldig, mit tapfer hinuntergeschluckten Thränen deiner wartend da, als du enttäuscht und ärgerlich von dem weißen Schiff zurückkamst?

Immer wieder der treue, blonde ehrliche Kamerad. Einen besseren findest du nicht. Sieh um dich! Was du in der Ferne suchst, wofür du dort so viel Leid und Ungemach erlitten hast, wofür du zum Krüppel geworden bist, das Glück, das steht da still und schweigend neben dir wie eine Blume am Weg und wartet, daß du es pflückst.

Und wenn du es pflückst, bringt es dir Ruhe. Mag auch in dir die wilde Abenteurerlust hinschwinden, dafür wirst du zufrieden. Das warst du bisher nie, in deinem unsteten Sehnen und Jagen. Vielleicht kommt einmal der Tag, wo du lächelst, wenn du an die Vergangenheit denkst. Du hast es ja neulich schon in Tetuan geschrieben: Wir werden alt und grau, Frau Aventiure! Die Zeit schwindet hin. Der Herbst ist nahe. Jetzt war er da! Eine bittere Wehmut beschlich ihn, als er in seinem Hotelzimmer träumend saß und von der Vergangenheit Abschied nahm. Sie war bunt genug und doch – jetzt schien sie ihm leer und öde. So zwecklos erschien ihm plötzlich alles, was er errungen und erstrebt, so wertlos alle seine wissenschaftlichen Thaten, so arm und ohne Inhalt das ganze Menschenleben, daß er sich heiß nach einem neuen sehnte.

Er wußte wohl, warum diese rätselhafte Stimmung über ihn gekommen war. Der Tod hatte bei ihm angepocht – nicht von außen her; da kannte er ihn und sein Anblick verdoppelte seinen Trotz – nein, da innen saß er und klopfte und mahnte: Es ist Zeit, von dem großen Maskenball nach Hause zu gehen. Bunt genug und lärmend war er ja. Viel Menschen in allen Trachten der Welt. Kaiser und Könige, fratzenhafte Wilde und schöne Frauen, ein ganzer Karneval voll Jubel und Trubel. Aber wenn man den Mantel umschlägt und in den grauen grämlichen Morgen hinaustritt, da kommt die Ernüchterung. Die Sehnsucht nach Schlaf. Die Sehnsucht nach einem Menschengesicht, das uns freundlich lächelnd im Sonnenschein zu Hause empfängt, nach all den kichernden, wesenlosen Masken der buntscheckigen Nacht, nach dem verräterischen, silberhellen Lachen, das durch das Dunkel klingt und zu immer neuen Abenteuern und zum Tode lockt. Dort aus der Ferne grüßte es blond und heiter herüber und nickte ihm unbefangen zu wie einem alten Freund. Er stand auf und klingelte. „Ich reise morgen früh nach Marseille,“ befahl er dem eintretenden Kellner. „Von da gleich weiter bis Genf. Hier ist die Depesche, in der ich meine Ankunft anzeige.“

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 26, S. 806–819

[806]


17.

Es war ziemlich spät nachmittags, als der Afrikaforscher, nach langer Reise in Genf eingetroffen, in den Hotelgarten trat.

Der lag am Quai du Montblanc. Hart vor ihm spülte die Rhone ihre glasgrünen Wellen eilig unter den Brücken hindurch, jenseits standen neue Häuserreihen und Baumgruppen und dahinter schlossen weißliche Abendwolken den Blick in jene Ferne ab, aus der bei ganz klarem Wetter der Montblanc herübergrüßt.

Rings im Garten die internationale Reisewelt der schon beginnenden Hauptverkehrszeit – weißbärtige, bewegliche Franzosen mit dem roten Bändchen im Knopfloch und lächelnde Yankees in Schaukelstühlen, graziöse Pariser Damenwelt, Briten in Masse, streng nach der zwanglosen Mode des Sommernachmittags gekleidet, und dort – waren das nicht alte Bekannte?

Richtig – da stand der alte Herr mit dem eisgrauen Schnauzbart auf, reckte seine hagere, in einem zu kurzen Sommerjäckchen und ganz engen Beinkleidern steckende Gestalt und winkte ihm zu.

Und auch die neben ihm kerzengerade dasitzende, schwarzgekleidete Dame wurde lebendig. Der Major und die Gouvernante! Das Paar hatte er am wenigsten gesucht. Aber es half nun nichts. Er mußte hin und sie begrüßen.

Die beiden ältlichen Menschen waren wie ausgewechselt in ihrem herbstlichen Zug von Herz zu Herzen. Ueber ihrem Gesicht lag ein geradezu sanftes, wehmütiges Lächeln an Stelle der früheren Düsterkeit, und er hatte sich – ganz im Gegensatz zu seinen wilden Auftritten mit Cook und Sohn – ein völlig feierliches Wesen, eine Art altfränkischer Sanftmut beigelegt, die seine verwitterten Züge verklärte. Jedenfalls waren die beiden vollkommen glücklich und kümmerten sich wenig darum – wenn sie es überhaupt merkten –, daß sie unter dieser blasierten, medisanten Touristenwelt wie die Dohlen zwischen den Ziervögeln saßen.

Er nahm bei ihnen Platz, und unaufgefordert, als ob sich das von selbst verstände, erzählten ihm die beiden zugleich von Klara. Die Reise sei ohne Zwischenfälle verlaufen und gestern früh habe man die Kleine in ihre neue Stellung gebracht. Aber heute schon sei ein flehender Brief von ihr gekommen, die Schwester möge sie doch umgehend besuchen. So sei Klara eilends dorthin gegangen und müsse nun wohl bald zurückkommen.

Den Afrikaner, der zerstreut zuhörte, interessierte nur das letztere. Was lag ihm an all diesen verwandtschaftlichen Abenteuern? Am liebsten wäre es ihm gewesen, hätte die blonde Malerin ganz ohne Anhang auf der Welt dagestanden. Denn diese Philister – gewiß, es waren ja treffliche gute Menschen, aber er paßte so gar nicht zu ihnen und sie verstimmten ihn, ohne es zu wissen und zu wollen, in ihrer Sprache, ihrer Haltung, ihren Kleidern – in allem.

Die beiden Damen, die jetzt in den Garten traten, fielen auch durch ihre Schlichtheit und Anspruchslosigkeit auf. Zwischen dem raffinierten Luxus der Amerikanerinnen und Pariserinnen rings umher sahen sie in ihrer einfachen Reisegarderobe wie Kammerfrauen oder Gouvernanten aus.

Nun natürlich – es waren ja doch auch Gouvernanten, die älteste, die da neben ihm saß, und die jüngste, die da trotzigen Gesichts herankam. Und die hübsche Blondine neben ihr konnte sich doch nicht anders kleiden wie ihre Schwestern.

Es dauerte einen Augenblick, bis er sich überzeugt hatte, daß es Klara war, und fast zugleich schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, einen wie großen Unterschied es doch macht, ob man ein Mädchen allein mitten in der dämmernden Wüste, in kleidsamem Reitkostüm, als die erste Europäerin seit Jahren erblickt, oder wie hier in einem Kreise glänzender, selbstbewußter und unmerklich spöttisch lächelnder Frauen.

Gleich darauf zürnte er sich selbst wegen dieser Regung. Er ging raschen Schritts auf Klara zu und drückte ihr herzlich beide Hände. Sie erwiderte leise den Druck und schaute ihm heiter ins Gesicht. Eine feine Röte durchleuchtete ihre freundlichen offenen Züge, aber sie sprach kein Wort.

Statt ihrer fing die Kleine an. Sie befand sich in höchster Aufregung und wartete gar nicht ab, daß man sie nach dem Grund der Rückkehr frug. Sie müsse eben zurückkommen! Sie habe Klara gebeten, sie nur gleich wieder fortzunehmen, und das habe die nach einer gütlichen Aussprache mit der Familie denn auch glücklich gethan. Und da sei sie nun wieder. Um eine traurige Erfahrung reicher! Aber das mache nichts! Es sei schon besser so!

„Ja, was hat es eigentlich gegeben?“ frug die älteste streng.

„Gar nichts. Gestern abend, wie ich mich eben eingerichtet hatte und es mir so recht schwer ums Herz war, da klingelt es und er ist da! Ihr könnt euch denken, wie mir da das Herz geklopft hat. Er war direkt von Gibraltar durchgefahren und wollte sich in Genf eben nur die paar Stunden aufhalten, um mich zu sehen – dann gleich weiter!“

„Ja, wer denn?“

„Wer?“ Die Kleine schien höchst erstaunt, daß nicht alle Welt das sofort wußte. „Nun, Herr Steffen doch natürlich. Ich erkannte ihn doch auch gleich, obwohl es dämmerte, an dem großen blonden Vollbart und war so froh …“

„Aber die Familie wohl nicht?“

„Nein. Der Hausherr, dieser langweilige alte Mucker – aber so soll es viele hier in Genf geben – der frömmelte da was zusammen: das sei doch ein starkes Stück! Gleich am ersten Abend Herrenbesuch von zugereisten Ausländern. Und man könne doch gar nicht wissen … und überhaupt … und das ginge nicht. Ich wagte ja auch gar nichts zu sagen und fing nur an zu weinen. Da wurde Herr Steffen auf einmal so furchtbar grob und fing in einem so greulichen Französisch zu wettern an, wie ich es nie zuvor gehört hab’! Mir wurde ganz angst und bang!“

„Was hat er denn gesagt?“

Die Kleine hob ihr blasses Gesichtchen und sah sehr stolz und ernst aus. „Das verbäte er sich, hat er gesagt, daß man seine Braut so behandle! Das dulde er nicht!“

„Seine Braut?“ Die Gouvernante und der Major riefen es gleichzeitig und ziemlich erschrocken.

Auch Hilda war etwas beklommen. „Ja, jetzt bin ich es! Der alte Frömmler hat mich auch gleich gefragt, warum ich denn gar nichts davon gesagt hätte, daß ich verlobt sei. Und ich hab’ ihm erwidert: ‚Ich bin es ja auch seit eben erst und jetzt bleib’ ich’s!‘ Da hat er gemeint, dann sei es wohl besser, wir trennten uns wieder, und ich habe geantwortet: ‚Das glaub’ ich auch!‘ und hab’ an Klara geschrieben. Und da bin ich nun und es ist alles gut!“

Das schienen die andern nicht anzunehmen. Wenigstens legte sich ein gedankenvolles Schweigen über die Gesellschaft.

„Hm ..,“ sagte endlich der Major und räusperte sich … „Hm .. aber .. liebes Kind … wenn Sie mir gestatten, daß ich mich einmische …. erwägen Sie doch nur …. ein Mann, der mit Blutegeln und Honig feilschend in der Wildnis herumreitet … hin und her … wir kennen ja alle dies Land … jräßlich …“ Unwillkürlich kam ihm sein früheres Lieblingswort über die Lippen: „jräßlich ist es dort. Sie haben ja selbst am meisten darunter gelitten. Wie wollen Sie ihm dahin folgen?“

„Wenn es sein muß, folge ich ihm bis ans Ende der Welt,“ erklärte die Kleine trotzig. „Aber wahrscheinlich kehrt er ja gar nicht mehr nach Marokko zurück. Er ist ja doch gleich gestern abend weiter von Genf, nach Chamounix, zu dem Herrn Rey, der die schöne Jacht hat. Der hat ihn eingeladen, ihn zu besuchen, und der ist furchtbar reich! Nicht wahr?“ Sie wandte sich zu dem Afrikaner. „Er ist ja doch Ihr Freund und Sie wissen, wie viel Geld er hat.“

„Mein Freund ist er nun eigentlich wohl nicht! Aber ich kenne ihn gut, und weiß, daß er viele Millionen besitzt.“

„Und davon wird er wohl nun Deinem Herrn Steffen eine schenken?“ bemerkte die Gouvernante spitz.

Die Kleine geriet in Zorn. „Schenken natürlich nicht! Aber eine Stellung wird er ihm verschaffen, eine Lebensstellung. Was wißt ihr denn überhaupt vom Seebad Tanger und all unseren Plänen, bei denen der Herr Rey uns hilft? Er ist gewiß ein guter [807] Mensch! Nicht wahr?“ Wieder rief sie den Forschungsreisenden zu Hilfe. „Mit seiner Tochter, der schönen Frau, die wir in Tanger gesehen haben – mit der sind Sie doch befreundet? Sie haben es ja selbst uns gesagt. Wenn Sie die vielleicht bitten, daß sie uns hilft… sie ist mit ihren beiden Reisebegleitern auch in Chamounix… wenn Sie ihr ein paar Zeilen schreiben…“

„Ich glaube nicht, daß das etwas nützen würde.“ Er mußte unwillkürlich lächeln. „Und Herzensgüte scheint mir gerade nicht ein hervorstechender Charakterzug bei Nicolai Augustus Rey zu sein. Aber wenn bei einer Sache Geld zu verdienen ist…“

„Viel Geld!“ rief die Kleine hochrot vor Aufregung und so laut, daß die Umsitzenden die Köpfe nach ihr wandten. „Millionen! Wir haben alles ausgerechnet! Es ist gar kein Fehlschlag möglich! Nur das Kapital zum Anfang brauchen wir! Das muß uns Herr Rey geben! Er muß! Er muß!“

„Hoffen wir!“ meinte der Afrikaner trocken. Es verstimmte ihn, daß er mitten in all dieses Verwandtentreiben hineingeraten war und schon wie zur Familie gehörig betrachtet und zu Rat und That herangezogen wurde. Seit Jahren gewohnt, allein zu stehen, allein zu handeln, begriff er dies den anderen offenbar so selbstverständliche Gefühl der Verwandtschaft nicht, dies Zusammenfließen einander vielleicht ganz fremder, innerlich grundverschiedener und nur zufällig angeheirateter und verschwägerter Menschen zu einer kleinen Herde, zu einem nach außen geschlossenen Bunde im übrigen Weltgetriebe.

Da mußte man sich doch wenigstens gleich sein, so viel empfangen, wie man gab! Aber was konnten ihm diese unbedeutenden Existenzen sein, die sich jetzt schon vertrauensvoll an ihn hängten? Was gingen sie ihn an? Er heiratete eine Frau, nicht eine ganze weitgegliederte Sippe, von der ein Hauch der Kleinlichkeit und Alltäglichkeit über sein ganzes Leben wehen mußte! Hing dieses Bleigewicht an ihr, dann konnte er nicht die Künstlerin in Klara zu sich, in seine freie Welt emporziehen und zu dem machen, was er wollte. Zu dicht herum lauerte das Philistertum in Gestalt von Onkeln und Tanten, Schwägerinnen und Schwägern.

Die Kleine hatte unbekümmert, daß er nicht mehr zuhörte, den andern leuchtenden Auges weiter die Vorzüge des Seebades Tanger gepriesen und es ihnen ausgemalt, wie schön es sein würde, wenn erst einmal die englischen Lords zu Dutzenden dort am Strande galoppierten und die amerikanischen Millionärinnen zu Hunderten nebenan in den Wellen plätscherten – jetzt brach sie plötzlich ab und starrte nach dem Eingang des Gartens.

Eine breitschulterige, blondbärtige Gestalt, unmodern, aber in auffallender Weise gekleidet, war dort erschienen und steuerte, ohne allzuviel Rücksicht auf die Nebenmenschen zu nehmen, quer durch die Gruppen, auf die drei Schwestern zu.

„Hurra!“ rief Albrecht Steffen schon von weitem, zwar, so gut er konnte, gedämpft, aber immer noch mit einem Bärenbaß, der ein flüsterndes Echo, ein leises „shocking“ und Achselzucken im Garten weckte. „Hurra!“ wiederholte er, die dargebotenen Hände schüttelnd. „Guten Tag, Hilda! Habe ich die Ehre, den berühmten Afrikareisenden …? Freut mich, Herr! Hab’ Sie schon neulich aus der Ferne in Tetuan gesehen und bringe Ihnen Grüße von Herrn Rey. Sie möchten doch bald einmal hinüberkommen! Er erwarte Sie! Seine Tochter auch und ihre Freunde! Hören Sie mal: das sind zwei tolle Knöpfe… Kennen Sie sie näher?“

„Nein,“ sagte der Afrikaner kurz. Es verdroß ihn, daß der Handlungsreisende ihm eben jetzt, mitten im Philisterium, die Erinnerung an jene freien kraftstrotzenden Wesen da drüben wachrief, wie sie gleichmütig auf den Höhen der Berge und der Menschheit wandelten. Plötzlich begriff er, wie einem Vogel im Käfig zu Mute ist, der den weiten Himmel schaut und in die blaue Unendlichkeit hinausmöchte, trotz aller Pflege, Sicherheit und Ruhe zwischen den Gitterstäben. Und wie ein Freundesgruß aus altewiger Zeit stieg plötzlich vor seinem Geiste ein lachendes Gesicht empor, mit wogenden Locken und geheimnisvoll leuchtenden blauen Augen, und ein übermütiges Lachen verhallte in seinem Ohr, ein Wiederklang ferner Tage, da er an Angelas Seite durch den ewigen Schnee und über die Riesenstufen der Pyramiden wie mit einem langvertrauten Freunde emporgestiegen.

Wer dich vergessen könnte, Frau Aventiure! Er wußte es wohl: er konnte es nie und nimmer. Die Erinnerung blieb. Und jetzt stärker denn je, wo sie ihm so nahe und doch für immer verloren war. Denn jetzt trennte sie die unüberbrückbare Kluft: sie wandelte in lachender Gesundheit, und er war zu Tode siech. Er wußte, welche Scheu sie vor kranken und unglücklichen Menschen hatte! Sie wich ihnen aus, wo sie nur konnte, und empfand als echte Tochter Nicolai Augustus Reys viel weniger Mitleid als Angst und Aerger, wenn sie dem Anblick menschlichen Leidens einmal doch nicht zu entrinnen vermochte.

Wo es ging, kaufte sie sich dann wohl mit einer reichen Spende von ihrem eigenen Gewissen frei. Wie sie den blinden Bettlern im Orient, den klagenden Krüppeln in Rußland, abgewandten Gesichtes und ihre Schritte beschleunigend, eine Hand voll Münzen hinwarf, so fand sie gewiß auch für den einstigen Freund einige äußerliche Zeichen der Teilnahme und des Trostes. Aber die begehrte er nicht. Fester denn je war er jetzt entschlossen, sie niemals wiederzusehen. Eine zornige Sehnsucht rang sich dabei doch in ihm empor, aber der Handlungsreisende ließ ihn, weiterplaudernd, nicht mehr zur Besinnung kommen.

„Ein famoser Mensch, dieser Rey!“ sagte er. „Zu solch’ einem Freund können Sie sich gratulieren! Ich weiß ja – Sie waren neulich erst bei ihm auf der ‚Liberty‘ in Gibraltar und haben mit ihm zu Abend gegessen. Na, das hab’ ich ja freilich nun nicht. Aus einem sehr einfachen Grund: er hat mich nicht eingeladen! Und das war mir eigentlich lieb. Denn unter solch’ pikfeinen Leuten, einem wirklichen Prinzen und gottweißwas für Millionären in Frack und weißer Binde – da fühle ich mich nun einmal durchaus nicht behaglich …“

„Kann ich mir denken,“ brummte der Major. „Ich kann solches Volk auch in den Tod nicht leiden!“ Und seine schwarzgekleidete Freundin nickte Beifall. „Ich bin ja als Gouvernante zuweilen diesen Kreisen nahegetreten,“ sagte sie streng. „Aber ich habe immer den Eindruck gehabt: es steckt nichts Rechtes dahinter. Eine glänzende Außenseite und innen Frivolität der Gesinnung, Gleichgültigkeit gegen alles Höhere und Edlere …“

„Ach, nun laßt doch mal diese Leute!“ Die Kleine starb fast vor Ungeduld. „Was liegt denn an denen? Wie es mit Herrn Rey ausgegangen ist, will ich wissen! Was hat er denn zu dem Seebad Tanger gesagt? Er muß doch begeistert gewesen sein!“

„Na, das gerade nicht!“ meinte der junge Kaufmann etwas gedämpfteren Tones als bisher. „Wie ich fünf Minuten gesprochen hab’, lächelt er mich plötzlich ganz spitzbübisch an, schiebt sich seine strohblonde Perücke zurecht, fährt sich mit der Hand um sein Kinn wie ein Prediger, dem nichts einfällt, und murmelt mit ganz heller Stimme vor sich hin: ‚Das ist Unsinn, lieber Herr… Unsinn … Unsinn … Unsinn …‘“

„O weh!“ rief Hilda und schloß schmerzlich die Augen. Die Gouvernante und der Major tauschten einen Blick trüben Einverständnisses. Es war doch wirklich unverantwortlich von dem Menschen, das Kind um seine Stellung zu bringen und dann mit leeren Händen des Wegs zu kommen.

Und dabei noch zu lächeln! Denn Albrecht Steffen war ganz guter Dinge. „Ja, also … Unsinn!“ fuhr er fort. „Sowie ich den Mund öffnen wollte, sagte der alte Herr ganz hell und bestimmt wie ein Papagei: ‚Unsinn!‘ Wie ich dann endlich ganz still bin, geht er durchs Zimmer und stößt ab und zu ein paar abgerissene Worte heraus: ‚Weltverkehr läßt sich nicht zwingen! … Unsicherheit der Zustände in Marokko … Widerstand der Behörden… verpestender Schmutz in der Stadt, den man nicht beseitigen kann … Ueberhaupt ein wildes, unabhängiges Land. Muß erst wieder annektiert werden wie im 17. Jahrhundert, bis sich das große Kapital hinwagt. Bis dahin: Unsinn!‘

Na, nun kannst du ja gehen! denke ich und will mich empfehlen. Da sieht er mich ganz eisig an und sagt halblaut: ‚Ich kann mich nicht erinnern, Sie schon entlassen zu haben!‘ Ich werde ärgerlich. ‚Bin ich denn in Ihren Diensten, Herr?‘ frage ich und er sagt: ‚Ja! Leute wie Sie kann ich brauchen! Keine Arbeitsmaschinen, sondern Menschen, denen zuweilen etwas einfällt. Wenn es diesmal auch ein Unsinn war, so kann es doch ein anderes Mal etwas Vernünftiges sein!‘ Und kurz und gut, ein Wort gab das andere, und ich bin fester Angestellter des Welthauses Nicolai A. Rey in Petersburg und Baku. Das [810] Nähere wird dieser Tage erledigt. Aber jedenfalls kommt dabei so viel heraus, daß zwei bequem davon leben können. Und wahrscheinlich bleibe ich sogar in Deutschland. Wir bleiben alle beisammen! Ach, Kinders … es ist ja fast zu schön, als daß es wahr wäre! Was meinst Du, Hilda?“

Die legte statt jeder Antwort den Kopf auf den Tisch und brach in ein glückseliges, befreiendes Schluchzen aus. Auch in den Augen Klaras und der Gouvernante schimmerte es feucht und der Major wischte sich hüstelnd mit dem Taschentuch an den Wimpern herum, während rings sich Blicke voll spöttischer Neugier auf das ungewohnte Bild richteten.

Der Afrikaner sah das wohl, und es erfüllte ihn mit Beklemmung, daß er, statt sich über die Herzlosigkeit der Fremden zu empören, ihnen eigentlich recht gab. Solche Rührscenen waren wirklich hier nicht am Platz. Wenn sie schon sein mußten, gehörten sie in das Innere des Familienlebens, in jene Welt von kleinen Sorgen, Nöten und Freuden, Eifersüchteleien und Zwistigkeiten, gekränktem Schmollen und weichherzigem Mitempfinden, das da erschreckend plötzlich vor ihm aufwuchs, den Blick in die Weite hemmend.

Es war, als ob Klara seine Gedanken erriete. Sie warf ihm einen bittenden Blick zu und schlug dann nach all diesen Gemütsbewegungen einen Spaziergang in der Abendkühle vor. Die andern waren gleich bereit. Oder besser noch eine Spazierfahrt! In einen Wagen gingen freilich nur vier Personen! Aber man könne ja einen Kahn mieten und auf dem See fahren. In dem Kahn hätten sie alle sechs bequem Platz.

Die Malerin lächelte. „Fahrt nur allein!“ sagte sie. „Unserem berühmten afrikanischen Gast machen solche bescheidene Zerstreuungen keinen Spaß. Oder teilt euch besser nochmals zu je zwei und zwei. Bei der Table d’hote sehen wir uns dann wieder!“

„Ach, und du bleibst inzwischen hier?“

Die Kleine hob das von Freudenthränen verwaschene Gesichtchen und nickte verständnisinnig. „Ich bleibe hier oder gehe spazieren … wie es unser Gast wünscht.“

Der sah über den See in die Weite. „Wenn Sie gestatten, bleiben wir hier sitzen,“ sagte er langsam. „Ich befinde mich gar nicht wohl. Auf Wiedersehen inzwischen, meine Herrschaften!“

Die beiden Brautpaare, das alte und das junge, empfahlen sich. Sie blieben allein.


18.

Sie wartete gar nicht, bis er zu sprechen anhub, sondern begann selbst die Unterhaltung. „Also wieder die alte Melancholie!“ sagte sie, halb lachend, halb besorgt. „... ‚Ich befinde mich gar nicht wohl!‘… Das haben Sie mir schon in Tetuan erklärt, und ich hab’ Sie mit meiner Gardinenpredigt, wie Sie es nannten, kuriert! Nun sollt’ es doch gut sein! Oder muß ich noch einmal von vorne anfangen?“

„Nein!“ Er sah sie trübe an. Natürlich … sie konnte ja nicht wissen, wie es um ihn stand! War es doch ihm selbst bis zu jenem Abend in Nizza nur eine dunkle Ahnung gewesen. „Nein, Fräulein Klara … es hilft nichts!“

Die Malerin schüttelte den Blondkopf und lachte hellauf. „Wenn Sie Ihr Gesicht sehen könnten … seien Sie nicht böse … aber daß ein Afrikadurchquerer eine so sorgenvolle Miene aufstecken könnte, das hätte ich nicht geglaubt. Und das alles wegen ein bißchen Nerven!“

„Es sind keine Nerven!“

„Was denn sonst? Ihr Fieber sind Sie los – das haben Sie selbst schon in Gibraltar zugegeben. Und wenn Ihnen sonst etwas Wirkliches, etwas Ernstes fehlte, das sieht man einem Menschen doch an. Dann reist man doch nicht vierzig Stunden im Schnellzug und geht und ißt und trinkt wie andere Leute. Also was sollte es denn sein?“

Er schwieg. Er hatte nicht den Mut, ihr sofort und unumwunden die Wahrheit zu gestehen. Es war ihm, als würde er dadurch klein vor ihr, ein armer, schutzsuchender, hilfsbedürftiger Mensch statt des Herrn und Gebieters, den ihr Auge jetzt in ihm sah. Wie die meisten kräftigen und an körperliche Strapazen gewöhnten Männer betrachtete er unbewußt jeden Zweifel an seiner Gesundheit als eine Art Beleidigung. Und hier war ja kein Zweifel mehr. Hier war die Gewißheit.

Für ihn. Die blonde Freundin neben ihm mußte ja das Gegenteil glauben! Er sah, wie sie sich zusammennahm, um recht unbefangen zu erscheinen und ihn zu erheitern. „Was sollte es denn sein?“ wiederholte sie und zerpflückte spielend die Rose an ihrer Brust. „Nerven … nichts als Nerven! Das ist durchaus nicht nur unser Vorrecht! Die größten Männer sind davor nicht sicher. Und wenn man das hinter sich hat, was Sie gethan haben … Sie brauchen bloß Ruhe. Vier Wochen vegetieren. Hier oder anderswo. Dann werden Sie sehen, was Sie für ein anderer Mensch geworden sind!“

Vier Wochen! Er mußte lächeln. Gerade den Zeitpunkt hatte er zufällig auch dem Arzt in Nizza genannt und der ihm geantwortet: „Nein, Verehrtester, nicht einen Monat, sondern Ihr ganzes Leben!“

Ein vielleicht noch langes Menschenleben vegetieren. Ihr absichtslos gewähltes Wort klang schmerzhaft in seinem Ohr nach. Aber es gab ihm wenigstens den Anlaß, vorsichtig mit seiner Beichte zu beginnen. „Sie haben ganz recht!“ sagte er. „Vegetieren! Es kommt ’ne Zeit, wo man Ruhe braucht. Mögen dann jüngere Leute sich draußen in Aftika vergiftete Pfeile und Malaria holen und irgend ein Engländer vom Alpine Club statt meiner mit einer Lawine rascher als ihm recht ist, zu Thale gelangen. Ich hab’ jetzt diese Dinge satt. Ich will jetzt meinen Kohl bauen und mich um nichts weiter kümmern!“

Sie sah ihn schweigend an. Er las eine Art Erstaunen in ihren blauen Augen.

„Natürlich ..,“ fuhr er etwas stockend fort. „Allein … das geht nicht. Für jeden Menschen kommt im Leben der kritische Zeitpunkt, wo er entschlossen zugreifen und sich einen eigenen Herd gründen muß. Nicht zu früh. Ich glaube, daß sonst bei vielen Männern das Beste unentwickelt bleibt, daß die rechte, rauhe, zähe Kraft, die man erst in reiferen Jahren gewinnt, durch das Familienleben, den fortwährenden Umgang mit Frauen, Kindern, Tanten, Basen und andern schwachen Wesen verweichlicht wird. Aber auch nicht zu spät. Sonst findet man den Anschluß nicht mehr. Es ist eben ein psychologischer Augenblick. Man kann ihn nicht bestimmen. Man muß ihn fühlen. Und ich habe das bestimmte Gefühl, daß es jetzt für mich an der Zeit ist!“

Sie erwiderte nichts, sondern sah leise lächelnd vor sich nieder in den Sand.

„Wissen Sie, wie ich mir mein Heim denke?“ fuhr er etwas lebhafter fort. „Oder vielmehr unser Heim … ich meine, das meiner künftigen Frau und meines? Hoch oben im bayrischen Hochland … wo die Tannenforsten stehen und darüber der ewige Schnee und noch ein Restchen Romantik aus dieser langweiligen grauen Kulturwelt mit ihren Fabrikschornsteinen und ihrer Druckerschwärze sich hingeflüchtet hat. Wo es noch wirkliche Wildschützen giebt und Schmuggler mit geschwärzten Gesichtern, Gemsenjäger und Bergführer, schöne kraftvolle Menschen in kleidsamer Tracht, die herrliche Natur umher und alles noch erfüllt von der Träumerei und Melancholie des Königs Ludwig – da ist meine Heimat. Da möchte ich mein Leben beschließen. Mir einen der großen Bauernhöfe kaufen, einen Zaun um meine Bergwiesen ziehen und mich dann hinsetzen und sagen: Nun, Welt, laß’ mich in Frieden! Ich hab’ genug von dir gesehen!“

Sie blickte auf und ihr Lächeln wurde stärker. „Und wie lange soll diese Weltflucht dauern?“ frug sie.

„Solange ich lebe! Natürlich … einmal im Winter ein Aufenthalt in München oder ein Ausflug nach Salzburg oder derlei …“

„Lieber Freund!“ Sie ließ ihn nicht weiter reden. „Wie alt sind Sie jetzt?“

„Ich hab’ es Ihnen ja gesagt. Ich bin über die vierzig hinaus!“

„Vierzig! Ja, ist denn das ein Alter für einen Mann!“ Sie schüttelte den Kopf und sah ihn ungläubig an. „In der Vollkraft seiner Jahre zu resignieren? Sich wie ein Einsiedlermönch von allem zurückzuziehen, sei’s auch in den Kreis der Familie? Nein, wenn Sie jetzt in Ihrer Nervosität auf solche Stimmungen geraten, dann müssen andere vernünftiger sein als Sie!“

„Wer denn, zum Beispiel?“

„Sagen wir, Ihre Frau! Ihre künftige Frau!“

„Nun, und was würde die mir Vernünftiges sagen?“

[811] Sie rückte etwas naher heran, um von den Umsitzenden nicht gehört zu werden. Doch ihr Auge vermied, dem seinen zu begegnen. „Sie würde sagen: Lieber Mann! Kein Mensch ändert sich. Auch in der Ehe nicht, wenn man verhältnismäßig so spät heiratet. Dn bleibst, was du bist, und weil du so bist, gefällst du mir. Und sollst nicht anders werden aus Rücksicht auf Weib und Kind!“

„Nicht aus Rücksicht auf die allein, sondern auf mich selbst!“

Sie schüttelte den Kopf. „Die Rücksicht auf sich selbst gebietet Ihnen, so zu leben, wie es Ihre Natur, Ihr ganzes Wesen nun einmal erfordert! Sehen Sie … ich habe in diesen Tagen viel über Sie nachgedacht – warum soll ich es nicht sagen? Sie wissen es ja wohl so schon – und habe versucht, in Ihr Wesen einzudringen. Das ist gar nicht so schwer. Denn gerade Männer wie Sie, wirkliche Männer, wenn sie meinetwegen auch ein bißchen brutal und wild sind, verstehen wir Frauen ganz instinktiv. Die sind ja eigentlich das, was wir suchen. Und da hab’ ich mir gesagt: der größte Fehler, den Ihre künftige Frau begehen könnte, der wäre, Sie zu einer Aenderung Ihres Lebens und Ihrer ganzen Lebensweise zu zwingen! Sie brauchen die Freiheit wie die Lebenslust! Sie müssen kommen und gehen können, wie Sie wollen. Fühlen Sie, wie jetzt, den Drang nach Ruhe und Erholung, so finden Sie zu Hause alles zu Ihrer Begrüßung bereit. Und treibt Ihr innerstes Wesen, Ihre waghalsige Abenteurerlust Sie wieder unwiderstehlich in die Ferne, dann soll sich nicht eine Kette von Familienrücksichten, Thränen und Klagen an Sie hängen. Die Frau, die Sie brauchen, die muß Sie lachend empfangen und fröhlich auch wieder gehen lassen. Lieber Gott … die Frauen von Seeoffizieren etwa, die müssen auch oft lange Zeit allein sein. Immer besser, sich um einen Mann zu sorgen und zu bangen, als ihn neben sich gähnen zu sehen!“

„Wer sagt Ihnen, daß ich das thäte?“

Sie wurde beinahe zornig. „Das sage ich mir, daß man nicht mit einem Schlage aus einem wildbewegten abenteuerlichen Leben in ein völliges Stillliegen hineingeraten kann – und wenn zehnmal Tannenhochwald herum ist und ewiger Schnee und Zitherspiel und Gejodel und Wildschützenromantik. Das ist ja alles sehr schön, und ein paar genußreiche Sommermonate kann man auf diese Weise sicher zubringen. Aber befriedigen kann einen das auf die Dauer nicht. Die Befriedigung kommt von innen … aus der Arbeit … indem man das thut, wozu einen nun einmal die Natur veranlagt hat. Das weiß ich, die ich selbst einen Beruf habe, und weiß, daß ein müßiger Mann ein unglücklicher Mann ist!“ Sie brach ab.

Ein unheimliches Grauen durchfröstelte ihn, wie ihm die helle Stimme da nebenan ahnungslos und in bester Absicht seine letzte Zukunftshoffnung zerstörte. Aber noch gab er das Spiel nicht verloren. „Sie sagen, man muß thun, wozu einen die Natur veranlagt hat!“ begann er. „Wenn ich aber nun deutlich fühle, daß eine Umwandlung in mir vorgegangen ist, daß ich mich nun mehr zu einem beschaulichen Leben eigne …. es braucht ja kein müßiges zu sein …. es giebt ja doch wissenschaftliche Studien genug …“

„Für Sie?“ Sie lachte. „Ich brauche doch bloß Ihr braungebranntes Wildschützengesicht mit den Feueraugen anzusehen und dem verwegenen Lächeln unter dem Schnurrbart …. o …. ich weiß, was Sie sagen wollen …. Sie haben auf Ihren Reisen stets der Wissenschaft gedient. Aber warum? Um Ihrer Abenteurerlust ein Mäntelchen umzuhängen! Das haben Sie mir neulich selbst gestanden und ich begreife es vollkommen. Aber die Wissenschaft allein …. der Vorwand ohne den eigentlichen Zweck …. das geht nicht. Sie würden sich nach kurzer Zeit am Schreibtisch so ungemütlich vorkommen wie etwa ein rechter Stubengelehrter in Centralafrika unter den Wilden, und all den Krempel beiseite werfen, um im Hochland Gemsen zu jagen oder irgend eine unnütze Bergkletterei auszuführen. Und es ist auch ganz recht so!“

Er sah sie ernst an. „Können Sie sich denn gar nicht in den Gedanken versetzen,“ sagte er langsam, „daß das alles nun einmal ein Ende haben könnte? Daß alles wirklich so ist, wie ich sagte, und ich mein ganzes ferneres Leben in vollkommener Ruhe und Zurückgezogenheit verbringen werde?“

„Nein!“ Ihre Stimme klang beinahe hart. „Ich will mich gar nicht hineindenken und Sie in solch trüben und, weiß Gott, unnützen Träumereien unterstützen!“

„Ich träume nicht, Fräulein Klara!“

„Doch. Sie spielen da mit einem Gedanken, der das größte Unglück für Sie wäre! Und nicht nur für Sie, sondern auch für die Ihren. Ich muß es Ihnen noch einmal sagen: ich habe viel über Sie nachgedacht und weiß: Sie sind nicht zu unserem guten deutschen Familienleben geschaffen. Sie sind frei und brauchen einen Menschen neben sich, der in seiner Art auch auf eigenen Füßen steht und eine eigene Persönlichkeit ist. Das giebt die richtige Wahlverwandtschaft und die richtige Ehe. Aber wenn ich mir einen Mann wie Sie tagaus tagein, jahraus jahrein im Getriebe des häuslichen Lebens denke, mit all der notwendigen Prosa, die dazu gehört, ohne den erfrischenden Lufthauch von außen, den man sich aus der großen Welt holt und der einem dann sein eigenes Nest warm und traulich erscheinen läßt – nein, ich kann es mir gar nicht denken und ich will es auch nicht!

Sie brauchen doch auch Verkehr!“ fuhr sie fort. „Ich meine, Männer, die Ihnen ebenbürtig sind! Menschen giebt’s freilich überall. Und viele liebe und gute darunter, die Ihnen doch nur langweilig vorkommen müssen, weil sie Ihnen nichts bieten und Sie unnütz belästigen. Ich habe als Malerin Sinn für Physiognomie. Glauben Sie, ich hätte Ihr Gesicht vorhin nicht bemerkt, wie die andern alle hier herum saßen? Wen Sie auch heiraten mögen, solche Verwandtschaft besitzt wohl jede Frau. Und wenn sie sie auch um des Mannes willen gerne von ihm fernhalten will, so kann sie das, wenn er still im Lande zwischen den andern wohnt, kaum durchführen, ohne all die treuen Seelen unnütz zu kränken und schließlich ganz einsam zu werden. Läßt sie aber all die gutgemeinte Anhänglichkeit gewähren, nun, dann hat man eben das weitverzweigte, breite Familienleben, in dem Sie sich nie heimisch fühlen können.“

Er fühlte den Schrecken langsam durch sich rieseln, wie sie ihm da ganz ruhig seine eigensten Empfindungen von vorhin darlegte. Er merkte wohl, sie hatte mit dem Blicke der Liebe in ihm gelesen, und ein Gefühl schmerzlichen Mitleids stieg in ihm empor bei dem Anblick dieser treuen, tapfern Seele, die gerade in dem Bestreben, sich ihm anzuschmiegen, ganz ihm gleich zu werden und für sein künftiges Lebensglück zu sorgen, unbewußt, Wort um Wort, ihre eigene Hoffnung und ihrer beider Zukunft zerstörte. Und mit jedem dieser tötenden Worte, die so sanft und hell von ihren Lippen klangen, hatte sie recht! Er wußte es wohl.

Sie verstand sein Schweigen anders. „Ich finde, es ist gut, man spricht sich über derlei einmal aus,“ sagte sie und bemühte sich, unbefangen zu lächeln. „Wir sind ja keine Kinder mehr, sondern Sie ein gereifter Mann und ich nahezu eine alte Jungfer. Warum sollen zwei erwachsene Menschen, die das Leben kennen und manches Schwere in ihm erfahren haben, nicht offen über derlei sprechen? Ich finde, das erste und die Hauptsache ist, daß man sich ganz versteht, vollkommen! Mir wenigstens liegt daran, daß Sie mich ganz kennen, wie ich bin! Darum habe ich so lange gesprochen und nicht wie es mir der Zufall eingab, sondern wohlüberlegt, Tag und Nacht überlegt, in dieser letzten Zeit.“

„Ich danke Ihnen.“ Er sprach ganz gelassen. „Sie glauben also bestimmt, daß mein Plan verfehlt wäre, mich zur Ruhe zu setzen?“

„Ja. Das glaub’ ich!“

„…. Daß das mich unglücklich machen würde …. und andere auch?“

„Ganz gewiß glaub’ ich das!“

„Sie glauben es! Aber Sie sind nicht sicher?“

„Doch. Ich bin sicher!“

Sie schwiegen eine Weile, dann machte er den letzten Versuch. „Und wenn Sie sich nun doch täuschen!“ sagte er leise und eindringlich. „Wenn ich, etwa nach zehn Jahren, sagen kann: Ich bin doch glücklich gewesen. In all der engen Häuslichkeit, mit, all der Verwandtschaft. Und trotz all des Müßiggangs!“

Jetzt war das Lächeln von ihren Lippen geschwunden. Sie sah sehr ernst aus. „Dann wäre das Schlimmste geschehen, was ich mir denken kann!“ sprach sie halb vor sich hin. „Dann wären Sie klein geworden in der Alltäglichkeit. Abgestumpft. Eingelullt von der Gewohnheit. Dann hätten Sie in Wahrheit Ihr [814] eigentliches Selbst verloren. Das wäre dann zu Grunde gegangen in dem ewigen Einerlei und ein Mensch wie andere übrig geblieben. Der mag ja dann in seiner Art glücklich sein. Aber es ist ein Glück, das ich für Sie nicht hoffe und nicht wünsche!“

Er saß stumm da, das Haupt gesenkt. Vom Hause klang mahnend die Hotelglocke.

Klara stand auf. „Es ist Zeit, die Abendtoilette zu machen!“ sagte sie und streckte ihm die Hand hin. „Auf Wiedersehen, lieber Freund! Und seien Sie nicht so schwermütig. So möchte ich Sie gar nicht sehen. Sie sollten aufrecht dastehen und nach oben schauen! Excelsior! Das ist Ihre Losung. Immer höher hinauf, über die anderen Menschen hinaus, sei’s allein, sei’s, daß Sie einmal einen Kameraden im Leben finden, der stolz auf Sie ist, der Ihnen folgt in die Weite und Größe, statt Sie an den Küchenherd und in die Gute Stube zu zerren. Das wünsch’ ich Ihnen, und es kommt aus ehrlichem Herzen!“

„Ich glaube es!“ sagte er und hielt ihre Hand fest. Sie that ihm sehr leid. Ein Wort lag auf seinen Lippen, das befreiende Wort: „Ich kann ja nicht anders! Ich bin ein gebrochener Mensch!“ Gewiß, dann würde sie alles verleugnen, was sie eben gesagt, würde seine treueste Helferin und Trösterin sein.

Aber er schämte sich, als Bettler vor ihr zu stehen. Und dahinter das Zukunftsbild, das sie ihm grau in grau gemalt und das sie nicht mehr verwischen konnte!

Sie war von ihm gegangen.

Er sah der schlanken, blonden Gestalt nach, wie sie sorglosen Schritts, von frohen Gedanken beflügelt, den Garten durcheilte und im Hotel verschwand. Dann trat er langsam auf die dämmernde Straße hinaus.


19.

Erst ging er vor dem Hotel auf und ab, wo es jetzt still und einsam wurde, dann den Quai entlang, über eine Brücke, unter der die durchsichtigen Fluten des Stromes hinschossen, an einem mit Blumenbosquetts umgebenen Denkmal vorbei, in eine Straße hinein … er wußte selbst nicht wohin, er wußte kaum mehr, in welcher Stadt er sich befand. Es war ja alles gleich. Alles vorbei. Sie hatte recht: wer die weite Welt gewohnt ist, verträgt die enge Hütte nicht mehr. Wer auf den Höhen der Erde geatmet hat, geht in der Stubenluft zu Grunde.

Aber wenn sie recht hatte – was dann? Er begriff nicht, wie die Zukunft dann werden sollte. Er sah in sie hinein wie in eine dunkle Nacht voll unheimlichen Grauens, in der alles, was bisher um ihn war, hinschwand und verschwommenen wesenlos dräuenden Gebilden Platz machte.

Sich totschießen? Das war leicht gesagt. Aber ein Gefühl der Kraft und des Zornes wuchs sofort mächtig dagegen in ihm auf. Es war nicht nur der Selbsterhaltungstrieb des lebenden, atmenden Wesens, es war mehr noch der Trotz des Kämpfers, der überall auf der Erde mit der Vernichtung in jeder Form Brust an Brust gerungen hatte und immer wieder ihren Krallen entschlüpft war. Und jetzt sich ihr wehrlos hingeben, sich selbst besiegt erklären und selbst das Urteil vollstrecken? Nein, ihm ekelte bei dem Gedanken. Das war feige, war klein und häßlich …..

Er blieb stehen und sah um sich, wo er sich eigentlich befand. Zufällig fiel sein Auge auf ein Schild an der Hausthüre nebenan. Es war der Name eines Arztes und seine Sprechstunden.

Ein Gedanke durchzuckte ihn. Wovon machte er denn eigentlich sein ganzes Schicksal abhängig? Von dem Ausspruch eines ihm wildfremden Doktors irgendwo da unten an der Riviera, der ihn einmal eine Viertelstunde in der Dämmerung flüchtig untersucht! Wenn er sich geirrt hatte? Unfehlbar war er doch jedenfalls so wenig wie irgend ein anderer Mensch, wennschon er seiner Sache sicher zu sein schien. Denn sonst hätte er ihm wohl nicht gesagt, er möge, wenn er noch zweifle, irgendwo einen beliebigen Kollegen nochmals um Rat fragen.

Wenn der Kollege nun lachte? Ihm sagte: „Verehrtester ... der gute Mann in Nizza ist ein Schwarzseher, an die verzärtelten Besucher der Riviera gewöhnt! Bei einem Mann wie Ihnen steht die Sache gar nicht so schlimm?“ – Er dachte den Gedanken gar nicht zu Ende, sondern stieg die Treppe hinauf und ließ sich bei dem Doktor melden, als ein Durchreisender, der die übliche Sprechzeit nicht innehalten könne.

Der Arzt empfing den Reisenden mit entsprechender Höflichkeit und that seine Pflicht. Er war ein höflicher Franzose. Seine Worte klangen gefälliger und schonender als die des deutschen Doktors in Nizza, aber ihr Sinn war derselbe, genau derselbe.

„Es ist da wenig zu machen, mein Herr!“ sagte er mit seiner einschmeichelnden, wie geölten Stimme und lächelte, daß über dem dunklen Spitzbart die Zähne blitzten. „Sie müssen sich durchaus schonen! Mein Gott … man lebt immerhin! Man gewöhnt sich daran und bescheidet sich. Es braucht ja nicht jeder auf den Montblanc zu steigen!“

Der Fremde sah ihn an. „Wie kommen Sie gerade auf den Montblanc?“

„Warum nicht? Der Montblanc ist ja hier für uns das Nächstliegende! Wir leben gewissermaßen mit ihm! Wir sehen ihn jeden Abend, wenn das Wetter klar ist. Unsere schönste Straße ist nach ihm benannt. Er ist für uns gewissermaßen der Gipfel der Dinge. Eine Art Gleichnis! Wenn ich meinen Patienten sage: ‚Auf den Montblanc können Sie natürlich nicht mehr gehen!‘ so heißt das eben: ‚Sie müssen jede große körperliche und geistige Anstrengung vermeiden.‘ Denn daß die Besteigung des Montblanc eine solche ist ….“

„Ich weiß! Ich war schon zweimal oben.“

„Nun sehen Sie …“

Der Arzt versuchte zu scherzen.

„Da ist das also schon gar keine Entbehrung mehr für Sie! Denn ein drittes Mal hätten Sie es ja doch wohl nicht gethan!“

„Und wenn ich es nun doch versuchen würde?“

„Jetzt? So, wie Sie jetzt sind?“

„Ja.“

Der höfliche Arzt zuckte die Achseln.

„Es ist Selbstmord, mein Herr! Sie würden lebend nicht wieder herunterkommen!“

„Woraus schließen Sie das?“

„Mein Herr! Das Bergsteigen auf fast 5000 Meter Höhe, zumal in jener ganz dünnen Luft, wie sie da oben herrscht, erfordert, wie Sie selbst ja wissen müssen, eine äußerste Anstrengung des Herzens. Der sind Sie nicht mehr gewachsen.“

„Und was würde erfolgen?“

„Mein Herr, Sie würden plötzlich niederstürzen, und in wenigen Minuten wäre durch einen innerlichen Bluterguß alles zu Ende.“

Der Afrikaner hatte sich erhoben. „Und wenn das nun nicht geschähe?“ sprach er finster lächelnd, „ … und ich käme ganz wohlbehalten wieder unten an … was würden Sie dann sagen?“

„Ich würde sagen,“ der Franzose begleitete seinen Patienten bis zur Thür, „daß zuweilen auch Wunder vorkommen. Und das ist dann eben eines!“

„Also Sie glauben doch an Wunder?“

„Ich muß, mein Herr! Denn es giebt Naturen, die Unbegreifliches aushalten. Wie ja auch manche Menschen Gaben von Arsenik ungestraft verschlucken, die jeden andern töten. Vielleicht sind Sie solch ein Mensch. Ich weiß es nicht. Aber annehmen darf ich es als Arzt nicht. Mein Herr … ich habe die Ehre …“

*      *      *

Er hatte wieder die Richtung nach dem Hotel eingeschlagen und ging den Quai du Montblanc entlang. In einer seltsamen Stimmung. Eigentlich gleichgültig, beinahe heiter, daß nun wenigstens alles entschieden war, daß nun keine neuen Hoffnungen, Zweifel und Nöte im Nachtdunkel der Zukunft lauern konnten, [815] und doch voll von einem sehnenden Bangen, das er sich selbst nicht zu erklären vermochte.

Er blieb am Wege stehen und starrte auf die im letzten Abendschein glitzernde Seefläche. Wieder hatte er die rätselhafte Empfindung, mitten auf einem großen, unendlich großen und vielfarbigen Maskenball zu sein, der doch einmal ein Ende nehmen mußte, wenn die Nacht auf Schattensohlen heranschlich, die Nacht, die fern im Osten schon in dem Abendgewölk über dem Horizont brütete. Und es war gut, wenn es zu Ende ging! Es war doch alles klein umher und abgeschmackt und nutzlos. Es lohnte nicht den vielen Lärm und all die Mühen, mit denen das Leben der Millionen sich abhaspelt, kommend und gehend, in rastlosem Spiel, wie die Wellen am Strand.

Aber wie das Ende sein sollte – das wußte er nicht. Wie auch die Gedanken in seinem Kopf sich kreuzten – er fand keinen Ausweg für einen Menschen, der nicht sterben will und nicht leben kann, wenigstens nicht so in Größe sterben oder nicht so aus dem Vollen leben, wie es sein ganzes Wesen verlangte.

In verlorenem Sinnen blickte er über den See und die Stadt dahin und trat plötzlich betroffen einen Schritt zurück, während ein ungläubiges Lächeln sein Gesicht überlief.

Die Wolken fern am Horizont des Ostens hatten sich geteilt. Ein Stück blaßblauer Abendhimmel war sichtbar geworden, und in ihm stand, geisterhaft, wolkenähnlich und doch durch ihren schneeigen Schimmer von ihnen geschieden, eine feierliche weiße Welt von ragenden Zinnen und blendenden Wällen. Eine Märchenwelt über den Wolken, die ihren Fuß umspielten, über der Erde, die um sie im Dämmergrauen versank, ein Gebilde der Ewigkeit, voll ewiger Schönheit und Ruhe, wie aus unermeßlicher Ferne zwischen den zur Seite rollenden Dunstschleiern grüßend.

Kein Abendglühen verklärte die bleiche Majestät des Montblanc. Weiß in weiß stand seine Pracht, kalt und streng und doch zur Andacht mahnend, den Blick nach oben wendend, zu jenen welterhabenen Höhen empor, wo die Himmelswölbung mit der Eiskrone des Bergkönigs sich zu berühren schien.

Und während das Auge des einsamen Beschauers, sich unwillkürlich feuchtend, die alte Herrlichkeit wiedersah, klang, als ein Widerhall vor Stunden gehörter Worte, in seinem Ohr eine helle tröstende Mädchenstimme:

„Ihr Blick gehört nach oben! Sie gehören hinauf in die Höhen!“

Excelsior! Hinauf zu den ewigen Höhen, zu denen den Jüngling schon ein faustischer Drang getrieben, auf denen sich die Brust des Mannes noch im Sonnenstrahl geweitet, wenn unten im Thal schon schläfrige Nacht ihre grauen Fäden zog, hinauf in die Welt, die gewaltig ist in Schönheit und Leiden, dem Lebenden Mark und Kraft verleihend, dem Sterbenden den Tod verklärend durch ihre Größe!

„Eine Besteigung des Montblanc ist für Sie ein Selbstmord!“ hatte der Arzt gesagt. Er lachte zornig auf. Woher wußte der Mann denn das? Kannte er denn den Fremden, der bei ihm eingetreten war? Der war anders wie die andern. Der hatte schon zweimal das Firndiadem des Eisriesen unter seinem Fuße knirschen gefühlt. Warum sollte er ihn nicht zum drittenmal bezwingen?

Und wenn das geschah, dann kehrte er in alter Kraft und altem Selbstvertrauen zurück! Dann war eben das Wunder geschehen, das der Doktor selbst für möglich gehalten, und alles gut!

Freilich, die Zeit der Wunder ist vorbei. Aber blieb es aus – auch recht! Dann erlag er in ehrlichem Kampf mit dem Gewaltigsten, was es in Europa giebt, besiegt von dem Koloß, den er selbst zuvor gedemütigt. Dann ging er hin, wie er gelebt hatte, weit über allem Kleinen und Niedrigen, in männlichem Kampfe um das höchste Ziel.

Er atmete plötzlich leicht. Schwere Lasten lösten sich von seiner Seele. Es ward ihm feierlich zu Mut. Jawohl! In die Einsamkeit von Firn und Schnee wollte er sich flüchten, wie das wunde Wild sein Versteck sucht, und dort sein Gottesurteil bestehen.

Dort sollten seine grimmigen Freunde, die Eisriesen, entscheiden, ob seine Tage gezählt waren oder nicht. Und was sie ihm im Donner der Schneestürze und im Brüllen des Sturmwinds verkündeten, das war ihm willkommen, Leben oder Sterben. Nur nicht das Mittelding zwischen beiden, das Hindämmern in den Thälern!

Das litten die Eisgötter da oben nicht. Die ließen die Starken zu sich kommen und vertilgten rasch und schonungslos, was sich ihnen an Schwachen und Kranken nahte. Dort oben gab es nur die ruhige Unerbittlichkeit der Natur. In ihrer Hand, fern von allen Menschen, von ihrem Mitleid, das er nicht suchte, von ihrer Hilfe, die ihm nichts fruchten konnte, lag dann sein Schicksal.

Das weiße Märchenbild am Horizont wurde blasser und blasser. Wie ein schwindender Traum stand es noch in der Dämmerung, ein geisterhafter Schein, am Himmel, den das Auge mehr noch erriet, als wirklich sah. Dann löste sich auch dieser Schein fast in einem Augenblick in ein Nichts auf. Der Montblanc war in der Nacht versunken. Von allen Seiten schwamm sie heran. Es wurde kühl und grau.

Er drehte sich ruhig um und ging in das Hotel zurück. Aus dem großen Speisesaal tönte das Stimmengewirr und Tellerklappern der Table d’hote. Der Oberkellner wollte ihn hineingeleiten. Aber er wehrte ihm ab. Er habe einen wichtigen Brief auf seinem Zimmer zu schreiben.

Fast ohne eine Pause zu machen, warf er die Zeilen dahin.


 „Liebe Freundin!

Ich möchte Abschied nehmen. Nicht von Ihnen, sondern von den Bergen, den Abenteuern, kurz, meinem ganzen bisherigen Leben.

Dazu giebt es nur einen rechten Ort und er ist nicht weit. Auf dem Gipfel des Montblanc hat sich zum erstenmal mein Leben entschieden. Dort habe ich zum erstenmal, die Länder und Meere zu meinen Füßen, den freien Himmel über mir, die unbändige Sehnsucht, den Drang ins Weite empfunden, der mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Dort will ich nun auch die zweite Wandlung meines Daseins durchmachen und einen Abschiedsblick auf Europa werfen, ehe ich hinuntersteige.

Glauben Sie nicht, daß das mich treibt, was ich damals, als sich drüben in Marokko unsere Wege kreuzten, auf meinem einsamen Wüstenritt nach Tetuan suchte. Ich hab’ es Ihnen ja gesagt: Das ist vorbei! Ich weiß, wo Nicolai Rey und seine Tochter in Chamounix wohnen. Ich werde das Hotel nicht betreten, ich werde Angela nicht sehen, sondern sie fliehen, wie sie seither mich geflohen hat, ihr von ferne ausweichen und, so rasch es geht, hinaufziehen in das Eis. Ich kenne den Weg, seine Gletscherspalten und Gefahren, und nehme keine Führer mit. Sie würden mir die Stimmung dieses letzten Bergganges stören, von dem ich hoffentlich als der Mensch zurückkehre, als den Sie mich sehen wollen, heiter, leidlich gesund und mit sich und der Welt wieder so gut wie möglich ausgeglichen.

In wenigen Tagen bin ich wieder da. Bis dahin leben Sie wohl und auf Wiedersehen!“


Auf Wiedersehen! Er kam in Versuchung, das Couvert, das er eben versiegelte, wieder aufzubrechen und die Worte zu streichen. Es war, als ob ihm der Bergwind ins Ohr raunte: Du siehst sie nicht wieder, die da unten auf dich wartet, nie wieder, und es ist gut so. Sie wird dich beweinen und doch glücklicher sein als sie glaubt. Besser, den Toten beklagen als den Kranken pflegen!

Er warf den Kopf zurück. Er war nicht krank. Er wollte es nicht sein! Es gab ja Wunder! Mit festem Willen konnte man sie erzwingen. Und sein Wille war hart wie Eisen. Dem gehorchte der Körper wie eine fügsame Maschine, wohin er ihn auch führte. Er wollte ihn zur Genesung führen in der reinen Luft der Höhen.

Als er dem Kellner den Brief zur Besorgung gegeben hatte und wieder die Treppe hinabstieg, blieb er an dem Speisesaal einen Augenblick unschlüssig stehen. Er schwankte, ob er ihr nicht doch noch einmal die Hand drücken sollte.

Nein! Er ging weiter. Wenn er zurückkam, war Zeit genug zur Begrüßung. Und beklagen konnte sie sich nicht. Denn wer [816] anders als sie war es schließlich, die ihn da hinausschickte, sie, die in ihm nicht einen sich sorgsam pflegenden Kranken, sondern den unverzagten Mann von einst sehen wollte!

Gut. Sie sollte ihn haben. Oder nichts!


20.

Auf dem weißen Haupt des Bergkönigs lag noch, eine rotglühende Krone, das letzte Sonnenlicht, indessen Europa da unten mit seinen Thälern und Höhen, seinen Städten und Ländern längst in der Nacht verschwamm. Ueber den Abendwolken, die weißdampfend seine Gletscher umzogen, blinkte der schmale Eiskamm wie ein Feuerstreifen vom Himmel, und als sei der ewige Firn da oben in Brand geraten, wehten hochaufschlagend weiße Rauchwirbel von dem stundenweit hingestreckten Grat. Das war der Firnstaub, mit dem der Südsturm spielte. Mit eisigem Hauch fegte er die losen Krystallkörner aus ihrem kalten Bett, er ließ sie als einen im Widerschein der Sonne blutrot flimmernden Dunst über die gefrorenen, glatt spiegelnden Grate und Schneiden hintanzen und stäubte sie über die jähen Schneehalden hinab zu Thal.

Wo diese knisternden und wie Nadelstiche prickelnden Eisschleier im Abendleuchten hinwehten, da verwischten sie die Spuren der Zwerge, die am Morgen dem Gebieter der Hochwelt ihren Fuß auf den Nacken gesetzt, mit scharfer Waffe Fugen in sein Frostkleid gehauen und triumphierend ihre Stahlspitzen in den weißen, zertrampelten Firn seines höchsten Gipfels eingepflanzt hatten. Ein übler Knasterdunst ging vor den Eindringlingen her durch die reine Luft, ihr schweres, beklommenes Atmen störte die Stille der Einsamkeit, und mehr noch entweihte, wenn sie keuchend das Ziel erreicht, ihr lärmendes Gelächter, ihr aufgeregter Wortwechsel das heilige Schweigen der Höhen.

Ihrer gab es so viele. Sie kamen immer wieder und in immer stärkerer Zahl. Sie hatten die Angst vor den einst abergläubisch gefürchteten Bergungeheuern verloren, sie kannten auswendig deren grobe Tücken und Gefahren, wie der Stierkämpfer in der Arena die Künste seines ungeschlachten Gegners, und lachten nur noch mitleidig darüber, wenn sie hoch über den Wolken im ewigen Schnee spazieren gingen wie auf blumigen Matten.

Und fuhren sie endlich, sogar die Steilheit der Hänge für ihr Vergnügen ausnutzend, in sausender Fahrt auf den Pickel gestemmt wieder zu Thal, so blieben doch, da und dort in dem endlosen Firn verloren, ihre Zwingburgen zurück, winzige, häßliche Schutzhütten, die, wie Schmutzflecken aus der weißen Fläche wachsend, aller Wut der Elemente trotzten.

Und das höchste dieser Bollwerke stand höher als die Berge selbst, stand, sie alle überragend, auf der Spitze des Montblanc. Ein Sklavenmal, thronte, in seinem Firn verankert, das Observatorium Janssen auf seinem weißen Haupt, um das bis vor hundert Jahren nichts anderes gegangen war als Sturm und Sonnenschein, Flockentreiben und Wolkenflug der Jahrtausende. Jetzt mochte die Windsbraut lange da draußen heulen und rasend an der verschlossenen Thür rütteln, die Schneeschwaden mochten monatelang im Winterdämmern es mit grauen Armen umfangen und die Sonne darauf niederglühen – die düstere kleine Festung stand reglos in ihren eisigen Grundmauern, und innen arbeiteten lautlos, den meilenweit entfernten Zwergen im Thal da unten gehorsam, die Apparate, regten sich die Quecksilbersäulen und harrte umsonst die Nährbouillon in der dünnen, schon dem Nichts des Weltenraums sich nähernden Luft auf die Bacillen, die sie bevölkern sollten. Da war keine Hoffnung auf Befreiung mehr. In ratlosem Grimm wirbelte der Geistertanz der aufgewehten Eisschleier, rot durchschimmert vom scheidenden Tage, um den plumpen Kasten mit dem Aussichtsrondell darauf und dem kleinen vergletscherten Ställchen zur Seite. Die Eiskrystalle prallten schwächlich wie Hagelstaub davon ab.

Der Montblanc brüllte auf. Von seinen weißen Flanken rieselte es in dünnen Strähnen, wie ein stäubender Wasserfall, knatternd und krachend herab, und weithin hallte das Echo der Lawinen, deren Bahnen an diesem sonnenheißen Augusttag überall als schnurgerade abwärts führende und unten von losen Zchneehaufen abgeschlossene Rillen die jähen Berghänge durchzogen. Jetzt war ihre Zeit.

Rings in der Runde schüttelten die Riesen die Flocken aus ihrem Schneemantel: aus der Ferne, vom Thal aus gesehen, kleine, rasch versiegende Bächlein, für den, der sie aus nächster Nähe im letzten Augenblick seines Lebens schaut, eine ungefüg niederdonnernde, alles mit sich fortreißende weiße Sündflut.

Lärm überall in den Schründen und Klüften, den Schneekratern und Gletscherkesseln. Innen, in der vielgezackten Teufelswelt der Monts-Maudits polterte und dröhnte es unaufhörlich, ohne daß das Auge eine Bewegung an den starren Eisleibern erkennen konnte; es knisterte bösartig drüben in den Séracs du Géant; von dem fürchterlichen Kirchturm der Aiguille du Dru klirrten sonnenzernagte, abenteuerliche Eisklumpen herab und zerschellten in jähem Sturze zu Hunderten von elastisch weiterhüpfenden Blöcken, selbst der sanfte Nachbar des Montblanc, der mächtige Dome du Gouter ward rege und schleuderte – wie einen ärgerlichen Fluch, daß die Bescherung für die verhaßten kleinen schwarzen Insekten zu spät kam – aus seinem Ueberfluß eine Wand voll Schnee hinab auf das „kleine Plateau“ und die dort zerstreuten leeren Weinflaschen und Papierfetzen.

Die Berge atmeten schwer. In regelmäßigen Zwischenräumen stöhnte der Sturm dahin. Dann erhob sich der Firnstaub auf den Kämmen zu neuem Tanz und unten, in den eisigen Rissen und Schluchten entstand ein seltsames Lachen und Raunen. Es war, als erzählten sich die Eisriesen vor dem Schlafengehen noch allerhand Geschichten, unwahrscheinliche, ungeheuerliche Geschichten aus der Urzeit, da es noch keine Menschen gab – als wiegten sich die zum Himmel aufschießenden, weiblich schlanken Eisnadeln belustigt hin und her, während die breitgewölbten, massigen Dome zu ihren Füßen prusteten und sich im Lawinendonner vor Vergnügen schüttelten über das ungeschlachte Zeug, das da drüben die „Riesenschründe“ mit den „Verfluchten Bergen“ tuschelten und raunten.

Sonnenuntergang auf der Höhe des Montblanc! –

Ein einsamer Wanderer drängte sich, ohne rechts und links zu sehen, durch das bunte Gewühl, das jetzt um die siebente Abendstunde, wo von der letzten Eisenbahnstation her die Diligencen ankamen, die Gassen von Chamounix erfüllte. Er war in einem eigenen Fuhrwerk vorausgefahren. Allein zu sein, das war sein einziger Wunsch. Der trieb ihn so rasch wie möglich durch die Menschengruppen dem Ausgang des Dorfes zu, und vielleicht mehr noch die unbestimmte Befürchtung, doch irgendwo plötzlich das wohlbekannte Silberlachen zu hören und vor Angela zu stehen.

Aber es war nicht leicht, vorwärts zu kommen. Besonders vor dem Postgebäude stockte der Verkehr. Dort hielten die Diligencen, schwerfällige, mit fünf und sechs Pferden bespannte und bis auf den letzten Platz mit Passagieren und Koffern vollgepackte Kolosse. Aus ihnen quoll, von dem Geschrei der in langer Reihe aufgestellten Hoteldiener empfangen, ein wildes Durcheinander aller Stände und Sprachen. Vom Kutschbock, wo die Rosselenker in blauen Blusen saßen, kletterten deutsche Touristen mit dem grünen Rucksack auf dem Rücken und französische Thalwanderer in seltsamen, kurzen Kapuzenmäntelchen nieder, auf den gegen die Plattform oben gelehnten Leitern tasteten sich gichtbrüchige englische Reverends und behende Amerikanerinnen, den Bergstock in der Hand und das Schoßhündchen unter dem Arm, auf den Boden herab, und aus den engen, heißen Innenplätzen unten löste sich ein Knäuel von fetten, alten Damen, von Priestern, Kindern und Kammerzofen aus dem Chaos des dazwischen aufgeschichteten Handgepäcks los. Elegante Pariser, noch elegantere, nervös plaudernde Pariserinnen, junge Abbés zu ihrer Linken, die mit ihren glattlächelnden und weltklugen Gesichtern eher an liebenswürdige Schauspieler in schwarzen Weiberröcken erinnerten und nicht einen Blick für ihre derben Berufsgenossen, die dicht daneben mit Fuhrleuten und Arbeitern Gruß und Handschlag austauschenden savoyardischen Dorfpfarrer, übrig hatten: Engländer in Menge, mit weiten Kniehosen und modischen Jacketts darüber als einem Kompromiß zwischen Klubhütte und Salon, lärmende Italiener, Holländer und Russen, Schweden und Ungarn, Yankees und citronenfarbene, [818] schmächtige Südamerikaner, alles durcheinander. Durch das Gewirr der angeschirrten Pferde, der Lohnfuhrwerke und der Maultiere, auf denen die Bauernburschen und Mädchen der Umgegend mit leeren Körben am Arm und geschwungener Gerte einhertrabten, der mit flatternder grüner Schürze dahinradelnden Hausknechte trippelte ängstlich, in buntseidene Jacke und ebensolche Hosen gekleidet, auf hohen Holzsandalen eine javanische Dienerin, einen kleinen, dreijährigen Blondkopf an der Hand. Ein paar Lakaien, das Gefolge irgend einer inkognito eingetroffenen Fürstlichkeit, schauten ihr blasiert nach; ein befrackter, bloßhäuptiger Elegant, der Wiener Oberkellner eines Grandhotels, verhandelte mit der bebrillten kleinen Direktrice der gegenüberliegenden Photographienhandlung; in offenen Läden arbeiteten Schuster und Schneider emsig an den meist drängenden Reparaturen, und aus der Ferne klangen die Hammerschläge, mit denen der Schmied beim Feuerschein der Esse den Pferden neue Eisen auflegte und die wackelig gewordenen Räder für die Strapazen des nächsten Tages ausbesserte.

Wie braune Felsblöcke im Strom standen überall in dem Gewühl die wenig beweglichen Gruppen der Bergführer. Es mochten ihrer hundert oder mehr sein, die auf dem Platz zwischen der Poststation und der Kirche vor dem Bureau des Guides sich scharten.

Doch waren es meist nur die Kleineren ihrer Gilde. Die großen Gletschermänner, die eigentlichen Montblancführer, deren Namen alle Reisehandbücher nennen, hielten sich, soweit sie nicht „draußen“ waren, eher in ihren Häusern und Kantinen auf. Sie wußten, daß der Hochtourist diejenigen von ihnen, die er sich aus der ihm wohlbekannten Schar gewählt hatte, schon rufen lassen würde.

Augenblicklich herrschte in den Gruppen dieser blasiert dastehenden, unansehnlich gekleideten Gestalten etwas mehr Leben als sonst. Eine Montblancexpedition kehrte zurück. Aus den Dachluken des Hotels vor ihnen knallten die Schüsse der Hausknechte, und eine Menge Gäste – Engländer und Amerikaner – stand erwartungsvoll im Eingang, um den jungen Burschen zu begrüßen, der, die Stummelpfeife im Mund, die Eisaxt geschultert, zwischen zwei verwetterten alten Führern über die Arvebrücke daherkam. Er schien gar nicht ermüdet und lächelte kindlich vergnügt, als oben in den Dachluken die Pulverwölkchen sich kräuselten und unten ihn ein Trupp befreundeter Herren und Damen aus Boston mit einem begeisterten „Hep, hep, Hurra!“ empfing.

Der ganze Schwarm der Neugierigen zog mit ihm bis vor die Pforte des Hotels. Auf der Gasse wurde es licht. Sie lag frei vor dem einsamen, sonnengebräunten Wanderer, und er verdoppelte seine Schritte, um bald das Freie zu erreichen.

Gottlob – nun hatte er Chamounix hinter sich und stand allein.

Vor ihm lag im Abenddämmern das grüne Wiesenthal, mit steinbeschwerten Hütten übersät und eingerahmt von düsteren, blauschwarzen Tannenhängen, durch die sich in blendendem Weiß die Gletscherströme niederwälzten. Oben, über der Grenze des Waldwuchses flossen sie ineinander und bildeten ungeheuere Eismeere, die dann wieder, wo noch weiter hinauf das Reich des ewigen Schnees begann, in blendende Firnfelder übergingen. Die weißen Schneedächer wölbten sich, eines das andere überhöhend, unermeßlich zum Himmel empor und begrenzten, beinahe senkrecht über den schwindelnden Augen unten, dessen unergründliches Blau mit ihren stäubenden Kämmen. Dort oben war die Spitze des Montblanc. Es kostete Mühe, sie herauszufinden – schien doch der Dome du Gouter in der Verkürzung ebenso hoch – aber es war auch nicht die einzelne kleine, über den Abendwolken verlorene Schneekuppe, die so gewaltig wirkte, sondern der ganze Anblick dieser blendendweißen, sonnenüberglühten, sich stumm über die Erde aufreckenden Riesenwelt, vor der alles im Thal zusammenschrumpfte und nichtig erschien.

Sonnenuntergang auf dem Gipfel des Montblanc! Er kannte das Schauspiel wohl. Es lebte vor seinem innern Auge, als stände er selbst oben auf jener Höhe.

Unten in einem Dämmern von Nacht, Nebel und Wolken ging Europa zur Ruhe. Aber die Berge waren noch wach. Sie standen noch im Licht. In siebenfach flammender Gipfelpracht wölbte sich da oben, frei vor dem Montblanc hingelagert, der herrlichste aller Höhenzüge, die Monterosagruppe. Mit ihrer goldglänzenden Dufourspitze überragte sie die ganze Schweiz.

Das Matterhorn, der böse Feind, hockte ganz verkümmert und zerknirscht links daneben. Wohl stand auch sein trotzig zurückgekrümmter Gipfel noch in lichten Abendflammen, aber seine Gestalt war von hier betrachtet unschön, ganz anders, als wenn man umgekehrt von der Spitze des Monterosa aus die Felspyramide gerade vor dem Montblanc stehen sieht. Jetzt trug sie deutlich einen Höcker und war in sich zusammengesunken, ein buckliger Teufel, der aus der Ferne wenigstens keinen mehr schreckt.

Auch das Berner Oberland schien klein gegen die Monterosapracht. Seine Giganten standen zu dicht beisammen. Rotüberstrahlt drängten sich Jungfrau, Mönch und Eiger Hand in Hand, und an sie wieder preßte sich die zackige Riesenwand der Ebenfluh, das gigantische Dreieck des Breithorns und die Tschingelkette, wie gegenüber, Mann neben Mann zur Mauer gereiht, die Aar- und Schreckhörner mit funkelnden Eiskronen standen und über ihre Schulter weg aus der Wetterhorngruppe die Rivalin der Berner Königin, die schöne Hasli-Jungfrau, im Abendgold blitzte.

Hier im Norden und Osten sank rasch die Nacht auch über die Hochgipfel. Von den Eistürmen des Engadins war nichts mehr zu sehen, der Tödi versunken, vom Schwarzwald her lag es finster auf Deutschland und der Schweiz. Aber nach der anderen Seite hin wollte das Licht noch nicht weichen. In Italien war es noch hell. Ein düster ragender violetter Riesenklotz, bewachte da der Monteviso sein Reich. Grivola und Paradies standen vor dem Gewimmel der italienischen Seealpen, hinter denen in unsichtbaren Fernen das Mittelländische Meer rauschte, und blickte der Montblanc dorthin, in sein Heimatland nach Frankreich hinüber, so schimmerten da noch deutlich unter ihm die zerrissenen Schneeflächen, die zackigen Felsengipfel und wilden Schluchten der Dauphiné.

Tiefer und tiefer sank zwischen ihnen der rote Sonnenball, und in dieser Spanne weniger Minuten, in denen das Licht zur Nacht sich wandelt, ging plötzlich eine wundersame Bewegung durch die Firnwelt. Es schien, als seien auf einmal die weiten Schneefelder von innen belebt. Sie leuchteten in warmen, fleischfarbenen Tönen, und ihre über Mulden und Kesseln lagernden Schatten gewannen einen hellen, grünlichen Ton, gleich dem Widerschein des Abendhimmels, an dem das verschwimmende, von Rosenwölkchen durchsetzte Blaßblau in durchsichtigen, seegrünen Schimmer überging.

Nur eine kurze Frist – dann war auch für die Spitze des Montblanc der Sonnenball geschwunden, und fast im selben Augenblick kleideten sich Schnee und Eis umher bei sofort unheimlich steigender Kälte in ein stumpfes, totes Weiß. Aber der Beschauer unten im Thale wußte es wohl: die Nacht war noch nicht da. An Stelle der kleinen roten Scheibe, vor der jetzt schwarz, wie zackig mit der Schere ausgeschnittene Riesenkonturen die Berge standen, lief rechts und links ein breites, rotes Feuerband über den Horizont. Es dehnte sich mehr und mehr aus, es spannte sich nach Frankreich und Italien und bildete einen flammenden Hintergrund, von dem die Schattenrisse der Berge sich gigantisch in unwahrscheinlichen, bei Tage nie geschauten Gespenstergestalten abzeichneten.

Im Halbkreis um den Montblanc lohte Europa. Ein Weltbrand, eine jener Farbenorgien, in denen sich, unbekümmert um Menschenaugen, die schweigende Natur berauscht, wenn sie in der Polarnacht die regenbogenbunt zitternden Bänder des Nordlichts über den Himmel wirft, wenn sie das tiefblaue, von weißen Schaumspritzern gekrönte Eismeer in den blutigen Dunst der Mitternachtsonne kleidet oder dem Monarchen der Montblanckette einmal noch seine Lande im Feuerschein zeigt, ehe die Nacht ihre grämlichen Hüllen darüber wirft.

Denn nun kam die Nacht wirklich. Das Flammenband am Horizont ward blasser und blasser, ein kränklicher, violetter Hauch legte sich darüber hin und ging rasch in volles Schwarz über. Die Dunkelheit war da, die Dunkelheit der Hochwelt, in der nur noch das letzte ersterbende Schneegeriesel und, wenn auch das zu Ende, zuweilen ein langgezogenes Sturmgestöhne [819] das Todesschweigen unterbricht, indessen am Himmel, strahlend und glitzernd, wie man es nie in den Thälern schaut, die stumme Sternenpracht sich wölbt.

Aber nicht lange dauerte die Dunkelheit. Hinter der Aiguille du Moine stieg ein bläulicher, unbestimmt nach allen Seiten sich verteilender Schein rasch empor. Er wurde stärker und stärker, und plötzlich schwamm, grell leuchtend und gewaltig wie die Sonnenscheibe, scharf von dem fern dahinter liegenden Sterngewimmel abgegrenzt und scheinbar in unheimlicher Größe dicht über der Erde schwebend, der Vollmond am Himmel.

Es wurde beinahe taghell ringsumher. Weithin traten silberübergossen die Montblancspitzen aus der Nacht, die Schneefelder schimmerten in bläulichem, von schwarzen Schattenflecken durchbrochenem Glanz, und auf den zerklüftet und zerrissen in die Nacht der Tannenwälder und Thäler hinabrollenden Gletschern spiegelte sich wie auf den Schuppen eines Fisches das silberne Licht.

Der Mond stand still am Himmel. Die Berge schliefen. Ringsum war Ruhe. Nur ihr schweres Atmen ging zuweilen als ein Sturmhauch durch die Oede. Dann stöhnte es unten in den Schründen und oben auf den Kämmen wehten, vom Himmel her bläulich durchleuchtet, die aufgefegten Eisschleier schweigend im Geistertanz dahin …

*      *      *

Er blickte noch einmal zu den Höhen empor. Dann ging er still im Dunkel nach dem Städtchen zurück. Der heutige Nachmittag war ihm mit der Vorbereitung der Tour, der Beschaffung all der Kleinigkeiten verstrichen, die seine Erfahrung als unentbehrlich für die Montblancbesteigung kannte. Morgen aber, mit dem frühesten, wollte er hinauf bis zum Nachtquartier der Grands-Mulets.

Der Abend war klar und heiter, in seinem frisch von den Höhen niederwehenden Hauch schönes Wetter versprechend. Und klar und froh war es auch in seinem Innern. Der Anblick der Größe hatte ihn befreit. Er war ruhig, wie schon lange nicht mehr, erfrischt und geläutert wie nach einem Bad in kaltem Bergquell.

Die Straße war jetzt, zur Zeit der großen Fütterung in allen Hotels, wenig belebt. Nur die Führer standen noch da und dort beisammen, und manche von ihnen griffen, den Alpenforscher erkennend, an ihre Schlapphüte. Er machte Halt und reichte einem von ihnen, dessen Greisenantlitz fast in einem weißen Urwald von Bart verschwand, die Rechte.

„Wie geht’s, Vater Baptiste?“ frug er freundlich auf französisch seinen einstigen Bergbegleiter. „Was macht der Montblanc?“

Der Patriarch lächelte schmerzlich. „Ach, Monsieur! Ich habe dem Montblanc Adieu sagen müssen. Vor drei Jahren. Es geht nicht mehr mit der dünnen Luft. Nun führe ich nur noch Reisegesellschaften über den Glacier des Bossons, allenfalls auf den Jardin.“

„Das ist freilich traurig. Ein Führer wie Sie, Baptiste!“

„Ja, Monsieur! Und was könnte ich diesen Sommer verdienen! Er ist so gut wie selten einer. Sehr viel Fremde. Man macht nicht nur den Montblanc, sondern auch die seltenen Spitzen. Sehen Monsieur nur da!“ Und er wies hinaus auf den Nachthimmel, an dem in halber Höhe ein winziges, rotes Feuerpünktchen schimmerte.

„Ein Biwak?“

„Ja, Monsieur! Zwei Herren, die mit vier Führern und vielen Trägern die Aiguille du Diable machen wollen! Ein vornehmer deutscher Herr und ein Herr aus Amerika oder Afrika … ich weiß nicht recht!“

„Vielleicht ein ganz großer Mann, mit langem, rotem Schnurrbart, und ein ganz kleiner, glatter?“

„Richtig Monsieur! Monsieur ist wohl mit ihnen befreundet?“

„Ja. Ziemlich!“ Er stockte. „Sagen Sie … ist niemand anders mit den Herrschaften?“

„Doch. Ein alter Herr mit seiner Tochter!“

„Sind sie unten?“

„Ja, Monsieur! Sie wohnen in dem Hotel hier drüben – gleich neben dem Führerbureau. Der alte Herr ist nicht gut zu Fuß.“

Also war sie hier, in seiner Nähe! Jeder Schritt aufwärts entfernte ihn von ihr und führte ihn zur vollen Freiheit. Und da sie jedenfalls nicht ohne ihre beiden Freunde eine Montblanctour unternahm, so war er vollkommen sicher, ihr morgen nicht auf seinem Wege zu begegnen.

„Adieu, Baptiste!“ sagte er. „Morgen geht’s auf die ‚Calotte‘!“

Der Alte sah ihn neidisch an. „Welche Führer nimmt Monsieur denn mit?“

„Keine!“

„Das ist aber sehr gefährlich, Monsieur!“

„Ach ja, Vater Baptiste!“ Der Afrikaner wandte sich zum Gehen. „Das ganze Leben ist gefährlich. Schließlich stirbt jeder daran.“

Er drückte dem Alten, der ihn kopfschüttelnd ansah, die Hand und schlenderte die Gasse weiter.

Da war die Straßenecke mit dem von vereinzelten Hochtouristen, Führern und Trägern umstandenen „Bureau des Guides“ und dicht daneben das Hotel.

Er blieb stehen. Ein plötzliches, unbezwingliches Verlangen kam über ihn, die paar dutzend Schritte bis zu dem Portal zurückzulegen und in den hellerleuchteten Speisesaal einzutreten.

Da saßen jetzt wohl noch die Gäste in langen Reihen an der Table d’hote und nebenan, an einem gesonderten Tisch, wie es ihr Brauch, Angela und ihr Vater. Auf weithin schon mußte er die charakteristischen Köpfe erkennen – des Petroleumkönigs knabenhaftes, gefurchtes Antlitz unter der strohblonden Perücke und daneben das schmale, lockenumrahmte Gesicht, das er seit Jahren nicht mehr gesehen. Denn ihre Begegnung neulich in Tetuan hatte sich ja im Dunkeln abgespielt.

Er brauchte bloß durch den Speisesaal zu schreiten und sich an dem gastlichen Tische niederzulassen! Wenn die Weltwanderer wirklich da waren, wenn nicht wieder wie jüngst in Gibraltar die Enttäuschung an der einsamen Tafel mit Nicolai Rey zu Gaste saß, so würden sie ihn jedenfalls freudig empfangen! Er war wieder unter seinesgleichen, statt unter den Philistern von Genf, und er konnte von ihr Abschied nehmen …

Denn ein Abschied war es ja doch, so oder so – ob er nun da oben leben blieb oder starb! Sie verließ er in jedem Fall auf Nimmerwiedersehen. Da that ein Händedruck beim Scheiden wohl.

Vielleicht erwartete sie ihn schon! Jedenfalls erfuhr sie in Bälde seine Ankunft. Denn so unbeachtet auch der große Fremdenstrom Tag um Tag durch Chamounix rinnt, das Eintreffen einer Persönlichkeit von Bedeutung, eines inkognito reisenden gekrönten Hauptes, eines Staatsmannes oder bekannten Alpinisten wird sofort bemerkt, in den Hotels besprochen und in der wöchentlich erscheinenden „Revue du Montblanc“ angezeigt. Und er war weiß Gott in diesem Thale ein berühmter Mann! Sein Name hatte hier einen guten Klang, seit er vor vielen Jahren die tollkühnen Besteigungen einiger als unbezwinglich geltenden „Aiguilles“, der spitzen, wie vergletscherte Kirchtürme in die Luft starrenden Felsnadeln, ausgeführt.

Er stand immer noch an der Ecke, ohne einen Schritt gegen das Hotel zu thun.

Sein Gesicht wurde finster. „Nein,“ sagte er plötzlich ganz laut und mit fester Stimme und ging geradeaus weiter, das lockende Portal im Rücken lassend.

Nein! Sie sollte ihn nicht wiedersehen. Hatte sie ihn in seiner Kraft und Stärke nicht lieben können, ihr Mitleid mit dem Kranken begehrte er nicht. Es war vorbei und überwunden. „Nein!“ wiederholte er noch einmal und schritt rascher in das Dunkel hinein.

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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 27, S. 837–847
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21.

Der Lichtpunkt, der hoch von oben aus dem nächtigen Grauen der Schneefelder in das Thal hinableuchtete, war, in der Nähe gesehen, ein kleiner, knisternder und lodernder Scheiterhaufen unter einer überhängenden und auf der einen Seite wie ein Windmantel schirmend vorspringenden Felswand. Die vermummten Gestalten, die um die Feuerstätte kauerten, schauderten trotzdem alle Augenblicke vor Frost auf, wenn ein neugierig um die Ecke fahrender Windstoß mit seinem Eishauch die Flammenzungen platt zu Boden drückte und die Rauchfunken weit über den Gletscher hinstieben ließ. Sobald die Flamme sich wieder aufrichtete, warf sie einen halbkreisförmigen Glutschein hinaus in die Nacht. Sie übergoß mit ihrem Zitterlicht die fröstelnden Männer, denen der Reif in den Bärten hing und der Atem wie eine Wolke von den Lippen dampfte – daneben die mannigfache Ausrüstung einer verwegenen Hochtour, eine kleine Klappenleiter, Schlafsäcke, Steigeisen, Laternen, Proviant und Seile in Menge, Wein in großen flachen, auf dem Rücken festzuschnallenden Blechscheiben, alles im Durcheinander des Biwaks – darüber die hellbestrahlte Felswand, an der sich die Umrisse der Firnwanderer in riesigen Schatten abzeichneten, und im Umkreis endlich, soweit der Brandschein reichte, die Spukgestalten der Gletscherwildnis.

Wie Vorposten des Todes standen reglos, weißleuchtend die abenteuerlichen Eiskegel da, einer den andern überhöhend, bis ihr Gewimmel sich in der Nacht verlor, und glotzten in stummem Grimm auf die Eindringlinge herüber. Ihr erstarrender, aus unerforschten Schlünden atmender Frosthauch wehte um das lustige kleine Feuer, und wie ein warnendes Knurren lief zuweilen eine Luftwelle zwischen ihren Schründen hin.

Eine Weile war dann wieder alles still. Nichts als die Takte des Yankee-Doodle, die Franklin Moore leise vor sich hinpfiff, das gedankenvolle Räuspern eines Führers oder Trägers, das Summen des Schneewassers in dem über der Glut hängenden Kessel. [838] Dann plötzlich ein wüster Lärm da draußen in der Nacht, ein Krachen und Klirren, ein langhingezogenes Rollen, ein paar kurze, knallende Töne wie Flintenschüsse hinterher …

Die Führer schauten sich ernst an und nickten, überzeugt, daß sie alle das Gleiche dachten, stumm mit den Köpfen. Der kleine Amerikaner zog die Uhr heraus und gähnte. „I say!“ sprach er zu dem hünenhaften Gesellen, der, den Rücken an die Felswand gepreßt, neben ihm saß und seine langen Beine bis beinahe in das Feuer geschoben hatte. „Die Lawine ist durch unser Couloir gegangen!“

„Durch das wir hinauf müssen?“

„Ich denke so! Es war Eis und Stein durcheinander.“

„Ja.“

Sie schwiegen wieder. Der Kraftmensch gähnte hinter der hohlen Riesenhand und Franklin hüllte fröstelnd seinen mageren Leib, die Miniaturausgabe eines Athleten, fester in den Mantel.

Wieder polterte es oben dräuend in der Nacht.

„Wenn uns so was morgen faßt …“ Franklin Moore war nachdenklich geworden und holte sich aus der Innentasche seines Rockes ein Portefeuille heraus.

„Still, Franklin!“ sagte der blonde Hüne phlegmatisch. „Was wissen Sie davon? In den Bergen sind Sie ein Kind!“

Franklin Moore hatte stirnrunzelnd und den Bleistift mit den Lippen feuchtend in seinem Notizbuch zu rechnen begonnen. „Hoho!“ sprach er in Gedanken. „Ist die Traversierung des Matterhorns nichts? Ist der Monterosa nichts? Oder Jungfrau und Mönch an einem Tag und …“

„Gott ja!“ Der andere streckte gähnend die Beine. „Sie machen die Sachen ja! … Aber als ein Dilettant! Als ein Mensch, der in Europa ’rumbummelt, weil in Transvaal eben nicht viel los ist und drüben in den Staaten Ihr geschätzter Vater alles selber besorgt. Sie machen eben die ,europäischen Einrichtungen‘, wie Sie das nennen, geduldig mit. Kommen Sie nach Bayreuth, so gehen Sie in die ‚Götterdämmerung‘, kommen Sie nach Zermatt, so gehen Sie aufs Matterhorn, weil das so Mode ist. Sie nehmen alles mit. Wenn es an irgend einem Platze, wo Sie hinkommen, Brauch wäre, sich köpfen zu lassen, Sie thäten vielleicht auch das!“

„Das könnte Ihnen wohl passen!“ meinte der Yankee und zwinkerte mit den Augen.

„Ja,“ sagte der Riese schlicht und sein Gefährte wandte sich wieder dem Notizbuch zu.

„So!“ sprach er befriedigt und klappte es zusammen. „Nun ist mein Conto in Ordnung und mein Vater kann über meinen Anteil in Transvaal disponieren, wenn uns morgen der Teufel holt. Hier in Nacht und Eis, wo uns wirklich nur noch Frithjof Nansen als dritter zum Skat fehlt.“

„Arbeiten Sie denn mit Ihrem Vater zusammen?“

„Oh no, Sir! Der würde mich schön übers Ohr hauen, wie alle seine Compagnons! Ob Sie mir’s glauben oder nicht – aber er ist ein ganz aufgeweckter alter Herr!“

„Wenn ich Sie anseh’, glaub’ ich’s!“ gähnte der Riese. „Ich wollte, es wäre morgen früh und wir wären auf dem Gipfel!“

„Wenn wir überhaupt hinaufkommen!“

„Um acht Uhr dreißig sind wir oben, um acht Uhr vierzig beginnen wir den Abstieg, um halb Elf sind wir in der Hütte Pierre-Pointue, treffen Angela …“

„Hoffentlich!“

„Sicher ist sie bis dahin schon hinaufgeritten. Dort rasten wir bis gegen Abend, bummeln dann im Mondschein die paar Stunden den Gletscher hinauf bis zu den Grands Mulets, wo unsere Wettgegner vom Londoner Alpine Club jedenfalls schon alle sitzen, legen uns ein bißchen aufs Ohr, brechen um Mitternacht auf . .“

„ . . und sind neun Uhr einundzwanzig Minuten dreiachtel Sekunden auf dem Gipfel des Montblanc!“ ergänzte der Kleine mit mephistophelischem Lächeln.

„Etwas später.“ Der Genosse furchte die Stirne. „Weil wir Angela zwischen uns am Seil haben. Das hält auf. Aber es bringt, wie ich neulich schon in Afrika sagte, etwas Aesthetisches in das Ganze … Es ist eine feine Lektion für die Londoner, daß wir auch noch ’ne Dame mitnehmen!“

„Sagen Sie mal!“ Der Yankee blickte sinnend vor sich hin. „Wollen Sie Angela immer noch heiraten?“

„Sie auch?“

„Ja.“

Sie schwiegen beide und starrten in die Flammen.

„Huhu!“ Der kleine Athlet zuckte die Achseln. „Es wird kalt, sehr kalt! Wenn uns nur die Träger nicht unsern Wein wegtrinken!“

„Dann werfe ich die Teufel in die nächste Gletscherspalte,“ brummte der finstere Hüne. „Ich glaube, hier oben darf man das! Und nun wollen wir in die Nester kriechen!“

*               *
*

Einige Stunden waren verstrichen, da wurde es den langen Gliedern des Prinzen ganz unerträglich in dem engen Schlafsack. Von unten drückte das Steinwerk durch Pelz und Stroh blaue Flecke in die Haut, von oben lastete die Wucht der Hülle, die Luft innen war heiß und verdorben, man fror und schwitzte beinahe zu gleicher Zeit in dem stockdunklen Gefängnis, in das von außen nur das Schnarchen der Führer und ferne zuweilen der scharfe Knall, das sprungweise Rumpeln und ersterbende Rollen des Steinschlags tönte.

„Gerade als ob man schon im Grabe läge!“ brummte der Insasse und horchte erstaunt auf. Er hörte dicht über sich taktmäßiges Händeklatschen, seltsame Sprünge und einen englischen Fluch. Dann stieß ein Nagelschuh gegen seine Rippen und zog sich sofort wieder zurück.

„Pardon!“ rief von oben eine frostzitternde Stimme.

„Passen Sie doch auf!“ knurrte der andere und kroch hinaus. Eine Art Schrecken erfaßte ihn. Es war da draußen so dunkel wie im Schlafsack. Nicht die Hand vor Augen zu sehen. Kein Stern am Himmel. Ringsum undurchdringliche schweigende Nacht.

„Was ist denn los?“ frug er verblüfft.

„Der Mond hat das Spiel satt!“ hörte er neben sich Franklin Moores Stimme. „Er läßt schön grüßen und ist nach Hause gegangen!“

„Und das Feuer?“

„Hat ein Windstoß ausgelöscht.“

„Zum Henker, warum zünden’s denn die Führer nicht wieder an?“

„Es geht nicht. Es ist zu feucht geworden. Alles ringsum ist wie aus dem Wasser gezogen. Ich schätze, wir stecken mitten im Nebel …“

„Das wäre …“ Der andere unterdrückte einen Fluch und fuhr, die Handschuhe abstreifend, in die Tasche. „Ich werd’ mal ein Magnesiumlicht anzünden!“

Das Licht flammte in grünem Sonnenglanz auf, aber schon auf wenige Schritte verlor sich sein Schein in der grauen, zäh wie Dampf dünstenden Luft. Kaum daß man die aufrechtstehenden, vermummten Gestalten der Führer zwischen dem Wirrwarr des Biwaks erkennen konnte und dahinter die düster glotzenden Eisfratzen der Wildnis, die stumm und böse wie ein weißes Gespensterheer im Umkreis Wache hielten.

Den rasch in der Kälte erstarrenden Fingern entfiel die Flamme. Eine Weile glomm sie noch am Boden und warf die abenteuerlich verzerrten Schatten der Männer auf das grünlich widerspiegelnde Eis. Dann verlosch sie. Wieder war die Nacht da, pechschwarz, dick, wie mit Fingern zu greifen. Und mit der Nacht umhüllte der Frost die schaudernden, sich in die Hände schlagenden und von einem Fuß auf den andern tretenden Männer.

Franklin Moore machte in dem Dunkel ein paar elastische Schlußsprünge auf der Stelle. „Ich hab’ es mir vorhin ausgerechnet!“ sprach er dann wehmütig. „Ich habe genug Geld, um mir fünftausend schöne warme Bettstellen mit allem Zubehör zu kaufen. Statt dessen hüpfe ich wie ein Narr um Mitternacht in diesem Eiskeller herum. Der Teufel hole die europäischen Einrichtungen!“

„Ich hab’ ein Schloß!“ sagte der andere mißmutig. „In dem stehen dreißig Gastbetten! Warum lieg’ ich Esel nicht in einem davon, statt hier zu tanzen und zu springen?“

*               *
*

[839] Das Morgengrauen war da, eiskalt und trübe im Brauen des Nebels, der alles umflutete. Grämlich standen in seinem Geriesel die nächsten Gletscherzacken. Weiterhin war nichts mehr zu sehen als der weiße Rauch. Kein Lüftchen regte sich. Tiefe Stille lag über dem ganzen Firnkessel, während die Luft sich mehr und mehr erhellte.

Die Führer hatten über einer Spiritusflamme aus Schneewasser einen dünnen heißen Kaffee bereitet und sich mit Brot und Speck gestärkt. Jetzt warteten sie schweigend, was ihre Herren beschließen würden.

„Vorwärts!“ sagte der Prinz ziemlich apathisch, und die vier Führer kauerten, ohne weiteren Wortwechsel, am Boden nieder und packten die Seile, Steigeisen, Laternen, Wein und Fleisch und den übrigen Gletscherbedarf zusammen. Was sonst da noch in Unordnung auf der Felsplatte herumlag, sollten die durch die Höhennacht völlig verblödeten und verängstigten Träger wieder mit sich nach Chamounix zurücknehmen.

Der Abschied war nicht gerade herzlich. Die verdrossene Beklommenheit, die eine gefährliche Hochtour einleitet, lastete auf der kleinen Schar. Man trennte sich mit kurzem Kopfnicken der Herren und stummem Hütelüften der Leute.

Ein kurzer Marsch, eintönig in dem Schlürfen der Bergschuhe, dem taktmäßigen Aufstoßen der Pickel, ab und zu dem Kollern eines losgelösten Steins – dann standen sie vor dem Aufstieg in die Eisrinne, einer halbkreisförmigen, von hohen Wänden umschlossenen Mulde. Ihr ganzer Boden bestand aus einem losen, jetzt an der Oberfläche erstarrten Schneehaufen, der sich zu dem Couloir hin wölbte. Vereinzelte Steine lagen auf ihm und zahlreicher noch steckten festgefrorene Eisblöcke und -klumpen jeder Größe in der körnigen, weißen Hügelmasse.

„Das alles kommt nun in ein paar Stunden von da oben runter!“ Der Yankee wandte sich zu seinem Gefährten zurück. „Nette Gegend! Hier möcht’ ich mal ein Nachmittagsschläfchen in der Sonne halten! Sehen Sie nur diesen riesigen Eiswürfel vor uns am Eingang ins Couloir! Ein Vorposten von dem Gletscher hoch oben! Das Biest kauert wie ein Eisbär im Nebel!“

Der Hüne schob sich an ihm vorbei, übellaunig und mit gelbem Gesicht. „Lassen Sie uns vorbei!“ sprach er heiser. „Mein Berner Führer und ich gehen voraus und hauen die Stufen!“

Der junge schmächtige Berner Oberländer schlug mit unheimlicher Behendigkeit Stufen in das glasharte Eis. Fünfzig, sechzig mit voller Wucht geführte Schläge waren nötig, um nur einen schmalen Tritt herzustellen. Aber seine Arme, dünn und zäh wie Eisendraht, schienen die Mühe gar nicht zu empfinden. Sie hoben und senkten sich ohne Pause und stetig, schrittweise rückten hinter ihm die andern auf. Es ging verhältnismäßig rasch vorwärts. Schon sahen sie den großen Schneehaufen am Ende der Rinne nicht mehr, sondern nur noch Nebel unter sich und neben sich die zerklüftete Felswand, in deren Spalten sich die schräggehaltenen Aexte feststemmten, während die Füße unbeweglich in den Stufen standen. Dann ein leichter Ruck am Seil, ein vorsichtiger Schritt in die nächsthöhere Kerbe und wieder ein langer Halt, in den von oben das Klirren und Splittern der Eisarbeit tönte.

Da plötzlich pfiff einer leise durch die Zähne. Nun wurde es Ernst! Die bisher mäßig abfallende Eisrinne, in der sie emporklommen, bäumte sich jetzt auf einmal jäh vor ihnen auf und stürzte in fürchterlicher Steilheit, beinahe senkrecht, von oben aus dem Nebel herab. Daß der Nebel jeden Ausblick hinderte, daß man nicht erkennen konnte, wie lange diese bösartige Stelle dauerte, erhöhte das Unheimliche des Eindrucks. „Wer da den Halt verliert, dem gnade Gott!“ Ein jeder schämte sich, das vor den anderen auszusprechen, und fühlte es doch in seinem Herzen.

Sie standen beinahe übereinander in den Fugen des Berges, wie eine schwarze Riesenraupe, die, sich ruckweise zusammenziehend und streckend, an einer Wand in die Höhe kriecht. Keiner redete ein Wort. Sie atmeten schwer, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, als Männer, die sich vor ihresgleichen zu beherrschen wissen.

Einmal mußte ja doch diese entsetzliche Leiter, auf der sie in die Nebelwelt hinaufstiegen, wieder in eine sanftere Krümmung übergehen. Aber es hatte nicht den Anschein. Im Gegenteil, je höher sie kamen, desto jäher schien der Abfall der Rinne. Und zugleich schoben sich die Felsen von beiden Seiten heran, so daß der Eisriß schließlich kaum mehr als drei oder vier Fuß breit war, in dem sie, frei in der Luft auf den Stufen fußend, zwischen den senkrecht abfallenden Wänden staken.

„Halloh, Prinz!“ tönte es von unten.

Der Prinz drehte den Kopf nicht rückwärts. Er hätte den kleinen Amerikaner tief unter sich ja doch nicht gesehen. „Was ist denn los?“ frug er stumpfsinnig vor sich hin.

„Es ist halb Sieben! In einer Stunde fallen die ersten Steine! Wir müssen vorwärts um jeden Preis!“

„Eilen Sie sich, Josef!“ sagte der Prinz zu dem hageren jungen Stufenschläger. „Sonst fängt uns die Eislawine.“

Der Berner drehte sich um. Sein sommersprossiges Gesicht schimmerte feucht von der Anstrengung. Es hatte seinen gewohnten nichtssagenden Ausdruck. „Schneller geht’s nicht!“ sprach er kurz. „Das Eis ist hart!“

„Na, dann wird uns wohl der Teufel holen!“

Der schmächtige Geselle lachte beinahe mitleidig. Er schien sich in dieser beklommenen Lage hier oben so wohl zu fühlen wie zwischen seinen vier Wänden. „Da wär’ ich der Rechte!“ sagte er. „Bin ich der Josef oder nicht? In dreiviertel Stunden sind wir draußen!“

„Wahrhaftig?“

„Ich hab’s doch gestern geschätzt. Vierhundert Stufen sind’s. Dreihundert hab’ ich jetzt geschlagen!“

Noch war es totenstill in den Kaminen und Schründen. Die tückischen Kobolde der Hochwelt, die Steine und Eisbrocken, schliefen noch, als Spätaufsteher, die erst, wenn die Sonne schon hoch im Osten emporgestiegen ist, sich zu den todbringenden Sprüngen ins Thal rüsten. Die Steilheit des allmählich wieder breiter werdenden und an einzelnen Stellen von Felszacken durchbrochenen Couloirs blieb sich freilich immer gleich. Aber der Nebel änderte sein Aussehen. Er war nicht mehr gleichförmig grau, sondern bildete feine, weißliche Flocken, und dahinter leuchtete es goldig, in einem märchenhaften Schein.

„Juhu!“ der Gletschermann aus Grindelwald durchbrach plötzlich das Schweigen mit einem Jodler, daß die unter ihm erschrocken zusammenfuhren.

„Was giebt’s denn?“ erkundigte sich aus der Tiefe der Eisschlucht der Yankee.

„Hol’ der Herr seine Brille ’raus: die Sonne giebt’s! Und gleich da oben ist der Gletscher!“

Mann für Mann tauchte die ruckweise ansteigende Kette aus dem Nebelmeer in helles Licht und blauen Himmel hinauf. Hart über ihren Köpfen blinkte der hochgewölbte, von bläulichen Spalten durchsetzte Eiswall der Gletscherzunge. Die Rettung war nahe, aber die Gefahr größer als je. Stumm wie Soldaten in der Schlacht, die jeden Augenblick ein Geschoß treffen kann, standen sie unter dem Firnstrom. Und auf ihm lagen die mählich in der Sonne rutschenden Schneemassen, die im tauenden Eiswasser langsam abwärts gleitenden Steine. Was sich dort oben löste, riß sie im Bogen mit in den Abgrnnd …

In dem wurde es allmählich licht. Die Nebelschwaden zerrissen, und plötzlich leuchtete ganz unten, in schwindelnder Tiefe, ein kleiner grüner Fleck auf. Er vergrößerte sich rasch, kleine Sennhütten zeigten sich auf dem immer weiter werdenden Wiesenplan, und endlich lag das Arvethal mit seinen blühenden Matten und dem niedlichen, wie ein Spielzeug aus der Schachtel gepackten Städtchen Chamounix frei vor ihren Augen.

„Schade, daß wir sie nicht mit hier oben haben!“ sagte der Amerikaner.

„Angela?“

„Ja. Das wäre mir eine angenehmere Gesellschaft als Sie!“

„Mir auch! Aber in ein paar Stunden treffen wir uns ja und gehen zusammen auf den Montblanc!“

„Aber Sie sind immer dabei! Das stört mich!“

„Mich auch! Daß Sie da sind!“

Der Riese lachte. „Ich bin zu faul, Franklin’“ sagte er. „Schauen Sie doch mal nach, ob noch nichts von der Höhe kommt!“

„Leider nein!“

„Leider?“

[842] „Ja, wenn Sie’s träfe!“

„Na …. wenn Sie so sind,“ der Riese war entrüstet, „dann wünsch’ ich Ihnen auch ein Eisstück an den Kopf.“

Dabei wiegte er den linken Arm hin und her. „Soll ich Ihnen einen Schubs geben, Franklin?“ frug er tückisch lächelnd.

„Thun Sie’s! Ich denunziere Sie noch im Herunterfliegen dem Friedensrichter. Die Führer sind meine Zeugen!“

Die Führer hatten nicht auf das Gespräch geachtet. Starr wie Steinsäulen in den Stufen stehend, folgten sie mit den Augen der Arbeit ihres schmächtigen deutschen Genossen. Jetzt schlug er die letzte Stufe, jetzt schwang er sich über den Rand auf die Oberfläche des Gletschers und aufmunternd tönte sein Halloh! herüber.

Nun ging es rasch. Einer nach dem andern stieg lachend herauf. Es war ihnen allen merklich leichter um die Brust, als sie im Halbkreis auf dem Gletscher saßen, der, immer noch steil genug und listig mit Schnee bedeckt, sich vor ihnen auftürmte. Das gab noch harte Arbeit und ebenso das Klettern über den nadelscharf aus den Firnschründen aufschießenden Felsgrat, der zur Spitze führte. Aber das Schlimmste war doch überstanden, der Lawinenschlag, der den Tollkühnen wie den Schwächling gleichmäßig in die Tiefe reißt.

Während sie im Schnee kauernd frühstückten, deutete der deutsche Führer Josef, mit beiden Backen kauend, auf den Gletscherhang. Ein zerfressener Eisblock, in dem ein Haufen Steine von allen Größen feststak, löste sich da im Sonnenschein ganz still und lautlos von seiner Unterlage ab und glitt gemächlich, schneckengleich, über den Rand. Im nächsten Augenblick krachte es unten auf, ein Sausen und Poltern, das sich allmählich verlor, begleitete die pfeilschnelle Fahrt des Eis- und Steinhagels auf der Rutschbahn des Couloirs hinab in die Mulde.

Franklin Moore zog die Stirne kraus und sah auf die Uhr. „Acht Uhr zwölf Minuten!“ verkündete er. „Die Steine sind unpünktlich. Jetzt geht die Geschichte aber los.“

Die Männer hatten sich ernst angesehen. „Wenn wir jetzt noch darin wären …“ sagte ein französischer Führer und strich nachdenklich seine Bartkoteletten.

„Man ist eben nicht mehr drin!“ erwiderte Franklin kaltblütig. „Was, Prinz … das ist die Hauptsache im Leben ... sich nicht erwischen lassen?“

„Ja,“ sagte der Recke und beide lächelten sich feindlich an.

„Dann auf!“ Der Amerikaner sprang elastisch empor. „Vorwärts, zum Gipfel!“ wandte er sich an die Führer und wies in die Höhe.

„Zum Gipfel!“ wiederholte die dumpfe Bärenstimme eines welschen Gletschermannes und die Führer rüsteten, einander stumme Blicke des Nationalitätenhasses zuwerfend, alles zum Weitermarsch.


22.

„Valere aude!“ Wage es, gesund zu sein! – Werde, was du bist – oder vergehe! – Die Worte lagen stumm auf seinen Lippen, als der Afrikaner am selben Morgen vor das Hotel trat. Noch glitzerten überall nebelfrei die Sterne über und zwischen den in dämmerndem Weiß vom Himmel sich abhebenden Schneeflächen. Während sie im Morgengrauen erloschen, dampften alle Thäler von würzigkaltem, feinem Rauch, langgezogene weiße Dunststreifen schwebten wie ausgespannte Schleier vor den Flanken der Berge und vergingen langsam vor dem Hauch der Sonne, die in wolkenlosem Blaßblau über den goldig blitzenden Firnkämmen aufstieg.

Da stand der Montblanc, ein strenger Gebieter, ein Monarch, wie man früher seine Spitze nannte, als freier Herrscher der Alpenwelt. Sein weißes Haupt ragte über die Menge der Gipfel, von seinen mächtigen Schultern wallte im Faltenwurf des ewigen Schnees, von azurnem Gletschergefunkel gestirnt, der hermelinreine Krönungsmantel bis zum Fuß, dem die Thäler unten in schwarzer Tannenwildnis und mit lichtgrünen Matten als Schemel dienten. Alles umher war sein Reich. Was da war, kam von ihm: die Eisströme, die in erstarrten, hochaufgebäumten Wellen in die Tiefe flossen, die Meere von Steingeröll und Bergtrümmern, die ihrem Zuge sich voranwälzten, die schäumenden, grauen Wildbäche, die von den Gletscherthoren durch breite, von der Verwüstung geschaffene Kieselbetten waldabwärts brausten! Manch eingestürztes Haus, manches beharrlich neu aufgebaute Menschenwerk wies dort unten ihren verderblichen Weg, auf dem der weiße König da oben, achtlos, wie der Fuß des Wanderers das Leben unter sich zertritt, über die Ameisenhaufen im Thal hinweggeschritten war.

Aber heute hätte man das dem Gewaltigen kaum zugetraut! Er zeigte im Sommersonnenschein sein freundlichstes Gesicht, jene heitere, kraftgetragene Ruhe, die unseren Wanderer unwiderstehlich zu ihm emporzog.

Das Saussuredenkmal am Ausgang des Städtchens wies dem Afrikaner den Weg. Die Augen erhoben, blickte die Gestalt des Gelehrten nach dem Berge, neben ihm, tollkühn lachend [mi]t dem ausgestreckten Finger auf die höchste Spitze des Montblanc [we]isend, sein Führer Jacques Balmat. „Balmat de Montblanc“, wie der König von Sardinien auf Lebenszeit den verwegenen Savoyarden nannte, der als der erste Mensch und allein in dieser Höhenluft von fast 5000 Metern geatmet.

Der Afrikaner sah ihn nachdenklich an. Er kannte wohl sein Schicksal. Immer wieder hatte es den trotzigen Gesellen hinaufgelockt in die weiße Märchenwelt. Einsam, menschenscheu strich er dort umher und suchte und suchte … Gold, sagten die einen, neue Wege zum Gipfel, die andern. Schließlich war er nicht wiedergekommen … der Montblanc hatte seinen Bezwinger bei sich behalten. Er bettete den gealterten Mann da, wo unterirdisch die Gletscherwasser sprudeln und von obenher, ein schmaler himmelblauer Spalt, der Sonnenschein in azurner Finsternis leuchtet. Die Stelle weiß man nicht und die Gebeine bleiben verschwunden. Der Montblanc hat sich gerächt.

Aber andere folgen nach.

Die treibt auch die Sehnsucht nach oben, dem Himmel zu. Die suchen auch dort oben Schätze, verlorenes, geheimnisvolles Gut, und finden statt der Erkenntnis den Tod. Und damit wenigstens die Befreiung von allen Zweifeln!

*               *
*

Empor über den Zickzackweg ewigen Tannenforstes, stunden- und stundenweit empor über kahler werdende Berghalden, über quelldurchsprudelte, blumenbesäte Grashänge, über Felsblöcke und Geröll – da schon über das erste kleine Schneefeld und unter einem neugierig von hoher Felswand herablugenden Gletscherwall hindurch bis zur Grenze des toten Reiches!

Da begann es: eine weite Ebene von graukörnigem Eis, durch klaffende, riesige Risse in Trümmer- und Bruchwerk, in hausgroße Würfel, in lange, chausseeartige Rücken geschieden.

Anfangs zahm und eben, gewann der Gletscher, wo er an der „Jonction“ mit seinem Nachbar zusammenstieß, das wilde, bizarre Angesicht der Hochwelt.

Wie durch die Gassen einer aus Firn und Eis erbauten und im Erdbeben wieder eingestürzten Stadt wandelte der Eindringling dahin. Ein Pompeji im ewigen Schnee. Steil ragende Glaswände und zerschellte, glitzernde Scherben, eingerutschte Hügel, schiefgeneigte oder abgebrochen am Boden schmelzende Krystallsäulen, Zacken und Zähne, Türme und Mauerreste überall, und als Bewohner des weißen Kirchhofs, da und dort aufstarrend, wunderliche, in der Sonnenglut triefende und schwitzende Eismänner; wie ein Koboldkönig unter ihnen ragend ein bogenförmig nach hinten in Art eines Walroßhauers gekrümmtes Firnhorn – das alles säumte den Weg ein, der sich durch lange, stille Gletschergassen, auf freiem Schnee, in Mulden hinab, über spröde Glasstufen zu schmalen Firndächern empor, die Séracs, aufwärts schlängelte.

Wie die Spuren jenes Erdbebens klafften überall zwischen den Trümmern die in unbekannte Tiefen führenden Spalten, die einen tückisch mit Schnee verklebt, der beim ersten Stich des Pickels in Brocken in den Abgrund fiel, die anderen mit offenen schwarzen Rachen zum blauen Himmel aufgähnend. Die größten von ihnen zu überspringen war unmöglich. Sie klafterten wohl 15, 20 Fuß, und schmale Leitern führten, den scheußlichen Abgrund überbrückend, von dem Thalhang eines [843] solchen Gletscherrisses zu dem ihn weit überhöhenden Bergrand empor.

Den Afrikaner durchfröstelte ein eigenes wollüstiges Grausen, während er, auf die Hände und Kniee gestützt, über die Leiter kroch und durch deren Sprossen unter sich, wo sich der bläuliche Metallglanz der Gletscherspalten in unergründliche Nacht und Tiefe verlor, die unterirdischen Ströme brausen hörte. Der alte Reiz kam wieder über ihn, dies Necken mit dem dumpf glotzenden und schwerfällig nach seiner Beute tappenden Tode. Der letzte dieser Uebergänge war bequemer: eine Art großer Laufbrücke mit Geländer, dahinter steil aufsteigend der schneebedeckte Gletscherhang, an dem oben seitlich ein rotgestrichenes Haus mit zwei niedrigen Stockwerken aus dem Eise aufwuchs und sich an eine Reihe Felsklippen lehnte. Unter dem neuen „Hotel des Grands Mulets“ stand wie ein Nebelstrich die grauverwitterte, halbzerstörte alte Steinhütte.

Auf der Galerie bewegten sich Punkte. Rufe und Juchzer tönten durch die dünne Luft und empfingen den vom Gletscher aufsteigenden Wanderer.

Einer der grauköpfigen Engländer vom „Alpine Club“ bog sich mit jungenhafter Behendigkeit über das Geländer und begrüßte den Ankömmling mit einem Scherz.

Die Führer hinter ihm lachten rauh wie die Bären, und auch der Afrikaner lachte, während er, am Ziele angekommen, die Schneebrille abnahm.

Jetzt erst sah er die volle Pracht der Umgebung. Blendendes, leuchtendes Weiß überall und strahlendes Tiefblau darüber. Es gab keinen Uebergang, keine anderen Farben. Nur an dem stumpfen Braun der Hüttenfelsen konnte sich das Auge ausruhen.

Diese Felsstufen waren mannigfach geschmückt. Die nassen Lappen der Flanell- und Seidenhemden hingen da mit beschwörend aufgereckten Aermeln zum Trocknen, die Unterbeinkleider flatterten, durch Steine beschwert und festgehalten, im Winde, die Bergstiefel standen gereinigt und frisch eingefettet auf den warmen Steinplatten, und dazwischen saßen, die mit Pantoffeln und Halbschuhen bekleideten Füße herabbaumeln lassend, die Briten und rauchten ihr Pfeifchen.

Die Führer trieben sich um sie her. Sie fühlten sich zu den erfahrenen Gletschermeistern des Londoner Alpenklubs vertraulich hingezogen und gingen erfreut auf deren trockene Witze und Späße ein, ohne doch die Ehrerbietung außer acht zu lassen. Besonders bewunderten sie den Matador der Gesellschaft, einen hageren Graukopf, um den seit Jahrzehnten sich der Nimbus alpiner Heldenthaten wob. Er kannte alle Führer bei Namen. Mit den älteren Männern, die unter den struppigen Bärten schmunzelnd ihm zuhörten, verkehrte er auf dem Fuß derber Kameradschaft. Die jungen Leute, die unter seinen Augen im Hochgebirge aufgewachsen waren, begönnerte er mehr väterlich, und als er dem einen einmal ein anerkennendes Scherzwort hinwarf, verklärte sich das magere Eulengesicht des Burschen förmlich vor Wonne.

Die beiden anderen Engländer – Vater und Sohn – schienen von einem merkwürdigen Thatendrang belebt, zu dessen Dämpfung die Ueberwindung von 2000 Metern Höhe zwischen Chamounix und den Grands Mulets offenbar nur wenig beigetragen hatte. Fortwährend waren sie unterwegs, auf Expeditionen, deren Zweck und Ziel keinem andern einleuchtete. Bald erklommen sie mit Hilfe der mit den Schultern sie stützenden Führer irgend eine steile Felsplatte, um sich dort gähnend und zum Himmel aufblinzelnd zu sonnen, bald wieder übten sie, von oben herabgeglitten, keuchend ihre Kraft im Emporheben schwerer, am Boden verstreuter Steinblöcke. Dann wieder waren sie wie Indianer auf dem Kriegspfad hinter die Hütte geschlichen, und wer ihnen dort folgte, konnte Vater und Sohn lautlos, nach allen Regeln der Kunst und finsteren Gesichts, mit markierten Schlägen aufeinander losboxen sehen. Zurückgekehrt, schlugen sie einen Gesang vor. Erst trällerte der junge Bursche einen Niggertanz und bemühte sich zugleich, halb in der Zerstreuung, das Holzgeländer der Galerie zwischen seinen Eisenfäusten entzweizuknacken, dann brüllte, als er sich enttäuscht abwendete, einer der Führer, ein baumlanger Cyklop, ein melancholisches Lied. Seine Stimme klang melodisch wie der Baß eines Kettenhundes. Aber er ließ sich nicht stören. Die anderen stimmten andächtig in den Kehrreim ein. Dann wurden sie nachdenklich. Man sah, wie sie über einen neuen Zeitvertreib grübelten, während sie ihre Pfeifen ausklopften und dem scherzenden Ringkampf zweier Führer folgten, die sich fluchend mit Bärengriffen umklammert hielten und wie Betrunkene hin und her taumelten.

Der lustige Graukopf schaute indessen durch sein Fernrohr nach dem Montblanc. „Sie sind Deutscher, Herr?“ frug er den neben ihm stehenden Afrikaner. „Eben kommt Ihr Landsmann, ein Offizier, über die ,Bosses du Dromadaire‘ herunter!“

Der andere nahm das Glas und prüfte die drei nachtschwarzen Schattengestalten, die sich riesenhaft, gleich gespenstischen Schornsteinfegern, von dem stahlblauen Himmel abzeichneten und in seltsamen, stelzbeinigen Bewegungen wie Marionetten die steile Eisschneide herabklommen.

Es ärgerte ihn, daß so viel Menschen auf den Bergen waren! Auch der Gletscher unten belebte sich immer mehr. Es war ein förmliches Getümmel von schwarzen Punkten, die, wie Perlen an einen Faden gereiht, langsam aufwärts krochen. Vor den Gletscherspalten stauten sie sich zu Klumpen. Man konnte deutlich die zweifelnden Handbewegungen, die ermunternden Winke der Führer, das ganze Gewirtschafte erkennen, bis endlich einer nach dem andern sich ein Herz faßte und wie ein Insekt über die Leiter krabbelte.

Bei den Trupps, die juchzend und jodelnd die obere Schneehalde erklommen, unterschieden sich bereits die Montblancbesteiger durch die Eisaxt und das Führerpaar von den zu dritt und viert an zwei Führern angeseilten, bergstockbewehrten Hüttengästen, und bald langten die vordersten Expeditionen schwitzend, aufgeregt und glückselig bei der Felseninsel an.

Die anderen tröpfelten im Laufe der Stunden hinterher, eine wahre Musterkarte aller Nationen. Zuerst ein holländisches Ehepaar, liebenswürdige junge Leute, die beinahe gleichzeitig nach drei Seiten hin deutsch, englisch und französisch plauderten, dann ein Magyare mit bräunlichem Gesicht und dunklem Spitzbart. Das ungewohnte Bergsteigen hatte den Sohn der Pußta mehr als die beiden Niederländer erschöpft. Er setzte sich still und melancholisch in die Ecke.

Die nächsten im Schnee anfwärtsstapfenden Gesellschaften verrieten schon von weitem durch ihr keuchendes Geplapper das gallische Blut. Monsieur L’Abbé geleitete mit Hilfe einiger Führer seine Schutzbefohlenen, drei schmächtige, verlebt aussehende junge Pariser, auf der Ferienreise zu dem Hotel des Grands Mulets. Sein glattes, römisches Priestergesicht schaute wunderlich aus dem Bergkostüm, wie der Fuchs aus dem Sack. Im übrigen war er ein liebenswürdiger Weltmann und plauderte in dem engen, gestopft vollen Wirtsstübchen wie im Salon.

Die hinter ihm waren Südfranzosen! Einer jener rundlichen, breitschulterigen Provençalen, die einen mit ihrem schwarzen Augengefunkel zu erdolchen scheinen und mit den Gesten eines Raubmörders um das Salzfaß bitten. Dieser lebendige Mann in den Vierzigern war eine Leuchte des Touristenvereins der Dauphiné. Morgen früh stand er auf dem Montblanc – „als der erste, Monsieur! Ich schwör’ es Ihnen! Es gilt die Ehre Frankreichs gegen Engländer und Preußen!“ – und unten von den Grands Mulets würde die ganze Gesellschaft, die mit ihm gekommen, dem kletternden Familienhaupt ihre Grüße zuwinken: die Gattin, eine fröhliche Dame zu Mitte der Dreißig, die beiden Knaben, der Onkel und der Schwager.

Und immer neue Trupps kamen in Sicht und krochen jodelnd auf dem Gletscher heraus. Bis zum Abend war unzweifelhaft das letzte Bett im Hause belegt. Schon jetzt war im Gastzimmer längst kein Raum mehr. In der Küche daneben, in der mit fliegendem Atem die freundliche Wirtschafterin hantierte, drängte sich die Elite der Chamounixführer, und der Platz vor dem Hause wie die Galerie daneben war dicht mit ihnen und ihren gedankenvoll rauchenden, plaudernden und gähnenden Touristen besetzt.

Nun kam auch noch Zuwachs von oben. Auf den steilen, weißen Hängen, die vor der Hütte sich zum „Petit plateau“ emporzogen, erschien hoch oben der Montblancbesteiger zwischen [844] seinen beiden Führern, drei dunkle sitzende Klumpen, die, rückwärts mit dem Pickel steuernd, blitzschnell über den weichen Schnee herabfuhren.

Vor einer Gletscherspalte bremsten sie, standen auf und schritten wie gewöhnliche Menschen weiter. Der Tourist stürzte dabei ein paarmal ohne Veranlassung lang hin und raffte sich mit einer ungeduldigen Bewegung wieder auf.

„Mein Gott, er ist krank!“ rief die Französin. Aber ihr Gatte, die Leuchte der Dauphiné, tröstete sie. Das sei nur die Ermüdung. Da setze man den Fuß schief in den Schnee und verliere so das Gleichgewicht.

Nicht lange dauerte es, so klomm der Mann vom Berge den kurzen Geröllpfad längs der Hüttenfelsen empor. Er nahm die Schneebrille ab und klappte die Mütze auf. Ein typisches preußisches Kavalleristengesicht mit scharfen sonnengebräunten Zügen und weißblondem Schnurrbart kam zum Vorschein.

„Uff!“ sprach er und ging schwer, mit krummen Knieen, wie eben aus dem Sattel gestiegen, auf die Thür zu. „Höllisch steile Chose! Spür’ den Montblanc förmlich in den Knochen!“

„Sie sind müde!“ sagte die holländische Dame. „Man sieht es Ihnen an.“ Sie wußte nicht, daß in dem rauhen Bergsport derartige Beobachtungen bei sich und anderen verschwiegen werden. Der Lieutenant zuckte denn auch die Achseln: „Gott, müde? … nee … das nu nicht! nur so’n bißchen dösig wie nach’m Distanzritt! War übrigens göttlich oben. Blick von Karlsruhe bis Marseille!“

„Das haben Sie wirklich gesehen?“

„Nee … ’s sind Wolken drüber,“ lachte der andere. „Sehen thut man bloß die Berge. Na, nu werd’ ich mich doch ein Viertelstündchen in die Klappe legen.“ Der deutsche Tourist verschwand in einer der Kammern, in die ihm die Wirtin einen großen Krug Selterswasser brachte.

Viel schlafen konnte er wohl nicht! Das ganze Haus zitterte vor Lärm. Die krachenden Tritte der Nagelschuhe auf den dünnen Dielen des Oberstocks, das Gepolter auf den Treppen und Fluren, das Lachen und Schwatzen der Führer in der Küche, die aufgeregten Stimmen der Südfranzosen, das Pfeifen der gelangweilten Engländer, das Juchzen und Jodeln auf der Galerie, das alles klang wirr ineinander und paßte so wenig zu den Bergen umher.

Die schwiegen in ihrer stillen Größe. Und in diesem kleinen Stall, der wie ein verlorenes Sandkorn in der unermeßlichen Gletscherwelt lag, da schrie und wirtschaftete diese Handvoll winziger Menschlein, rannte durcheinander, gestikulierte, beratschlagte und gebärdete sich, als seien sie und ihr Dasein in dieser weißen Ewigkeit von irgend welcher Bedeutung.

Allmählich war jetzt schon die Dämmerung hereingebrochen. Die Sonne stand als eine blutrote Dunstscheibe zwischen den violetten Schattenrissen der Berge im Westen. Bunte Farbentöne zitterten von dort aus gegen den im Grau ersterbenden Osten. Die Montblancspitze hoch oben und die ragenden Eisnadeln glühten im Gold zu dem blaßblauen, sonnenwärts seegrün leuchtenden Himmel, und ein rosenroter Schein belebte plötzlich weithin die weißen Schneefelder, über denen, noch kaum erkennbar, die Planeten als Vorläufer des Sternenheeres im Flimmerglanze aus dem Weltall traten.

Unten, jenseit der Schneegrenze, war schon vollständige Nacht. Nur die Gletscherzungen schimmerten noch matt, wie aus der Tiefe eines schwarzen, langsam steigenden Oceans herauf, und noch weiter unter ihnen blinkten, gleich einem feurigen, am Meeresboden festgekrallten Seestern, die strahlenförmig auslaufenden Laternenadern von Chamounix.

Ueber der lautlos schwellenden Flut der Nacht glühte noch ein Sonnenabglanz wie ein Streifen geschmolzenes Erz auf der breiten Schulter des Dome du Gouter. In seinem Schein sah man deutlich die Schneewirbel dort oben stäuben und tanzen und in sturmgeblähten Schleiern zu Thale wehen. Dahinter war der Himmel schmierig und trübe, von blauschwarzen Dunststreifen durchsetzt, von denen, wie riesige Fledermäuse, aschgraue abgerissene Nebelfetzen der Nacht entgegenschwammen.

*               *
*

Er stand jetzt ganz allein in der zehnten Abendstunde vor dem Hause. Innen war es allmählich still geworden und die Fensterläden waren geschlossen. Alles schlief. Nur im Wirtszimmer lärmten noch die Südfranzosen und begrüßten mit Händeklatschen jede neue aus der Küche herbeigebrachte Platte. Dann gingen auch sie zur Ruhe. Ringsum war Abendkühle und Mondschein.

Ein märchenhaftes Schweigen lag über der Hochwelt, in deren verborgensten Schründen und Falten der einsame Wanderer am Himmel oben, der Mond, sein träumerisches Silberlicht sich widerspiegeln ließ. Der einsame Mann da unten auf der Erde schaute zu ihm auf. In ihm war alles feierlich und stumm. Hier war die Ruhe. Das Nichts.

Jenes Nirwana, das freudlos und leidlos den erkaltenden Erdball einst in weiße Gletscherlinnen betten wird, wenn die letzten lebenden Wesen da unten ausgeatmet und Liebe und Haß, Lachen und Weinen, Angst und Hoffnung mit sich ins Grab genommen haben. Dann ist der bunte Traum der Welt ausgeträumt. Tiefer Schlaf – selige Stille, in der Menschenbewußtsein und Menschenerkenntnis stumm versinken.

Aber noch leben die Menschen und lieben und hassen und lachen und weinen. Im Dämmern der Mondnacht trug das ewige Firnreich ihre Spuren; Fußstapfen im Schnee, die sich, als habe eine Riesenschlange des Mittags auf dem Gipfel rasten wollen, in vielfachen Windungen als festgetretener Pfad die Hänge hinaufzogen. Weiter oben wohl noch Stufentritte in blitzblanken Eiswänden und da und dort, in windgeschützten Kesseln, die Eindrücke schwer hingelagerter rastender Körper, leere Flaschen, und Papierfetzen, über denen jetzt im Wehen der Nacht leise und unermüdlich die Firnkörner zu einer neuen Decke zusammenstäubten und alles zu verwischen strebten, was an die verhaßten Eindringlinge, an den ewigen Kampf zwischen dem Menschen und dem Berg erinnerte.

Aber ganz gelang es den dahinwirbelnden Schneeschleiern in dieser heiteren Sommernacht doch nicht, den Kehricht des verflossenen Tages mit ihrem reinen Weiß zu überpudern. Es blieben noch, dem geübten Auge wohl kenntlich, Merkmale zurück, die dem einsamen, von keinem Führer und keinem Genossen begleiteten Bergsteiger den rechten Pfad zur Höhe wiesen. Brach er kurz vor Mitternacht auf, ehe da innen wieder das Kerzenlicht durch die Ladenluken flammte und in Gähnen, Seufzen und Fluchen, im Knattern des Küchenfeuers und dem Gepolter der Führerschuhe der neue Tag begann, so hatte er einen ungestörten Aufstieg vor sich und stand in der Morgensonne am Ziel.

Würde er die Sonne wieder untergehen sehen? Ganz plötzlich hatte er die ruhige Gewißheit: Nein. Heute war sie zum letztenmal vor seinen Augen im Abendgold versunken. Wenn sie morgen wiederkam, nahm sie ihn mit sich fort, in unbekannte Länder, die selbst er, der Weitgereiste, nie geschaut.

Was lag auch an einem Menschen, hier am Montblanc? Hier hatte schon mehr als einer seinen Tod gefunden. Wenn hier, vom Süden her donnernd, der Föhn dem Trotz der Gipfelriesen zu Hilfe kommt und das Chaos des Schneesturms über die erdverlorenen Höhen hinschüttet, daß der Fuß des Wanderers ermattet in den weichen Federn versinkt – nach solchen Tagen hatte das kalte Mondlicht schon ganze Reihen der kleinen schwarzen Insekten still und starr auf dem weißen Tuche liegen sehen. Und mehr noch waren es, die der Berg selbst in Verwahrung nahm, die er, mit einem eisigen Sarg umpanzert, tief in den Schlünden der Gletscher für lange, vielleicht für immer den Menschenaugen entzieht.

Morgen freilich lächelte der Berg. Aber auch das Lächeln der Riesen tötet, wenn der andere schwach ist. Und er fühlte sich matt und klein. Vergänglich gegenüber dieser ewigen Welt, hinschwindend wie ein Feuer, das schließlich in sich selbst erlöschen muß, wo das Todesschweigen des Eises die Jahrtausende überdauert. Verging dies Lichtpünktchen hier in der Wüste, so flammte unten im Thal ein neues auf. Starb er, so wurde anderswo ein anderer Mensch geboren. Das kam und ging und war nichtig unter der Unermeßlichkeit dieser Himmelswölbung, die in tausendfachem, unruhigem Gefunkel sich über dem sehnenden Auge spannte.

[846] Er wendete den Blick ab und schaute nach unten, auf den Gletscher, dessen frosterstarrte Wogenkämme von drei Seiten die Schutzhütte umbrandeten. Es war ein Bild des Todes, diese weißen, im Mondschein dämmernden Flächen, diese wildgeschwungenen, wie aus stürmischer Bewegung heraus mit einem Zauberschlag zu bläulichem Glas versteinerten Wellenlinien des Eismeeres.

Und doch lebte es auf der zum Thal gesenkten Wüste von Firn und Schnee! Er trat zurück und fuhr mit der Hand über die Augen, wie um die Sinnestäuschung zu verscheuchen. Aber das Bild blieb! Da stand es, ganz dicht unter ihm, oder vielmehr, es bewegte sich – drei Gestalten, die durch ein pendelndes Seil verbunden, langsam und schweigsam in der Nacht emporstiegen.

Ein hagerer, knochiger Riese mit fuchsrotem Schnurrbart vorne, ein glattrasierter, lächelnder Zwerg hinten. Und zwischen ihnen eine mit weißen Schneeschleiern über und über verhüllte, gesenkten Hauptes in die Fußstapfen ihres Vorgängers tretende Erscheinung. Es sah aus, als hätten die beiden, der Riese und der Zwerg, auf einem gemeinsamen Raubzug irgend ein seltenes Gletschergespenst gefangen und schleppten es im Triumph mit sich fort.

Näher und näher kamen sie heran. Der oben stand gebannt und unbeweglich. Er hörte das Knirschen der Eispickel, das Schlürfen der Schuhe, wie die drei rastlos und stumm zu ihm heraufstiegen, als habe sie der über den Gletscherspalten brütende Eisdunst zu Nachtgebilden geformt. Jetzt klang schon ihr schweres Atemholen durch die stille Luft, es scharrte auf dem schneefreien Steingeröll an der Hütte und reckte und dehnte sich gähnend im Mondschein.

„Natürlich schläft schon alles,“ brummte der Riese, ohne die im Dunkel der Veranda stehende Gestalt des Afrikaners zu bemerken. „Kommen Sie, Franklin! Wir wollen drinnen Lärm schlagen und sehen, wie es mit dem Nachtquartier steht. Sie warten inzwischen besser draußen noch ein Weilchen, Frau Angela. Es ist stockdunkel in dem Gletscherstall!“

Er stieß mit seiner mächtigen Faust die Thür auf und tappte hinein. Der Kleine auf den Fußspitzen hinterher.

Die beiden anderen Gestalten blieben zurück. Die dunkle im Schatten, die weiße im bläulichen Mondschein. Die Gletscherschleier, mit denen die Alpinistinnen den Teint vor Sonnenbrand und Nachtfrost bewahren, umwallten sie in geisterhaften Falten. Darunter schimmerte ganz undeutlich ein menschliches Antlitz. Oder vielmehr das einer Statue, einer Leiche. Kalkfarben und starr. Er wußte, daß das nichts anderes als die zum Schutze der Gesichtshaut aufgetragene Creme war, die ihre Züge versteinerte. Und doch beschlich ihn, gerade weil er das Antlitz nur unbestimmt, in matten Umrissen, mehr ahnen als sehen konnte, ein unheimliches Gefühl.

Da trat sie plötzlich auf ihn zu. Sie hatte ihn erkannt und streckte ihm stumm die Hand hin. Er nahm sie. Sie ruhte, von den Tuchhüllen befreit, heiß in der seinen.

Eine Weile schwiegen beide. Womit beginnen in dieser geheimnisvollen, vom Rauschen der Gletscherwasser, dem Tuscheln des Windes durchflüsterten Mondnacht der Höhen?

Da ging die Thüre wieder auf. „Fertig,“ rief Franklin heraus. „Wo sind Sie, Frau Angela? Wir haben die Köchin geweckt. Sie kocht uns Kaffee, ehe wir nach Sibirien, ich meine, in unsere nahezu vereisten Betten kriechen. Der Prinz sitzt schon drinnen und schlingt pfundweise Cornedbeef direkt aus der Blechbüchse in sich hinein. Verbieten Sie ihm das! Er ist wirklich ein unästhetischer Geselle. Von Grazie keine Spur!“

Sie war um die Ecke des Hauses getreten, während der Afrikaner im Schatten stehen blieb.

„Ich komme gleich nach!“ sagte sie. „Ich bleibe noch ein Weilchen hier draußen!“

„Jetzt? Allein in der Nacht?“

„Das ist meine Sache! Gehen Sie, bitte, Franklin!“

Der kleine Yankee wagte nichts zu erwidern und schloß fügsam von innen die Thüre. Sie kehrte zu dem andern zurück.

„Ich habe gewußt, daß Sie hier sind!“ sagte sie rasch und beklommen. „Es hatte sich im Hotel und in ganz Chamounix verbreitet, daß Sie den Montblanc allein besteigen wollen. Die Aufregung ist groß. Die Fernrohrverleiher werden morgen einen guten Tag haben.“

Er sah die verschleierte Gestalt an.

„Sie wußten, daß ich hier bin?“ murmelte er. „Und sind trotzdem heraufgekommen?“

„Ja, zu Ihnen!“

Er lachte kurz auf. „Jetzt suchen Sie mich auf!“ sagte er und wandte sich ab. „Jetzt! Wozu?“

Sie folgte ihm. „Weil ich Sie um Verzeihung bitten möchte!“ Es war ein weicher Ton in ihrer Stimme, den er früher nie gehört hatte.

„Dafür, daß Sie mir neulich in Tetuan entwichen sind?“

„Ja.“ Sie stockte. „Dafür und mehr noch … in Gibraltar … als Sie an Bord der ,Liberty‘ kamen. Mein Vater hat Ihnen da auf meinen Wunsch die Unwahrheit gesagt. Ich war nicht drüben auf dem Dschib-el-Musa, sondern an Bord des Schiffes.“

Er sah sie nicht an. „Das hab’ ich wohl gewußt,“ sprach er. „Sie sind mir immer nah’ und doch fern. Sie spielen mit mir. Aber jetzt ist das Spiel zu Ende.“

Sie stand dicht neben ihm. Er glaubte zu erkennen, wie unter dem weißen Schleier ihre Augen sich bang zu ihm aufhoben. „Wenn es zu Ende wäre …“ sagte sie leise, „stünden Wir beide dann hier zusammen? Und würde ich Sie dann um Vergebung bitten? Sie kennen mich! Es war mir nicht leicht. Aber es kommt mir wirklich von Herzen!“

Er schüttelte den Kopf. „Es ist zu spät!“

„Zu spät, um uns wiederzufinden, hier auf den Bergen, wo wir zuerst Freundschaft geschlossen haben?“

„Ja.“

„Und warum?“

„Aus einem sehr einfachen Grunde.“ Er war ganz ruhig. „Weil ich morgen früh tot sein werde.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Tot?“ stieß sie hervor.

„Nun ja! Was ist denn dabei? Einmal stirbt jeder! Die meisten in irgend einem dumpfen Kämmerchen, ich oben auf dem höchsten Gipfel von Europa … oder wenigstens auf dem Weg dorthin!“

„Tot?“ Sie rang immer noch nach Worten. „Ich verstehe gar nicht, was Sie meinen!“

„Ich meine einfach, daß meine Tage gezählt sind. Und da ich nicht gerne langsam hinsiechen will, so beschleunige ich den Ausgang. Das halte ich für erlaubt und für anständig. Man bleibt, auch in der angenehmsten Gesellschaft, nicht gerne der letzte Gast, sondern empfiehlt sich still, wenn es an der Zeit ist!“

„Aber woher glauben Sie denn, daß es an der Zeit ist?“

„Soll ich Ihnen eine Krankheitsgeschichte erzählen? Das werden Sie nicht von mir verlangen. Ich weiß, wie fatal Ihnen der Anblick menschlicher Leiden und menschlicher Schwäche ist! Ich werde Ihnen ganz gewiß ihn nicht bieten!“

„Hoffentlich darum, weil Sie sich über Ihren Zustand täuschen!“

„Frau Angela!“ sagte der Afrikaner trocken. „Sie kennen mich seit langer Zeit! Haben Sie je bemerkt, daß ich versucht hätte, mich interessant zu machen, mich anders zu geben wie ich bin und irgend eine Pose anzunehmen?“

„Nein, das gewiß nicht!“

„Nun also! Dann glauben Sie also, bitte, meinem einfachen Wort! Wenn ich sage: ich sterbe, so sterb’ ich! Und zwar morgen früh und mit leichtem Herzen, denn ich kenne den Tod. Ich habe ihn überall gesehen und weiß: Leiden und Kranksein ist schlimm, das Sterben aber eine Kleinigkeit!“

„Und nun,“ fuhr er nach einer Weile fort, während sie reglos und stumm neben ihm stand, „nun ist bald alles zu Ende. Ich habe nicht geglaubt, Sie vorher wiederzusehen! Da wir nun aber doch noch einmal und zum allerletztenmal beisammen sind, möchte ich Sie etwas fragen! Jetzt können Sie ja darauf antWorten!“

„Fragen Sie!“ Ihre Stimme bebte, und es zitterte unter den weißen Schleiern.

Er wandte sich ihr voll zu. „Warum flohen Sie mich [847] seit so vielen Jahren? Warum haben Sie in mir, seit Ihr Mann tot ist, immer wieder die Hoffnung erweckt und wieder ausgelöscht? Warum haben Sie mein Leben lang mit mir gespielt?“

Es dauerte lange, bis sie antwortete. „Sie sprechen von meinem Mann,“ sagte sie dann schweratmend wie ein Mensch, der eine lange zurückgehaltene Beichte ablegt. „Ich will auch von ihm anfangen. Sie haben ihn gekannt. Sie wissen: er hatte alle Eigenschaften, glücklich zu sein. Und nach außen hin schien er es ja auch zu sein! Und doch ging er, wenige Wochen, nachdem Sie uns auf dem Montblanc getroffen, hier in den Bergen abseits und stürzte sich über den Abhang. Alle Welt glaubte an einen Unglücksfall. Ich weiß es besser. Er hat mir einen Brief hinterlassen.“

„Ich habe es geahnt.“ Der Afrikaner blickte finster hinauf zu den gespenstig weiß im Mondschein durch die Nacht schimmernden Höhen. „Aber warum? Um Gottes willen warum?“

Die weiße Schleiergestalt neben ihm fröstelte. „Wegen mir!“ sprach sie halblaut. „Wegen mir, weil ich ihn nicht lieben konnte! Und er liebte mich so wahnsinnig. Ich war sein ganzes Glück und Leben. Und als er sah, daß ich es ihm nicht sein konnte, da hat er beides weggeworfen. Ich habe seinen Tod auf dem Gewissen – ich allein!

Und ich kann doch nichts dafür! Ich kann nicht lieben! Ich kann nicht! Sehen Sie meinen Vater an! Ich bin seine Tochter und habe sein Blut. Wir sind Menschen wie von Eis. Es ist nichts Lebendiges in unsern Adern.“

Ihre Stimme war stärker geworden. Leidenschaft und Verzweiflung klang durch. „Sie wissen nicht, wie ich darunter gelitten habe,“ fuhr sie fort. „Einen guten edlen Menschen neben sich leiden zu sehen, bitten und mit tausend Lockungen werben und endlich verzweifeln und mit einem Fluch über mich in den Tod gehen! Und dabei nichts ändern, nicht helfen zu können. Denn erzwingen läßt es sich ja nicht und jede Heuchelei wird bald durchschaut. Es ist mein Schicksal, daß ich nicht lieben kann. Ich muß es tragen. Aber als man die Leiche hinunter nach Chamounix brachte, da habe ich mir geschworen, keinem zweiten die Enttäuschung und mir die Qual einer neuen Ehe zu bereiten. Darum gehe ich einsam durch die Welt und werde einsam bleiben und bin tief unglücklich mit all meinen abenteuerlichen Fahrten und meinem abenteuerlichen Gefolge hinterher! Denn ich habe eben das Beste im Leben nicht!“

Er sah sie an. „Wenn dem so ist,“ frug er, „warum duldeten Sie mich dann nicht in Ihrem Gefolge? Warum flohen Sie denn gerade mich, wo jeder Mann Ihnen gleichgültig ist?“

„Weil ich mich vor Ihnen fürchtete!“ sagte sie, seinen Blick meidend, in die Nacht hinein, „oder vielmehr, weil ich mich davor fürchtete, daß Sie doch zu viel Macht über mich gewinnen könnten! Liebe war es nicht. Aber Sie waren der einzige, der Gewalt über mich hatte. Immer! Ueberall, wo wir uns trafen! Ich fühlte, daß ich in Ihrer Nähe willenlos wurde und vielleicht, wenn Sie den rechten Augenblick benutzten, das verhängnisvolle ,Ja‘ gesagt hätte, weil ich nicht mehr anders konnte. Darum floh ich stets noch im letzten Augenblick vor Ihnen. Und das war gut. Denn wir wären beide doch nur tief unglücklich geworden. Sie, weil Sie mich lieben, und ich, weil ich nicht lieben kann!“

Er schaute sie an. „Und doch stehen Sie jetzt neben mir!“ sagte er langsam. „Ringsum die Berge. Kein Mensch mehr wach! Wir beide allein! – Aber nun ist es zu spät! – Zu spät! Zu spät! Ich sterbe! Wir wollen Abschied nehmen! Geben Sie mir noch einmal Ihre Hand und lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen. Ich hab’ es lange nicht geschaut!“

Sie schlug schweigend den Schleier zurück und zeigte die schönen, leichenweiß im Mondschein leuchtenden Züge. Ueber dem dunklen Haar lag ein feiner silberner Schein.

Sie lächelte trübe. „Sie haben mir neulich in Tetuan geschrieben: ,Wir werden alt und grau, Frau Aventiure!‘ Bald ist’s wahrhaftig so. Die Zeit der Abenteuer geht vorbei und unser ganzes Leben, und wir haben doch eigentlich so wenig davon gehabt. Ich weiß ja nicht, ob das Schicksal, von dem Sie sprachen, Sie wirklich oben auf dem Berg erwartet – aber ehe Sie hinaufsteigen, geben auch Sie mir noch einmal die Hand zum Abschied und sagen Sie mir, daß Sie mir nicht mehr zürnen!“

„Nein!“ Der Afrikaner hielt ihre beiden Hände und schaute ihr lange in das schöne, nur von dem geheimnisvollen Leuchten der Augen belebte Totengesicht. „Ich danke Ihnen, Frau Aventiure – trotz alledem! Die Sehnsucht nach Ihnen hat mein Leben groß und frei gemacht und giebt mir jetzt noch das Geleite auf meinem letzten Gang. Leben Sie wohl! Ich gehe jetzt allein hinauf auf den Montblanc. Vielleicht finden wir uns noch einmal oben auf dem Gipfel und in der Sonne.“

Textdaten
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aus: Die Gartenlaube 1898, Heft 28, S. 870–876
[870]
23.

Hinauf in der heiligen Stille, ferne über der Welt, dem höchsten Ziel entgegen! Tief da unten liegt die bunte Mannigfaltigkeit der Dinge, liegt Farbe und Lärm, Bewegung und Wechsel. Hier oben ist nur zweierlei, reglos und dauernd: ringsum die weiße Unermeßlichkeit des ewigen Schnees und über ihr die sterndurchwirkte Unendlichkeit des Weltraumes.

Und zwischen beiden dies kleine schwarze Pünktchen Leben, dies leicht sich kräuselnde Wölkchen von heißem Atem in frosterstarrter Oede, das sich da langsam und zähe in jene Welt hinaufarbeitet, in die es nicht gehört – die ihm verschlossen bleiben sollte nach dem Willen der Natur und ihm innerlich ewig fremd bleiben wird.

Lange schon war hinter dem einsamen Wanderer das „Hotel des Grands Mulets“ geschwunden und mit den es umstarrenden Felsen als schwarzdämmernde Masse in der Nacht des Thals geblieben. Es war nichts mehr um ihn, was an Menschen erinnerte, als die schmale, halbverwehte Fußspur des preußischen Lieutenants vom Tag vorher, die sich im Mondglanz vor ihm weiter und weiter zum Himmel hinaufzog. Erst in weitem Hakenschlag zu dem Kleinen Plateau, dann steil und gerade aufwärts in knirschendem, hartgebackenem Schnee, dessen Flächen weithin jäh wie schiefgelegte Mauern abschossen.

Schritt um Schritt, Stufe um Stufe, Viertelstunde um Viertelstunde in tiefem, lähmendem Schweigen. Er dachte nichts mehr, er fühlte nichts mehr, während er schweratmend, den Blick auf den Boden gerichtet, aufwärts klomm – er wollte nur noch. Er wollte auf den Gipfel, der stechenden Schmerzen ungeachtet, die ihn immer heftiger zur Umkehr mahnten, und all die zähe Energie des Afrikaners raffte sich noch einmal gegen sich selbst zum entscheidenden Schlag zusammen und trieb den Körper vorwärts, wie der Reiter das zitternde Roß.

Alle Augenblicke schien es, als wollte die Firnwand ein Ende nehmen. Aber immer neue weiße Kämme lugten hinter den bezwungenen Bergwellen hervor, und immer weiter führte die schnurgerade Spur wie eine Himmelsleiter hinauf in die gestirnte Nacht.

Und wieder eine Viertelstunde und noch eine. Da weht es kühl und schneidend um die erhitzten Wangen und vor den Augen öffnet sich weithin, im bläulichen Schein der Nacht zum weißen Wunderland verklärt und grenzenlos verschwimmend, der Riesenkessel des Großen Plateaus, der gewaltigsten Schneemasse, welche die europäischen Alpen kennen. Weiß ringsumher, nichts als silbernes, träumerisches Weiß! Im Halbkreis, den Mond überragend, die schneeigen Riesen der Montblancgruppe, mit ihren gewaltigen firnüberrieselten Flanken, deren Lawinenströme sich unten im Grund der stundenweiten Mulde zu blendend leuchtenden Schneehügeln und -thälern einen, in glitzerndem Schuppenglanz dazwischen das Blinken der Gletscher, und vor dem Fuß des Wanderers die weite weiße Ebene, über der der Wind stöhnend und zwecklos wie ein Wolf im Winterwald hin und her streicht.

Hier oben begann sein ewiges Reich. Hier gab es keine Ruhe mehr. Die Luftwellen kamen und gingen, sie wanderten von Frankreich nach Italien, sie fluteten zurück und umstrudelten das weiße Greisenhaupt des Montblanc in ihrem heulenden Spiel, wie die See unermüdlich um die Klippe brandet. Im Kessel des Plateaus freilich war ihre Kraft schon an den Schneemauern des Umkreises zerschellt und äußerte sich nur noch in zornigem Gellen und Pfeifen. Aber weiter oben, hinter jener unsichtbaren Höhenscharte, die Frankreich von Italien, den eigentlichen Montblanc von seinem sanfteren Nachbar zur Rechten, dem Dome du Gouter, trennt, da erhob es sich zuweilen in rollendem, unheilverkündendem Donner wie die Stimme eines Riesen, der die Zwerge des Thales warnt, sein Eis- und Nebelheim über den Wolken zu betreten.

Ein langer schwarzer Strich, zog sich vom Lagerplatz in der Mitte der Schneefläche die Fußspur an der Flanke des Dom du Gouter hin. Er folgte ihr weiter und warf, alter Gewohnheit folgend, einen prüfenden Blick zu den weißgetürmten Massen hinauf. Von dort kamen nachmittags die Lawinen. Da pflegte man sich in glühendem Sonnenbrand und fußtief zu Brei erweichtem Schnee in fliegender Eile durchzuhetzen, wenn oben wieder das verräterische Krachen und Rieseln begann und in stäubenden Schneebächen der Tod zu Thal fuhr.

Aber damit hatte es jetzt keine Gefahr. Die Berge schliefen. Der Mond schwamm still am Himmel – alles träumte, bis auf den ewig rastlosen Gesellen im Reich des Schweigens, den Höhensturm.

Der wurde jetzt stärker und stärker. Eisig lachend fuhr er dem Wanderer entgegen, der sich langsam an der Bergflanke emporarbeitete. Er raubte ihm den Atem und erquickte ihn doch zugleich. Denn sein stählender Hauch verscheuchte die seltsame Beklemmung, die fast jeden unten bei der stundenlangen Wanderung in der windgeschützten riesigen Schneemulde umfängt.

Die Stickluft legte sich wie ein Druck des Todes um die Brust. Im Föhn aber war Leben und Kraft. Hier spielte er noch, wie er mit seinen rauschenden Schwingen den Firnstaub vor sich hintanzen ließ; aber weiter oben, in der Scharte, zeigte er schon sein wahres Gesicht voll Furchtbarkeit, das der immer wütender rollende Donner in der Ferne ahnen ließ.

Es wurde in seinem Wehen plötzlich ganz schneidend kalt. Die Luftwärme bei dem vor wenigen Stunden verlassenen Touristenhaus erschien jetzt wie eine laue italienische Nacht gegenüber diesem durch alle Hüllen kriechenden, alle Fibern erstarrenden Frost. Und auch die Luft selbst veränderte sich. Sie wurde merklich dünner. Die Brust mußte sich hoch wölben, um sie genügend einzuschlürfen, begierig, wie ein Wanderer frisches Quellwasser trinkt, und bekam doch, wenn unversehens ein Windstoß dazwischen fuhr, nicht genug von dem Lebensstoff. Dann stockte der Kreislauf des Körpers. Es war nicht mehr möglich, einen Schritt weiter aufwärts zu thun. Man mußte stehen bleiben, einen neuen Atemzug schöpfen und dann wieder eine Stufe höher steigen. Und wieder ein Atemzug, wieder ein Schritt – und immer weiter, der Scharte zu, auf der sich, als Zufluchtsort in dem gefürchteten Schneesturm, auf einer aus dem Firn starrenden Klippe wie ein mittelalterliches Raubnest hoch hingebaut, die kleine Vallot-Hütte erhob.

Er eilte sich, sie zu erreichen. Denn der Mond sank tiefer und tiefer hinter den silberverklärten Gipfeln. Wenn er schwand, trat volles Dunkel ein, denn das Morgengrauen war noch fern.

Da stand er auf der Höhe des Firnsattels zwischen Dom und Monarch, aufschauernd wie in einem eisigen Bade, so grimmig erkältend brausten die Wirbelwellen des Südsturms um ihn her. Er lief mehr als er ging, über den im Druck der Nägelschuhe stöhnenden Firn, die Eisaxt hochgehoben, mit der Linken Augen und Gesicht gegen die herangeschleuderten Luftmassen schützend. Er wußte: die Thüre der Schutzhütte stand jederzeit offen und fiel hinter jedem von selbst wieder ins Schloß. Nicht ohne Mühe schwenkte er den schweren Holzflügel in den Angeln und trat zähneklappernd ein.

Kaum hatte er den Fensterladen aufgehakt und sich auf der nächsten Holzpritsche, die seine Hand im Halbdunkel berührte, lang hingeworfen, da erlosch hinter dem Fenster draußen das letzte Dämmerlicht. Der Mond war untergegangen, die volle Finsternis da.

Wie er so dalag, stumm und starr, in Grabeskälte und rabenschwarzer Nacht, da kam ihm plötzlich der Gedanke, ob er nicht schon gestorben sei. Vielleicht war das der Sarg. Die Hölle. Irgend ein Ort, der nichts mehr mit der Erde gemein hatte.

Auf irgend einem erkalteten Planeten, in den Bergschlünden des Mondes – da mochte es so zugehen. Auf einer dieser Lehmkugeln, die abgestorben, zwecklos durch den Weltraum wirbeln, ein Tummelplatz unsichtbarer, in Sturmgewand gekleideter Luftgeister und ihrer nächtigen Spiele.

Er erhob sich, tappte im Dunkeln, mit dem Fuß an einer vergletscherten Ecke des Raumes ausglitschend, nach dem kleinen Fensterrahmen und preßte sein Gesicht daran. Aber nicht einmal die Sterne waren zu sehen. So dicht hatte sofort eine Eisschicht von außen die Scheibe überkrustet.

Nur durch das Ohr stand der einsame Alpinist noch mit [871] der Welt in Verbindung. In dem tiefen, massigen Dunkel der Nacht, die bleiern über dem Frostreich brütete, henlten und johlten ununterbrochen die langgezogenen Sturmstöße, jetzt von Courmayeur her mit der Wut des welschen Föhns, jetzt wieder von Chamounix her mit dem eisig fegenden Nordost der schweizer Alpen im ewigen Spiel der brandenden Luftwellen wechselnd. Klagen und Jauchzen, Winseln und Lachen, wütendes Aufbrüllen und befriedigtes Grollen klang aus ihnen wie ein Widerhall des ganzen ewigen Kampfes ums Dasein auf der Erde, unter dessen Donnern und Pfeifen die Bergkolosse selbst zu wanken schienen.

Er öffnete das Fenster und spähte hinaus. Nun war es etwas heller. Ueber den hartgefrorenen Schnee hin huschte und flirrte es im Geistertanz – himmelhoch aufgewirbelte und pfeilschnell kreiselnde Säulen von Firnstaub, in der Dunkelheit unsichtbar und doch daran kenntlich, daß hinter dem Geflimmer der Krystallkörner das kalte Licht der Sterne sich verschleierte.

Wie eine Handvoll Nadeln peitschte ihm der Wind die spitzen Eissplitter ins Gesicht. Er schloß wieder das Fenster und setzte sich, in seinen Mantel gewickelt, den Rücken an die Wand gelehnt, auf die Pritsche.

Vielleicht ruhte er gerade auf dem Lager, auf dem vor wenigen Jahren jener Arzt aus Chamounix an Erschöpfung gestorben war! Er hatte den Montblanc besuchen wollen, und der Montblanc hatte ihn getötet. In dem einsamen Wetterhäuschen hier oben, 14000 Fuß über dem Meer, hauchte er seinen Geist aus.

Da draußen hatte er Leidensgefährten genug. Dicht vor der Thüre der Hütte war, im Schneesturm ratlos umherirrend, jener englische Gelehrte verschieden. Ein anderer, ein Russe, hatte sich etwas weiter oben im Eis zur ewigen Ruhe gelegt, und weiter seitwärts hatte man seinerzeit die ganze Expedition jenes italienischen Grafen – elf Männer – als Leichen am Firnhang gefunden. In der Gletscherspalte nicht weit davon ruhten die beiden Schotten, unter denen die trügerische Schneebrücke gewichen, an unbekannten Orten so mancher andere, unter ihnen, vielleicht hier ganz in der Nähe, auch Balmat de Montblanc, des Berges erster Bezwinger und sein erstes Opfer.

Jetzt war der Bergriese zahm. Die Menschen hatten ihn kennengelernt und fürchteten ihn nicht mehr. Selten, daß einer noch im Griff seiner Eisfaust verblieb. Aber heute, in wenigen Stunden, wurde ihm doch wieder eine Beute zu teil! – –

Er wußte es jetzt ganz genau, wie er da reglos, schweratmend lag, daß es zu Ende ging. Die stechenden Schmerzen krampften ihm die Brust zusammen, häufiger und häufiger stockten, für einen Augenblick Pulsschlag und Atem – es kam alles, wie es der Arzt gesagt hatte.

Aber es kam nicht früher, als er wollte. Er wollte noch einmal die Sonne sehen, wie sie über die höchste Warte Europas ihren ersten Strahl ergoß. Mochten andere hier in Nacht und Dunkel auf harten Pritschenlagern oder verloren in den schauerlichen Kerkern der Gletscherschlünde enden – ihn mußte sein Körper, der strapazengewohnte, dem Willen pflichtige, zum Licht, zur Höhe, zur Freiheit emportragen. Dort konnte er vergehen. Er hatte sein Bestes gethan und, was in ihm flüchtig und doch ewig wohnte, zur Ewigkeit der sonnenfrohen Höhen hinaufgeführt und dort entlassen. Mochte es hinauswehen, cüs ein zitterndes Wölkchen im Weltall sich verflüchtigen oder, im Vogelflug zur Erde niederkreisend, in einer anderen Menschenbrust von neuem nisten – wer weiß, woher es kam, wohin es ging. Und vielleicht wußte er es doch in wenigen Stunden …

Er preßte die Hand an die Brust und trat wieder zum Fenster. Die Nacht erstarb! Dort drüben im Osten blinzelte es fahl und grämlich auf, in einem leichenfarbenen Schein, der, rasch am Firmament sich ausbreitend, den Glanz der Himmelskörper in seinem matten Grau ertränkte. Goldene Ränder säumten da und dort dies Grau der um die Berge und unter ihnen dampfenden Wolken ein. Sie erhellten sich mehr und mehr. Ein seltsames, gelbes Dämmerlicht, wie man es nie in den Thälern schaut, schien, die Nacht vertilgend, aus den Poren des ewigen Firns selbst herauszuströmen, und im Osten flossen langgestreckte, rote Dunststreifen zu einer blutigen Lohe zusammen, die gleich dem Widerschein einer ungeheuren Feuersbrunst stumm und feierlich immer höher und höher am Himmel aufstieg.

Tiefer unten, wo sich der Firnpfad längs des Doms zum Großen Plateau hinabzog, lag noch tiefe Nacht. Aber auch in ihr sahen, als er dorthin den Blick wendete, seine erstaunten Augen etwas Fremdes, Lebendiges. Ein Lichtpünktchen, das, wie ein aus dem Thal verirrtes Johanniswürmchen, steil und beharrlich in dem weißlichen Dunkel aufwärts pendelnd, über den Schnee emporschaukelte.

Die Laterne einer Montblanc-Expedition! Er furchte die Stirne. Er hatte gehofft, daß bei dem heftigen Südsturm alle Führer die vom Plateau links abzweigende Route durch den „Korridor“ und über die beinahe fünfhundert Fuß hohe „Eismauer“ wählen würden, und sicher hatten auch alle anderen diesen beschwerlichen, aber windgeschützten Weg eingeschlagen.

Warum diese nicht? Und wer waren sie?

Er wußte es wohl. Und als die Laterne jetzt höher und höher herauf kam und im Tagesgrauen der Scharte verblaßte, da unterschied sein Blick schon deutlich drei Gestalten, eine lange und eine kleine und etwas Weißes, Schleierhaftes dazwischen, und der Wind wehte ihm, wie aus weiter Ferne, einen verhallenden, hellen Klang ins Ohr.

Er ergriff seine Eisaxt und stieg von der Hütte zu der beinahe ebenen, windumpfiffenen Firnfläche des Sattels nieder, auf dessen anderer Seite sich der Anstieg zum eigentlichen Montblanc, die Eisleiter der Grandes Bosses du Dromadaire, emporbäumte. Zu dreiviertel senkrecht aufgerichtet und kaum einen Fuß breit, lief die von Axthieben gekerbte, bläulich blitzende Firnschneide zwischen zwei riesigen Glasdächern in die Höhe, die jäh und spiegelnd unter ihr rechts und links Tausende von Fuß in das Thal, nach Frankreich und Italien abschossen.

Es war eigentlich noch etwas zu dämmerig, um jetzt schon die glitscherigen Sprossen dieser Himmelsleiter zu erklimmen, die, obwohl für den erfahrenen und schwindelfreien Bergsteiger gut gangbar, doch für jeden unbedachten Tritt eines Einzelgängers sein Leben heimfordert. Und zudem konnte der heulende Wind alles vereiteln. Ließ er auch wohl bei Tagesanbruch nach, so war doch die Gefahr, durch einen jähen Sturmstoß aus den Stufen geschleudert und in das Nichts hinausgefegt zu werden, während der ganzen Wanderung vorhanden.

Zum Glück konnte die Bezwingung des Dromedarhöckers kaum 25 bis 30 Minuten dauern, da er sich keine Eistritte auszukerben brauchte. Die am vorigen Tag geschlagenen Stufen des Lieutenants waren – das sah sein geübter Blick – noch zu benutzen. Und wartete er nur noch kurze Zeit, so kamen die drei da hinten und holten ihn ein. Hörte er doch im Morgennebel ihre Stimmen aus nächster Nähe.

Er warf seine Eisaxt über die Schulter wie der Soldat das Gewehr und ging im Sturmwind mit langen Schritten quer über den Firnsattel dem Montblanc zu.


24.

Die andern, die am schwanken Seil aus den Schneekesseln der Plateaus heraufstiegen, konnten ihn nicht erkennen. Der Wind fuhr ihnen zu schneidend in die Augen und umwirbelte sie mit seinen eiskalten Stacheln, daß sie blinzelnd und schauernd sich zusammenduckten. Und als sie dann die Hütte erreicht hatten, war die Gestalt ihres Vorgängers schon in den Nebelschwaden verschwunden, die, vom Föhn aus ihren warmen Thalnestern heraufgejagt und in unstetem Spiel auf- und niederschwimmend, die Firnleiter umhüllten.

Auf den bleichen Gesichtern der Touristen lag die Morgenstimmung, wie sie Uebernächtigkeit und Erschöpfung in der letzten Hälfte einer großen Besteigung zu erzeugen pflegt. Und für die beiden Männer war dies die zweite Besteigung innerhalb vierundzwanzig Stunden. Gestern um diese Zeit auf die Aiguille du diable, heute auf den Montblanc – es war ja wahrscheinlich, daß sie ihre Wette mit den aus den Grands Mulets ihnen nachfolgenden Mitgliedern des Londoner Alpine Club gewinnen und die beiden Gipfel hintereinander machen würden – aber im stillen ärgerte es sie doch, daß sie, gereizt durch die Ruhmredigkeit der Briten, von denen der eine, der lustige Graukopf, schon zwölfmal auf dem Montblanc gewesen war, sich des Wagstücks vermessen hatten. Sie fühlten doch das Biwak und die schwere Tagesarbeit von gestern in allen Knochen und saßen stumm und verdrießlich in der Vallot-Hütte.

[874] Draußen strömten, während der Sturm mit sich mindernder Heftigkeit die Eisluft erschütterte, immer neue Nebelmassen von der italienischen Seite herauf, ganze Wolkenzüge, die dampfend, dichtgeballt in raschem, lautlosem Fluge dahinstrichen wie eine endlose Herde seltsamer Zugvögel, die sich eilt, ein fernes Ziel zu erreichen. Im wachsenden Tageslicht wurden sie immer heller und durchsichtiger, und von oben her leuchteten schon die zitternden Frühstrahlen des auf den höchsten Gipfeln erwachenden Morgens hinein.

Franklin gähnte, lang ausgestreckt, und starrte zur Decke.

„Was machen die Nebel, Prinz?“ frug er stumpfsinnig. „Können wir nicht bald weiter?“

Ein Sturmstoß gab ihm die Antwort, der wie ein zorniges Aufbrüllen über die Wetterscharte hinfegte. Die Wolkenherde schwamm geängstigt und gescheucht vor ihm her und senkte sich in rascherem Flug auf der anderen Seite zum Plateau herab. Und in der grauenden Winterlandschaft, die sie enthüllte, lief wieder sichtbar geworden die schmale Stufenbahn auf der Schneide der Grandes Bosses du Dromadaire in die Höhe.

„Da geht^s hinauf!“ sagte der Prinz aufstehend und holte das Seil hervor. „Was wir nicht brauchen, lassen wir hier unten. Noch ’nen Schluck Wein! Sie müssen, Frau Angela! Sonst werden Sie am Ende schwindlig. Die Promenade ist ein bißchen luftig. Rechts nichts, links nichts, über sich nichts, nur unter sich das bißchen Eis … Sie müssen ganz langsam und beschaulich gehen – nie einen Fuß heben, ehe nicht der andere feststeht. Und wenn Sie doch ausgleiten, so thun Sie das bitte nicht schweigend, sondern sagen Sie es mir, wenn irgend möglich, beiläufig im Lauf des Gesprächs vorher, damit ich Sie rechtzeitig halten kann!“ Er that selbst einen kräftigen Schluck. „Brrr! ist das Zeug kalt!“ murmelte er, sich den roten Schnurrbart wischend. „Es könnte ebensogut Tinte sein wie Rheinwein! Na, nun los! Was haben Sie, Frau Angela?“

Die weiße Schleiergestalt antwortete nicht, sondern wies nur stumm mit der Hand in die Höhe. Da, wo ihre in unförmlichen Stulpen verhüllte Rechte hindeutete, klomm eine dunkle Erscheinung rüstig die letzten Tritte des schmalen Firnwegs empor. Elastisch von Stufe zu Stufe steigend, vom Sturm umbrandet und, auf die jenseits schräggestellte Eisaxt gestützt, sich weit zur Rechten über den Abgrund beugend, um im Anprall der Luftwellen das Gleichgewicht zu bewahren, ging der einsame Wanderer, nach gutem Gletscherbrauch frei aufgerichtet, fortwährend schwankend und doch unerschüttert, seinen Weg. Jetzt setzte er den Fuß in die letzte Eiskerbe, jetzt war er oben auf dem Dromedarhöcker und verschwand hinter den Schneehügeln, die sich darüber türmten.

Der Prinz nickte befriedigt. „Ein gutes Stück Arbeit!“ sagte er. „Allein auf den Montblanc! Und ohne Training. Dazu gehören Nerven. Hoffentlich holen wir ihn noch ein.“

„Ich glaub’s nicht!“ Der kleine Yankee schüttelte den Kopf. „Sehen Sie nur … da kommt er wieder heraus … wie er losstürmt. Es ist gerade, als ob er die dünne Luft gar nicht spürte.“

„Oder als ob er vor uns flüchtete.“ Der Hüne lachte grimmig. „Er will nichts mehr von Ihnen wissen, Frau Angela!“

Die weiße Frau zuckte die schmalen Schultern und sah dem Höhenwanderer nach, solange seine dort oben im Frührot scheinbar riesig wachsende Gestalt sichtbar blieb.

Der Yankee aber wurde ungeduldig. „Los!“ rief er. „Bringen Sie Ihre Schneeschleier in Ordnung, Frau Angela, der Wind geht scharf und die Sonne ist nahe. Wenn Sie sich wieder ganz als Berggespenst verkleidet haben, können wir aufbrechen!“

*      *      *

Die vermummten Menschen schritten über den Sattel dahin, der sich lässig in den Schultern wiegende Riese voraus, der Zwerg am Schluß und zwischen ihnen, gesenkten Kopfs, die stumme weiße Begleiterin. Der Wind hatte sich jetzt ziemlich gelegt. Nur vereinzelte Stöße umpfiffen noch die drei, während sie langsam, mit pedantischer Vorsicht die fußbreite, zu beiden Seiten von freier Luft begrenzte Firnschneide emporstiegen, erst mäßig steil, wie auf einer gutbürgerlichen Treppe, dann immer jäher hinauf wie auf einer im Winkel von etwa siebzig Grad an eine Wand gelehnten Leiter. Die Sprossen dieser Leiter, blankes, graublaues und mit einer dünnen Schicht von Firnkörnern bedecktes Eis, knirschten unter den Kopfnägeln ihrer Schuhsohlen. Die dünnen Eisenkettchen, welche die Schneegamaschen am Stiefel festhielten, klirrten leise dazu im Takt, und regelmäßig ging der schwere Atem der drei Bergsteiger, denen hier in der Anspannung des Augenblicks auf der luftigen Messerschneide keine Atemnot mehr die Brust beengte, obwohl sie sich jetzt schon in gleicher Höhe mit den trotzigsten und schwierigsten Gipfeln Europas, mit Monterosa, Dom und Matterhorn, befanden.

Plötzlich blieb der Prinz stehen, und die andern machten notgedrungen auch Halt. „Jetzt habe ich eine Idee!“ sagte er düster und blickte zur Seite nieder, wo in der Höhe seines linken Kniees ihm unter der weißen Gaze das leichenweiße Gesicht entgegenschimmerte. „Eine Idee, Frau Angela!“

Ein Sturmstoß erfaßte sie. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung und kam mit dem einen Fuß aus dem Gleichgewicht. Franklin Moore, dessen Brust sich gerade vor ihrem Bergschuh befand, packte rasch zu, drehte den Absatz herum und stellte ihn wieder richtig in die Stufe.

„Vorwärts, Prinz!“ schrie er durch den Wind an Angela vorbei in die Höhe. „Vorwärts, in drei Teufels Namen! Hier ist doch nicht der Ort, sich Geschichten zu erzählen!“

Aber wenn der Hüne einmal etwas im Kopf hatte, hätte man es ebensogut einem Bullen durch gütliches Zureden austreiben können wie ihm. Er regte keinen Fuß.

„Hier ist der Ort,“ verkündete er düster und schaute, auf seine Eisaxt gestützt, herab, „der Ort für meine Idee. Kurz und gut, Frau Angela – wollen Sie meine Frau werden?“

Die weiße Gestalt an seinem Knie sah schweigend zu ihm auf.

„Diese Frage ist an dieser Stelle und in dieser Höhe noch nie von einem Mann an ein Weib gerichtet worden,“ fuhr der Riese befriedigt fort und bog sich wie die andern blinzelnd weit über den schmalen Grat, um einem Anprall des Windes zu begegnen. „Sie ist durchaus neu! Also müssen Sie Ja sagen! Nein sagen können Sie nicht. Dieser glattrasierte Massenmörder aus Transvaal, den ich da hinter Ihnen am Seile schleppe, hat mich selbst gestern abend darauf aufmerksam gemacht, daß ich, wenn ich falle, Sie beide mit mir nehme … nach dem Gesetz der Schwere, Frau Angela!“

Die unter ihm blieb stumm. Aber unwillkürlich klammerte sie sich mit einer Hand an seinem Knie fest.

„Wenn Sie jetzt trotzdem Nein sagen, dann gerate ich in einen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit. Dann trete ich aus reinem Gram plötzlich links daneben …“

„Well!“ Franklin Moore lachte unten herzlich los. „Passen Sie auf, Frau Angela! Im selben Augenblick treten wir beide rechts daneben! Dann ist das Gleichgewicht wieder hergestellt. Die eine Hälfte der Partie hängt rechts in Italien, die andere links in Frankreich!“

„Lachen Sie nicht!“ gebot der Hüne zornig. „Die Sache ist ernst!“

Aber der Yankee faßte sie heiter auf. „Zwicken Sie ihn ein bißchen ins Bein, daß er weitergeht!“ riet er. „Es ist zwar eine sonderbare Antwort auf einen Heiratsantrag, aber wer Ort und Zeit so wunderlich wählt, darf sich nicht beklagen, wenn man auf seine Eigenart eingeht.“

„Frau Angela…“ begann der Recke von neuem. „Es giebt ein Unglück …“

„Es giebt kein Unglück!“ schrie der Yankee von unten fröhlich im Winde. „Keine Angst! Glauben Sie, dieser Koloß von Mensch hätte die Nerven, absichtlich fehlzutreten? Das kann ich nicht einmal! Das kann keiner von uns! Vorwärts, Frau Angela …“

Jetzt lachte es auch unter den Gazeschleiern leise auf. Der Prinz zuckte zusammen und machte ein wütendes Gesicht.

„Er hat eine Idee!“ sagte der Yankee trocken. „Zum ersten- und letztenmal in seinem Dasein. Das bekommt solchen Fossilien nicht. Wenn Sie ihn nicht zwicken wollen, Frau Angela, so setzen Sie einfach Ihren Fuß in seine Stufe. Für zwei Schuhe ist nicht Raum. Also muß er als Gentleman Ihnen Platz machen! Sehen Sie … es hilft. Da steigt er ganz artig weiter. Wie geht’s, Herr? Ist der Anfall vorüber?“

Aber der andere antwortete nicht, sondern klomm zornmütig in so raschen Schritten empor, daß ihn die beiden Genossen am [875] Seil zurückhalten mußten. Er wandte sich nicht nach ihnen um, sondern zuckte nur mißmutig die Achseln, und seine langen Schnurrbartenden flatterten zu beiden Seiten des Kopfes in dem jetzt von der Höhe herabstürmenden eisigen Winde, der die Thränen in die Augen trieb und die Finger erstarrte.

Nun hatten sie diese Höhe erreicht. Vor ihnen lag, in immer neuen Schneehügeln und Firndächern sich übereinander wölbend, ein zerrissenes, wie von Riesenhand hingeschleudertes, weißes Chaos, das letzte Gebiet des Montblanc. Wo es endete, war nicht zu erkennen. Immer neue blendende Wälle, glitzernde Schluchten, spiegelnde Eisflächen tauchten hinter den erklommenen Punkten empor und erstreckten sich weiterhin in dem weißlichen Nebeldampf des Himmels.

Vorsichtig, auf den Eispickel und das linke Knie gestützt, den rechten Fuß tastend in dem Schnee abwärtsgeschoben, und mit dem ganzen Körpergewicht auf der Bergseite ruhend, schoben sie sich an der Flanke des zweiten, des „kleinen“ Dromedarhöckers hart unter dem Kamm an einer schmalen Schneewand hin, die sich wenige Fuß unter ihnen in das Unermeßliche verlor. Weitere Schwierigkeiten gab es jetzt bis zur Spitze nicht mehr. Ohne Gefahr suchte der geübte Fuß in der frosterstarrten Hügel- und Thälerwelt des breit sich auftürmenden Montblancrückens seinen Weg aufwärts, immer weiter aufwärts in der Kette von Eiswällen, die des Wanderers spottend rastlos neu vor ihm aus dem Firn zu wachsen schienen, wenn er sie eben erst keuchend überwunden.

Die Atemlosigkeit – das war das Schlimme! Es war keine Luft mehr, was die lechzenden Lungen einzogen, es war etwas eisig Dünnes, etwas, was die Brust zugleich leer ließ und erkältete. Etwas Feindseliges, das dem ganzen Leib die Spannkraft nahm. Die Muskeln begannen zu trotzen. Sie thaten nur noch widerwillig, zögernd ihre Pflicht, und immer häufiger mußten die Touristen, im Schnee liegend, rasten und warten, bis wieder etwas Luft im Brustkasten und Federstärke in den Beinen sich einstellte. Kampflustig sprangen sie dann auf. Aber nach wenigen Schritten war die bleierne Müdigkeit, das Lechzen nach Luft wieder da. Wieder mußte Halt gemacht werden, wieder hoben und senkten sich die breiten Rippen des Prinzen wie eine mächtig arbeitende Dampfmaschine, wieder zitterte es vor Ermattung unter den weißen Schleiern und trocknete sich der Yankee mit mephistophelischem Lächeln das aus Nase und Ohren tretende Blut – dann wieder ein Ruck am Seil – weiter – weiter! Sie wußten es ja: wenn die Muskeln sich noch so widerspenstig weigern, ihre Kraft herzugeben, so haben sie doch noch jeden, der wollen konnte, bis zum Ziel getragen.

Und da vor ihnen lief, über Schneehalden und Firndächer, zwischen Eistrümmern und frostigen Thälern die Fußspur ihres Vorgängers und zeigte ihnen den Weg, den er, der Einzelne, zäh und rastlos verfolgte. Ihn selbst bekamen die beiden Männer nicht mehr zu Gesicht. Sie konnten nicht so rasch empor wie er. Um Angelas willen. Zwischen ihnen schritt die weiße Gestalt schweratmend und schweigend den Höhen zu, auf denen der, dem sie folgte, frei aufgerichtet der Sonne entgegenging.


25.

Der da oben wandelte schon im Licht. Die dämmernden Sonnenwellen grüßten ihn mit ihrem schmeichelnd warmen Gold, und allgemach hob sich rings um ihn Europa aus der Nacht des Schlafes, aus Nebel und Grauen empor zum Morgenglanz.

Sonnenaufgang auf dem Gipfel des Montblanc ……

Schon waren die Sterne oben am Firmament erloschen, dessen Aschfarbe immer mehr in einem unergründlichen schmelzenden Blaßblau verschwamm. Nur der Morgenstern funkelte noch trotzig nieder, ein goldenes Juwel, aus dessen Rändern in unruhigem Spiel die Lichtzacken schossen und zurückzuckten. Aber bald erstarb auch er, der Tag war Sieger.

Noch stand die Sonne tief im Osten, hinter dem Engadin. Aber es wurde hell von Oesterreich her, von Deutschland und der Schweiz. Hell wie in dem Chaos, von dem das Bibelwort spricht: „Und die Erde war wüst und leer!“ Ein unermeßliches Nebelmeer, soweit das Auge reicht – eine graue leblose Sündflut, wie wenn auf hoher See Windstille ein Schiff umfängt und die Nußschale still daliegt, über sich den Himmel, ringsum die ungeheure Weite.

Aber hier waren Inseln ringsumher! In trotzigen Zacken schoß es überall in der Runde aus dem wesenlosen Schweigen zum Licht empor, in wildgeformten, schneebeströmten Klippen und firnüberpuderten Wellenlinien, deren reines Weiß sich allmählich, der grauen Grämlichkeit der Thäler spottend, mit einem heiter lächelnden Rosenrot übergoß.

Die Sonne war nah’! Auf den höchsten Gipfeln Europas entzündete sie ihr Licht, auflodernde Strahlenbüschel, die der Hochwelt das Kommen der Gebieterin meldeten. Ueberall blitzte es auf. Es legte sich in glühenden Leisten von geschmolzenem Gold um die Schneekämme, es funkelte in grimmem Glanz von den Schultern der Eisriesen und krönte ihr ehrwürdiges weißes Haupt mit einem flammenden Diadem von Morgenrot, das, majestätisch von dem rasch in tieferes Blau sich färbenden Himmel abgehoben, seine Lichtströme hinab zu den Gletschern und Thälern rieseln ließ.

Ein Bergkoloß entzündete sich am andern. Zu Hunderten und aber Hunderten loderten rings in der Runde die Riesenfackeln des neuen Tages und schauten, über dem Nebelheim der Tiefen aufgereckt, das man Europa nennt, andächtig zu der in Feuerfluten vom Osten heranschwimmenden Gebieterin der Welt empor. Trotzig aufrecht, starre Gebieter, selbstbewußte Giganten, begrüßten die Berge das Einzige, was über ihnen ist, den Urquell alles Irdischen, den Born des Lichts und Lebens in ehrfurchtsvollem Schweigen. Der Sturm allein sprach für sie. Wie Donner wandelte sein Morgengebet über die ewigen Höhen, ein Preis des Himmels und der Erde, ein Loblied der Schöpfung am sechsten Tage, da es noch keine Menschen gab.

Jahrtausendelang war die Sonne über jenen Höhen aufgegangen und gesunken, ohne daß ein Menschenauge sie sah. Nun hatten sich dem einsamen Mann da oben die jungfräulichen Wunder enthüllt. Das Leben schritt mit ihm durch die wilde Einsamkeit über den Wolken, das warme, menschliche Leben – – höher, immer höher, dem letzten Ziele zu.

Tief war ringsum schon der Kranz der Berge gesunken. Von oben herab überschaute sein Blick jene vom Thal so gigantisch ragenden Gipfel, auf denen allen er selbst schon schweratmend und sturmgeschüttelt gestanden hatte. Der schmale Eiskamm der Jungfrau, der gedoppelte Firngrat des Matterhorns, des Doms schneeüberrieselte Felsenzacken, die tückisch überhängenden Schneerücken des Lyskamms, der eisglatte Zuckerhut der Dent Blanche, ja selbst das mächtig aus weißen Halden aufschießende, siebenfach gegipfelte Steingewölbe des Monterosa hatten sich vor dem Montblanc gebeugt. Und günstiger als die mühsame Bezwingung dieser Riesen durch glitschrige Schneerinnen, schmale Gesteinkanten und senkrechte Felskamine gestaltete sich diese luftige letzte Höhenwanderung über den Kamm des Montblanc. – Weiß ringsumher – ein blendendes, die Sonnenstrahlen zurückschleuderndes Weiß, das die Augen kaum zu ertragen vermögen – und über dem unbefleckten Hermelingewand des Bergkönigs die dräuend stahlblaue, beinahe blauschwarze Himmelswölbung, deren Verfinsterung auch das des Hochgebirgs gewohnte Auge immer wieder mit leisem Grauen schaut.

Von unten her tönte unsichtbarer Donner – langsam anschwellend und in undeutlichem Gemurmel verklingend. Die ersten Lawinen fielen vor dem Strahl der Morgensonne. In senkrecht die Bergwände durchfurchenden schnurgeraden Rillen glitten die Schneebäche in den Abgrund, der sie brüllend empfing. Seinem ungeschlachten Gruß antwortete es aus einem andern Thal wie das Poltern schwerer Lastwagen. Sonst tiefe Ruhe ringsum. Auch der Sturm war erstorben.

Der Firnkamm wurde schmaler und schmaler. Sanft ansteigend, ging er aus einem breitgewölbten Rücken allmählich in einen Fußpfad von Schnee über, auf dem man eben noch bequem und auf den Pickel sich stützend, durch die Pausen des Atemholens alle fünf Schritte zum Stehenbleiben gezwungen, emporklimmen konnte. Dann plötzlich wurde er wieder etwas breiter und öffnete sich auf ein beinahe ebenes, durch zum Thale überhängende Schneemassen trügerisch ausgedehntes Plateau, aus dem, ein dunkler, schräg im Schnee lastender Fremdkörper, das Bollwerk des Observatoriums Janssen, trotzig emporstarrte.

Tief aufatmend blieb der Wanderer stehen. Er war am Ziel. Vom höchsten Punkt Europas sah er, auf seine Eisaxt gestützt, einsam wie ein kreisender Adler, über die Welt und die Wolken [876] dahin. Zum letztenmal erlebte er, den Tod im Herzen, mit offenen Sinnen all die Herrlichkeit – windstille Luft, feierliches Schweigen, regloser Morgensonnenglanz auf dem Gipfel des Montblanc, und in ihm regte sich, wie ein Schauer vergangener Zeiten, ein Ding, das ihm, dem modernen Forscher, dem Alleswisser und Götzenzertrümmerer, längst geschwunden war: die Ehrfurcht.

Das Gefühl der Unendlichkeit ging in ihm auf. Sein Auge, das in unbegreiflichen, unfaßlichen Fernen sich verlor, zählte nicht mehr das tausendfache Gewimmel der Gipfel im weiten Umkreis von Europa, es sorgte sich nicht mehr um all die Länder und Ländchen zu Füßen – nein, es schaute hinaus in jene äußersten Weiten des Horizonts, wo das unermeßliche Panorama in zarten violett getönten Dunstschleiern verschwamm, wo aus der geheimnisvollen Trübung der Luft geheimnisvolle Berggestalten grüßten, von denen er nicht mehr wußte, ob sie der Erde entstammten, ob sie die Allmacht des Weltraums aus vergänglichen Wolken schuf.

Zur höchsten Höhe war er gestiegen, um an den Grenzen der Erkenntnis, am Ende seiner Kraft zu stehen. Aber nichts Niederdrückendes lag ihm darin. Im Gegenteil. Es machte ihm die Brust weit. Es stimmte sie ruhig und heiter in dem Gefühl der Ergebung vor dem ewigen Welträtsel. Hier oben fühlte er sich dem Urbild aller Dinge nah’, wie seine Vorfahren, die weltwandernden Germanen auf jungfräulich waldumrauschten Berggipfeln, wie die Hellenen auf den sonnigen Höhen des Olympos ihre Götter suchten – Geschöpfe von heiterer Kraft und lachender Größe gleich der Natur selbst und ihren Lieblingen, den Starken unter den Menschen.

Und für den Starken galt ewig das „Excelsior!“ – Das „Empor zur Sonne!“ In unvergänglichem Glanze stand sie, da er ermattet vor ihr niedersank, über seinem Scheitel. Sie vergoldete ihm noch einmal die wohlbekannte Erde und lehrte ihn zugleich die Eitelkeit alles Irdischen, die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens und Wähnens in dieser letzten Stunde der Einsamkeit über den Wolken. Und während er fühlte, daß er dahinging, ein verwehtes Sandkorn, ein ersterbendes Pünktchen im Gewimmel des großen Ameisenhaufens, fiel ihr Strahl noch einmal kosend über das krause Getriebe unten im Thal und verklärte es ihm im Spiegel der Ewigkeit. Es ward klein vor ihm. Er mußte seiner lächeln, da er von dannen ging. Und wer lächeln kann, ist Sieger. Er hat die Welt überwunden.

Und ein Lächeln lag noch auf seinem Gesicht, als Frau Aventiure und ihre Freunde heraufstiegen und ihn da fanden, lang auf dem Firn ausgestreckt und aus weit geöffneten Augen starr in die Sonne schauend.